1 Das Sommergewitter erhellte den nächtlichen Himmel in einem Zackenschauspiel voller Energie, als Blitze zwischen gewaltigen Donnerschlägen zuckten und zerbarsten. Sara Walsh ignorierte das Unwetter, so gut sie konnte, denn sie war entschlossen, sich bei ihren Überlegungen nicht ablenken zu lassen. Sowohl die Schreibtischlampe als auch die Deckenleuchte in ihrem Büro waren eingeschaltet, damit sich keine Schatten im Raum bilden konnten. Was sie schrieb, war beunruhigend genug. Der sechsjährige Junge war gefunden worden … tot. Auf einem Notizblock mit gelblichem Papier formte sie das neunundzwanzigste Kapitel ihres Krimis. Trotz der düsteren Detailliertheit der Szene stockte der Wortfluss nie. Das Kind war wenige Stunden nach seiner Entführung gestorben. Seine Familie, die Mitarbeiter der Strafverfolgung, sogar sein Entführer, wussten das nicht. Sara schreckte nicht davor zurück, die Szene zu beschreiben, obwohl sie wusste, dass dieses Kapitel einen bitteren Geschmack der Niederlage in den Köpfen der Leser hinterlassen würde. Die Wirkung war für den Rest des Buches unabdingbar. Sie strich den letzten Satz durch, fügte ein weiteres Detail hinzu und setzte dann ihre Beschreibung des Bauern fort, der den Jungen fand. Der Donner schien direkt über ihr zu krachen und Sara zuckte zusammen. In ihrem Büro im vierunddreißigsten Stock war sie dem Sturm so nahe, dass sie in dem Bruchteil einer Sekunde, bevor es knallte, die Luft knistern hören konnte. In diesem Augenblick wäre sie lieber in der Tiefgarage gewesen. Ein Blick zur Uhr auf ihrem Schreibtisch zeigte, dass es beinahe acht Uhr abends war. Der Drang, eine Geschichte zu Ende zu bringen, verselbstständigte sich immer, wenn sie bei den letzten Kapiteln angekommen war. Dieses zehnte Buch war keine Ausnahme. Dies war das schwierigste Kapitel im ganzen Roman. Es war besser, es in einem Rutsch fertigzustellen. Der Tod schnürte ihr immer das Herz zusammen. 7
Wäre ihr Bruder in der Stadt gewesen, hätte er darauf bestanden, dass sie zum Ende kam und nach Hause ging. Ihr Leben war so schon eingeengt genug. Er weigerte sich zuzulassen, dass sie ihr ganzes Leben bei der Arbeit verbrachte. Er stand oft im Türrahmen zu ihrem Büro, von wo aus er sie lange ansah und ihr einen Vortrag darüber hielt, was sie alles machen sollte: im Haus herumwerkeln, kochen, sich um die Rosen kümmern, irgendetwas anderes tun, als an diesem Schreibtisch zu sitzen. Sie genoss es sehr, wenn sie Daves gelegentliche Abwesenheit ausnutzen konnte. Sein Rückflug nach Chicago von der FBI-Akademie in Quantico hatte sich wegen des Unwetters verspätet. Als er sie vom Flughafen aus angerufen hatte, war er nicht sicher gewesen, ob er vor elf nach Hause kommen würde. Es wäre kein Problem, versicherte sie ihm, alles sei in Ordnung. Codewörter, die sie jeden Tag aussprach. Sie waren so sehr Teil ihrer Sprache geworden, dass sie sie schon automatisch benutzte. „Alles in Ordnung“ bedeutete: Alles in Ordnung. „Mir geht’s gut“: Jemand ist bei mir. „Ich bin okay“: Ich bin in Gefahr. Sie spielte dieses Spiel schon lange. