1 Ein kräftiger Windstoß erfasste den rollenden Ball und stieß ihn leicht zur Seite. Er beschrieb einen Bogen um den überraschten Erik herum und rollte dicht an dem roten Ziegelstein am Ende des Rasens vorbei. „Tor!!! Sechs – fünf!“, schrie Tommy begeistert. „Nein, nein! Das war der Wind. Das darf nicht zählen!“, protestierte Erik. Er wirbelte seine Arme herum, auf und nieder, rechts und links. Wenn er etwas zu packen bekommen hätte, hätte er es gnadenlos zu Boden geworfen und wäre mit beiden Füßen darauf herumgetrampelt. Aber er hatte nichts zum Werfen. „Blöder Wind! Blöder Wind!“, murmelte er immer wieder verzweifelt vor sich hin. Manuel klopfte ihm auf die Schulter. „Bleib cool. Es ist noch nicht vorbei. Wir werden ihnen zeigen, wer hier besser ist.“ „Wir haben den Wind nicht bestellt“, rief Steffi vom anderen Ende des Rasens. Zustimmend zuckte Tommy mit den Schultern. „Ja, das stimmt. Nächstes Mal kann der Wind ja für euch spielen, aber jetzt steht es erst einmal 6:5.“ Dabei lag ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Er liebte es zu gewinnen. Klar, jedes Spiel machte ihm Spaß, jeder Schuss, Pass und jedes Dribbling. Fußball war sein Ein und Alles, aber es ging nichts über gewinnen. Es war für ihn keine Tragödie, wenn er mal ein Spiel verlor, aber zu gewinnen war ein ganz besonderes Vergnügen. „Ihr habt den Ball! Nun zeigt mal, was ihr könnt“, 7
forderte Tommy seine Gegner heraus und zog sich bis zur großen Trauerweide zurück, die genau in der Mitte des Rasens stand. Die Weide war uralt und beugte sich vornüber wie eine sehr alte Frau. Ihre langen, beweglichen Zweige bedeckten sie so wie Haare einen Kopf. An einer Seite berührten sie sogar den Boden. Das machte das Fußballspielen ganz und gar nicht angenehm. Wie oft musste sich die arme, alte Weide die Flüche und ärgerlichen Rufe der jungen Spieler anhören, die nahezu täglich um sie herum rannten. Vor vielen, vielen Jahren war diese sehr alte Weide die Attraktion der ganzen Gegend gewesen. Der Architekt, der die Bürogebäude geplant hatte, bezog die Weide als Mittelpunkt in den u-förmigen Komplex ein, so dass sie und das Rasenstück nun von vierstöckigen Bürohäusern umgeben waren. Damals war dieser grüne Fleck ein romantischer, kleiner Park gewesen. Ein schöner Anblick für all die Büroarbeiter der Medizinische Instrumente GmbH, die hinter ihren Schreibtischen eingesperrt waren. Niemand hätte jemals vermutet, dass diese grüne Wiese mit dem Baum in der Mitte sich eines Tages in einen Bolzplatz verwandeln würde. „Sechs – fünf!“, wiederholte Tommy noch einmal. „Hör schon auf mit deinem sechs – fünf, sechs – fünf. Du klingst ja wie ein Papagei, der Alzheimer hat“, machte Manuel seinem Ärger Luft. Er spielte den Ball zu Erik zurück und lief ein paar Schritte vorwärts. Steffi sprintete auf ihren Gegenspieler zu. Neben dem übergewichtigen Manuel wirkte sie wie eine Maus, die um einen Bären tanzt. Aber so lange sie genügend Abstand zu dem dicken Bauch hatte, störte sie der Unterschied nicht. Erik gelang es, Tommy auszutricksen. Er umkurvte 8
