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Susan K. Downs Widmung: In Christus ist nicht Ost noch West, in ihm nicht Süd noch Nord, doch eine groß’ Gemeind’ voll Lieb im ganzen Rund der Erd’. – aus dem Lied „In Christ There Is No East or West“, Text von John Oxenham, 1908 Als Kind im Oklahoma der 60er-Jahre betrachtete ich die Bomben- und Tornadoübungen als wesentlichen Bestandteil meiner umfassenden Ausbildung und Vorbereitung auf das Leben. Ich war in der ersten Klasse, und in meinen Augen war es ebenso wahrscheinlich, dass eine russische Bombe vom Himmel fiel, wie dass uns einer der für unsere Gegend typischen Wirbelstürme traf. Diese Übungen fanden in regelmäßigen Abständen statt – etwa einmal im Monat –, aber immer dann, wenn wir sie am wenigsten erwarteten. Sie sollten uns treffen, wenn wir unvorbereitet und unsere Reaktionen langsam waren. Jedes Mal, wenn der anhaltende, ohrenbetäubende Ton der Schulklingel losging, fragte ich mich, ob der Alarm dieses Mal echt war und keine Übung. Ich erinnere mich daran, dass ich mir immer sehnlichst meine Mutter herbeiwünschte, wenn Mrs Pierce uns anwies, uns in eine Reihe zu stellen und geordnet, aber rasch in den Flur zu gehen. Die Angst ließ meinen Herzschlag doppelt so schnell hämmern, während ich mich zwischen zwei Klassenkameraden drängte und mit dem Kopf zwischen den Knien auf dem Korridor der Myers-Grundschule kauerte. (Als ob uns das vor einer Atombombe schützen würde!) Ich betete. Hoffte. Wartete darauf, dass das Entwarnungssignal ertönte. Ich hasste die Russen dafür, dass sie mir Angst einjagten. Das

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war alles die Schuld der sowjetischen Kommunisten. Warum wollten sie kleinen amerikanischen Mädchen wie mir wehtun? Diese latente Angst, der unterschwellige Hass, klang noch jahrzehntelang nach – bis das Unbegreifliche geschah und die Sowjetunion und ihre kommunistische Regierung auseinanderfielen. Wir waren damals als Missionare in Südkorea, und kurz nachdem die Sowjetunion sich in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten umgeformt hatte, unternahm mein Mann seine erste Reise nach Moskau, um dort beim Aufbau einer missionarischen Arbeit zu helfen. Er kam nach Hause und sprudelte förmlich über vor Geschichten von wunderbaren Begegnungen mit Bürgern jenes ehemaligen Feindeslandes. Seine Beschreibungen spotteten allem, was man mich über Amerikas Erzfeind aus dem Kalten Krieg zu glauben gelehrt hatte. Die Menschen, die er beschrieb, konnten unmöglich aus dem gleichen Land stammen, das zu verabscheuen man mich trainiert hatte. Dann hatte ich das große Glück, Russland und seine Menschen selbst zu erleben. Bei meiner Arbeit als Koordinatorin für internationale Adoptionen fuhr ich im Zug ins verschneite Hinterland Russlands, traf mich mit Regierungsbeamten, wohnte mit den Dorfbewohnern zusammen, feierte mit Menschen zusammen Gottesdienst, die das Gleiche glaubten wie ich – und schloss Freundschaften. Zu meinem großen Erstaunen entdeckte ich, dass wir viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede hatten, diese neuen Freunde und ich. Ich danke Gott für das Vorrecht, im Zeitalter einer immer kleiner werdenden Welt zu leben, für das Geschenk, Freunde aus anderen Kulturen und Ländern, mit anderen Sprachen zu haben. Ich widme meinen Anteil an Nadia, dieser Geschichte aus der Ära des Kalten Krieges, der Generation verfolgter Christen, die am Glauben festhielten – selbst wenn das bedeutete, dass sie ihr Leben riskierten. Sie werden reich belohnt werden.