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen in ihrem Leben waren notwendig. Sie waren allgegenwärtig, lästig, ärgerlich … und beruhigend. Sara drehte sich mit ihrem schwarzen Ledersessel herum, um die Blitze zu beobachten. Die Skyline von Chicago glänzte im Regen. Mit jedem Buch kam eine neue Tatsache, eine weitere Einzelheit, ein neues intensives Gefühl aus ihrer eigenen Vergangenheit zum Vorschein. Sie konnte die trockene Erde förmlich unter ihren Füßen spüren, die erdrückende Finsternis. Noch einmal zu durchleben, was sie vor fünfundzwanzig Jahren erlebt hatte, war schrecklich. Notwendig, aber schrecklich. Ein paar Minuten lang saß sie gedankenverloren da, während sie den Stift zwischen den Fingern drehte. Ihr Widersacher war irgendwo da draußen, noch immer am Leben, noch immer hinter ihr her. Hatte er die Verbindung zu Chicago schon hergestellt? Nach all den Jahren zog sie weiterhin ständig um, bestrebt, der Drohung immer einen Schritt vorauszubleiben. Ihre Familie wusste nur zu gut, wie ernst diese Drohung gemeint war. 8
Der Mann würde sie töten. So wie er vor langer Zeit ihre Schwester getötet hatte. Viel elementarer konnte die Drohung kaum sein. Sie musste sich, was ihre Sicherheit betraf, auf andere und letztlich auf Gott verlassen. Es gab Tage, an denen ihr Glaube unter dem ungeheuren Gewicht dieser permanenten Belastung wankte. Sie lernte gezwungenermaßen, sich von den Ereignissen treiben zu lassen und auf Gottes oberste Hoheit zu vertrauen. Der Notizblock neben ihr war mit Gesichtern vollgekritzelt. Irgendwann würde ihre Erinnerung das eine Bild freigeben, das sie so gerne gezeichnet hätte. Sie wusste, dass sie den Mann gesehen hatte. Welche Folgen auch immer die Erinnerung haben würde, was auch immer der Preis dafür war – wenn sie dadurch Gerechtigkeit für sich und ihre Schwester erlangen konnte, war es das wert. Sie konnte das Bild einfach nicht heraufbeschwören, so sehr sie es sich auch wünschte. Sie war die Einzige, die noch glaubte, dass sie sich jemals würde erinnern können. Die Polizei, das FBI, die Ärzte, sie alle hatten die Hoffnung schon vor Jahren aufgegeben. Sie berührte ein verblichenes Foto ihrer Schwester Kim, das neben einer weißen Rose auf ihrem Schreibtisch lag. Es war ihr egal, was die anderen dachten. Bis der Mörder gefasst war, würde Sara niemals die Hoffnung aufgeben. Gott war gerecht. An dieses Wissen klammerte sie sich und an die Hoffnung, dass der Tag des Gerichts irgendwann kommen würde. Bis dahin trug sie Schuldgefühle mit sich herum, die ihr Herz fest im Griff hatten. Als sie ihre Zwillingsschwester verloren hatte, war auch ein Teil von ihr selbst verloren gegangen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schreibtisch zu und überlegte, ob sie an diesem Abend noch weiterarbeiten wollte oder nicht. Sie wollte nicht. Sie schob den Notizblock und den Entwurf für das Kapitel in die Mappe, die neben der Computertastatur lag. Als der Regen losging, hatte sie den Rechner ausgeschaltet, weil sie nicht riskieren wollte, dass ein Blitzeinschlag in den Trafo oder das Gebäude selbst einen Stromschlag zur Folge hatte. Als sie die Mappe verstaute, fiel ihr Blick auf das gerahmte Bild in der einen Schreibtischecke. Ihre beste Freundin heiratete. Sara beneidete sie. Sie spürte, wie das Gefühl der Rebellion wieder in 9
ihr aufstieg. Das Bedürfnis, sich von den engen Sicherheitsvorkehrungen um sie herum zu befreien, kam und ging. Ellen hatte ihre Freiheit und ein Leben. Sie würde einen wunderbaren Mann heiraten. Sara sehnte sich danach, eines Tages die gleiche Möglichkeit zu haben. Ohne Freiheit war das nicht möglich, und das tat weh. Mit jedem Tag, der verstrich, opferte sie ihren Traum ein Stückchen mehr. Sie zog die Schreibtischschublade auf, holte ihr Portemonnaie heraus und nahm dann ihre Aktentasche. Ihr Büro hatte einen weichen, tannengrünen Teppichboden und elfenbeinfarbene Wände. Die Möbel kamen aus Europa, die Regale waren aus Mahagoni. Dies war das Büro, in