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Susan K. Downs & Susan May Warren

Russland, mein Schicksal – Band 1


Über die Autorinnen: Susan K. Downs wohnt mit ihrem Mann in Ohio. Die fünffache Mutter und Großmutter hat ihre Arbeit in einem Adoptionsbüro aufgegeben, um vollzeitlich Bücher zu schreiben. Susan M. Warren kennt Russland aus ihrer Zeit als Missionarin in Chabarowsk. Sie arbeitet als Schriftstellerin und lebt mit ihrer sechsköpfigen Familie am Lake Superior in Minnesota, wo ihr Mann eine Ferienpension betreibt.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86122-939-1 Alle Rechte vorbehalten © 2003 by Susan K. Downs and Susan May Warren Orginally published in English under the title Ekaterina. Published by Barbour Publishing, Inc., P O Box 719, Uhrichsville OH 44683, USA German © 2007 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH 35037 Marburg an der Lahn Deutsch von Andrea Wegener und Doris C. Leisering – Übersetzungsarbeiten und Lektorat Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH Satz: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH Druck & Bindung: Koninklijke Wöhrmann, Niederlande www.francke-buch.de


Kapitel 1

Seine Treue währt von Geschlecht zu Geschlecht. Psalm 100 Kat Moore blickte nach vorne zu dem Stand der Zollbehörde und schloss die Hand fester um den Messingschlüssel in ihrer Jackentasche. Die Zähne des Schlüssels bissen ihr in die Handfläche, aber der Schmerz ließ ihr neuen Mut durch die Adern schießen. Sie hob das Kinn. Ihre Reise – diese ganz besondere Reise, auf die sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte –, konnte in nur zehn Schritten beendet werden. Sie riss ihren Blick los von den stahlharten Augen des russischen Beamten, der die Pässe kontrollierte, und versuchte stattdessen, in den Gesichtern der anderen Passagiere Trost zu finden. Keiner von ihnen lächelte oder erwiderte auch nur ihren Blick. Sie starrten alle gleichmütig vor sich hin, und Kat merkte, wie sich ihr Hals bei diesem Anblick verkrampfte. Die Fluggäste der KLM-Maschine standen in einer langen, unordentlichen Schlange in einem schäbigen, grauen Flur in Sheremetova 2, dem Internationalen Flughafen von Moskau. Der Geruch von Beton, Schmutz und Müdigkeit hing in der Luft. Ein kalter Luftzug, der wohl von einem Eisberg nördlich von St. Petersburg herrührte, blies durch die metallenen Hängetüren und wirbelte Staub auf. Kat schlang die Jacke fester um sich und verwünschte im Stillen die Person, die in ihrem Reiseführer etwas von „warmem und sonnigem Wetter im Juni“ geschrieben hatte. Vermutlich würde sie das Wetter in der Arktis als „an bedeckten Tagen leicht kühl“ beschrieben haben.

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Die Schlange bewegte sich einen Schritt vorwärts. Kat schob ihren Rucksack mit dem Fuß gerade noch rechtzeitig nach vorne, um nicht von der jungen Frau hinter ihr angeschubst zu werden. Sie war in eine schwarze Lederjacke gehüllt und trug ein blondes Haarteil, das ganz offensichtlich nicht echt war. Noch neun Schritte. Kat merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie versuchte, ihre Aufregung zu überspielen. Sie hatte ihren gesunden Menschenverstand offensichtlich zusammen mit ihrem Gepäck in New York aufgegeben. Die Schatten, die auf die grauen Stuckdecken fielen, halfen ihr auch nicht dabei, sich besser zu fühlen. Die Düsterheit, die von diesem Ort ausging, war einfach bedrückend, daran vermochte auch der große Lüster hoch oben an der Decke nichts zu ändern. Nicht einmal die rosa Dämmerung, die bei der Landung über Moskau gelegen hatte, fand ihren Weg hier hinein, und Kat konnte das Bild von Gefangenen, die auf ein Exekutionskommando zugehen, kaum abschütteln. Von den Stahlträgern an der Decke, die den Raum wie ein Überbleibsel aus einem längst vergangenen Krieg aussehen ließen, hing Staub herunter, und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Ich hoffe wirklich, dass du mich hier unten sehen kannst, Gott, ich könnte einen Freund jetzt ganz gut brauchen. Sie hätte auf Matthew hören sollen. Er war ihr gesunder Menschenverstand, das Gewicht, das sie davon abhielt, vor lauter Träumen vom Boden abzuheben. „Wenn du in der Vergangenheit herumstocherst, kriegst du nur Ärger.“ Seine Stimme klang ihr noch in den Ohren, als sie jetzt zum Himmel aufblickte. Was hatte sie nur geritten, als sie dachte, dass sie munter in einem Land herumspazieren konnte, bei dessen Namen es ihr schon kalt über den Rücken lief? Dieses Grollen, das sich tief im Hals zu bilden schien, wenn man das Wort Rrrrrussssland auszusprechen versuchte … Aber irgendwo hielt Mütterchen

