Prolog Winter 2003 Omaha, Nebraska Das einzige Problem mit ihrem Leben war, dachte Mary, dass sie keines hatte. Sam war seit zwei Jahren nicht mehr da, aber sie spielte immer noch nach seinen Regeln. Die Last dieses Theaterspielens war einfach zu viel. Sie würde die Tabletten nehmen. An dem Tag, als Sam gestorben war, hatten die Krankenschwester und der Sheriff jedes rezeptpflichtige Medikament registriert. Sie hatten das Oxygesic und die anderen Schmerzmittel im Wert von mehreren Hundert Dollar mitgenommen, um sie zu vernichten. Nur die Schlaftabletten nicht. Die Hospiz-Krankenschwester hatte sie Mary anvertraut und sie sogar gedrängt, welche davon zu nehmen, bis sie einen Termin bei ihrem eigenen Arzt machen konnte. Hätte sie einen Blick in die Flasche geworfen, hätte die Schwester es sich wohl anders überlegt. Mary sammelte schon lange Tabletten. Sie verstand genug von Computern, um eine Suchmaschine zu benutzen und verschiedene Internetseiten aufzurufen. Nun war sie überzeugt, dass sie genug zusammenhatte, um es ohne Schmerzen zu tun – selbst wenn man berücksichtigte, dass manche der Pillen im Laufe der Zeit an Wirkung verloren haben mochten. Sie hatte nicht erwartet, dass ihre Hände beim Öffnen der Flasche so zittern würden. Und sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass sie das Wasser in dem Glas auf ihrem Nachttisch verschütten würde. Während das Wasser über die Tischplatte lief und auf den reliefartigen Teppich tropfte, wurde Mary klar, 5
dass sie zwar glaubte, ein Mensch wie sie würde im Ernstfall vom heiligen Petrus an der Himmelspforte herzlich begrüßt, letztendlich aber gar nicht sicher sein konnte, was geschah, nachdem man ins Gras gebissen hatte, wie Sam es respektlos genannt hatte. Sie schraubte den Deckel wieder auf das Medikamentenfläschchen, schob es unter den Kissenberg, der am Kopfende ihres Bettes aufgetürmt war, und lehnte sich zurück. Dann starrte sie zur Decke hinauf und schimpfte mit sich selbst. Mary Elisabeth McKibbin Davis, du bist fünfzig Jahre alt. Du hast kein eigenes Leben, keine Pläne für die Zukunft und nicht den Mumm, etwas dagegen zu unternehmen. Kein Wunder, dass Sam Elizabeths Namen mit z statt mit s schreiben wollte. Kein Wunder, dass er deine Tochter nach seiner Mutter nannte. Elizabeth Davis hatte ein Rückgrat. Mary Elisabeth McKibbin hat keins. Und mit dieser bitteren Erkenntnis schlief sie ein. Am nächsten Abend war Mary froh, dass sie die Tabletten weggetan hatte. Am Nachmittag war sie in ein Geschäft gegangen und hatte unter lauter Gerümpel etwas gefunden, dessen Aufschrift Hoffnung versprach. Das ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Und dann war da noch das Deckblatt der Zeitschrift, auf dem die Sea Cloud abgebildet war, wie sie durch die Wellen glitt, ihre Segel vor dem leuchtend blauen Himmel gebläht. Aus dem Artikel hatte sie erfahren, dass das Schiff in einer kleinen Hafenstadt in Südfrankreich namens Arcachon zu Hause war. Ihr Herz klopfte ungestüm, als sie den Artikel ein zweites Mal las und nach dem Namen des Kapitäns suchte. Und anstatt die Tabletten zu nehmen, schrieb sie in der Dämmerung des anbrechenden Tages einen Brief.