dem H. Q. Victor, der international bekannte britische Schriftsteller, arbeitete. Sie nahm ihren Regenmantel von der Garderobe neben der Tür. Mit ihrem Londoner Regenmantel sah sie sogar britisch aus. Als sie in das Vorzimmer trat, ging das Licht automatisch an. Es erhellte einen riesigen Empfangsbereich, dessen Wände Kinderbücher von Sara J. Walsh zierten – fünfunddreißig an der Zahl. Sara griff hinter sich und löschte das Licht im Büro. Etwa sechs Meter entfernt lag ein zweites Büro, an dessen Tür der Name Sara Walsh in goldenen Buchstaben auf das Namensschild gemalt war. Dort schrieb sie ihre Kinderbücher, illustrierte sie, verbrachte vergnügliche Stunden damit. Das Büro hinter ihr trug kein Namensschild. Als sie die Tür der Bürosuite abschloss, wurde eine Lichtschranke hinter ihr ausgelöst, die die Räume sicherte. Ihre Suite lag im Ostturm des Bürogebäudekomplexes. Mit ihren fünfundvierzig Stockwerken ergänzten die beiden erst kürzlich erbauten Türme die ohnehin beeindruckende Skyline der Innenstadt um zwei weitere Silhouetten. Sara mochte den modernen Bau und die Einkaufsmöglichkeiten im Erdgeschoss. Was sie nicht mochte, war die Fahrt im Fahrstuhl, denn sie war nicht gerne in geschlossenen Räumen, aber angesichts des Ausblicks hielt sie dieses notwendige Übel für vertretbar. Der Lift, der an diesem Abend vor ihr hielt, kam von zwei Stockwerken unter ihr. Es gab zwei Verbindungsgänge zwischen Ost- und Westturm, einen im sechsten Stock und einen in der Lobby. Sie 10
nahm diesmal den Gang im sechsten Stock und ging ihn selbstbewusst, aber zügig entlang. Sie war allein auf dem breiten Gang. Manchmal begleitete Travis sie, aber sie hatte seine Gesellschaft mit einer Handbewegung abgelehnt und ihm gesagt, er solle essen gehen. Wenn sie ihn brauchte, würde sie ihn anpiepsen. Das Klacken ihrer Absätze hallte über den Marmorfußboden. Unter jedem Turm gab es eine Tiefgarage, aber wenn sie unter dem Gebäude parkte, in dem sie arbeitete, musste sie auf eine Einbahnstraße hinausfahren, unabhängig davon, welche Ausfahrt sie nahm. Es war ein Muster, das jemand beobachten und vorhersagen konnte. Ihre Route und die Tageszeit zu wechseln und dabei einen der beiden Gänge zu nehmen, war ein besserer Kompromiss. Hoffentlich konnte sie so mögliche Gefahren kommen sehen. *** Adam Black ließ den Stift, den er in der Hand gehalten hatte, auf seinen weißen Notizblock fallen und stand auf, um zum Fenster zu gehen. Er blickte in das Gewitter hinaus, dessen Blitze das Gebäude umzuckten. So fühlte er sich innerlich. Stürmisch, tobend. Er hatte mehr als seinen Vater verloren – er hatte die Vertrauensperson in seinem Leben, seinen besten Freund verloren. Dass er mit dem Kummer fertig zu werden versuchte, indem er sich in die Arbeit stürzte, wühlte ihn nur noch mehr auf. Der Abschnitt im vierten Kapitel des Markusevangeliums, in dem das Meer vom Sturm gepeitscht wird und Jesus im Boot schläft, kam ihm in den Sinn und entlockte ihm ein Lächeln. Was hatte Jesus gesagt? „Warum fürchtet ihr euch? Habt ihr immer noch keinen Glauben?“ Das passte zu diesem Abend. Er rieb sich den Nacken. Seine momentanen Werbeverträge liefen in drei Monaten aus. Allmählich drängte man ihn – welche Verträge würde er erneuern? Welche neuen sollte er in Erwägung ziehen? Was würde es die Leute kosten, seinen Namen und sein Image benutzen zu dürfen? Die geschätzten Dollarbeträge, die sein Schwager Jordan ihm genannt hatte, waren astronomisch. 11