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Russland Kats Stammbaum verborgen wie einen Schatz. Der Schlüssel in ihrer Tasche würde das Geheimnis aufschließen. Wenn Opa doch nur ein kleines bisschen entgegenkommender gewesen wäre mit den Geheimnissen, die ihre NeumannVorfahren umgaben! Vielleicht würde sie dann jetzt nicht hier stehen und versuchen, ihr eingerostetes Russisch auszugraben und vor lauter Anspannung Eselsohren in ihren Reisepass knicken. Edward Neumann war wirklich sehr knauserig mit Antworten auf ihre Fragen gewesen. „Wie ist Oma gestorben?“ oder „Hatte sie hellbraunes Haar wie Mama und ich?“ Zwanzig Jahre später hatte sie herausgefunden, warum er ihren Fragen mit aller Gewandtheit ausgewichen war. Andererseits hatten ihre Fragen auch nicht aufgehört, nachdem sie sein Schweigen verstand. So unmöglich es schien – auch ihre Mutter hatte Edward Neumanns Starrsinn geerbt und es ihrerseits auch geschafft, Kat von allen interessanten Gesprächen auszuschließen, besonders von denen, an deren Ende man murmelte: „Sie ist noch zu jung“ oder „es ist zu gefährlich“. Als sie jetzt in dem Schatten über sich nach einem Lichtstrahl Ausschau hielt, fragte sie sich, ob sie nicht Recht gehabt hatten. Die Schlange schob sich wieder vorwärts. Kat wich der Frau aus, die ihr ununterbrochen ihren Atem in den Nacken blies, und stieß ihren Rucksack um ein Haar dem gut angezogenen Mann vor ihr in die Fersen. Er war groß und muskulös, trug einen schwarzen Trenchcoat und sah aus wie fünfzig. Er sah erst zu ihrem Rucksack, dann zu ihr hin, und seine dunklen Augen blitzten finster. Sein schulterlanges, von grauen Strähnen durchzogenes Haar war aus der hohen Stirn zurückgekämmt, die seine slavischen Vorfahren verrieten. Kat schoss die Röte ins Gesicht. Sie lächelte entschuldigend. Zu ihrem Erstaunen lächelte er zurück, und kleine Fältchen legten sich dabei um seine Augen. „Kein Problem“, sagte er auf Englisch.