den Baum und passte den Ball zu seinem Mitspieler. Er flog perfekt über Steffi hinweg und landete sanft an Manuels Brust. Das war seine Chance, Tommy zu zeigen, wer hier die Nummer Eins war! Wie auf einem Kissen rollte der Ball von der Brust auf seinen Bauch hinunter. Instinktiv holte Manuel mit seinem rechten Fuß aus. Die Kanone war geladen. Mit voller Wucht traf er den Ball volley und schoss ihn hoch in die Luft. Alle erstarrten. Vier Augenpaare beobachteten, wie das runde Ding zwischen zwei roten Ziegelsteinen, die das Tor markierten, hindurchsauste und mit hoher Geschwindigkeit weiter und höher und immer noch weiter und höher flog. Manuels Gesichtsausdruck sagte alles. Innerhalb von Sekunden änderte er sich von ärgerlich in entschieden, dann von freudig in verzweifelt und schließlich nur noch in angstvoll. Der Klang von zerbrechendem Glas drang jedermann gnadenlos in die Ohren. Überall am Fuße des Gebäudes verteilten sich die Glassplitter. Augenblicklich sprintete Erik quer über den Rasen und sprang hinter einen Buchsbaumbusch. Gleich dahinter folgten Manuel und Tommy. Aber Steffi übertraf sie noch. Mit der Schnelligkeit einer Gazelle erreichte sie den Platz hinter dem Busch. In nur wenigen Sekunden drängten sie sich dahinter zusammen, perfekt versteckt vor neugierigen Augen. Eine unheimliche Stille breitete sich zwischen den drei Flügeln des Bürogebäudes aus. Nichts bewegte sich, kein Ton war zu hören. Selbst das Gezwitscher der Vögel hörte auf. „Was jetzt?“ Steffi war die erste, die diese Frage flüsterte, über die sowieso schon jeder nachdachte. 9
„Wir sind in Schwierigkeiten“, bekannte Manuel mit zitternder Stimme. „Wir? Warum?“ Erik war ärgerlich. „Du hast ein Problem, nicht wir!“ „Ich?“ „Du warst es doch, der wie verrückt nach dem Ball getreten hat!“ „Ich? Ach ja!“, erinnerte sich Manuel auf einmal wieder. „Also steht es jetzt sechs zu sechs. Es war ein Tor! Du hast es auch gesehen, Tommy, nicht wahr?“ Steffi machte ein saures Gesicht und stieß Manuel mit ihrem spitzen Ellenbogen an. „Wir haben es alle gesehen. Und was meinst du, wo der Ball gelandet ist? Im Zimmer von HOLZBEIN! Bist du jetzt mit deinem sechs zu sechs zufrieden?“ „Still!“, befahl Tommy, „jemand kommt heraus!“ Es war ungeheuer schwer, irgendwelche Einzelheiten durch den dichten Buchsbaum zu erkennen. Schnell legte sich Tommy ganz flach auf den Boden. Die untersten Teile des Busches waren nicht ganz so dicht gewachsen. Er konnte sogar den Büroausgang und den Fußweg unter Holzbeins zerbrochenem Fenster sehen. „Oh nein, Dose!“ Jeder wusste, dass Tommy damit Schwierigkeiten meinte. „Wer?“, fragte Steffi ängstlich. „Schoppenhauer!“ „Schopp ... jetzt? Was macht der hier um diese Zeit?“ „Er schaut auf die Glassplitter.“ Der „Schutzengel“ des Bürohauses, Schoppenhauer, inspizierte sorgfältig den Unfallort. Plötzlich drehte er sich herum und rief laut in die Luft: „Wo seid ihr Banditen?! Hooligans! Eines Tages erwische ich euch. Ihr ... Feiglinge!“ Dann ging er energisch zum Ein10
gang zurück, wobei er immer noch mit seiner rechten, erhobenen Faust drohte. „Wie spät ist es?“, flüsterte Manuel. „Schoppenhauer war doch noch nie vor fünf hier.“ „Yeah, es ist erst zwölf nach drei!“ Erik war genauso verwundert wie sein Freund. „Was nun?“ Steffi schaute Tommy an. Aber der hatte auf diese berühmte Frage auch keine Antwort. „Das war mein neuer Ball! Vollkommen neu. Mit Ailtons Autogramm drauf. Er hat ihn extra für mich signiert! Ich hab euch erzählt, wie schwer das war. Wie kriege ich den nur wieder?