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Danach sah ich eine riesige Menschenmenge – viel zu groß, um sie zählen zu können – aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen vor dem Thron und vor dem Lamm stehen. Sie waren mit weißen Gewändern bekleidet und hielten Palmzweige in ihren Händen. Und sie riefen laut: „Die Rettung kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm!“ Offenbarung 7,9-10

Dank Die aufregende Erfahrung, die Geburt einer neuen Familie durch eine internationale Adoption zu beobachten, erwies sich als Belohnung genug für die vielen Stunden auf Flügen über den Atlantik, holprige Fahrten über ungepflasterte Straßen, und ebenso holprige Fahrten auf sibirischen Bahnstrecken. Dennoch hätte ich mir damals nicht träumen lassen, dass ich diese ermüdenden russischen Reisen einmal als verborgene Segnungen betrachten würde. Meinen tiefsten Dank an: Lori Stahl, eine ganz besondere Adoptivmutter, die mir während eines Eignungsgesprächs ein geheimnisvolles altes Foto von einem ihrer Vorfahren zeigte, das mich auf den Gedanken brachte, Was wäre wenn ...? Karen Jordan, Igor Kovolew, Tatjana Terechowa, Marina Sokolowa und den Rest der Mannschaft auf der russischen Seite unseres Adoptionswerks. Auch wenn wir nicht mehr zusammenarbeiten, werdet Ihr immer wie eine Familie für mich sein. Meine überaus akkurate Partnerin Susan May Warren, die meine Liebe zu Russland und den himmlischen Dingen teilt. Ich danke Gott dafür, dass er dafür gesorgt hat, dass unsere Wege sich kreuzten.

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Travis, Curtis, Kevin, Kimberly und Courtney – egal ob bei der Geburt oder durch die Adoption: Als ich Eure Mutter wurde, wusste ich, dass ich gesegnet bin! David, meinen geliebten Ehemann und Abenteuerpartner: Ich kann kaum erwarten, wo uns die Straße des Lebens als Nächstes hinführt. Susan May Warren Widmung Zu deiner Ehre, Herr! Dank Gott hat Humor, und ich habe das aus erster Hand erfahren, als ich Nadia schrieb, die Geschichte einer Agentin, die quer durch Russland rast und versucht, ihren geliebten Mann nach Hause zu bringen. Das ganze vergangene Jahr lang hatte ich zugesehen, wie mein Mann zwischen seiner Berufung als Missionar und seiner Familie hin- und hergerissen war – so wie Nadia. Als wir feststellten, dass Gott wollte, dass wir zurück nach Amerika gehen, hatte ich ja keine Ahnung, dass das Abenteuer für uns gerade erst begann. Ich schrieb Nadia, während ich in einer achteinhalb mal neun Meter großen Garage ohne fließendes Wasser oder Elektrizität wohnte (dem Herrn sei Dank für Laptop-Akkus!). Die kalte Trostlosigkeit einer Zelle im Gulag konnte ich mir mühelos vorstellen, als draußen vor unserer kaum isolierten Garage der Winter hereinbrach. Auch die Vorstellung vom Schlafen in einem überfüllten Raum bereitete mir keine Mühe, wenn wir uns als sechsköpfige Familie in unseren Wohnwagen quetschten. Am stärksten jedoch fragte ich nach dem Sinn meines Lebens, da ich doch jetzt keine Missionarin mehr war. Ich fand Freude an Mickeys Auffassung, dass nur Gott seinem Leben Bedeutung verleihen konnte, und Antworten in

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Nadias Erkenntnis, dass Gott ihr täglich Weisheit schenken und seinen vollkommenen Willen ausführen würde, wenn sie ihm nur immer näher kam. Vor allem erinnerte Gott mich daran, dass ich jedes Wort nur durch seine Gnade schreibe. Er wird mich lehren und mich ausrüsten, um für ihn zu schreiben, selbst wenn das bedeutet, dass er mich in eine Garage steckt. Gott hat viele Vorkehrungen für diese Reise getroffen, und die folgenden Menschen gehörten dazu. Ich bin zutiefst dankbar für die Rolle, die sie bei der Entstehung von Nadia gespielt haben: Rebecca Germany, dafür, dass Du an Russland, mein Schicksal geglaubt hast, und für Deine Begeisterung und Deine Umsicht bei der Komposition einer Geschichte über eine russische Familie. Es ist solch ein Segen, dass Du uns unterstützt! Susan Downs, meine Mitautorin, die es versteht, meine Worte zu nehmen und sie auf Hochglanz zu polieren. Danke für Deine Weisheit und Deine Ermutigung. Tracey, Chris und Nancy, die mich mit ihrem Lachen und ihren Scherzen immer in Gang gehalten haben, vor allem, wenn die Nächte besonders dunkel waren. Ihr seid helle Lichter in meinem Leben. Valerie Gustafson, die „Fremdenführerin“ der Familie Warren. Danke dafür, dass Du uns umarmt und uns das Gefühl gegeben hast, willkommen zu sein. Du warst eine der Ersten, die uns angelächelt hat. Unsere neue Familie in der First Baptist Church in Grand Marais. Wow, zu Eurer Gemeinde gezählt zu werden, ist eine große und Demut erweckende Ehre. Wir freuen uns, Gott an Eurer Seite loben zu dürfen.

