Frank Pohl DAS KREUZ AUF DER REEPERBAHN
Copyright © 2004 Leuchter Edition GmbH, Erzhausen Lektorat: Ingo Schreurs und Klaus Püplichhuisen Umschlaggestaltung: Joussen Karliczek GmbH, Uhingen Umschlagfoto: Argus Fotoarchiv GmbH, Hamburg Gesamtherstellung: Schönbach-Druck GmbH, Erzhausen Die Namen der an den Geschehnissen Beteiligten wurden vom Autor geändert. ISBN: 3-87482-255- 6 Bestell-Nr.: 547.255 Leuchter Edition GmbH Postfach 11 61 64386 Erzhausen Fon: (0 61 50) 97 36 0 Fax: (0 61 50) 97 36 36 verlag@leuchter-edition.de www.leuchter-edition.de
Inhaltsverzeichnis
War das eine Kindheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Missbraucht – der Anfang vom Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die St.-Pauli-Akademie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Astrologie, Dämonen und der Sex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Satan, mach’ was aus mir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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24 Stunden Fremdenlegion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ein Platz an der Sonne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Vergangenheit holt mich ein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Kriegsgericht wegen Pommes frites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Himmel und Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Eine neue Schöpfung – und der Kampf gegen die alten Mächte . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Missbraucht – der Anfang vom Ende
E
ines Tages organisierte Mutter zu meinem Geburtstag eine Party mit ihren Freunden. Es gab gutes Essen, viel zu trinken und Hasch zum Rauchen. Einige Gäste übernachteten in der Wohnung, und am nächsten Morgen ging die Party dann als Frühschoppen weiter. Mutter weckte mich und fragte, ob ich nicht Lust hätte, den Gästen nackt den Tee zu servieren. Klar wollte ich! Im lila Schlafzimmer traf ich auf einige nackte Menschen, die sich auf dem Bett und auf herumliegenden Polstern räkelten. Anfang der 70er Jahre auf dem Höhepunkt der sexuellen Revolution kam die These auf, dass es für die Entwicklung von Kindern gut sei, wenn sie beim sexuellen Akt zusehen könnten, am besten sogar bei den eigenen Eltern, wie bei den Urvölkern. In der Schule zeigten uns „aufgeklärte und fortschrittliche“ Lehrerinnen freiwillig und kostenlos ihre Brüste. Ich kann mich genau erinnern, dass die Lust mich in dem Moment, als ich diese nackten Körper dort sah, wie eine fremde Macht ansprang und von mir Besitz ergriff. Diese Lust an Nacktheit sollte mich von nun an beherrschen. Gruppensex gehörte von da an zu meinem Leben. Oft schlief ich nackt in den Armen meiner nackten Mutter, und es konnte nicht ausbleiben, dass ich schon bald inzestuöse Neigungen verspürte. Schritt für Schritt geriet ich in den Bann eines dämonisch kontrollierten Lebensstil. Der Tag, an dem ich von diesem starken Mann rücksichtslos missbraucht wurde, gab mir den Rest. Wie konnte es so weit kom29
men? Ich war allein, niemand kümmerte sich um mich, und so trieb ich direkt in die Arme dieses Pädophilen. Er war ein wirklich netter Mensch und arbeitete als Hilfskraft in dem Supermarkt nebenan. Eines Tages sprach er mich an und wollte mich ins Kino einladen. Irgendwie hatte ich kein gutes Gefühl dabei, und so sagte ich, er solle doch meine Mutter um Erlaubnis fragen. Die hatte aber nichts dagegen (wahrscheinlich war sie sogar froh, dass für ein paar Stunden jemand anders die Verantwortung für mich übernahm), und so holte er mich von zu Hause ab. Der Film hieß „Frankensteins Todesrennen“ und war ein absolut perverser Billig-Streifen voll mit Sex und Gewalt. Weil der Film erst ab 18 freigegeben