Ein Berg Anfragen war gesichtet, aber was übrig blieb, war immer noch so viel, dass der Stapel auf den Boden zu rutschen drohte. Er musste sich jetzt nur noch entscheiden. Gott, was soll ich tun? Die Entscheidungen, die er traf, würden den Tagesablauf der nächsten fünf Jahre seines Lebens bestimmen. Wenn er zu einer Sache Ja sagte, musste er notgedrungen zu etwas anderem Nein sagen. Lag es daran, dass er sich nicht entscheiden wollte, oder daran, dass er sich nicht festlegen wollte? Es fiel ihm schwer zu definieren, was er wollte. Er war rastlos. Seit drei Jahren tat er mehr oder weniger dasselbe: seinen Namen im Bewusstsein der Öffentlichkeit halten und sein Geschäft aufbauen. Es war zur Routine geworden. Er hasste Routine. Sein Vater hätte gelacht und gesagt, wenn die Arbeit keinen Spaß mehr mache, sei es an der Zeit, sich etwas anderes zu suchen. Zwischen dem ersten Herzinfarkt und seinem Tod hatten sie acht Tage zusammen gehabt. Acht gute Tage, trotz der Schmerzen. Adam hatte im Krankenhaus am Bett seines Vaters gesessen und über alles Mögliche geredet. Sie hatten beide gewusst, dass sie nicht mehr viel Zeit haben würden. „Ich werde schon bald in der Herrlichkeit wandeln“, witzelte sein Vater jeden Abend, wenn sie sich verabschiedeten, ohne zu wissen, ob sie sich noch einmal wiedersehen würden. Und Adam hatte seine Hand gedrückt und erwidert: „Wenn du dort ankommst, halt mir schon mal einen Platz frei.“ „Ich halte zwei frei“, sagte sein Vater dann mit einem Augenzwinkern, das Adam zum Lachen brachte. Adam warf einen Blick auf die rote Mappe, die er zwischen das Bild seines Vaters und den in Glas eingefassten Football auf dem Sideboard gelegt hatte. Nein, er würde die Liste in der Mappe heute Abend nicht noch einmal lesen. Er kannte sie bereits auswendig. Es war Zeit, nach Hause zu gehen. Zeit, dass der Hund etwas zu fressen bekam, wenn er selbst schon keinen Appetit hatte. ***
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Sara beschloss, im Westturm mit dem Fahrstuhl bis zur Tiefgarage hinunterzufahren, anstatt die sechs Stockwerke zu laufen. Um Zeit zu sparen, konnte sie ein paar Etagen lang die Zähne zusammenbeißen. Sie betätigte den Knopf mit dem Pfeil nach unten und beobachtete alle vier Aufzüge, um zu sehen, welcher zuerst halten würde. Es war der auf der linken Seite, der aus dem zehnten Stock kam. Als er hielt, streckte sie die Hand aus und drückte auf die Taste der Tiefgarage, betrat den Fahrstuhl aber nicht. Heute würde sie den zweiten nehmen. Er kam aus dem fünfundzwanzigsten Stock. Sara schob den Regenmantel über ihrem Arm zurecht und nahm ihre Aktentasche in die andere Hand. Der Aufzug hielt und die Tür glitt zur Seite. Ein Mann war in dem Fahrstuhl. Sie erstarrte. Er stand an die Rückwand gelehnt und sah aus, als hätte er lange gearbeitet. In einer Hand hielt er eine Tasche, in der anderen eine Sportzeitschrift, und seine blauen Augen blickten sie an. Sie sah kurz den bewundernden Blick in seinen Augen. Wenn du einsteigst, ist es riskant; wenn du zurücktrittst, ist es auch riskant. Sie kannte ihn. Sein Gesicht war so vertraut wie das jedes Topsportlers im Land, obwohl er seit drei Jahren kein aktiver Footballer mehr war. Seine Werbeengagements und Wohltätigkeitsaktionen waren ohne Unterbrechung weitergegangen. Adam Black arbeitete in diesem Gebäude? Es war ein Alptraum. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war die Nähe eines Menschen, der die Medien förmlich anzog. Sie zögerte, dann ging sie hinein, während ihre Hand sich fester um den Griff ihrer Aktentasche schloss. Ein Blick auf die Anzeige im Fahrstuhl zeigte, dass er bereits das Parkdeck gewählt hatte. „Auch lange gearbeitet?“ Seine Stimme war tief, mit einem Hauch nordöstlichen Akzents, und sein Lächeln war freundlich. Sie antwortete mit einem unverbindlichen Kopfnicken. Der Fahrstuhl setzte sich lautlos in Bewegung. Sie hatte genug Zeit in europäischen Pensionaten verbracht, um sich nicht hängen zu lassen. Ihre Haltung war gerade, ihr Rückgrat 13