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Pastor Dale und Linda McIntire. Eure weisen Worte, ob von der Kanzel oder im Gespräch, haben mein Herz und meinen Verstand dazu angestachelt, die wahre Bedeutung von Weisheit zu begreifen. Ich danke dem Herrn, dass er uns an einen Ort geschickt hat, wo wir Nahrung für Geist und Seele erhalten können. Ich habe Euch ja gesagt, dass alle guten Sprüche von Euch in einem Buch enden würden! Andrew und die Kiddies, meine Cheerleader und „Mitleidenden“. Danke für Eure Geduld, dafür, dass Ihr fünf Monate lang Dosenravioli und Nudeln mit Käse aus der Packung gegessen habt, dafür, dass Ihr zugehört habt, wenn ich ohne Punkt und Komma über CIA-Machenschaften aus dem Kalten Krieg geredet habe, und vor allem dafür, dass Ihr die „Garagenmonate“ gnädig und geduldig ertragen habt. Ihr seid eine tolle Truppe und ich bin so dankbar für Euch!

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Kapitel 1

Denn der Herr ist gut zu uns, seine Liebe hört niemals auf, von einer Generation zur anderen bleibt er treu. aus Psalm 100

Moskau 1970 Jeder, der sie anschaute, sah in ihr wohl eine Frau, die völlig in die Jazzmusik versunken war. Sie wiegte sich zu den frechen, aus Amerika importierten und oft erbärmlich schlecht imitierten Tönen in einem schäbigen unterirdischen Nachtclub im Süden Moskaus. Keiner würde sie als Hope, alias „Nadia“, Moore erkennen, die erfahrene CIA-Agentin, die sich jetzt am Rand der Verzweiflung befand. Mit beiden Händen hielt sie ihren Barhocker umklammert und schlug die Beine übereinander, an denen sie Stiefel trug. Sie bewegte ihren Fuß zur Musik von Aretha Franklin, die von einer langhaarigen Moskowiterin gesungen wurde, deren Akzent in den Ohren wehtat. Hope ließ ihren Blick suchend durch den abgedunkelten Raum gleiten. Nein, er war noch nicht eingetroffen. Und niemand hatte sie gezwungen unterzutauchen. Noch nicht. Sie seufzte und lehnte sich rücklings an die Bar. Das leise Murmeln von dicht gedrängten Gesprächsgruppen drang an ihre Ohren und konkurrierte mit dem Gedudel auf der Bühne. Aus diesen geheimen Gesprächen sickerten Informationen, die den Kampf der Vereinigten Staaten gegen ihren Erzfeind im Kalten Krieg voranbringen könnten. Sie war schon zu lange eine ge-

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wohnheitsmäßige Zuhörerin und hatte diverse Informationen in den Tiefen ihres Gehirns gespeichert. Über dem dunklen Raum, der vielleicht zwanzig mal zwanzig Meter maß, schwebte eine Rauchwolke – von Zigaretten und anderem. Glücklicherweise hatte Russland nicht annähernd das Drogenproblem, das die Jugend jenseits des Ozeans heimsuchte. Immer noch zog der Besitz von illegalen Substanzen eine grausame Strafe in den Gulags im Norden nach sich – eine Aussicht, die einen garantiert von jedem noch so guten Trip runterholte. Russlands Droge war hauptsächlich das vom Staat sanktionierte Feuerwasser – Wodka –, und Hopes leerer Magen krampfte sich bei dessen beißendem Gestank zusammen. O, ja. Essen. Sie war zu beschäftigt gewesen, um zu essen. Zu versessen darauf, sich nach Russland einzuschleichen. Zu konzentriert darauf, den einzigen Mann zu retten, den sie je geliebt hatte. Sie warf einen Blick auf den Chronometer, der an einer langen Kette um ihren Hals hing. Aranow war bereits eine Stunde zu spät dran. Hatte er ihre Nachricht überhaupt erhalten? Sie hatte sie in ihrem ehemaligen toten Briefkasten hinterlassen. Die Angst fasste Fuß und nagte an ihrem Mut. Sie war eine Närrin zu glauben, dass er noch immer nach seinem Postfach sah oder nach dem herausgelösten Ziegelstein in der Mauer hinter dem Müllcontainer bei der Wohnung seines Cousins. Sie betastete das Schmuckstück an ihrem Hals, ein Hochzeitsgeschenk von Mickey. Die Rückseite enthielt ein kleines Fach für Mikrofilme und andere geheime Informationen, die sie möglicherweise transportierte. Nicht heute. Bei dieser Reise ging es um sie. Um Mickey. Um Baby Ekaterina. Zum dreizehntausendsten Mal in den letzten zwanzig Stunden bezeichnete sie sich als verrückt, und ihr Mut verknotete sich in ihrem Magen zu einer harten Kugel. Mickey hatte sie verrückt genannt, als sie dafür gesorgt hatte,