war, gab er sich einfach als mein Vater aus. Schon während der Vorstellung fing er an, an mir rumzufummeln, und anschließend folgte das ganze widerliche Missbrauchprogramm auf der Toilette. Es ging alles so schnell. Ehe ich wieder richtig zur Besinnung kam, war alles vorbei und der Typ lief weg. Wahrscheinlich wurde ihm plötzlich klar, dass ich ihn ja anzeigen könnte, und er hatte so etwas ganz bestimmt nicht zum ersten Mal gemacht. Perverse Lust kann einen Menschen immer wieder zu unkontrollierten Taten treiben, und erst nachher wird ihm bewusst, welche Folgen das für ihn haben könnte. Zu Hause angekommen, fühlte ich nur noch Schmerz. Schmerzen an meinem Körper und Schmerzen in meiner Seele. Ich fing an zu weinen. Warum ich? Wieso musste ich so erniedrigt werden? Ich schämte mich unendlich, und ich hatte, abgesehen von den Schmerzen, eine maßlose Wut auf den Typen und auf mich selbst. Hätte ich das nicht voraussehen können? Hatte ich nicht gleich ein komisches Gefühl vor dem Treffen? Im Nachhinein war mir, als wenn ich zur Schlachtbank geführt worden wäre, so gelähmt war ich innerlich gewesen. Ich hatte den Zug auf mich zurollen sehen und nicht mehr die Kraft auszuweichen. Ohne Zweifel ist durch diesen Missbrauch etwas in mich hineingekommen! Schmutz, Schuld und Hass. Hass auf alles. Hass aufs Leben. Mein ohnehin nicht gerade idyllisches Leben sollte von nun an nicht mehr dasselbe sein. An diesem Abend wurde ich bitter. Ich schwor Rache. Wenn ich groß und stark bin, dann mache ich den Kerl fertig. Der wird sich wundern. Dann werde ich ihm Schmerzen zufügen! Zugleich plagten mich aber auch Schuldgefühle und 30
Selbstmitleid. Ich dachte, „Ich bin ein böser Junge, der irgendwie Strafe verdient hat.“ Da es offensichtlich niemanden gab, der mich wirklich liebte, musste ich es wohl nicht besser verdient haben. Von nun an sollte mein Leben Strafe sein. Ich spürte noch die geistige Nähe von diesem Mann und den Hass, den er auf mich hatte. Ist Kindesmissbrauch nicht Ausdruck von Hass? Als ich an diesem Tag in den Spiegel blickte, hörte ich deutlich Stimmen, die zu mir sagten: „Frank, was du heute erlebt hast, ist dein Schicksal! Es ist dein Schicksal, dich anderen hinzugeben, es ist dein Schicksal, dich zu verkaufen. Andere werden dich nur lieben, wenn du dich prostituierst!“ Es war, als wenn dieses Erlebnis, das ich rein körperlich wohl leicht hätte vergessen können, ein tiefer Eingriff in meine Seele gewesen war. Ich nahm mein Schicksal an und begann in der Tat schon bald mich an andere zu verkaufen. Und jedes Mal kam der Schmerz tief in meiner Seele wieder hoch. Nach dem, was ich so beobachtet hatte, kannte ich die einschlägigen Treffpunkte ja schon, und so lief ich, wenn ich einen Freier machen wollte, zum Hauptbahnhof. Dort standen in den Ecken und auf dem HerrenWC Männer aller sozialen Schichten und warteten auf ihre Gelegenheit. Einige wirkten geradezu verschämt dabei. Per Augenkontakt suchte man in Verbindung zu treten. Jeder wusste, dass die Typen, die da herumstanden, Pädophile waren, aber auch wenn im Bahnhof natürlich ständig Polizei ihre Runden machte, hatte niemand etwas zu befürchten. Ab und zu gab es mal Ärger, wenn’s um die Bezahlung oder unübliche Sexpraktiken ging. Meistens wurde man sich aber einig über die Wünsche der Freier, und hatte man das Geld erst in die Kralle, dann ging’s schnell auf die Toilette, wo der Toilettenmann eingeweiht war, und ab ging’s. Manche der Knaben dort liefen auch für Zuhälter und viele, besonders die aus den geschlossenen Heimen, hatten sich organisiert. Die Zuhälter waren harte Typen, die, wenn’s sein musste, beim Freier, beim Stricher oder sonst wo auch mal zuschlugen. So lernte ich die Spielregeln der Straße. Den Ekel in der ganzen Sache hatte ich schnell überwunden, außerdem braucht man ja keinen Freier zu nehmen, der einem unsympathisch oder der zu schmutzig ist. Das Schlimmste war, dass ich bald sogar Freude an dem Spiel hatte. Der Gang zum Bahnhof war wie ein Trip in den 31