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Erleichterung machte sich in Kat breit. „Danke.“ Sie deutete mit dem Kinn zu den Zollbeamten hinüber. „Haben Sie das hier schon mal gemacht?“ Er lachte leise auf. „Schon viel zu oft.“ Sein Akzent ließ sein Englisch noch interessanter klingen. „Keine Sorge. Man muss nur an ihnen vorbei sehen. Schauen Sie auf irgendeinen Punkt über ihrem Kopf, und was auch immer Sie tun – lächeln Sie bloß nicht.“ „Warum denn nicht?“ Er grinste und lehnte sich zu ihr herüber. „Man lächelt nur, wenn man einen Grund hat. Und das ist meistens kein guter.“ Kat nickte mit weit aufgerissenen Augen. Sie hatte offensichtlich noch einige Lektionen vor sich, was internationale Reisen betraf. Dabei hatte sie gedacht, sie sei gut vorbereitet. Russische Reiseführer, Romane, Geschichtsbücher und Bücher mit allerhand Wissenswertem über die russische Kultur füllten die Bücherregale in ihrer Wohnung in Nyack, New York. Sie hatte einen Auffrischungskurs in Russisch mitgemacht und dabei entdeckt, dass ihr die Sprache ihrer Großeltern noch recht vertraut war. Sie hatte sogar einen ReiseWasserfilter gekauft, der die russischen Bakterien von ihr fernhalten sollte. Aber nichts hatte sie darauf vorbereitet, dass sie hier nicht lächeln durfte. Ihre Finger schlossen sich noch fester um den Schlüssel. Die Schlange schob sich wieder ein Stück vorwärts. Kat schien das Herz inzwischen im Hals zu sitzen, und sie versuchte es hinunterzuschlucken, als der Blick des Zollbeamten auf sie fiel. Sie sah auf ihre neuen Wanderstiefel hinunter und hoffte, dass sie nicht irgendwie verdächtig aussah. Wenn sie doch nur die Unverfrorenheit geerbt hätte, die ihren Großvater im Zweiten Weltkrieg zum Helden gemacht hatte – was er übrigens bis heute leugnete. Die Ehrenmedaille, die er in seinem Nachtschränkchen versteckt hatte, hing wohl auch

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mit seinen vielen Geheimnissen zusammen … Und genau diese Geheimnisse wollte sie mit ihrer Reise aufdecken. Vor einigen Wochen hatte sie ein zerknautschtes Paket im Briefkasten gefunden und den Absender mit Mühe entziffert: T. Petrov aus einem Kloster irgendwo in der Nähe von Pskov in Russland. Sie wusste sofort, dass dieses Päckchen, das vor über einem Jahr abgeschickt und mit mehr als einem Dutzend Briefmarken versehen worden war, den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit enthalten würde. Und doch war sie beim Öffnen überrascht gewesen, dass ein wirklicher Schüssel herausgepurzelt war. Der Messingschlüssel hatte ihr schon einige Türen geöffnet. Sie hatte sogar gedacht, dass sie in der Mauer, die dauerhaft um die Gefühle ihres Großvaters errichtet war, einen Riss entdeckt hatte. Und als er sich vor ihrem Abflug am Flughafen mit ihr getroffen und ihr eine vergilbte Fotografie in die Hand gedrückt hatte, hatte in seinen Augen eine solche Traurigkeit gelegen, dass ihr fast das Herz brach. Großvater hatte immer behauptet, dass er sein Herz im Krieg verloren hatte, aber bis zu diesem Moment war ihr nie bewusst gewesen, wie sehr er unter diesem Verlust litt. Kat hatte sich das Bild auf dem endlosen Flug über den Atlantik gut eingeprägt und gehofft, dass sie sich in einem der zwei Gesichter wiederfand. Zwei Frauen standen neben einem Grab, eine von ihnen war angeblich eine entfernte Verwandte. Ihre Gesichter wirkten ausgezehrt, als hätten sie gerade ein Kind oder einen Vater zu Grabe getragen. Die Worte, die in Russisch auf die Rückseite geschrieben waren, ergaben keinen Sinn, selbst wenn man sie in modernes Englisch übertrug: „Denn der Herr ist freundlich und seine Güte währt ewig; seine Treue währt von Geschlecht zu Geschlecht.“ Vielleicht würde sie mit Hilfe des Bildes und des Schlüssels finden, was sie ihr Leben lang gesucht hatte – ihren Stammbaum, ihre Vorfahren, ihre Herkunft. Der Mann vor ihr trat über eine gelbe Linie an den Stand der