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Kapitel 1 Lieber Jean-Marc, wenn dich dieser Brief erreicht, wird es ein Wunder aus der Hand des Gottes sein, dessen Existenz du vor so vielen Jahren geleugnet hast. Viel Zeit ist vergangen seit jenem Abend, als Sam dem Bandleader das Mikrofon aus der Hand nahm und alle überraschte, indem er unsere Verlobung verkündete. Du standest an der Tür und blicktest quer durch den zum Bersten vollen Speisesaal zu unserem Tisch herüber. Den Blick, mit dem du mich ansahst, bevor du dich umdrehtest und gingst, werde ich nie vergessen. Das ist beinahe dreißig Jahre her. Mir ist, als wäre es gestern gewesen. Ich ging am nächsten Tag zu deinem Hotel. Aber du warst nicht mehr dort. Ich habe eine erwachsene Tochter. Meine Haare sind jetzt kurz geschnitten, und ich versuche nicht mehr, die Locken zu bändigen oder das Grau zu verstecken. Wenn wir einander auf der Straße begegnen würden, könntest du glatt an mir vorbeigehen, ohne zu wissen, dass ich es bin. Spielst du noch Chopin? Bist du in jenem Sommer um das Mittelmeer gesegelt? Ich habe oft an dich gedacht, auch wenn ich mein Versprechen, dich zu begleiten, nicht gehalten habe. Erinnerst du dich noch an das erste Mal, als du mich zum Segeln mitnahmst? Als wir anlegten, um eine Mittagspause zu machen, hast du ein Stück von dem Baguette abgebrochen, das deine Mutter in den alten Korb gepackt hatte, und 7
Brie daraufgetan. Du hast darauf bestanden, dass es mir besser gehen würde, wenn ich etwas aß. Und du hattest Recht. Anschließend war ich nicht mehr so schrecklich seekrank. Ich esse noch immer gerne Brie. Bald ist Weihnachten, und ich habe beschlossen, nach Paris zurückzukehren. Vielleicht kommt meine Tochter mit. Sam wird nicht dabei sein. Er hat immer gesagt, dass er zuerst sterben würde, und im Gegensatz zu mir hat Sam seine Versprechen immer gehalten. Ich nehme an, dieser absurde Brief ist ein Zeichen dafür, dass ich alt werde. Es heißt ja, dass alte Leute oft ihre Vergangenheit noch einmal erleben wollen. Und dass sie Dinge vergessen. Neulich fiel mir meine eigene Telefonnummer nicht mehr ein. Aber nach all den Jahren erinnere ich mich noch immer an deine Adresse. Ich habe immer versucht mir vorzustellen, dass du auf der Sea Cloud bist. Und jetzt habe ich sie in einer Segelzeitschrift gesehen und erfahren, dass dein Traum wahr geworden ist – sie gehört dir. Wenn ich in den vergangenen Jahren an dich dachte, stellte ich mir auch vor, dass du mit der hübschen Sängerin verheiratet warst, die so unverschämt mit dir geflirtet hat, als wir zusammen waren. Ich hatte den Eindruck, dass sie dich störte, aber sie war wirklich in dich verliebt, und ich habe immer gehofft, dass sie schließlich doch den Mann sehen durfte, den ich kannte. Manchmal habe ich dich sogar mit Kindern und Enkeln vor mir gesehen. Ein Mann, der Geschichten erzählen kann, wie du es tust, sollte unbedingt Enkel haben. Aber der Artikel erwähnt keine Familie – nur ein humorvolles Zitat von dir, dass die Sea Cloud noch immer deine beste Ehefrau sei. Ich kenne nicht alle Gründe, die mich dazu bewegen, diesen Brief abzuschicken. Wahrscheinlich hoffe ich auf irgendeine 8