“ Tommy seufzte traurig und brachte sich mühsam in eine sitzende Position. „20 Euro. Ich habe ihn von meinen eigenen 20 Euro gekauft. Versteht ihr? Nicht von Mamas oder Papas Geld, sondern von meinem eigenen, schwerverdienten Geld. Und wo ist es jetzt? Weg! Für alle Zeiten weg! So eine Dose!“ Tommy schüttelte den Kopf. Die Situation war außerordentlich ernst. Niemand wagte, zu sprechen oder sich zu rühren. Alle starrten zu Boden. „So eine Dose!“, wiederholte Tommy nur für sich selbst. Aber dann runzelte er plötzlich die Stirn, und die dichten Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hör mal, Manuel, du hast meinen Ball geschossen, also musst du ihn auch zurückholen.“ „Kommt gar nicht in Frage!“, protestierte Manuel. Seine Augen wurden groß und größer. „Bring mich um, wenn du willst, aber ich werde nicht zu Holzbein gehen. Nie und nimmer!“ „Ich würde den Ball vergessen“, mischte sich Erik ein. „Er ist weg. Holzbein würde Manuel die Haut abziehen, seinen Skalp nehmen und an die Wand hängen, wisst ihr, wie eine Trophäe. Brrr ...!“ „Ach, das sind doch Märchen! Du kennst Holz11
bein doch überhaupt nicht. Vielleicht ist er gar nicht so übel“, versuchte Tommy, sich selbst zu überzeugen. „Ich habe mal gehört, wie er gesungen hat und ... erinnert euch, letztes Jahr hat er Lukas ein Kaugummi geschenkt.“ „Ja, ja, letztes Jahr! Mich hat er mit seinem Stock geschlagen, das werde ich nie vergessen, und das war auch im letzten Jahr. Er ist gefährlich!“ Erik versuchte, eine finstere Miene aufzusetzen. Er war sich seiner Meinung absolut sicher. Manuel nickte zustimmend mit dem Kopf, und Steffi ergänzte: „Also, warum sitzen wir dann immer noch hier herum? Ich laufe lieber nach Hause, bevor Holzbein oder Schoppenhauer kommen und uns verhauen.“ „Nein, ich gehe hier nicht weg ohne meinen Ball.“ „Tommy, bist du verrückt geworden?“ Erik stand abrupt auf. „Steffi hat Recht, wir sollten verschwinden.“ Manuel brachte sich auch auf die Beine. Obwohl Schuldgefühle Löcher in seinen Magen bohrten, wollte er sich lieber weit von diesem Bürogebäude entfernt damit auseinander setzen. Er streckte Tommy die Hand entgegen, um ihm beim Aufstehen zu helfen, aber sein Freund rührte sich nicht. „Es tut mir Leid! Ich wollte deinen Ball nicht durch dieses dumme Fenster schießen. Ich kann dir meinen Ball geben, wenn du willst“, bot Manuel an. „Er ist zwar nicht mehr neu, aber ... oder ich könnte Geld sparen, um dir einen neuen zu kaufen. Ich werde für dich sogar hinter Ailton herjagen, was immer du willst, aber verlange nicht von mir, dass ich zu Holzbein gehe. Du kannst mein Taschenmesser haben, auch einige Fußballaufkleber. Okay?“ Er bettelte fast weinerlich. „Nein, ich will deine Sachen nicht haben. Ich gehe 12
selbst zu Holzbein“, erklärte Tommy. Je mehr er über die Situation nachdachte, desto mehr fühlte er sich verantwortlich für das zerbrochene Fenster. Schließlich war es sein Ball, der sich in einen gewaltsamen Einbrecher verwandelt hatte. Einen kostbaren Besitz zu verlieren, war eine schmerzliche Sache, aber wie ein Feigling davonzulaufen, war beschämend. Er hasste beides. Und er wusste, dass er sich niemals auf einen feigen Kompromiss einlassen würde. „Du gehst zu Holzbein???