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Zollbeamten heran. Kat hob ihren Rucksack auf, schwang ihn sich über die Schulter – wobei sie die Schöne hinter sich nur knapp verfehlte – und schlurfte auf die gelbe Linie zu. Noch ein Schritt, und sie würde in die Vergangenheit treten. Sie hatte jetzt schon den Eindruck, als wäre sie in der Zeit zurückgereist; das hier fühlte sich an wie ein Actionfilm über den Zweiten Weltkrieg, mit Soldaten, die sich ihre Waffe über die Schulter geworfen hatten und in eisengrauen Uniformen steckten. Sie fragte sich, wie es wohl war, als Spion in einem fremden Land zu arbeiten. Matthew würde sicher innerlich zusammenzucken, wenn er von ihren Gedanken wüsste. Er war Arzt in der Notaufnahme, und sein größtes Freizeitabenteuer bestand darin, sich grüne Pepperoni und Zwiebeln auf seine Pizza Margherita zu bestellen. Sie lächelte beim Gedanken an ihn und unterdrückte diese Geste dann sofort wieder, bevor einer aus den feindlichen Truppen in ihrem Gesichtsausdruck las, dass sie etwas zu verbergen haben musste. Trotzdem kicherte etwas ganz tief in ihr bei dem Gedanken an Matthew mit seinem immer perfekt sitzenden Grinsen, das bei der Vorstellung daran verschwand, dass seine unschuldige kleine Freundin sich nach einem Leben voller Abenteuer sehnte. Nein, Ex-Freundin war seit zwei Tagen die korrekte Bezeichnung. „Slyedushi!“ Kat schluckte mühsam, als der kräftige Soldat neben dem Stand seinen Befehl rief. Sie raffte alle Fassung zusammen, die sie aufbieten konnte, trat einen Schritt vor und schob ihren Pass durch das kleine Fensterchen in der dicken Glasscheibe. Eine Frau mit einem breiten Gesicht schnappte sich den Pass, ohne Kat mehr als die Andeutung eines Nickens zukommen zu lassen. Nicht lächeln. Bloß nicht lächeln. Sie starrte die Passbeamtin an … starrte auf die wurstigen Finger, die durch Kats leeren Pass blätterten … auf die buschigen grauen Augenbrauen, die sich beim Anblick des Fotos auf Kats Visum zusammenzogen.

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Die Frau sah auf, um Kat mit der Frau auf dem Foto zu vergleichen. Kat begegnete ihrem Blick, ohne sich irgendeine Gemütsregung anmerken zu lassen, und beglückwünschte sich selbst. „Grund für Ihre Reise nach Russland?“ Die Wangen der Beamtin hüpften beim Reden auf und ab. Kat blinzelte und räusperte sich. „Äh … persönlich“, stammelte sie. Ein Stempel sauste nieder und ein kleiner lila Kreis wurde auf der zweiten Seite ihres Passes sichtbar. Die Frau reichte ihn Kat zurück. „Schönen Aufenthalt noch.“ Kat nahm ihre Papiere entgegen und drückte sie gegen die Brust, in der ihr Herz weiter laut klopfte. Ja. Und wie. „Hier entlang“, wies der Soldat zu einer Sicherheitsschleuse hinüber. Kat ließ ihren Rucksack auf das Laufband plumpsen und trat auf die Schleuse zu. Sie sah zu, wie ihr Rucksack unbeanstandet am anderen Ende herauskam, und die Aufsicht nickte ihr zu. Tritt ein, dachte sie, als sie unter den Bogen trat, in deine Vergangenheit. Das schrille Quietschen einer Sirene ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Sie zuckte zusammen. Die Sirene schien immer lauter zu werden. Zwei Sicherheitsbeamte kamen auf sie zu. Der Soldat hinter ihnen nahm das Gewehr von der Schulter. Eine Hand schloss sich um ihren Arm und riss sie auf dem Weg zurück, den sie gekommen war. „Hier entlang bitte.“ Sie sah auf, geradewegs in die kalten grauen Augen des russischen Soldaten.

„Ist er durch?“ Hauptmann Wadim Spasonow setzte das Fernglas ab und blinzelte, als seine Augen sich an die veränderte Sicht anpassten.