Dschungel. Die Freier mit ihren 100 Mark sind die Beute; die anderen Stricher sind die anderen Raubtiere, es ging darum, schneller, besser, geschickter zu sein. Es brachte eine Art Genugtuung mit sich, diese um Lust bettelnden Männer zu manipulieren, sie bewusst unfreundlich oder gar abwertend zu behandeln, denn ich wusste, dass sie alles im Kauf nehmen würden, um bloß zu bekommen, wonach sie unwiderstehlich verlangte. Im Grunde verachteten wir diese Typen, und es machte mir Spaß, sie das auch fühlen zu lassen. Trotzdem wurden einige von ihnen mit der Zeit sogar Stammfreier. Andererseits gab es Tage, da war nichts zu verdienen. Aber das war auch in Ordnung. Wenn ich dann wieder mal eben in 5 Minuten 100 Mark verdient hatte, fühlte ich mich stark und glücklich. Das Erniedrigende und Erbärmliche der ganzen Situation wurde mir gar nicht mehr bewusst. Wenn ich den Platz des perversen Erfolgs verließ, dachte ich nur noch darüber nach, wo und wie ich die Kohle ausgeben sollte. Aber es gab auch die Momente, in denen ich tieftraurig war, weil mir die Einsamkeit und das ganze Elend meines Lebens zu viel wurde. Nur war da kein Mensch, der mich hätte trösten können. Wem konnte ich von meinem Doppelleben erzählen, wem diese Sache anvertrauen? Nein, Trost gab es nicht für mich. Das Einzige, was mir blieb, war das Nuttengeld.
Sonderschüler Diesmal schritt meine Verwahrlosung noch schneller voran als beim ersten Mal, und wieder griff irgendwann das Jugendamt ein und ließ mir nur noch die Wahl zwischen väterlichem Elternhaus und dem Heim. Wieder wurde ich von Vater und Stiefmutter bereitwillig, wenn auch unter Vorwürfen, aufgenommen. Wieder zum Frisör. Wieder zum Einkleiden. Ich zeigte deutliche Anzeichen von Unterernährung. Die Schule hatte ich wochenlang nicht gesehen und dementsprechend schwer fiel es mir, mich zu konzentrieren. Ich hatte eben genau das bekommen, was von einer Mutter zu erwarten war, für die das Feiern von Partys wichtigster Lebensinhalt war. Knapp 13 Jahre alt, konnte ich noch nicht mal die Monatsnamen in der richtigen Reihenfolge sagen. Peinlich. Dabei 32
war ich nicht eigentlich dumm oder schwerfällig in meinem Verstand. Was mich interessierte, konnte ich sehr wohl erfassen, aber es gab eben niemanden, der mich anhielt, das zu lernen, „was man so braucht im Leben“. Weil ich so zurückgeblieben war, kam ich in die Sonderschule Klöpperpark in Hamburg-Volksdorf, direkt neben dem geschlossenen Heim. In dieser Schule waren geistig Behinderte, körperlich Behinderte und Verhaltensgestörte zusammen untergebracht. Letztere waren in erster Linie Heimkinder, deren Eltern entweder tot oder im Knast waren, oder die sie aus anderen Gründen nie gesehen hatten. Diese Kinder und Jugendlichen waren rücksichtslos gewalttätig. Zur Begrüßung wurde ich erst einmal von der Schulbande auf den Boden geworfen. Während einige mich unten festhielten, schlugen andere mir minutenlang immer auf dieselbe Stelle. „Pferdeküsse“ waren damals sehr beliebt. Mit dem Knie wurde einem ein starker Kick an den Oberschenkel verpasst, der lief dann blau-rot-grün an. Meine Begrüßungsflecken hielten sich wochenlang. Trotzdem habe ich mich gar nicht erst beschwert, sondern wollte den Schlägern lieber zeigen, dass ich hart im Nehmen war. Und tatsächlich hatten die Jungs nach kurzer Zeit einen gewissen Respekt vor mir. Auch wenn ich noch ein Elternhaus hatte, so sahen sie doch, dass ich einer von ihnen