“ Steffi setzte sich wieder hin, den Mund weit aufgerissen. „Was ist, wenn er dich zur Polizei schleppt oder verlangt, dass du das Fenster bezahlst?“ „Ja, vielleicht musst du das zerbrochene Fenster bezahlen!“ Steffi schien sehr besorgt um Tommy zu sein. „Erinnerst du dich an das letzte Mal? Zwei Fenster in einem Monat, und noch vorher, bevor wir hier waren? Wie viele? Und denk doch mal, wer ist hingegangen und hat den Ball wiedergeholt? Niemand ist gegangen. Spiel doch nicht den Helden.“ „Sie hat Recht“, stimmte Erik schnell zu. „Na und? Ich habe keines von den Fenstern kaputt gemacht, die haben es gemacht. Andy und seine Bande haben die meisten zerbrochen. Aber was soll’s, ich habe meine Entscheidung getroffen, ich gehe.“ „Mann oh Mann, du denkst wohl, du bist cool, was?“ Erik schüttelte den Kopf. „Und wie willst du an Schoppenhauer vorbeikommen, hä? Der Wachmann wird dich schnappen, bevor du überhaupt in das Gebäude hineinkommst.“ „Nicht, wenn ihr mir helft.“ „Wie denn?“ „Lasst ihn hinter euch herjagen, dann schlüpfe ich hinein. Ganz einfach.“ 13
Jetzt richteten sich alle Augen auf Steffi. „Was ist? Warum schaut ihr alle mich an?“ „Du bist die schnellste.“ „Manuel, du gehst weg und versteckst dich woanders, und du“, Tommy deutete auf Erik, „zeig dich hinter dem Busch, wenn der Wachmann hinter Steffi her hier vorbeikommt. Okay? Und dann rennst du irgendwohin, so schnell du kannst.“ „Und du?“, fragte Steffi. „Ich werde dann schon bei Holzbein sein und ihn um Gnade bitten!“ Schnell stand Tommy auf. Jede weitere Minute Verzögerung würde die Sache nur noch schlimmer machen, dachte er. Er musste in dem Büro auftauchen, bevor der Ball irgendwo anders hin verschwinden konnte, zum Beispiel zum Direktor oder sogar zur Polizei. Ja, er musste jedermann überraschen, bevor auch nur eine Entscheidung über das zerbrochene Fenster getroffen werden konnte. Vorsichtig schaute Tommy auf der einen Seite hinter dem Busch hervor, Manuel auf der anderen Seite. Selbst im Stehen verdeckte sie der alte Buchsbaum. Außen war niemand. Ihre Blicke glitten über die Fenster, aber das Glas reflektierte das Sonnenlicht so stark, dass sie dahinter nichts erkennen konnten. Nur durch Holzbeins zerbrochenes Fenster war das Innere zu sehen. Sie mussten jetzt schnell handeln. Jede Bewegung außerhalb des Schattens des Buchsbaums konnte von zahllosen Augenpaaren beobachtet werden. Tommy wandte sich seinen Freunden zu und flüsterte: „Ihr wisst, was ihr zu tun habt?!“ Manuel und Erik nickten heftig. Steffi schluckte nur schwer und überprüfte sofort ihre Schuhlaschen. 14
„Jetzt lauf!“, kommandierte Tommy plötzlich und schoss selbst in Richtung Eingang der Firma davon. Manuel „sprintete“ wie eine Dampfwalze in eine andere Richtung. Auf dem Weg zur Straße hinter den Gebäuden brach er alle seine persönlichen Geschwindigkeitsrekorde. Sein Bauch hüpfte auf und ab und schüttelte seine letzte Mahlzeit zu einem weichen Brei. Steffi tauchte an der doppelten Glastür auf. Um sich so deutlich wie möglich bemerkbar zu machen, quetschte sie ihre Nase an das dicke Glas und wartete. Aber Schoppenhauer war nicht da. Was nun?, dachte sie. Es lief nicht so, wie Tommy es geplant hatte. Verzweifelt schaute sie zu der Seite, wo er sich an der Wand versteckte. Nur die Spitzen seiner weißen Sportschuhe verrieten seine Position. Sie musste mehr riskieren. Tommy war von ihrem Einfallsreichtum abhängig. Sie öffnete die Tür. Es war ihr erster Schritt, den sie jemals in das Bürohaus hinein gemacht hatte. Langsam schloss sich die Tür hinter ihr wieder. Steffi wagte sich weiter in den Gang hinein. Er war leer. Nun musste sie schnell eine Entscheidung treffen. Sollte sie weitergehen oder von hier aus laut Schoppenhauers Namen rufen? Steffi räusperte sich. „Herr Wachmann!!!