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„Ja. Gerade noch bevor die Sirene losging.“ Er sah über die Menge hinweg, die gegen die Glaswand zur Gepäckabholung drückte. Familien, die auf einen der ihren warteten, Taxifahrer, die Schilder mit Namen hochhielten, Dolmetscher und Geschäftsleute, die in Handys hineinbrüllten und nach den Flugzeiten spähten … sie alle hofften darauf, einen Blick auf die Neuankömmlinge zu erhaschen. „Irgendeine Ahnung, wen er trifft?“ Hauptmann Ryslan Khetrov steckte die Hände in die Taschen seiner Lederjacke. Wadims Kollege sah genauso aus, wie man sich einen Agenten des FSB vorstellte – ein Mitglied des russischen Staatsschutzes. Er hatte kurz geschorenes blondes Haar, ein kantiges Kinn, dunkle Augen und fleischige Hände, die er mühelos um den Hals eines Mannes legen konnte. Wadim war sich nicht ganz sicher, ob das, was sich auf dem Gesicht seines Kollegen ablesen ließ, ein Lächeln oder eine Grimasse war. Er kannte Ryslan noch nicht lange genug, um das einschätzen zu können – und vielleicht würde er das nie. „Keine Ahnung“, gab Ryslan zur Antwort. „Verlier ihn nicht aus den Augen.“ Er wandte Wadim den Rücken zu. „Ich behalt die Menge im Auge; vielleicht sieht ja jemand so aus, als hätte er was mit einem Ganoven aus Abchasien zu tun.“ Wadim spähte durch das Fernglas. „Er ist mehr als ein Ganove. Wenn’s nach ihm ginge, würde er glatt den Krieg wieder anfangen. Er hat schon ein genügend großes Arsenal gekauft, um den Friedensbemühungen einen echten Knacks zu versetzen.“ Er betrachtete den hochgewachsenen Mann in dem schwarzen Trenchcoat, der mitten in der Bewegung innehielt und zur Passkontrolle zurücksah. Iwan Grasowitsch, vormals General beim georgischen Militär und nun abchasischer Dieb auf der Suche nach den Geheimnissen von Mütterchen Russland, mit deren Hilfe er die Revolution seines Landes zu finanzieren gedachte, sah aus wie ein Gelehrter auf Studienreise. Wadims Augen zogen sich zu schma-

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len Schlitzen zusammen, als der Mann sich umwandte und ganz offensichtlich nach jemandem in der Schlange Ausschau hielt. Wadim konnte es kaum erwarten, diesen Schleimer, der Russlands Reichtümer ans Licht gebracht und an den Meistbietenden verscherbelt hatte, endlich zu überführen. Viel zu oft hatte Russland selbst ihm Ware abkaufen müssen, damit sie nicht in fremde Hände geriet. Grasowitsch kaufte mit dem Geld Waffen auf, die ihm im Internet oder von abtrünnigen Kameraden angeboten wurden. Es war alles äußerst paradox und traf Wadim jedes Mal wie ein Schlag. Noch schlimmer war, dass irgendjemand innerhalb Russlands ihm offensichtlich half, seine Schätze außer Landes zu schmuggeln – irgendjemand, der vom Militär genug verstand, um zu wissen, wo der General alte Panzer oder Raketenwerfer aufkaufen konnte. Wahrscheinlich war es dieselbe Person, die wusste, wie man Mütterchen Russland dazu bewegen konnte, die Stücke aus der Vergangenheit zurückzukaufen, während ihre Kinder, die die Zukunft bildeten, hungerten. Bis jetzt hatte der Schmuggler es geschafft, sich mit einer Ikone des heiligen Nikolaus aus dem Land zu stehlen, die mit Gold und Lapislazulisteinen überzogen war, mit einem Gobelin von Peter dem Großen, der noch von 1723 stammte, und mit einer Gänseeier-Uhr von Iwan Lulibin, die aus reinem Gold war. Es waren Nationalschätze, die sie mittels hoher, schmerzhafter Kosten zurückerworben hatten. Heute sollte es anders sein. Wadim hoffte, dass er diesmal den Dieb und den Verräter bei ihrem Treffen ertappen würde. Die Erfüllung dieser Aufgabe konnte ihm glatt eine Ehrenmedaille einbringen. Leider gingen ihnen Grasowitsch und sein Kollege immer wieder durch die Lappen. Wadim sah zu, wie Grasowitsch zur Passkontrolle zurückmarschierte. „Was soll das denn bedeuten?“ „Lass mal sehen!“ Wadim reichte seinem Kollegen das Fernglas. Von der Kabine