war, einer, der nicht viel Hoffnung im Leben hatte, einer, der auch litt und der kämpfen wollte. Den Strich kannten alle. Wer sich da verdingte, musste hart im Nehmen sein. Die Mädchen aus dem Heim gingen auf den Babystrich, die Jungs passten auf sie auf. In den Heimen gab es immer wieder Messerstechereien. Meistens waren es Kämpfe um die Herrschaft; denn Herrschaft bedeutete mehr Geld. Dazu nahmen Hamburger Zuhälter Einfluss auf die Stärksten im Heim und kauften diese. So kamen sie an die besten Mädchen ran. Meine Schulkameraden gaben sich alle Mühe, als besonders gewalttätig und gefährlich zu gelten. Sie wollten nicht immer zu den Getretenen gehören und lieber selbst die Schwachen zu ihren Laufburschen machen. Anfangs musste ich noch die Pausenbrote und einen Teil des Taschengeldes abgeben, nach einer gewissen Zeit ließen die Jungs aber davon ab, von mir Schutzgeld zu erpressen. 33
Als ich einmal meine durchgedrehten fünf Minuten hatte, kletterte ich während des Unterrichtes über die Regenrinne auf das Dach unseres Schulgebäudes. Das Gebäude war nur zwei Stockwerke hoch. Als dann die große Pause kam und alle auf den Hof strömten, schrie ich mit lauter Stimme: „Revolution!! REEEVOOLUUTIOOOOON!! Spastiker, Bekloppte, Behinderte aller Länder, vereinigt euch!! Wir übernehmen heute die Führung der Welt. Heute beginnt die große Revolution!!“ Dabei klatschte ich in die Hände, und die Leute da unten machten fröhlich mit, bis der ganze Schulhof voller Gestörter mitschrie, und zwar im Takt. Ich stand oben, bewegte die Arme mit Dirigentenschwung, und alles hörte auf mein Kommando. Das war mein erster Aufstand. Als die Lehrer rauskamen, drohten sie mir! Wir haben alle mächtig gelacht. Ich dachte nachher, die Behinderten hatten vielleicht das erste Mal im Leben einen spontanen Anflug von Freiheit, wo sie selbst im Mittelpunkt standen und nicht die Verwaltung ihrer Behinderung. Irgendwann musste ich natürlich wieder runterklettern und bekam eine ernste Verwarnung wegen Ruhestörung. Seit dem Tag meinten alle den wirklichen Grund zu kennen, warum ich in der Sonderschule war: sie hielten mich nun für einen völlig unberechenbaren Geistesgestörten. Das brachte den Vorteil mit sich, dass niemand mehr wagte mich anzumachen. Wer konnte schließlich voraussehen, wie so ein Irrer reagieren würde. So einen wollte lieber niemand testen. Auch die wirklich Gefährlichen nicht. Zwischen gefährlich und irre gibt es nämlich den kleinen Unterschied, dass der Gefährliche irgendwie berechenbar ist. Von da an ging’s mir besser in der Schule für Gestörte. Es bedeutete keine Last mehr, dort zu lernen. Vierzehn Schüler waren in meiner Klasse, mit mir. Rechts von mir saß ein Rothaariger mit Sommersprossen, der so schüchtern war, dass er, wenn ich ihn ansah, sofort auf den Boden guckte oder zu weinen anfing. Da war dann noch der arme, fast volljährige Wasserkopf, dessen Kopf fast die Größe eines Medizinballes hatte, bei dem niemand sagen konnte, wie lange er noch zu leben hatte. Oder das Mädchen aus dem Heim, das regelmäßig hysterische Anfälle bekam und dem die Lehrerin dann meistens eine Beruhigungsspritze setzten musste. Die hatte extra für solche 34