“ Sie klang wie die Trompete auf einem Ferienzeltlager. „Herr Wachmann!!!“, wiederholte sie noch lauter. „Ja, Kleine?!!“, ertönte plötzlich eine laute Stimme direkt hinter ihr. Steffis Herz hüpfte ihr förmlich aus dem Leib. Sie rannte zur Tür, stieß sie heftig auf und rannte, als ob es um ihr Leben ging, quer über den Rasen. Sie konnte es spüren, dass ihr der Wachmann folgte. „Warte, du!!! Ich weiß, wer du bist, eine von der 15
Fußballbande!“, rief Schoppenhauer frustriert hinter ihr her. „Eines Tages werde ich von jedem von euch die Knochen aufsammeln!“ Der Wachmann gab es auf, sie weiter zu verfolgen. Er war ein kräftiger Mann so um die sechzig, aber zu schwer, um mit einer Gazelle wie Steffi mithalten zu können. Er rückte seine Uniform und die Kappe wieder zurecht und ging zum Gebäude zurück. Tommy war nirgendwo zu sehen. Der Platz an der Mauer neben dem Eingang war leer. „Er ist drin, er ist drin!“, rief Steffi Erik zu. „Ja, du warst toll!“ „Hm ja, aber was jetzt?“ „Meinst du, wir sollten warten?“ „Natürlich! Was wäre, wenn sie ihn dabehalten? Dann müssten wir seine Mutter oder seinen Vater holen, um ihm zu helfen.“
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Mit Känguruschritten rannte Tommy die Stufen hinauf. In Windeseile hatte er den zweiten Stock erreicht. Und nun links, dritte oder vierte Tür. Seine Schuhe gaben unangenehme, quietschende Geräusche auf dem linoleumbedeckten Boden von sich. Er wurde langsamer. „Jesus, hilf mir!“, flüsterte er flehend vor sich hin. „Bitte, bitte, Jesus, bring mich hier lebendig wieder raus und mit meinem Ball!“ An der Tür mit der Aufschrift „Buchhaltung“ stoppte er. Plötzlich zuckte ein Gedanke durch seinen nervösen, aufgewühlten Sinn, dass er sich bei dem Mann entschuldigen müsste, nicht nur für dieses eine zerbrochene Fenster, sondern für alle durch Fußbälle zerstörten Fenster im Gebäude. Nie im Leben!, war seine erste Reaktion auf diesen seltsamen Gedanken. Du bist verrückt geworden, überlegte er, du hast wohl deinen Verstand irgendwo auf dem Weg hierher verloren. Er klopfte fest an die Tür, er hämmerte fast dagegen. Das kurze „Herein!“ klang nicht sehr einladend, aber Tommy zögerte nicht. „Guten Tag!“, sagte er nervös zu dem Mann, der mit Handfeger und Schaufel hinter dem Schreibtisch am Boden kniete. Es war Holzbein selbst. „Guten Tag!“ Überrascht hob der Mann den Kopf. „Ja? Was suchst du denn, junger Mann?“ Tommy ließ schnell seinen Blick durch das Büro schweifen. Es war bedeckt mit kleinen Glassplittern. 17