Mitteilung von dir, dass du mir verziehen hast. Mein Leben besteht nicht nur aus gebrochenen Versprechen. Heiligabend werde ich in Paris an dich denken. Solltest du auch an mich denken, dann stell dir vor, wie ich ... Ach, du weißt schon, wo ich sein werde. Sie hatte fieberhaft geschrieben, aber als sie unter die Notiz, die plötzlich ein Brief geworden war, ihren Namen setzen sollte, zögerte Mary. Sie lehnte sich in dem Ohrensessel zurück, der ihr als Schreibtischstuhl diente. Die Sonne begann über den Horizont zu kriechen und versah den Himmel mit rosaund orangefarbenen Streifen, während sie zugleich den Baumbestand hinter Sams Garten von hinten beschien. Mary legte den Stift nieder, um den Sonnenaufgang durch das große Erkerfenster auf der anderen Seite des Schreibtischs zu beobachten. Während der Himmel sich aufhellte, strich sie geistesabwesend über den verschlissenen Saum des alten seidenen Bademantels, den sie in der Dunkelheit des frühen Morgens übergeworfen hatte. Sam hatte die Farbe nie leiden können. Sie erinnerte ihn an das Wasser des schlammigen Baches, der durch das südliche Ende seines Anwesens verlief. Der glatte Seidenstoff machte ihr bewusst, dass sie an diesem Morgen noch keine Handcreme aufgetragen hatte. Trockene Haut. Ein weiterer Vorbote des Alters. Noch eine Sache, der sie nachtrauern konnte. Sie las den Brief noch einmal, noch immer unsicher, wie sie ihn unterschreiben sollte. In Freundschaft? Kaum eine zutreffende Bezeichnung, weder was ihre Beziehung noch was ihre Trennung betraf. Alles Liebe? Das ließ den nötigen Ernst vermissen. Mit freundlichen Grüßen? Zu förmlich. Als sie sich vorbeugte und die Ellenbogen auf den Schreibtisch stützte, um ihr Kinn auf die gefalteten Hände zu legen, 9
rutschte der weite Ärmel ihres Bademantels hinunter und der fadenscheinige Saum kitzelte sie am Arm. Sam hatte sie schon vor langer Zeit gedrängt, das Kleidungsstück wegzuwerfen. „Du siehst aus wie eine von diesen obdachlosen Frauen, die bei der Heilsarmee in den Kleidersäcken wühlen“, hatte er sich beschwert, als sie den Bademantel aus einem Kleiderhaufen auf dem Boden des Ankleidezimmers gezogen hatte. „Er ist aber bequem“, hatte sie gemurmelt. „Warum kann ich in meinem eigenen Haus keine bequemen Sachen tragen?“ Sam war von hinten an sie herangetreten und hatte die Arme um sie geschlungen. Das Kinn auf ihren Kopf gelegt, betrachtete er sie im Spiegel. „Die Hausangestellten werden nie Respekt vor dir haben, wenn du in so etwas herumläufst.“ Er trug ihren gelben Seidenmorgenrock überm Arm. „So etwas sollte die Dame des Hauses tragen.“ Mit der freien Hand streichelte er ihren Unterkiefer entlang und fuhr spielerisch das Revers des schlammfarbenen Bademantels hinunter. Er knabberte zärtlich an ihrem Ohr. „Wenn Madame sich umziehen wollen?“ Komisch, dass Erinnerungen wie diese in letzter Zeit häufiger hochkamen. Dieser kleine Zwischenfall hatte sich am ersten Morgen nach ihren Flitterwochen ereignet, obwohl Sam sie immer ermahnt hatte, es ihre Hochzeitsreise zu nennen. An jenem Morgen vor so langer Zeit hatte die junge Mary Elisabeth Davis den alten Bademantel abgestreift und den neuen Morgenrock ohne weitere Einwände angezogen. Jetzt, als sie auf das Kleidungsstück hinuntersah und die abgewetzte Seide zwischen den Fingern fühlte, wurde ihr klar, wie symbolisch jene Begebenheit für den Rest ihres Lebens gewesen war. Sie hatte sich in den vergangenen dreißig Jahren oft umziehen müssen. Mit einem Seufzer griff Mary nach dem gerahmten Spruch, der 10