Fälle eine Sonderausbildung. Manchmal wurde es schlimmer, dann kam der Notarzt und brachte sie wieder in die Klapsmühle. Das waren Momente, in denen ich begriff, wie ohnmächtig Menschen mit einer Behinderung ihrem Schicksal ausgeliefert sein können. Schnell begriff ich, dass viele der seelischen Schäden meiner Mitschüler erst durch die Umstände, in die die Kinder hineingeboren worden waren, entstanden sind. Körperliche und seelische Grausamkeiten können ein Kind schon früh so zerstören, dass es zu einem normalen Leben nicht mehr fähig ist. Wenn sich die ganze Gestörtheit und der Schmerz einer Seele dann in einem solchen Anfall ausdrückte, herrschte immer tiefe Betroffenheit in dieser kleinen Klasse. Was für traumatische Erlebnisse hatte dieses Mädchen wohl durchgemacht? „Mein Schaden ist nicht so groß“, dachte ich und war dankbar. Irgendwie empfand immer ich eine gewisse Liebe zu solchen Außenseitern. Mehr auf jeden Fall als zu den Normalos. Mit der Hilfe meiner Stiefmutter schaffte ich innerhalb eines Jahres den Sprung aus der Sonderschule in die Hauptschule an den Teichwiesen in Volksdorf. Wenn ich nur wenigstens den Hauptschulabschluss schaffen könnte! Da hatte ich wirklich Glück mit meinem Lehrer. Der hieß Uwe, nahm mich in seine 7. Klasse auf und hatte Verständnis für mich bunten Vogel. In der gleichen Klasse waren auch einige von den Vollwaisen aus dem Heim. Ich wollte es diesmal wirklich schaffen und versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren, aber vor meinem inneren Auge lief permanent ein anderer Film ab. Ich saß auf meinem Stuhl und hörte mit einem Ohr zu, während der größere Teil meines Bewusstseins mit Tagträumen und Fantasieausflügen beschäftigt war. Ich träumte von meiner Mutter, die ich nicht sehen durfte. Ich dachte an die schmerzhafte Kälte zu Hause und an die Schläge, die ich immer noch regelmäßig von meinem Vater bezog. Inzwischen beherrschten mich Tag und Nacht eine Art Hoffnungslosigkeit und eine tief sitzende Angst vor dem Leben. Nach außen legte ich zwar eine gewisse Fröhlichkeit an den Tag, aber im Grunde meines Herzens wartete ich nur auf das nächste große Versagen, um danach einfach abzuhauen und weiteren Mist zu bauen. 35
dazu, um im großen Stil mit Drogen zu handeln. Das hatte er einfach nicht, zum Glück für ihn. Es reicht nicht aus, mit Mutters Millionen eine Ranch zu kaufen und ein bisschen den Gangster zu spielen. Sein einzig großes „Ding“ – ein 35 Kilo Kokaingeschäft – ging daneben und brachte ihm mächtig Ärger ein. So verließ er sein Traumland Kolumbien wieder und hat sich heute einer mehr bürgerlichen Existenz zugewendet – immer noch mit mehr Geld, als er ausgeben kann. Leben auf dem Kiez Ich versuchte noch zweimal eine Lehre zu machen, hatte aber nicht den nötigen Biss und das Durchhaltevermögen. Mit 17 Jahren fing ich an, in der schrägsten Disco Hamburgs, im AfterEight, zu arbeiten. Jetzt wurde die Nacht zum Tag. Drogen gab es von den Hausdealern kostenlos, dazu waren die Drinks frei. Ich stand besonders auf Whisky-Cola und Southern Comfort. Es war gerade die Zeit, als Kokain im großen Stil in die Stadt kam. Und mit dem Kokain kam der Tod, verursacht durch brutalste Machtkämpfe um Anteile in der Unterwelt. Dazu kam, dass Aids für zunehmende Verunsicherung im Bereich der Prostitution sorgte, denn damals vermochte noch niemand zu sagen, wie ansteckend die Krankheit war und ob und wie man sich davor schützen konnte. So suchte die Unterwelt nach neuen Einnahmequellen und kämpfte verbissen um „Marktanteile“. Damals war der Kiez in zwei Revierhälften aufgeteilt. Die eine Seite wurde von der so genannten GmbH und die andere Seite von der Nutella-Bande beherrscht. Das waren Zuhälterringe. Daneben gab es noch andere weniger bedeutende Gruppen, aber solange für alle etwas zu verdienen war, gab es selten Auseinandersetzungen. Nur die üblichen auf der persönlichen Ebene. Wenn irgendwer irgendwen irgendwie beleidigt hatte, gab es einen Kampf auf Verabredung. Im Rahmen der geltenden Sitten ging es selten unfair zu. Faust gegen Faust, kaum mal ein Baseballschläger. Erst unter dem Einfluss des Kokainhandels nahm die Gewalt zu und die tödlichen Streitereien ums schnelle Geld. Die meisten, die mit dem Stoff handelten, wurden früher oder später süchtig und verloren bei Auseinandersetzungen schnell die Nerven. 51