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der Militärs aus, die oberhalb der Zollabfertigung lag, konnten sie sowohl die Passagiere als auch die Leute, die sie abholen wollten, gut sehen. Hinter ihnen standen weitere Sicherheitsbeamte und starrten auf Bildschirme; so wurde jeder Passagier gleich zweimal überprüft. Wadim fragte sich, ob es der Beamte hinter ihm oder die Dame unten war, die den schrillen Alarm ausgelöst hatte. Er bemerkte Anfänger Denis Bogdanov, der sich über die Leute vom Sicherheitsdienst beugte, auf jeden Bildschirm sah und dabei die Haltung des Vorgesetzten eingenommen hatte. Wadim verkniff sich sein schäbiges Grinsen. Dem Kleinen wuchs die Begeisterung ja regelrecht aus den Ohren! Der frischgebackene Absolvent der Militärschule mit seinen kurzen schwarzen Haaren und den durchdringenden braunen Augen erinnerte Wadim irgendwie an seine erste Zeit im Dienst, als er selbst der eifrige, gewitzte, aufmerksame Soldat gewesen war, der auf die Aufgabe wartete, die ihn ganz nach oben bringen würde. Wadim wartete immer noch darauf. „Er läuft zurück durch die Sicherheitsschleuse.“ „Was?“ Wadim sah zu, wie Grasowitsch auf eine stämmige Sicherheitsbeamtin zu rannte, die eine verschreckte Amerikanerin aus dem Zollbereich zerrte. Die junge Frau sah kreidebleich aus und konnte mit den elefanten-weiten Schritten der Beamtin kaum mithalten. Wadim trat zu einem der jüngeren Offiziere, der an einem Computer saß. „Wer ist sie?“ „Niemand Besonderes. Heißt Ekaterina Hope Moore. Zum ersten Mal in Russland, in ihrem Pass steht sonst auch kein anderes Land.“ Der dünne Obergefreite in dem grauen Militärhemd tippte irgendetwas in den Computer. „Es heißt hier, sie kommt aus New York.“ „Eingewandert?“ „Nein. Geboren in Nyack, New York, in den Vereinigten Staaten von Amerika.“ „Klasna.“ Wadim strich über die schmerzhaft angespannten

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Muskeln an seinem Hals. „Eine Amerikanerin, die irgendwelche alten Militärstücke verhökern will, hat uns gerade noch gefehlt.“ „Du glaubst, sie könnte Grasowitschs Kontaktperson sein?“ Diese Frage kam von Denis, der sich unter sie gemischt hatte. Wadim beobachtete das Trio unten, als die Beamtin die Amerikanerin zu einem Tisch zog, den Rucksack zur Seite warf und ihr Opfer mit der Sanftheit einer Ringerin abzutasten begann. Die Dame aus New York sah ja nicht gerade wie eine Waffenhändlerin aus, aber andererseits könnte das eine geschickte Tarnung sein. „Ich will mit ihr reden.“ „Damit verscheuchst du glatt Grasowitsch!“ Ryslan griff nach Wadims Jackenärmel. Wadim riss sich los. „Der General hat doch keine Ahnung, wer ich bin. Was den betrifft, könnte ich irgendein Taxifahrer sein.“ Wadim dagegen kannte Iwan Grasowitsch durch und durch. Er wusste, was er zum Frühstück aß, dass er lieber Absolut Wodka trank als Smirnoff, dass man seine letzte Freundin in einem Müllcontainer in Amsterdam aufgefunden hatte. Oh ja. Es mochte zwar erst einen Monat her sein, seit Wadim sich den COBRAs angeschlossen hatte, der Sondereinheit zur Verbrechensbekämpfung innerhalb des FSB, aber trotzdem kannte er Iwan Grasowitsch besser, als er seine eigenen Eltern gekannt hatte. Bei dem Gedanken daran zuckte er innerlich zusammen. Selbst das bisschen, an das er sich noch erinnerte, verblasste nach mehr als zwanzig Jahren zunehmend. Er hatte den Großteil seines Lebens damit verbracht, die Gewohnheiten der jeweiligen Aufsichtsschwester in seinem Kinderheim zu studieren, anstatt von seinem Vater in die Feinheiten dessen eingewiesen zu werden, was es hieß, ein Mann zu sein. Das hatte dazu geführt, dass er sehr viel besser darin war, andere Menschen innerhalb von Sekundenbruchteilen einzuschätzen, als