Sogar der Schreibtisch und die Regale waren von dem Splitterregen nicht verschont geblieben. „Ich suche, Herr, meinen ... Es tut mir Leid, ich ... es tut mir Leid, dass ...“ Er hatte seinen Text komplett vergessen. Auge in Auge mit dem berüchtigten, bösen Holzbein zu sein, war keine leichte Sache. Sein Spazierstock, den er manchmal benutzte, um die Kinder vom Rasen zwischen den Gebäuden zu verscheuchen, hing am Hutständer, bereit zum Gebrauch. Der Mann stützte sich auf den Stuhl und stand auf. Er war ziemlich dünn, aber sehr groß. Mit dem Daumen deutete er hinter sich und fragte: „War das dein Ball, der mir durchs Fenster direkt an den Kopf geflogen ist?“ Jetzt konnte Tommy deutlich die Blutflecken an Holzbeins linker Wange sehen. In dem Augenblick begann er zu bedauern, dass er hergekommen war. Er wollte sich umdrehen und davonrennen, aber er fühlte sich, als wären seine Füße am Boden festgeklebt. Die einzige Antwort, die er auf Holzbeins Frage geben konnte, war ein Nicken mit dem Kopf. „Komm schon! Hilf mir, das Zimmer sauber zu machen!“ Der Mann fragte mit Entschiedenheit: „Wie heißt du?“ „Wie ich heiße?“ Tommy musste einen Augenblick überlegen. „To ... Tommy“, brachte er stotternd heraus. „Dann mach du mal, Tommy, den Boden sauber, und ich kümmere mich um meinen Schreibtisch. Nimm den anderen Besen, er steht hinter dem Schrank“, wies Holzbein ihn an. Vorsichtig bewegte Tommy sich vorwärts. Glassplitter knirschten unter seinen Schuhsohlen. Er nahm den Besen mit dem langen Holzstiel und fing 18
an zu arbeiten. Als er am Fenster oder besser an dem, was davon noch übrig war, vorbeikam, schaute er hinunter auf den überstrapazierten Rasen mit der Weide in der Mitte. Er sah den Buchsbaum auf der anderen Seite. Zwei Köpfe konnte man dahinter erkennen, und zwei Arme winkten ihm zu. Plötzlich erinnerte er sich wieder an den Grund, weshalb er hergekommen war. So unauffällig wie nur möglich nahm er den ganzen Raum unter die Lupe. Aber der Ball war nicht zu sehen. Vielleicht war er wirklich zu spät gekommen. Er beschloss, schnell den Boden zu reinigen und dann nach dem Ball zu fragen. „Wie alt bist du, Tommy?“, ertönte es unerwartet von hinter dem Schreibtisch. „Ich? Äh ... dreizehn.“ „Ich habe dich manchmal durch das Fenster beobachtet. Du bist ein guter Fußballspieler.“ Tommy hörte auf, den Besen zu schwingen. Er versteifte sich, als hätte er einen Stock verschluckt. Alarmstufe rot. Was wollte Holzbein von ihm? „Du bist ein Teamspieler – das gefällt mir. Doch was ich am meisten schätze, ist, dass du Mut hast.“ Die Stimme des Mannes klang genauso ermutigend wie seine Worte. Es brachte Tommys Kopf zum Rauchen. Holzbein sollte, ja musste geradezu zornig auf ihn sein, grübelte er. Was war denn dies nun für ein Spiel? „Weißt du, wie viele Bälle hier durch die Fenster der verschiedenen Büros geflogen sind? Versuch mal zu raten. Nehmen wir mal nur die letzten fünf Jahre. Wie viele?“ Tommy schluckte schwer. Jetzt kommt es, dachte er, jetzt will er mich für all die zerbrochenen Fenster zahlen lassen. 19
„Fünf?“, versuchte er zu raten. Sein Mund fühlte sich ganz trocken und verklebt an. Er dachte schon daran, wie seine Mutter reagieren würde. Fünf Fenster? Wie viel würden die kosten? Die Reaktion seines Vaters auf eine solche Nachricht war jenseits aller Vorstellungskraft. „Ha, ha“, lachte der Mann. „Mehr. Viel mehr. Rate weiter, noch einmal.“ Ein eisiger Hauch kroch über Tommys Körper. Seine Haut zog sich durch eine Gänsehaut zusammen. „Mehr? Zehn ... zehn?“ „Nun, schon näher.