neben der Lampe stand. Sie fuhr mit dem Finger über den verkratzten Metallrahmen und las leise die Worte: Es ist nie zu spät, das zu werden, was du hättest sein können. Sie hatte den Spruch am Tag zuvor in einem Laden beim Alten Markt gefunden. Es war ein Ort, wie Sam ihn verachtet hatte und Mary ihn liebte – eine Ansammlung muffiger hoher Räume voller Regale, die mit Krimskrams, alten Gardinenstangen und Kleidung mit der Bezeichnung Vintage voll gestopft waren. Mary drehte den Rahmen um und lächelte, als sie sah, dass der Aufkleber mit dem Preis von 50 Cents noch auf der Rückseite klebte. Dieses Bild war das Einzige gewesen, was sie auf ihrem Bummel gestern erstanden hatte – an einem Tag, an dem sie eigentlich bei der Druckerei die Einladungen für Elizabeths und Jeffreys Hochzeitsempfang hätte bestellen sollen. Sie würde das also heute machen müssen. Obwohl die Hochzeit erst im nächsten Mai war, wurde Liz schon jetzt nervös. Wenn Mary es sich recht überlegte, kränkte sie die Sorge ihrer Tochter. Liz schien überzeugt, dass ohne ihren Vater alles auseinander fallen würde, ihre Hochzeitspläne eingeschlossen. Als wenn es Sam gewesen wäre, der in all den Jahren den Durchblick gehabt hätte. Die rote Sonne lugte hinter den Hügeln am Horizont hervor, und purpurnes Licht durchflutete den Raum. Mary stellte den Spruch wieder neben ihre Tiffanylampe und dachte an Sams Protest, als sie darauf bestanden hatte, ihren Schreibtisch genau gegenüber von dem großen Erkerfenster aufzustellen. „Es wird dich von der Arbeit ablenken“, hatte er gesagt. „Niemand stellt seinen Schreibtisch direkt vors Fenster.“ „Ich schon“, hatte Mary beharrt. „Ich will hinaussehen.“ Sam hatte bei der Position des Schreibtischs nachgegeben. Aber als es darum ging, welche Arbeit sie tun sollte, hatte er sich durchgesetzt. Seine Definition des Wortes „Arbeit“ war so weit von 11
Marys Ansichten entfernt wie die englischen Ländereien in seiner Familiengeschichte von den irischen Baracken in der ihren. Mary merkte bald, dass ihr Vater über das, was Samuel Davis Marys „Arbeit“ nannte, nur verächtlich den Kopf geschüttelt hätte. Andererseits besaß Michael McKibbin nur das Geld in seiner Hosentasche und hatte keine Erfahrung damit, ein Vermögen zu verwalten, das die vorige Generation verdient hatte. An einem Schreibtisch zu sitzen und Einladungen zu Wohltätigkeitsveranstaltungen zu beantworten, würde ein McKibbin niemals als Arbeit bezeichnen. Und obwohl Mary es ein Vierteljahrhundert lang getan hatte, war es auch für sie nie wirklich Arbeit gewesen. Gott sei Dank tat Elizabeth jetzt all das. Endlich hatte Mary die Freiheit, zu tun, was ihr gefiel. Wenn sie nur herausfinden könnte, was genau sie eigentlich tun wollte. Sie blickte auf den Brief hinab und strich mit dem Finger über seinen Namen. Monsieur Jean-Marc David. Drei Vornamen. Sie hatte ihn immer damit aufgezogen. Während das Licht im Zimmer einen goldenen Ton annahm, griff Mary nach dem alten Kugelschreiber, den sie aus ihrer Schreibtischschublade hervorgekramt hatte, und unterschrieb den Brief. Herzlich, Mary. Sie hörte noch, wie Jean-Marcs wundervolle Stimme ihren Namen flüsterte. Sie hatte drei Jahre lang üben müssen, aber sie glaubte zu wissen, wie man ein richtiges französisches r aussprach. Doch als Jean-Marc ihren Namen sagte, wurde ihr klar, dass sie sich geirrt hatte. Das r war nicht gerollt, und man bildete es auch nicht hinten in der Kehle, wie die Deutschen es taten. Es war ... also, wenn Jean-Marc es als Teil ihres Namens aussprach, war es einfach wunderschön. Ihre Hand zitterte, als sie die Adresse auf den Briefumschlag schrieb. Er wird wahrscheinlich ganz unten in einem Postsack in Arcachon landen. Bestimmt ist die Gegend inzwischen ein großer Parkplatz. Das macht man doch in Urlaubsorten so. Sie bau12