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dass sich die beiden in eine Generalversammlung der Duma schlichen. Oder als sie sich in einen Zug nach Leningrad und ins private Schlafwagenabteil von General Laschow gestohlen hatte. Ihre verrückten, manchmal sogar wunderlichen Missionen hatten ihr ihren Ruf in der Firma eingebracht. Aber sie wusste, dass Mickey aus dem Golikow-Gefängnis zu holen oder dem KGB zu entgehen ein Coup war, der möglicherweise eine Nummer zu groß für ihre Fähigkeiten war. Aber sie würde Mickey nicht sterben lassen, ohne von ihm die Wahrheit einzufordern. Hope atmete schwer aus. Schweißperlen bildeten sich unter ihrer langen, braunen Perücke, deren Gewicht zwanzig Stunden lang zu ertragen ihr unerträgliche Schmerzen in den Nackenmuskeln verursachte. Sie hätte mit dem Anlegen ihrer Tarnung warten sollen, bis sie am Moskauer Flughafen war. Andererseits – hätte es nicht seltsam ausgesehen, wenn eine junge Mutter im konservativen Hemdkleid in die Toilette hineingegangen und eine coole Brünette mit taillenlangem Haar und einer Perlenkette wieder herausgekommen wäre? Nein, sie brauchte die Tarnung einer amerikanischen Studentin und Kriegsgegnerin, um in die Masse der Gesellschaft einzutauchen. Zeigt den Zollbeamten einen Freie-Liebe-Hippie auf einer Friedensmission, und sie lassen sie ohne mit der Wimper zu zucken passieren. Aber die Mutter eines Kindes, eine kluge Frau, die drei Sprachen fließend sprach und sich wie eine Maus in der russischen Gesellschaft bewegen konnte? Die hätte der KGB schneller unter seinem Verhörlicht als Solschenizin. Als sie erst einmal in Russland war, hatte sie sich auf dem kürzesten Weg ins Schenschina Belaja Notscha, ihr altes Revier, begeben, sich zum Hintereingang hineingeschlichen und sich umgezogen. Jetzt trug sie einen konservativeren schlammbraunen Polyesterrock im russischen Stil, eine türkise Bluse und eine Wildlederjacke. Immer noch cool. Aber brav genug, um sich unter die sowjetischen Massen zu mischen.

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Bitte, Aranow, finde mich. Sie drehte sich zum Barkeeper um, einem hageren Mann mit einem Adamsapfel so groß wie Brooklyn, und bestellte einen Tomatensaft. Er beäugte sie, vielleicht einen Augenblick zu lang, und schob ihr das Getränk zu. Sie trank es in einem Zug aus und spürte, wie es ihren schmerzenden Magen füllte. Einmal, bei einem Einsatz, bei dem sie das Büro eines hochrangigen Parteisekretärs durchsuchen sollte, hatte sie zwei Tage lang nichts gegessen. Sie würde liebend gern nie wieder essen, wenn das bedeutete, dass Mickey leben konnte. Ein neuer Song von einem neuen Jazzsänger. Dieses Mal füllte Musik von John Coltrane den Raum. Die zottigen Köpfe von Moskauer Universitätsstudenten, die mit ihrem nackenlangen Haar und den fransigen Lederjacken an der Parteilinie rüttelten, starrten den Musiker an. Keine Bewegung. Keine schwingenden Köpfe. Keine Füße, die im Takt der Musik klopften. Selbst in ihrem Versuch, den Westen zu kopieren, konnten sie nicht aus der stoischen sowjetischen Kultur ausbrechen. Hope hielt ihren wippenden Fuß an. Ihr sank der Mut. Wie schnell hatte sie ihre Ausbildung vergessen, in ihren Instinkten nachgelassen. Wenn der KGB sie noch nicht entdeckt hatte und bereits ein Aufgebot vor den Türen des Belaja zusammentrommelte, war das nur Gottes Gnade zu verdanken. Sie hoffte, dass Gott mit besagter Gnade auf dieser Reise besonders großzügig war. Aranow, wo bist du? Sie stand auf, ging hinüber zur Wand, lehnte sich mit einer Schulter daran und ließ verstohlen den Blick durch den Raum gleiten. Eine Blondine, die auf der linken Seite der Bühne im Schatten stand, erregte ihre Aufmerksamkeit. Hopes Herz kam ins Stolpern, als sie bemerkte, dass die Frau sie im Blick hatte. Kein Lächeln, die Augen starr auf sie gerichtet. Mit einem eiskalten Schauder erkannte Hope sie.