“ Der Mann fand die Situation offenbar amüsant. Er setzte sich auf seinen Drehstuhl und schwang ihn nach links und rechts. „Ich werde dir sagen, wie viele ... oder nein, ich werde es dir besser zeigen. Geh mal dort zum Schrank.“ Er deutete auf einen großen Büroschrank, der bis an die Decke ging. „Geh schon, mach ihn auf! Beide Seiten!“, befahl er. Tommy setzte sich langsam in Bewegung und drückte den Besen fest an sich. Jede Faser in ihm schrie laut: „Laufe davon, so schnell du nur kannst!“ Er liebte Geheimnisse und Detektivgeschichten, aber das hier bedrohte seine eigenen Geldersparnisse und vielleicht sogar sein Leben! Die Tür war nur fünf oder sechs Schritte entfernt. Schnell überdachte er seinen Rückzug. Er könnte am Tisch vorbeirennen und ohne Zögern die Tür erreichen. Es war das Beste, was er tun konnte. Plötzlich stand der Mann auf. „Ich denke, ich weiß, wie du dich fühlst, Tommy. Als ich in deinem Alter war, habe ich auch einige Fenster zerbrochen. Eines musste ich sogar von meinem eigenen Geld bezahlen.“ 20
„Ich habe noch keines zerbrochen!“, reagierte Tommy augenblicklich. Er würde nie verraten, wer den Ball in das Fenster geschossen hatte, aber er wollte die Schuld für die Zerstörung auch nicht auf sich nehmen. „Ich gebe Ihnen mein Wort! Ich habe keines dieser Fenster hier zerbrochen“, verteidigte er sich. „Nun, bei einigen Gelegenheiten hast du aber mitgespielt, oder? Und hast du nicht gesagt, das heute wäre dein Ball?“ Auf diese beiden Fragen gab es nur eine Antwort. „Ja!“, gab er zu. „Aber wir wollten nichts kaputt machen! Aber ... aber es gibt nirgendwo einen anderen Platz hier zum Fußballspielen, wo keine Fenster herum sind, und ...“ Tommy dachte intensiv über eine Verteidigungsstrategie nach. Dann fiel ihm plötzlich sein ursprünglicher Plan wieder ein, einfach nur um Gnade zu bitten. Verteidigung und Erklärungen waren in dieser Situation eine Sackgasse, die nirgendwo hinführte. Er senkte den Kopf, um Bedauern zu zeigen. „Es tut mir Leid wegen dem Fenster, äh ..., es tut mir wirklich Leid.“ Der Mann sagte nichts, er kam nur hinter seinem Schreibtisch hervor und bewegte sich auf den Stapelschrank zu. Seine Schritte waren kurz und passten gar nicht zu seiner Körpergröße. Das künstliche Bein unterstützte das gesunde Bein nicht völlig. Aber er konnte trotzdem sehr schnell gehen, wenn er wollte. Erik war nicht in der Lage gewesen, diesem verkrüppelten Mann im letzten Jahr davonzulaufen, als er mit dem Ball eine ganze Reihe roter Tulpen abgemäht hatte. Tommy erinnerte sich immer noch, wie sein Freund über die schmerzhafte Berührung des Stockes auf seiner Schulter gejammert hatte. 21
Das künstliche Bein machte Holzbeins sportliche Fähigkeiten nicht völlig zunichte, sondern begrenzte sie nur bis zu einem gewissen Grad. Und wegen dieser Prothese nannte alle Welt ihn nur „Holzbein“, obwohl die Prothese gar nicht aus Holz, sondern aus Metall war. Der Mann öffnete beide Türen des Stapelschrankes weit und trat einen Schritt beiseite. Seine Augen leuchteten wie bei einem Jäger, der seine größten Trophäen glücklich und stolz zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Tommy war überwältigt vor Überraschung. Er ließ den Besen fallen genau wie seinen Unterkiefer. Was er sah, war ein atemberaubendes Bild. In dem ganzen Stapelschrank gab es nicht ein einziges Regalbrett, das nicht mit Bällen