en neu und zerstören dafür die alten Viertel. Mit ihrem Blick auf die Bucht haben die Davids wahrscheinlich schon vor langer Zeit den Ausverkauf mitgemacht. Und selbst wenn nicht – wenn Jean-Marc wie geplant zur See gefahren ist, hat er das Haus bestimmt verkauft, als seine Eltern starben. Und sie leben sicher nicht mehr. Mary stand auf. Sie ging um den Schreibtisch herum zu der Wand mit den bleiverglasten Fenstern und ließ sich auf dem Sitzpolster im Erker nieder. Dann zog sie ein Kissen zu sich heran und schlang die Arme darum. Unten, jenseits der niedrigen Hecke, beleuchtete die Sonne die Wipfel der hundert Jahre alten Pinien, die als Grenze zwischen dem gepflegten Rasen und der Prärie dahinter dienten. Mehrere der Pinien waren von jahrzehntealten Schlingpflanzen umrankt, die sich um die Stämme wanden und in jedem Herbst für Girlanden voller orangefarbener Früchte an den fünf Kaminsimsen im Haus sorgten. Im Morgenlicht leuchteten die Beeren kräftig. Mary bemerkte, dass der erste Frost schon vorbei war und niemand die Ranken geschnitten hatte. Auch gut. Hätte jemand es erwähnt, wäre Cecil Baxter trotz seiner Arthrose in den Knien sicher noch einmal geklettert, und Cecil war viel zu alt, um auf Bäume zu steigen. Sie würde noch vor dem nächsten Frühjahr eine Hilfe für den Garten einstellen müssen, und sie hatte noch keine Ahnung, wie sie das Thema ansprechen sollte, ohne Cecils Gefühle zu verletzen. Mary reckte sich, stand auf und ging hinüber zur anderen Seite des Raumes und in das halb leere Ankleidezimmer. Sie hatte sich noch nie genug aus Kleidern gemacht, um all die Kleiderstangen zu füllen, von den Regalen und Schubladen ganz zu schweigen. „Geht es Ihnen gut, Madam?“ Ein zartes Klopfen an der zweiflügeligen Schlafzimmertür begleitete die tiefe Stimme. 13
„Ich bin heute nur ein bisschen langsam, Irene. Kommen Sie rein!“ Sie öffnete die Wäscheschublade, zog sich dann aber schnell wieder zu ihrem Schreibtisch zurück, packte den Briefumschlag und steckte ihn in die Tasche ihres Morgenmantels, während Irene ein Frühstückstablett auf der Bank am Fuße des Bettes abstellte. Die ältere Frau legte die Stirn in Falten. „Sie brüten doch wohl nichts aus, hoffe ich? Jetzt, wo die Feiertage vor der Tür stehen.“ Mary deutete mit dem Kopf auf die großflächigen Fenster. „Ein wunderbarer Morgen.“ Sie wandte sich ab und steuerte wieder auf das Ankleidezimmer zu, während sie über die Schulter zurückrief: „Ich fahre heute Morgen in die Stadt. Wahrscheinlich esse ich zu Mittag einen Happen bei Val.“ Nachdem sie in ihre ausgeblichene Jeans geschlüpft war, steckte sie die Füße in perlenbestickte Mokassins, bevor sie einen Pullover aus einer Schublade zerrte. Sie erschrak, als sie an der Tür hinter sich Irenes Stimme hörte. „Wie viel haben Sie abgenommen?“ „19 Kilo“, erwiderte Mary, während sie den Pullover über den Kopf zog. „Und fünf muss ich noch.