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Lena. Mickeys Freundin. Oder sollte sie besser sagen ... Geliebte? Hope biss die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Wut an, die ihr in der Kehle aufstieg. Statt Mickey sollte Lena in der Todeszelle vermodern. Und wenn Hope herausfinden konnte, wie sie die Schwalbe – die Femme Fatale des KGB – für ihre Verbrechen bezahlen lassen konnte, würde sie ihre ganze Lebenszeit investieren, um sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Konzentrier dich. Hope atmete aus. Sie war wegen Ekaterina hier. Und sie würde ihre Mission nicht gefährden. Nicht einmal, um sich zu rächen. Wo war Aranow? Der Gedanke, dass er verhaftet worden sein könnte, schoss ihr durchs Gehirn und sie zuckte zusammen. Nein. Davon hätte sie gehört. Aranow war zu wertvoll, um zu verschwinden, ohne in der Szene Wellen zu schlagen. Selbst ihr Vater, so wütend er auch immer noch über ihre Ehe war, hätte seine Haltung gelockert und die Nachricht übermittelt, dass einer ihrer besten Freunde verraten worden war. Nein, zurzeit gab es nur einen Verräter: Mickey. Eine Tatsache, die ihr Vater, Edward Neumann, der Chef eines Spionagerings, ihr bei jeder Gelegenheit klarmachte. Sie hob ihr Glas und hoffte auf einen letzten Tropfen Saft. Dabei stellte sie fest, dass ihre Hand zitterte. Ihre Weichheit brachte sie aus dem Konzept. Zwei Jahre außer Dienst, und schon reagierte sie wie eine Anfängerin. Vielleicht war sie das auch. Vielleicht war sie schon so lange aus dem Spiel, dass dieser Versuch, ihre Zukunft zu retten, reiner Selbstmord war. Und was wäre dann mit Ekaterina? Sie wäre eine Waise. Hope schloss die Augen und ließ das Bild ihrer einjährigen Tochter sich wie Balsam über ihre Gedanken legen – das babyweiche kastanienbraune Haar, die bernsteinbraunen Augen, das

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sabbernde Lächeln. Ein Gefühl der Sanftheit entsprang aus ihrem Herzen und breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Nein. Sie würde nicht versagen. Sie würde Kats Vater heimbringen. Und dann würde sie irgendwie anfangen, die Mutter zu sein, die sie sein sollte. Was auch immer das bedeutete. Irgendwie musste sie glauben, dass der Schlüssel zu ihren Fragen, zu diesem plötzlichen Ringen um Identität, darin bestand, Mickey aus diesem Schlamassel zu ziehen. Seit sie ihre rotgesichtige, sich windende Tochter in den Armen gehalten hatte, spürte sie ein ungewohntes Gefühl in ihrer Brust. Endlich konnte sie es benennen. Panik. Sie, die Frau, die wusste, wie man die ostdeutsche Stasi bezirzte, damit man in ein verdecktes Restaurant für Parteifunktionäre gelassen wurde, die gleiche raffinierte Agentin, die eine verschlossene Tür in zehn Sekunden öffnen konnte, fühlte sich jedes Mal etwas schwach, wenn ihre Tochter mit ausgestreckten Armen und einem zahnlosen Lächeln auf sie zutapste. Sie brauchte diese Reise, wenn auch nur, um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Sie musste das Selbstvertrauen wieder auferstehen lassen, das auf dem Boden einer Entbindungsstation in Nyack, New York, in tausend kleine Stücke zersprungen war. Sie stellte das Glas ab, verschränkte die Arme über der Brust und drängte ihre Angst zurück. Sie weigerte sich, die Gerüchte zu glauben, bis sie ihren lügenden, treulosen, betrügerischen Ehemann damit konfrontiert hatte. Offensichtlich schenkte sie den Gerüchten doch mehr Glauben, als sie zugeben wollte. Zwei Minuten in der finsteren Seitengasse mit der Frau auf der anderen Seite des Raums, und sie hätte die harten, kalten Fakten. Irgendwie jagte ihr das einen Schauer über den Rücken. Nein, sie würde warten, bis sie Mickey direkt in seine hellgrünen Augen schauen und die Wahrheit aufdecken konnte.