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darin, Beziehungen aufzubauen. Während er einer Spezialeinheit des Innenministeriums angehört hatte, hatte er das besonders wahrgenommen und weiter ausgebaut. Er hatte so viele enge Freunde, wie in seine geschlossene Faust passten, und das war ihm recht so. Er hatte im zarten Alter von acht Jahren gelernt, wie teuer eine Freundschaft einen Menschen zu stehen kommen kann, und seither hatte er einen weiten Bogen darum gemacht. Ryslan, sein neuer Kollege, kam dem, was er als einen Kumpel bezeichnet hätte, wohl am nächsten, aber selbst dieser Gedanke war nicht besonders ansprechend. Andererseits hatte es durchaus seine Vorteile, zur Elitetruppe der COBRAs zu gehören. Wenn er sich geschickt anstellte, standen die Frauen Schlange bei dem Versuch, sein kaltes Äußeres zum Schmelzen zu bringen. Aber sie sahen nur einen Mann, dessen Vertrautheit mit einem rigorosen Sportprogramm ihm ein paar Muskeln beschert hatte, und die Freundschaft, die sie zu bieten hatten, ließ in seinem Magen ein vages Gefühl der Leere zurück. Er trat die Frauen und die Kumpels gerne an andere ab. Und was die COBRAs betraf, so würde die Festnahme eines bedeutenden Verbrechers ihm hoffentlich den Respekt sichern, den er verdiente. „Will bloß nicht, dass wir ihn aus dem Auge verlieren.“ Wadim riss sich die Lederjacke vom Leib, lehnte sich über seinen Kollegen und nahm eine Uniformjacke von einem Garderobenständer. Er zog dem Obergefreiten die Mütze vom Kopf und setzte sie sich selber auf. „Wenn sie irgendwas mit ihm zu tun hat, finde ich das heraus.“ Ryslan grunzte unzufrieden, als Wadim aus der Kabine ging. Wadim knöpfte die Jacke über seinem schwarzen Pullover zu, als er die Stufen nach unten sprang und dabei inständig hoffte, dass Grasowitsch die schwarze Jeans und die zivilen Schuhe nicht bemerkte, die er statt der ansonsten beim Militär üblichen grauen Hosen und schwarzen Stiefel trug.

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Die Stimme der Amerikanerin war über dem Schwarm von Offizieren hörbar. Sie klang verwirrt und deutete auf irgendetwas in ihrer Hand. Er näherte sich dem größten der Beamten, der sich einige Schritte von den anderen entfernt hielt. „Was ist denn los?“ „Eine Amerikanerin. Sieht so aus, als hätte sie den Alarm mit irgendeinem Souvenir ausgelöst, das sie in ihrer Jackentasche hatte.“ „Was denn für ein Souvenir?“ „Sieht aus wie ein Schlüssel.“ Der Beamte trat zur Seite, so dass Wadim die glücklose Waffenhändlerin aus der Nähe betrachten konnte. Sie sah ungefähr so gefährlich aus wie seine kleine Schwester – wenn er denn eine gehabt hätte. Ihr karamellfarbenes wuscheliges Haar fiel ihr in dicken Strähnen ins Gesicht und ein Knopf ihrer weißen Bluse war aufgesprungen. Ihre Jacke, eine knallrote Angelegenheit, die „ich bin Touristin!“ zu schreien schien, hing ihr lose um die Schultern und wurde an einer Seite vom Gewicht eines fülligen Rucksacks nach unten gezogen, der alle Gewichtsvorgaben zu ignorieren schien. In den großen bernsteinfarbenen Augen stand Angst, und einen Augenblick lang sah sie auf und bemerkte, dass Wadim sie anstarrte. Sie sah so verzweifelt aus, dass er seinen Vorsatz, sie in eines der staubigen Büros zu führen und ihr die Daumenschrauben anzulegen, fast über Bord warf. „Ich bitte Sie, meine Herren, geben Sie der jungen Frau doch ihren Schlüssel zurück und lassen Sie sie gehen“, kam in diesem Moment Iwan Grasowitsch, der Schmuggler und Terrorist, der Amerikanerin zu Hilfe. Wadims Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen, als er beobachtete, wie der Ganove näher kam und der Touristin einen Arm um die Taille legte. „Wir gehören zusammen“, sagte Grasowitsch. Ein hochgewachsener Soldat mit grauen Augen blickte