“ Sie drehte sich um und tätschelte ihren Bauch. „Nicht schlecht für ein altes Mädchen, was?“ Sie griff nach einem elfenbeinfarbenen Leinenblazer. „Kann ich Ihnen irgendetwas aus der Stadt mitbringen?“ Irene schüttelte den Kopf. „Sagen Sie Val, sie soll Ihnen einen ihrer Milchshakes zubereiten. Damit Sie mal ein bisschen was auf die Rippen kriegen.“ Mary gluckste amüsiert. „Keine Sorge, meine Gute. Ich falle schon nicht vom Fleisch.“ Wieder drehte sie sich weg und zog eine lederne Mappe von einem der Regale. Schnell nahm sie den Umschlag aus der Tasche ihres Bademantels und schob ihn 14
in die Mappe. Sie blinzelte prüfend in den Standspiegel. Dann hob sie die Brille und spitzte die Lippen, die Stirn in kritische Falten gelegt. Diese beiden Fältchen an den Mundwinkeln waren mit jedem Tag deutlicher zu sehen. Vielleicht Antifaltencreme. Vielleicht Botox. Meredith im Club ließ es sich regelmäßig spritzen und schwor auf ihren Arzt. Und sie sah tatsächlich ein bisschen jünger aus. Irene räusperte sich. „Sie gehen zur Post?“ Mary richtete sich auf. „Warum?“ „Ich habe gerade gesehen, dass Sie einen Brief eingesteckt haben.“ Irene deutete mit dem Kopf auf die Ledermappe. „Wenn Sie zur Post gehen, würde ich Sie bitten, Briefmarken mitzubringen.“ „Kein Problem.“ Mary rauschte an ihr vorbei. „Vergessen Sie nicht, dass ich zum Mittagessen nicht zu Hause bin!“ Sie eilte ins Schlafzimmer, wobei sie lange genug bei dem Frühstückstablett stehen blieb, um einen Schluck Kaffee zu trinken. „Bis später.“ Mary zögerte. „Und vielen Dank noch mal für die Hilfe gestern beim Abendessen.“ Ihre Hand lag auf dem Türknauf. „Ich glaube, ich habe Ihnen noch nie gesagt, wie viel Sie mir bedeuten, Irene. Sie haben mich in all den Jahren vor so mancher gesellschaftlichen Katastrophe bewahrt. Und das war gestern Abend auch wieder so.“ Irene schnaubte verächtlich und schüttelte den Kopf. „Ach was. Sie hätten es verstanden.“ „Das glauben Sie. Aber sie hätten nur so getan, als ob sie es verstehen. Und heute im Club hätten sie sich die Mäuler zerrissen, wenn Sie nicht gekommen wären und mich daran erinnert hätten, nach Hause zu gehen. Wie konnte ich nur vergessen, dass ich die Goldenhirsches eingeladen hatte?“ Mary sah nachdenklich drein. „Ich mag Maude. Wirklich!“ „Wahrscheinlich hat sie selbst in ihrer Karriere das eine oder 15
andere Abendessen vergessen“, vermutete Irene, während sie sich über Marys Bett beugte, um die Kissen zu richten. „Und Elizabeth war da. Es wäre nicht so schlimm gewesen.“ „Okay, vielleicht hätte Maude nichts gesagt. Aber Elizabeth wäre es schrecklich peinlich gewesen. Ich weiß, dass sie mit der Unterstützung der Goldenhirsches für den Klinikanbau und die neue Onkologiestation rechnet.“ Irene richtete sich auf. „Elizabeth hätte es überlebt. Es ist schließlich nicht so, dass sie selbst noch nie etwas vergessen hätte. Und der Geburtstag ihrer eigenen Mutter ist ja wohl wesentlich wichtiger als ein Essen mit reichen Freunden!“ „Ach, kommen Sie, Irene“, sagte Mary. „Das war letztes Jahr. Sie hatte eine Menge Stress, als sie ohne Sam die Geschäfte führen musste. Und ich hatte gesagt, dass sie keinen Aufstand machen sollte.