entspannt, auch wenn sie nervös war. Sie hasste Aufzüge. Sie hätte die Treppe nehmen sollen. „Ein ziemliches Unwetter da draußen.“ Die Absätze ihrer Lacklederschuhe sanken in den jadegrünen Teppichboden, als sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. „Ja.“ Noch drei Stockwerke. Die Lampen flackerten ein wenig, dann blieb der Fahrstuhl mit einem Ruck stehen. „Was?“ Sara spürte Adrenalin in ihren Adern aufflackern. Er stieß sich von der Wand ab. „Ein Blitzschlag muss den Stromkreis unterbrochen haben.“ Eine Sekunde später wurde es im Fahrstuhl schwarz. Zehn Sekunden vergingen. Zwanzig. Saras Adrenalin ließ ihr das Herz bis zum Hals schlagen. Stockfinster. In einem geschlossenen Raum. O nein, Herr. Es ist dunkel. Bitte hol mich aus diesem Kasten raus! „Wie lange wird es wohl dauern, bis sie es repariert haben?“ Sie versuchte, ihre Worte ruhig und fest klingen zu lassen. Jahrelang hatte sie geübt, sich unter Kontrolle zu haben, aber das hier war etwas, das sie nicht kontrollieren konnte. „Es dauert vielleicht ein paar Minuten, aber sie werden den Kurzschluss finden, und dann fährt der Aufzug wieder.“ In dem engen Raum klangen die Geräusche lauter, als er sich bewegte. Hatte er seine Aktentasche abgestellt? Sie konnte sich nicht erinnern, ob es in dem Aufzug einen Notruf gab oder nicht. Wie konnte es sein, dass sie seit drei Monaten diesen Aufzug benutzte und nicht nach etwas so Einfachem geguckt hatte? „Kein Telefon, und ich habe den Eindruck, der Notschalter tut’s auch nicht.“ Sara holte tief Luft und versuchte, ihren Puls zu verlangsamen. Weder ihr Handy noch ihr Piepser würden im Lift funktionieren. „Sie sind sehr schweigsam“, sagte er schließlich. „Ich will hier raus“, antwortete sie langsam, um die Tatsache zu verbergen, dass ihre Zähne Anstalten machten zu klappern. „Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssten.“ Sie hätte am liebsten erwidert: „Sie waren auch noch nie in einem stockfinsteren Keller eingesperrt, wo Sie verrecken sollten“, 14
aber die Gefühle und die Panik überwältigten sie bereits. Ihre Bewältigungsstrategien versagten, wenn sie sie am dringendsten brauchte. Ihre Hände ballten sich in der Dunkelheit zu Fäusten und die Fingernägel bohrten sich in ihre Handflächen. Sie würde damit fertig werden. Sie hatte keine andere Wahl. Es war einfach nur dunkel. „Betrachten Sie es von meinem Standpunkt aus. Ich sitze mit einer schönen Frau in einem Fahrstuhl fest. Es gibt schlimmere Schicksale.“ Sie hörte ihn kaum. Herr, warum ausgerechnet heute Abend? Bitte nicht! Die Dunkelheit war so schlimm, dass sie Übelkeit in sich aufsteigen fühlte. „Tut mir leid, ich wollte Ihnen mit meiner Bemerkung nicht zu nahe treten.“ Sie hätte nicht antworten können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Ein einziger Gedanke beherrschte sie – zu überleben. In dem Augenblick, in dem sie klar denken musste, war ihr Verstand entschlossen, sich in die Vergangenheit zurückzuziehen. Ihre Hände erstarrten in kaltem Schweiß. Nicht hier. Nicht, wenn jemand anders dabei war. Eine Rückblende zu durchleben, wenn ihr Bruder Dave in der Nähe war, war schlimm genug. In Gegenwart eines Fremden wäre es furchtbar. *** Adam verstand das Schweigen nicht. Die Frau war offenbar auf dem Fleck erstarrt. „Vielleicht hilft es, wenn wir uns vorstellen. Ich heiße Adam Black. Und Sie sind …?