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Und vielleicht, wenn sie tatsächlich ihre Sinne beieinanderbehielt, konnte sie seinem berauschenden Charisma lange genug widerstehen, um ihn zu überzeugen heimzukommen. Zu ihr. Zu Kat. Erwarte keine Loyalität von einem hauptberuflichen Spion, Nadjeschda. Die Stimme ihres Vaters riss ihr mit einem Schlag ein Stück ihres Herzens heraus und sie keuchte. Nein. Sie hatte gelobt, Mickey zu vertrauen. Und das würde sie auch. Selbst wenn seine Freundin wie ein Luder auf der anderen Seite des Raumes saß und von Eleganz, Charme und Falschheit nur so triefte. O Mickey, wie konntest du nur? Als ob sie in einer Art geheimnisvoller Trance wäre, konnte Hope ihren Blick nicht von der Frau lösen, von ihrem blonden Haar und der Art, wie sie mit den anderen am Tisch lachte. Hope spürte, wie in ihrer Brust ein heißes Knäuel Feuer fing, als die Frau einen Arm um den eines ihrer Begleiter schlang und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Lena hatte noch immer die Haltung und Figur einer Ballerina. Lena Tschornowa hatte offensichtlich im letzten Jahr kein neun Pfund schweres Baby zur Welt gebracht. In ihrem schäbigen kurzen Rock fühlte sich Hope geradezu pummelig. Kein Wunder, dass Mickey weitergezogen war. Nein. Er hatte auch gelobt, sie zu lieben. Oder nicht? Sie stieß sich von der Wand ab, als Lena während des rhythmischen Beifalls nach einem Titel von Duke Ellington den Raum verließ. Hope bewegte sich leichtfüßig zur gegenüberliegenden Tür und überlegte, das Herz im Hals, ob sie die Frau beschatten sollte. Aranow war nicht aufgetaucht und Lena war eine sichere Verbindung zu dem einzigen Mann, der Hope helfen konnte. Plötzlich konnte Hope es keinen Augenblick länger ertragen, im Ungewissen zu sein.

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„Nadia Neumann. Willkommen zurück in der UdSSR.“ Hope drehte sich um und ihr Herz sprang ihr in den Hals. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und eine Zigarette rauchend, stand der Inbegriff ihrer Albträume vor ihr. Komitet Gossudarstwennoj Besopasnosti ... der KGB.

Der KGB hatte nicht die geringste Chance, ihn zu brechen. Nicht nach 382 Tagen und sechs Stunden Haft. Nicht mit Schlägen. Nicht mit der Androhung von Repressalien gegen seine Frau oder Agentenkollegen. Nicht einmal mit der Einsamkeit, die daher rührte, dass er eine lange Nacht nach der anderen zitternd in einer nasskalten, zwei mal zwei Meter großen Zelle verbrachte. Nein, die sibirische Kälte würde ihn vorher töten. Michael, alias „Mischa“, alias „Mickey“, alias „Weltklasseversager“ Moore kauerte sich zusammen und sah zu, wie der Schnee schräg durch das schuhkartongroße Loch viereinhalb Meter über seinem Kopf fiel. Träge, wie um ihn zu verspotten, schwebten die Flocken zu Boden, wo sie sich bereits aufhäuften. Michael schob seinen nackten Zeh in den flaumigen Hügel und schloss die Augen, als ihn eine Welle von Entsetzen durchflutete, weil er nichts fühlte. Nackt bis auf seine dünne, löchrige Häftlingshose stellte er fest, dass diese neue Foltermethode auch ihre guten Seiten hatte – nämlich einen schmerzlosen Kältetod. Das Ende eines Jahres voller Schmerzen. Leerer Hoffnungen. Fragen, ob er den nächsten Tag erleben würde. Aus internen Quellen wusste er, dass diese Qualen in drei Tagen enden würden. Wenn die eisige Winternacht ihn nicht vorher umbrachte. Schon lange hatte er aufgehört, davon zu träumen, wieder mit Hope vereint zu sein. Michael lehnte seinen dreckigen Kopf an die Betonmauer und