“ „Na, dann haben Sie ja Ihren Willen gekriegt“, sagte Irene. Mary lächelte. „Wissen Sie, dass Sie mich bei meiner ersten und meiner letzten Essenseinladung gerettet haben? Ich verdanke Ihnen wirklich eine Menge. Für alles, was Sie getan haben, habe ich Sie unheimlich gern. Und jetzt machen Sie es gut. Ich kann nicht hier stehen und zusehen, wie Sie mein Bett machen.“ „Ihr Bett zu machen ist Teil meiner Arbeit, Mrs Davis“, erwiderte Irene. Mary zögerte an der Tür und blickte zurück. „Wenn Sie heute Vormittag ein Erdbeben spüren, dann ist das meine Schuld. Ich werde bei der Vorstandssitzung der Stiftung reinschauen.“ Irenes Augenbrauen schnellten nach oben. „Wirklich?“ Mary nickte. „Elizabeth hat gestern etwas gesagt – na ja, eigentlich waren es mehrere Dinge –, und das hat mich auf die Idee gebracht.“ „Die Sache mit George Kincaid“, vermutete Irene. 16
Mary seufzte. „Sam hätte etwas dagegen. Ich will mich ja auch gar nicht einmischen, aber nachdem ich den ganzen Morgen hin und her überlegt habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich es ihm schulde, die Sache in Ordnung zu bringen.“ „Viel Glück“, sagte Irene, während sie die Kissen aufschüttelte. „Danke. Das kann ich gebrauchen.“ Mary warf ihr ein Lächeln zu und ging dann über den Flur auf die Hintertreppe zu. Die Hintertreppe. Sam hatte nie gewollt, dass sie die benutzte. „Das ist der Dienstboteneingang“, hatte er immer gesagt. Die Treppe war schmal und steil, und die Wände waren immer weiß gestrichen gewesen. Als sie an diesem Morgen die Stufen hinabstieg, zögerte Mary und blickte über das Geländer bis zum Eichenboden auf dem Treppenabsatz hinunter. Gelb. Wir werden die Wände gelb streichen. Und ein paar von diesen Schwarzweißfotografien von Paris aufhängen, die ich bei Target gesehen habe. Sie konnte beinahe Sams verächtliches Schnauben hören, mit dem er sein Missfallen ausgedrückt hätte. Gut. Dann kaufe ich mir eine Digitalkamera und mache meine eigenen Fotos.
Irene schlurfte zu dem zerwühlten Bett, während sie sich Sorgen über die George-Kincaid-Sache machte und mürrisch das unberührte Frühstück auf Marys Tablett betrachtete. Sie strich die Laken glatt und schlug die Steppdecken unter, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den empfindlichen Stoff der oberen Decke nicht zu dehnen. Mrs Davis hatte sie vor einem Monat aus einem Antiquitätengeschäft angeschleppt, voller Begeisterung über den Chintz und den Saumstoff, den sie als „Säulen17
druck“ bezeichnete – was immer das bedeutete. Sie hatte die Decke am Fußende ihres Bettes zusammengefaltet und gesagt, sie sei zu brüchig, um sie zu benutzen. Sie wolle sich nur eine Weile daran erfreuen, bis sie eine Entscheidung treffe, wo sie sie aufbewahren wollte. Als sie mit dem Bett fertig war, hielt Irene inne und blickte aus dem Fenster auf die Auffahrt hinaus, von der aus in diesem Augenblick der silberne Austin Healey auf die Straße bog. Das war ein gutes Zeichen. Mrs Davis hatte den Wagen nicht oft gefahren, seit ihr Mann gestorben war. Und sie fuhr zu einer Sitzung ins Büro. Sie zeigte Interesse. Auch das war gut. Vielleicht hatte sie es geschafft. Irene bewegte sich durch das Zimmer und summte bei der Arbeit, während sie die zarten Stoffrollos vor den Fenstern rechts und links im Erker herabließ, den Schreibtisch aufräumte und einen Faden vom Teppich aufhob. Als sie die Kaffeetasse nahm, die Mary auf dem Weg hinaus auf ihrem Nachttisch abgestellt hatte, stieß sie mit dem Fuß gegen einen Gegenstand, der