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2. Was bedeutet das »innere Kind« für unsere Persönlichkeit? Es ist in uns lebendig und braucht Lebensraum Das Kind in uns ist das Ursprünglichste an unserer Person, haben wir gesagt. Wir sind alle einmal solche kleinen, zarten Wesen gewesen, voller Leben und Vitalität, ein Gottesgeschenk. Sie und ich. Martin Luther hat einmal gesagt: »Wer ein Kind sieht, hat Gott auf frischer Tat ertappt.« Schauen Sie den Kindern zu, hören Sie ihr Lachen und Weinen, erleben Sie ihre Lebendigkeit, ihre Lust, ihren unbändigen Willen, ihre Bedürftigkeit und ihre Forderungen an das Leben. Ja, sie wollen unbedingt leben, das Leben entdecken und gewinnen. Meine Frau und ich leben mit unseren Kindern und drei Enkelkindern zusammen. Wir schauen den Enkeln aufmerksamer zu, als wir es bei unseren eigenen Kindern getan haben. Zu selten habe ich mir die Muße gegönnt, die Kinder zu genießen, mit ihnen zu lachen und zu weinen, sie zu knuddeln und mit ihnen zu toben. Natürlich haben wir das alles auch gemacht. Aber es hätte gerne mehr sein sollen. Lukas, unser jüngster Enkel, ist nun 15 Monate alt und viel bei uns. Er ist vor allem immer dabei, wenn es etwas zu essen gibt, er robbt vergnügt durchs Wohnzimmer und bläst inzwischen auf seiner kleinen Trompete hingebungsvoll die zwei Töne, die er beim Ein- und Ausatmen erzeugen kann. Und er macht gerne mit uns Spaß, besonders Verstecken spielen. Wenn ich mich dann wieder zeige, lacht er sein wundervolles Kinderlachen. Er ist einfach lebendig und braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Hauptsache, wir sind da und achten auf ihn. Er hat hier und bei seinen Eltern Lebensraum, erfährt Liebe und Geborgenheit – und ist glücklich. Natürlich gibt es ab und zu auch Tränen, wenn er sich den Finger 47


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in der Schublade klemmt oder ihm sonst irgendetwas nicht passt. Er kann dann auch mal anstrengend sein und gar nicht süß. Aber er bleibt unser geliebtes Enkelchen. Wir glauben, dass er das spürt. Darum ist die Welt für ihn in Ordnung. Und zwischendurch krabbelt er sich immer wieder einmal an einem Erwachsenenbein hoch und will auf den Arm genommen werden. Immer wieder auf den Arm, auf den Schoß, immer wieder Nähe und Gehaltenwerden, Körperkontakt. Kinder sind natürlich, zeigen, wer sie sind und wie es ihnen geht. Sie können noch nicht heucheln, sich verstellen und die anderen täuschen. Wenn sie es versuchen, verraten sie sich schon gleich durch ihr Minenspiel. Sie sind echt. Manchmal sind sie so sehr bei ihrer Sache und ihrem Spiel, dass sie sich selbst und die Welt um sich her vergessen. So waren Sie auch, als Sie Kind waren. Vielleicht nicht ganz so; aber bestimmt so ähnlich. So lebendig und kreativ, so engagiert und entdeckungslustig. Auch so explosiv und ärgerlich, wenn irgendetwas nicht klappte, wenn ein anderes Kind Ihnen die Schaufel oder die Legosteine wegnahm oder Ihre Sandburg zerstörte. So traurig und entmutigt, wenn Sie sich nicht beachtet fühlten. Kinder können auch so erschreckend böse werden, dass An allen Erfindungen und Entdeckungen ist das innere Kind beteiligt. sich sogar Erwachsene vor Fünfjährigen fürchten. Auch in uns Erwachsenen lebt ein Kind – immer noch und hoffentlich. Denn das Kind in uns ist ein großer Schatz. Das Kind ist ursprünglicher Ausdruck unserer Lebendigkeit und Kreativität, der Lebenslust und Daseinsfreude. Das Kind in uns ist der vitale Anteil unserer Person, voller Tatendrang und Neugierde. An allen Erfindungen und Entdeckungen ist das innere Kind beteiligt. Es experimentiert und probiert, bastelt und forscht. Es steckt voller Ideen und Phantasie. Alle Kunst lebt von der Leben48