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fühlte, wie seine Zähne vor Kälte aufeinanderschlugen. Er verdiente es nicht, sie wiederzusehen, selbst wenn er es irgendwie schaffte zu fliehen – eine Möglichkeit, die ihm von Tag zu Tag unerreichbarer schien. Wenigstens würde er sterben, ohne seinen Kreis von Agenten und Kontaktleuten zu verraten, der in der Sowjetunion arbeitete und zu verhindern versuchte, dass der Kalte Krieg überkochte. Kontakte, unter denen auch seine Ehefrau war. Er war vielleicht ein lausiger Ehemann, ein mieser Führungsoffizier und ein noch schlechterer Agent, aber mit jeder Faser seines klapperdürren Körpers war er ein Patriot bis in den Tod. Wenn es auch nur eine Sache gab, die er richtig machte, dann würde er sterben, ohne ein Verräter zu sein. Die Geheimnisse seines Landes würden in seinem Kopf eingeschlossen bleiben. Er hörte das Klappern einer Blechtasse auf dem Beton. Jewgenij, wach. Michael und sein Nachbar hatten die Kommunikationssperre per Morsealphabet überbrückt und so hatte Michael erfahren, dass Jewgenij Soldat gewesen war. Er hatte eine Frau und eine erwachsene Tochter und hatte als Ingenieur in Moskau gearbeitet. Darüber hinaus wusste Michael, dass Jewgenij ein Kämpfer war. Mehr als nur einmal hatte Michael gesehen, wie der Kerl zurück in seine Gefängniszelle gezerrt worden war und schlimm zugerichtet gewesen war. Dennoch entrann Jewgenij dem Griff des Todes immer wieder, um weiter auf den Fußboden zu klopfen und Michael Hoffnung zu geben. Hoffnung in Form von Bibelversen. Sechzig Tage nach seiner Inhaftierung hatte Michael den umständlichen Satz entschlüsselt, den sein Nachbar mitten in der Nacht auf den Fußboden klopfte. Sei mutig und stark. Denn der Herr, dein Gott, ist bei dir. In diesem Augenblick hatte die Hoffnung einen Funken in seinem Herzen entzündet. Einen Funken, der nicht verlosch, trotz der brutalen Versuche des KGB, ihn zu ersticken. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, hatte Gott den Spion mit

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den hundert Namen nicht fallen lassen. Den Mann, der ein so dichtes Netz des Betruges gesponnen hatte, dass er sich an den Weg zurück zur Wahrheit nicht erinnern konnte. Er hatte seine Tage als Spion mit einem edlen Vorsatz begonnen und dafür sogar eine Begründung aus den Sprüchen gefunden, die ihm ins Gedächtnis gegraben war. Lass nicht zu, dass unschuldige Menschen verurteilt werden. Tu alles, was du kannst, um sie vor dem Tod zu retten. Sein Bibeldrill als Kind in Ohio sagte ihm, dass für das Recht und gegen das Böse einzustehen im Himmelreich zählte. Aber nachdem er zehn Jahre lang einen unsichtbaren Krieg geführt hatte, war er jetzt verletzt, müde und fragte sich, ob er auch nur den Ansatz einer Basis für die Gerechtigkeit geschaffen hatte. Er konnte viel zu viele Augenblicke aufzeigen, in denen die Gerechtigkeit das Letzte gewesen war, was er im Sinn gehabt hatte. Und 382 Tage Gefangenschaft ohne Rettungsversuch zeigten ihm sehr deutlich, welche Art Vermächtnis er erschaffen hatte. Seit er Jewgenij kennengelernt hatte, hatte er jedoch zu hoffen begonnen, dass Gott ihm Rettung schickte. Wie sehr Michael sich wünschte, die Zeit zurückzudrehen und zu dem Augenblick zurückzukehren, in dem er noch eine Wahl hatte. Dieses Mal würde er den Weg einschlagen, der ihn in Hopes Arme führte. Die Reue schien ein Lebewesen zu sein, das ihm in den dunklen Nächten, in denen sie ihn in seinen Träumen besuchte, durch die Brust kroch. Dennoch – vielleicht, wenn er auf Kurs blieb, konnte Gott ihm seine Berufung zurückgeben und Licht in sein trostloses Leben bringen. Im Tod konnte er der Mann sein, der er im Leben hätte sein sollen. Ein Mann, der die Frau schützte, die er liebte. Nur noch drei Tage bis zu seiner Hinrichtung. Vielleicht würde Hope eines Tages die eine Sache finden, die bewies, dass ihr Mann ein Patriot gewesen war, der sie bis an sein Ende geliebt hatte.