gefüllt war. Auf jedem Brett lagen fünf oder sechs Bälle in allen nur möglichen Arten, Farben und Größen. Einige waren sehr alt und hatten nur noch wenig Luft, einige leuchteten noch, als wären sie gerade aus dem Geschäft gekommen. Tommy erkannte seinen Ball mit dem Autogramm von Ailton. Er schrie danach, vom obersten Fach befreit zu werden. In der Mitte des Schrankes lag noch ein weiterer Fußball, der ihm sehr gut bekannt war. Sie hatten den ganzen letzten Sommer damit gespielt, bevor er durch das Fenster eines anderen Büroraumes gesaust war. Er gehörte Manuel. „So, dann schau dir meine Sammlung mal gut an!“, befahl Holzbein. „So viele Bälle du hier siehst, so viele Fenster sind in unserem Gebäude zerbrochen worden. Dein Ball ist Nummer 27.“ Das ging über Tommys Vorstellungskraft. Siebenundzwanzig Fenster, wer konnte das ertragen? Für einen Moment schaltete er ab. 22
„Ich habe sie alle gesammelt seit ... ja, seit über fünf Jahren schon.“ Holzbeins Geständnis brachte Tommy in die Realität zurück. Er runzelte die Stirn. Ein großes Warum stand ihm buchstäblich im Gesicht geschrieben. „Jedes Mal, wenn ein Ball durch ein Fenster geflogen kam“, erklärte Holzbein, „bekam ich ihn von meinen Kollegen mit der Hoffnung, einmal persönlich dem Übeltäter gegenübertreten zu können, dem wir die Zerstörung verdankten, aber ...“, traurig blickte der Mann auf all die Regale des Schrankes, „... aber, wie du siehst, ist niemals jemand gekommen. Nun, bis heute natürlich!“ Er wendete sich Tommy zu. „Das ist der Grund, warum ich gesagt habe, du hast Mut.“ Das freundliche Lächeln ließ seine weißen Zähne sichtbar werden. Tommy war sicher, dass ihm nun die große Rechnung präsentiert werden würde. Das ganze coole Gerede sollte wohl nur den Boden bereiten für den großen, letzten Schlag. Doch ganz egal, was kommen würde, er entschloss sich, der Hilfe von Jesus zu vertrauen, die er schon so oft erlebt hatte. Holzbein humpelte zu seinem Schreibtisch zurück. „Ich habe einen Sohn, der etwas älter ist als du. Du sagst, du bist dreizehn? Ah ja, und er ist zweiundzwanzig, beinahe dreiundzwanzig. Ein guter Fußballspieler, sehr schnell und sehr gewandt. Sogar der FC Köln wollte ihn einmal haben, ein echtes Talent. Er ist zum Spielen geboren.“ Überrascht hörte Tommy zu. Der Mann musste einiges über Fußball wissen, wenn sein Sohn ... Er hätte am liebsten nach dem Namen gefragt. Vielleicht hatte er schon einmal etwas von ihm gehört oder in einem Sportmagazin gelesen. „Ich dachte ...“, Holzbein setzte sich wieder hin23
ter seinen Schreibtisch, „ja, ich war ganz sicher, dass er schnell einer der besten Spieler hier in Deutschland werden würde.“ Plötzlich veränderte sich der Klang seiner Stimme, und sein Gesicht verhärtete sich. „Wusstest du, Tommy, dass Fußballspielen zwischen diesen Bürogebäuden zu jeder Zeit streng verboten ist? Zu laut, zu gefährlich, zu störend. Wusstest du das?“ Tommy schluckte schwer. „Ja, ich ... Es tut mir Leid ... wir ...“, stammelte er nervös. „Wir werden zum Direktor gehen, um darüber zu sprechen“, unterbrach Holzbein. „Aber zuerst wird der Boden fertig gekehrt. Ich hasse Unordnung in meinem Büro.“ Tommy hob den Besen wieder auf. Seine Hände waren vom kalten Schweiß ganz klebrig.
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