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digkeit des Kindes, von seinem Sinn für die Schönheit der Farben und Formen, für Töne und Ästhetik. Der Philosoph Theodor W. Adorno war nicht nur der große Denker, er war auch Musiker, Künstler. Da konnte sich das Kind in ihm entfalten. Kinder lieben Musik und bewegen sich zu ihr, ohne etwas über das Tanzen zu wissen. Alle Liebe und Zärtlichkeit, die Liebende miteinander austauschen, gehen vom Kind in uns aus. Liebende sind wie spielende Kinder. Sie lachen und toben – und streiten manchmal. In uns steckt solch ein lebendiges Kind. Es macht uns reich und lebendig, weil es voller Leben steckt. Vielleicht bekommen Sie Lust, alte Fotoalben oder Dias hervorzuholen und Ihre Kinderbilder anzuschauen. Nehmen Sie sich Zeit dafür, und schauen Sie das Kind von damals mit dem freundlichen Blick an, der Kindern Vertrauen einflößt. Was sehen Sie? Wenn Sie mir das Kind, das Sie waren, beschreiben wollten, was würden Sie mir von ihm erzählen? Was sehen Sie, wenn Sie es anschauen? Wo befindet sich das Kind? Wer ist bei ihm oder in der Nähe? Wo ist die Mutter, wo der Vater? Was macht der/die Kleine gerade? Was hat er/sie an? Was steht dem Kind besonders gut? Was isst es besonders gern, oder was mag es nicht? Wer spielt mit ihm? Welches Spiel liebt es besonders? Schauen Sie dem Kind von damals in die Augen. Wie schaut es Sie an? Ist es glücklich oder traurig, wirkt es keck oder scheu? Vielleicht versuchen Sie ein Phantasiegespräch: »Wie geht es dir? Bist du glücklich? Was erlebst du zu Hause? Wie findest du Mama, wie findest du Papa? Sind sie gut zu dir? Erzähl mir von dir und von ihnen, ich höre dir gerne zu.« Was würde dieser kleine Mensch auf dem Foto antworten, wenn er sich traute, ehrlich zu sein? Es braucht vielleicht ein bisschen Phantasie und Einfühlungsvermögen für ein solches »Gespräch« zwischen Ihnen beiden. Albern ist so etwas nicht, vielleicht fremd und ungewohnt. Und es ist keine verlorene Zeit, sich mit dem inneren Kind zu befassen. Das ist wie bei den leiblichen Kindern und Enkeln. Als Großvater merke ich, wie sinnvoll die Zeit ist, die ich 49


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mir zwischendurch für meine Enkel nehme. Das hätte ich für meine Kinder rückschauend öfter tun sollen – und für mein eigenes inneres Kind auch. Aber das kannte ich damals noch gar nicht. Das Kind in uns ist auch der Ort, wo sich unsere Stimmungen entscheiden, unsere Gefühle, unser Glück und unsere Angst. Manchmal merken wir es spontan, wenn wir etwas Schönes und Aufregendes erleben. Dann spüren wir das schon erwähnte Kribbeln im Bauch, eine ursprüngliche Körperreaktion des inneren Kindes. Oder wenn wir bei einer unangenehmen Sache plötzlich Bauchschmerzen bekommen, ist das ein Kindsignal. Es reagiert unmittelbar, schneller als jeder Gedanke. Es ist dichter am Leben als unser Kopf und erfasst die Situation oft schneller als unser Verstand. Ich vergesse nicht, wie mir einer meiner Ausbilder einmal sagte: »Ihr Bauch sagt Ihnen die Wahrheit genauer als Ihr Kopf.« Richtig, das Kind ist sensibler als der Erwachsene. Es ist direkt vor Ort. Das Kind ist das Geschöpf, das am deutlichsten seine göttliche Herkunft und die Kreativität Gottes verrät. Darum ist das Kind so kostbar. Manche sprechen von dem »göttlichen« Kind und meinen damit dieses unschuldig lebendige, vitale und kreative Wesen, das wir einmal waren. Ich sage es lieber anders: Das Kind ist das Geschöpf, das am deutlichsten seine göttliche Herkunft und die Kreativität Gottes verrät. Es hat noch den Duft seines Schöpfers an sich. Es ist der Mensch, den Gott gewollt hat, das ursprüngliche Original, noch unverformt und unverbogen durch Menschen und Verhältnisse. Kinder erinnern uns noch am ehesten an unsere Herkunft von Gott. Jemand hat gesagt: »Die Menschen werden als Originale geboren, die meisten sterben als Kopien.« Schade! Das Kind repräsentiert die ursprüngliche Seite des Lebens, das Staunen über die Schöpfung, die Lust am Dasein. Es greift mit beiden Händen nach Essen und Trinken, greift selbstverständlich nach dem Leben. Und findet das fraglos in Ordnung. Das Kind lebt. 50


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