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„Kalt“, klopfte Jewgenij. Michael riss seine Hand von seinem nackten Knie los und griff, überrascht über die Kälte, die darauf folgte, nach seiner eigenen Tasse. „Ja“, antwortete er. „Nachricht von daheim.“ Jewgenijs Klopfen hallte durch den Flur, aber keine Wache wagte sich in die tiefgefrorene Höhle aus Beton vor, um die Rebellen davon abzuhalten. „Larissa hat geheiratet.“ Michael verzog das Gesicht, und seine eigene Müdigkeit und das Gefühl des Verlusts trieben ihm Tränen in die Augen. Armer Mann. Hat die Hochzeit der eigenen Tochter verpasst. „Gratuliere“, klopfte er und spürte, wie hohl das Wort klang. „Danke“, antwortete Jewgenij, immer der höfliche Russe, selbst in seinen eigenen, persönlichen Seelenqualen. „Frau. Besuch. Bald.“ Klar, natürlich. Die Möglichkeit, dass Jewgenijs Frau ihn besuchte oder mitten in Russland auch nur fand, schien ebenso weit hergeholt wie die, dass Michael zu diesem ThanksgivingFest ein gutes Abendessen bekam. „Toll“, klopfte er und spielte die Lüge mit. „Gib nicht auf.“ Der Ton hallte durch die Nacht, traf auf die Kälte und drang in Michaels Seele ein. Er seufzte, und dieses Mal spürte er, wie heiße Tränen seine eiskalten Wangen hinabrannen. Der Schnee, untermalt von den gleißenden Hoflichtern, warf einen unheimlichen orangefarbenen Schein in den Raum, als ob er ihn in Brand setzte, und Michael verspürte ein ganz seltsames Gefühl der Wärme. Wenn er nur wirklich, aufrichtig an der Hoffnung festhalten konnte. Aber er spürte, dass er gefährlich nahe daran war, sich der Kälte zu ergeben. Keine Schläge mehr. Keine Reue mehr. Keine Versuchungen mehr, sich auf ihr Versprechen einzulassen, dass er im Austausch für Namen die Freiheit bekam. Keine Gedanken mehr daran, dass Hope zu ihm kommen würde. Es gab Zeiten, Augenblicke zwischen den Schmerzen,

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der Kälte und dem Hunger, in denen er die Augen schloss und ihr Bild sich über seine Gedanken legte, tröstend, wie ein Balsam aus zärtlichen Erinnerungen für seine Seelenqualen. Diese goldbraunen Augen, die vor Übermut und Lachen funkelten. Dieses lange Haar, das, von Sonne durchzogen, wie Seide durch seine Finger glitt. Ihre Hand in seiner, Mickey ... vertrau mir ... ich liebe dich ... Sein Magen verkrampfte sich. Schau, wohin es sie gebracht hatte. Witwe im Alter von neunundzwanzig Jahren. Wenigstens war sie jung genug, um wieder zu heiraten. Was dachte er nur? Wahrscheinlich war sie nach Amerika zurückgegangen, hatte ihre Ehe annulliert und ihr Glück bereits in den Armen eines anderen Mannes gefunden. Nicht, dass sie in ihrer Liebe unbeständig wäre – wohl eher klug. Wahrscheinlich war sie, zehn Minuten nachdem er die Stadt verlassen hatte, wieder zu Verstand gekommen und hatte eingesehen, dass ihre Beziehung ein Fehler gewesen war. Aber der Gedanke daran, dass ein anderer Mann ihren Duft einatmete und dass ihr Lachen ihm galt ... Feuer durchschoss ihn, der erste Funke einer Ahnung, dass er diese Nacht überleben konnte. Er richtete die Augen zum Himmel empor. Die Tränen gefroren auf seinen Wangen. „Ich habe ihr Unrecht getan, Herr. Ich weiß es. Bitte, schenke ihr einen Mann, dem sie vertrauen kann, der treu ist und der sie so lieben kann, wie sie es verdient. Schenke ihr einen Mann, der sie beschützt und ehrt und seine Versprechen hält.“ Seine Kehle wurde rau. Ja, jemand, der sie beschützen konnte. Tief in seinem Inneren erwartete er halb, dass Hope ins Gefängnis stürmte und versuchte, ihn zu befreien. Das jagte ihm mehr Angst ein als alles, was der KGB ihm auftischen konnte. Denn wenn man sie schnappte ... nun, dann würde alles, was er in den letzten zehn Jahren zu verstecken versucht hatte, mit einem Schwall hervorbrechen.

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Der einzig sichere Weg, ihn singen zu lassen wie eine Nachtigall – seine Hope in den Fängen des KGB.

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