“ Schweigen. Dann ein leises: „Sara.“ „Hi, Sara.“ Er streckte eine Hand aus, während er sich fragte, warum sie so angespannt war. Kein nervöses Lachen, kein Plappern, nur steife Starre. „Hören Sie, da es so aussieht, als würde es ein bisschen länger dauern, könnten wir doch eigentlich versuchen uns hinzusetzen.“ Seine Hand berührte ihre. Sie machte eine ruckartige Bewegung und er zuckte zusammen. Ihre Hand fühlte sich eisig an. Diese Dame war nicht angespannt, sie hatte panische Angst. 15
Er überlegte sofort, was er bei sich hatte. Nichts, was eine große Hilfe war. Seine Sportjacke war im Auto, seine Mannschaftsjacke lag noch oben im Büro. Was hatte sie getragen, als sie in den Aufzug getreten war? Ein elegantes blau-weißes Kleid, das ihm sofort aufgefallen war, aber da war noch etwas gewesen … ein Regenmantel über ihrem Arm. Erst aufwärmen, dann beruhigen. „Sara, es passiert nichts. Setzen Sie sich; Sie müssen warm werden.“ Er berührte wieder ihre Hand und umschloss sie mit seiner, sodass er sie zu sich herumdrehen konnte. Kalt. Steif. „Ich … habe Angst im Dunkeln.“ Ach was. Er musste ihre Finger vom Griff ihrer Tasche loseisen. „Sie sind in Sicherheit, Sara. Der Aufzug stürzt nicht ab oder so etwas. Das Licht wird bald wieder angehen.“ „Ich weiß.“ Er spürte, wie sie gegen die aufsteigende Hysterie ankämpfte. Das Zittern, das er durch ihre Hand fühlen konnte, wurde stärker. Er musste sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie sich einem heftigen Schock näherte. „Sie sind hier sicher. Ich gehe nirgendwohin. Und ich stelle auch keine Bedrohung für Sie dar“, fügte er hinzu, während er sich fragte, was eine erwachsene Frau dazu brachte, Angst vor der Dunkelheit zu haben. Bei den möglichen Gründen, die ihm einfielen, wurde ihm ganz schlecht. „Das weiß ich auch.“ Er half ihr vorsichtig sich hinzusetzen, sodass sie den Rücken gegen die Wand des Aufzugs lehnen konnte. Dann legte er den Mantel über sie und war dankbar, als sie es übernahm, ihn um ihre Schultern zu ziehen und ihre Hände in der weichen Wärme des Stoffs zu vergraben. „Besser?“ „Viel besser.“ Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Sie haben nicht viel Übung im Lügen, oder?“ „Es klingt jedenfalls besser als zuzugeben, dass ich mich gleich auf Ihre Schuhe übergeben muss.“ Auch in ihrer Antwort war beinahe der Klang eines Lächelns zu hören. 16
Er setzte sich langsam, dicht genug, um sie im Notfall erreichen zu können, aber so weit entfernt, dass sie sich nicht noch mehr in die Ecke gedrängt fühlte als ohnehin schon. „Versuchen Sie den Kopf zurückzulehnen und ein paar Mal tief einzuatmen.“ „Wie lange dauert es schon?“, fragte sie einige Augenblicke später. „Vielleicht vier oder fünf Minuten.“ „Mehr nicht?“ Adam wünschte sich sehnlichst Streichhölzer, ein Feuerzeug oder irgendetwas anderes, das die Dunkelheit für sie durchbrechen könnte. „Wir werden einfach über etwas reden, dann vergeht die Zeit wie im Flug. Sie werden sehen. Worüber möchten Sie zuerst reden – haben Sie irgendeine Vorliebe?“ Schweigen. „Sara. Kommen Sie schon, reden Sie mit mir.“ Er streckte die Hand aus, um sie an der Schulter zu rütteln, als sie plötzlich zwischen offenbar klappernden Zähnen hindurch sagte: „Sport. Warum haben Sie aufgehört?