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Grasowitsch kalt an. „Und wer, bitte schön, sind Sie?“ Wadim trat einen Schritt näher heran, den Blick fest auf die junge Frau gerichtet, und bemerkte, wie die großen Augen noch größer wurden vor Schreck – oder war es Erleichterung? Oh, die war genauso unschuldig wie Genosse Stalin. „Lassen Sie die junge Frau in Ruhe, meine Herren. Sie haben ihr einen solchen Schrecken eingejagt, dass es für den Rest des Tages eigentlich reichen sollte“, lächelte Grasowitsch. Die Leutseligkeit in Person. Wadim widerstand dem Impuls, den Schmuggler am Kragen seines weißen, gestärkten Hemdes zu fassen und die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln – notfalls mit Hilfe des stumpfen Endes seiner Pistole. Stattdessen trat Wadim vor und griff die junge Frau am Arm. „Sie können hinter dem Zoll auf sie warten“, sagte er knapp zu Grasowitsch. Und er ignorierte den finsteren Blick des Mannes und bugsierte Miss Waffenschmuggel durch die Menge und in das Allerheiligste der Grenzpolizei.

Iljitsch hielt sich im Schatten und beobachtete den FSB-Agenten, als er die amerikanische Touristin abführte. Ihm war regelrecht übel vor Ärger und Frust. Man hatte einen Köder für sie ausgelegt, und sie hatte angebissen, und nun würde all das sorgfältige Planen, das Warten und die harte Arbeit an den russischen Spezialagenten scheitern. Sie würden ihre Habe beschlagnahmen, sie im nächsten Flieger in die USA zurückschicken – und seine letzte Hoffnung zerstören, sich irgendwann aus den Fängen des Generals zu befreien. Jedes Mal, wenn Grasowitsch seine Füße auf russischen Boden setzte, machte Iljitsch eine schnelle und schmerzhafte Bestandsaufnahme der Rubel – nein, Dollars – in seinem Besitz und verfluchte im Stillen den Betrag, der ihm noch fehlte. Grasowitsch musste unbedingt Recht

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behalten. Und Iljitsch hatte keine Zeit zu verlieren, endlich ans Ziel zu kommen. Vor allem nicht, weil ihnen das FSB auf den Fersen war. Iljitsch bemerkte, wie Grasowitsch das Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielte, beobachtete. Er sah einfach zu! Wieder einmal würde Iljitsch den Schmuggler aus der Grube holen, die er sich selbst gegraben hatte. Und dann würde er als Babysitter fungieren, in der Hoffnung, dass der General nicht noch mehr Ärger machen würde … etwa, eine Amerikanerin an ihrem ersten Tag in der Stadt zu verführen oder Schlimmeres. Das hatte zumindest Zeit, bis sie ihnen geholfen hatte, das Rätsel des Mönchs zu entschlüsseln. Iljitsch wandte sich um und vergrub die Fäuste in den Jackentaschen. Er verwünschte den Tag, an dem er dem General begegnet war – und jeden weiteren, an dem er ihn gekannt hatte.

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