daraufhin unters Bett rollte. Mit einem Seufzer beugte Irene sich hinunter, um ihn wieder hervorzuholen. Eine Flasche mit Tabletten lag auf der Seite, kaum von dem Bettvolant aus Damast verborgen. Irene streckte die Hand danach auf, hob ihre Brille an und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Etikett. Bei Einschlafbeschwerden abends eine oder zwei Kapseln schlucken. Kann Benommenheit verursachen. Die gleichzeitige Einnahme von Alkohol kann die Wirkung verstärken. Beim Betreiben von Fahrzeugen oder gefährlichen Maschinen ist Vorsicht geboten. Irene öffnete die Flasche. Sie enthielt eine Sammlung verschiedener Tabletten. Unterschiedliche Größen. Unterschiedliche Farben. Jede Menge Tabletten. Damit kann man ein Pferd umbringen, dachte sie. Sie sank auf das Sitzkissen im Fenster und schloss die Augen. 18
O mein Gott. Nein, Herr! Irene saß ein paar Minuten reglos da und sah aus dem Fenster. Sie sah ihren Mann, der in diesem Moment auf seinem Aufsitzmäher in den Blick kam. Seine spindeldürren Beine ragten auf beiden Seiten hervor. Er lenkte den Mäher an den Beeten der mehrjährigen Pflanzen vorüber, dann hielt er neben dem Swimmingpool an und stieg ab. Er sah zum Haus herüber. Irene wusste, dass er nach ihr Ausschau hielt. Sie sollten heute den späten Holunder ernten, der an der Rückseite dieser Beete wuchs. Mrs Davis hatte Cecil gebeten, sie vor dem Frost in Sicherheit zu bringen. Irene betrachtete erneut die Tabletten in ihrer Hand. Dann stand sie auf und steckte die Flasche in ihre Schürzentasche. Und gerade dachte ich, sie hätte ins Leben zurückgefunden. Ihr fiel etwas ein, das sie bei einer Talkshow gehört hatte. Menschen taten das manchmal. Dinge in Ordnung bringen. Kurz bevor sie ... Jetzt hör aber auf, Irene Baxter. Das ist doch Unsinn! Aber war es das wirklich? Mrs Davis und Elizabeth kamen in letzter Zeit nicht gut miteinander aus. Ehrlich gesagt, kam Liz kaum noch vorbei. Und was hatte Mrs Davis über den gestrigen Abend gesagt? Irgendetwas davon, dass es ihre letzte Essenseinladung gewesen sei? Und warum hatte sie plötzlich beschlossen, zu dieser langweiligen Stiftungssitzung zu gehen? George Kincaid. Sie wollte die Sache in Ordnung bringen. Was würde geschehen, fragte Irene sich, wenn das alles geregelt war? Und was stand überhaupt in dem Brief, den Mrs Davis in ihrer Tasche versteckt hatte? Irene nahm das Frühstückstablett und ging in Richtung Flur. An der Schlafzimmertür ließ sie ihre Blicke noch einmal durch den Raum schweifen, während sie sich für ihren Hang zur Dramatik schalt. Mrs Davis übernahm allmählich wieder die Kontrolle über ihr Leben. War die Patchworkdecke am Fußende des Bettes nicht ein klares Zeichen dafür? Sie beschäftig19
te sich mit neuen Dingen. Und dann war da die Tatsache, dass sie so schlank geworden war. Sie sah zehn Jahre jünger aus. Und sie fuhr wieder mit dem Austin Healey. Noch immer hin und her gerissen, ging Irene auf die Hintertreppe zu. Am oberen Treppenabsatz warf sie einen Blick zurück zur Suite. Das Morgenlicht strömte durch die offenen Türen in die Diele. Zu groß für eine einsame Frau. Zu groß, Herr. Die Pillenflasche in ihrer Tasche schlug gegen den Handlauf des Treppengeländers. Beim Klang der rasselnden Tabletten seufzte Irene. Bitte sag mir, was ich tun soll!
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