“ Adam sprach nicht mit vielen Menschen über die Einzelheiten dieser Entscheidung, aber unter den jetzigen Umständen hätte sie ihn beinahe alles fragen können und es wäre ihm egal gewesen. „Haben Sie das Super Bowl-Endspiel gesehen, das wir gewonnen haben?“ „Natürlich. Die halbe Stadt hat Sie noch Monate danach gehasst.“ Diesmal brauchte er nicht zu überlegen, ob das ein Lächeln war. „Ich mochte das Gefühl des Siegens. Aber ich war müde. Zu müde, um es noch einmal zu versuchen. Es war nicht nur die körperliche Erschöpfung nach diesen letzten Spielen, sondern das emotionale Ausgelaugtsein, weil die Menschen so viel von mir erwarteten. Deshalb beschloss ich, dass es an der Zeit war, meinem Nachfolger eine Chance zu geben.“ „Sie waren müde.“ „Ich war müde.“ „Ich wette, im Jahr davor waren Sie auch müde, als Sie den Super Bowl gegen die Vikings verloren haben.“ Er schmunzelte. „Stimmt.“ 17
„Ihr Rückzug hatte nichts mit Müdigkeit zu tun.“ Sie klang sehr überzeugt. Außerdem wurde ihre Stimme fester. „Sie haben den Super Bowl gewonnen, um zu beweisen, dass Sie es können – und haben dann Ihre Karriere beendet, weil die Herausforderung nicht mehr da war. Sie haben nicht noch eine Saison gespielt, weil Sie sich gelangweilt hätten, und nicht, weil Sie müde waren.“ „Sie klingen so, als wären Sie von dieser Theorie überzeugt.“ „Vielleicht, weil ich weiß, dass ich recht habe. Sie sind wie Ihr Vater. ‚Mach es einmal richtig, und dann sieh nach vorne.‘ War das nicht das Motto, nach dem er gelebt hat?“ Adams Schultern verspannten sich. „Wo haben Sie das gehört?“ „Sie haben es auf seinen Grabstein schreiben lassen“, lautete die sanfte Antwort. „Tut mir leid, wenn ich einen Nerv getroffen habe.“ Adam antwortete nicht. Wann und warum war diese Frau auf dem Friedhof gewesen, auf dem sein Vater begraben lag? Er war ein ganzes Stück von der Innenstadt entfernt, und es war ein alter Friedhof, wo die meisten Grabstätten für mehrere Generationen im Voraus gekauft worden waren. Diese Inschrift war erst einen Monat nach der Beerdigung hinzugefügt worden. Sie war Journalistin. Die Erkenntnis legte sich wie ein Stein in seinen Magen. Sie hatte dieses Treffen perfekt inszeniert. Eine „zufällige“ Begegnung, indem sie einen Bauarbeiter bestochen hatte, einen Schalter für sie umzulegen, sodass er glauben musste, er könnte den Helden spielen, indem er sie beruhigte, während das Licht aus war. Und er war auf die ganze Show hereingefallen. „Ich mag das Zitat und die Lebensphilosophie, die darin steckt.“ „Sara, lassen wir die Scharade. Was wollen Sie? Sie sind einer von diesen Schreiberlingen, oder etwa nicht?“ Schweigen war die Antwort auf seine Wut. „Was schreibe ich denn Ihrer Meinung nach?“ Das Eis in ihrer Stimme war unüberhörbar. „Geben Sie einfach das Signal, um den Lift wieder zum Laufen zu bringen, dann erwürge ich Sie vielleicht nicht.“ „Sie glauben, ich hätte das hier verursacht?“ „Sie wollen doch wohl die Schreiberei nicht leugnen, oder?“ „Ich habe nicht viel Übung im Lügen“, erwiderte sie knapp, als Echo seiner eigenen Worte. 18
„Super. Dann würde ich sagen, wir sind in einer Pattsituation, meinen Sie nicht auch?“ Er wartete auf eine Antwort, bekam aber keine. „Wenn Sie es leid sind, im Dunkeln zu sitzen, können Sie Ihren Kollegen ja signalisieren, dass wir mit unserem Gespräch am Ende sind, und dann gehen wir getrennte Wege. Bis dahin habe ich Ihnen nichts mehr zu sagen.“ „Das passt mir gut.“ Und dann war nichts mehr zwischen ihnen außer einem langen, kalten Schweigen.
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