Ansonsten betrachtete man die normale gewerbliche Vermittlung von Prostituierten wie ein Wirtschaftsunternehmen mit Außendienst, Kundendienst, Beschwerdeabteilung, usw. Es gab da Aufreißer, die jung, witzig und frech waren und gut aussahen und mit gutem Geld bestückt, überall, vor allem in den Discos und Clubs, nach „Frischfleisch“ Ausschau hielten. Wenn diese Jungs dann ein Mädchen im Blick hatten, wurden das großzügig eingeladen und verwöhnt. Man tat auf Liebe. Vielen Mädchen gefiel das, und so bissen sie an. In den meisten Fällen hatten diese Mädels eine schlechte Kindheit hinter sich, so dass sie einfach dahinschmolzen, wenn mal einer nett zu ihnen war. Das war der Trick. Nach einer Zeit der verschwenderischen Großzügigkeit kam immer die gleiche Masche: „Mädchen, ich hab dich ja so lieb! Gern würde ich dich weiter so verwöhnen, aber mir geht so langsam das Geld aus. Hättest du nicht Lust, viel Geld zu verdienen und noch Spaß dabei zu haben? Ich habe da bei einem Bekannten eine Möglichkeit für dich.“ Die Mädchen gingen dann oft freiwillig auf den Strich: in einem Edelbordell, dem Eroscenter oder dem Straßenstrich. Später, manchmal auch gleich zu Beginn, wurde sie dann an Zuhälter verkauft. „Abstecke“ nannte man das. Zu jeder Organisation gehörten natürlich bestimmte Bordelle. Die mussten versorgt und gepflegt werden. Sogar „Stehplätze“ waren umkämpft, denn es gab Plätze, wo Nutten besonders viel Geld machen konnten. Es gab eben „richtige“ Wirtschaftsbetriebe. Es musste Miete für die Zimmer kassiert und für den ruhigen Ablauf des Geschäftes gesorgt werden. Brötchenlieferanten versorgten die Damen. Fahrer brachten die Frauen von A nach B. Manch ein Zuhälter hatte über hundert Frauen für sich arbeiten. Nach Abzug der Kosten war dann viel Geld in seiner Hand und musste angelegt werden. Einer hatte die witzige Gewohnheit, die Nutte der Woche in seinem Rolls-Royce mit Autokorso über die Reeperbahn zu fahren. Einmal rauf und wieder runter. Viele der Mädchen mussten mit Stoff versorgt werden, wobei nicht alle Drogen nahmen. Manchen war das wegen der Knastgefahr einfach zu gefährlich. Für alles fand sich jemand. Die verschiedenen Zuhälter hatten alle ihr eigenes Drehbuch geschrieben und sich selbst darin die Hauptrolle gegeben. Stil, Witz und Ernsthaftigkeit 52
schufen bei jedem ein eigenes Image. Der Ruf war wichtig in dieser Branche, in der viel um Respekt gekämpft wurde. Wenn man an richtiger Stelle zum richtigen Zeitpunkt jemanden umgehauen oder ein großes Ding gelandet hatte, gewann man Respekt und musste sich nicht an jeder Stelle neu bewerben. Die Monate vergingen, besonders die Nächte, und die ganzen Kiezgrößen sahen mich an allen wichtigen Partyplätzen. Ich brachte ihnen ihre Flaschen zum Saufen und was sonst so noch gebraucht wurde und kam immer näher auf Tuchfühlung zu ihnen. Sie hatten Vertrauen zu mir und sahen mich schnell als einen der ihren an. Ich war jetzt siebzehn und jede Nacht unterwegs. Koksen, Saufen, hier und da kleine Hilfsdienste, und wenn morgens die Nutten von der Arbeit kamen, wurde ich manchmal von einer mitgenommen. So war ich einer von ihnen, auch wenn ich nichts mit ihren Geschäften zu tun hatte. Manchmal gab ich einen frechen Spruch zum besten und hatte so die Lacher auf meiner Seite. Oft saß ich mit den Großen der Szene und sah ihnen beim Back-Gammon-Spiel zu. Dabei lernte ich die Respektregeln der Straßen von St. Pauli kennen und erfuhr, was es bedeutete, diese Regeln zu brechen und wie solche Leute zur Ordnung gebracht wurden. Die Unterwelt ist eine böse Welt, aber auch sie hat eine Ordnung, sonst kann sie nicht bestehen. In dieser Zeit erschienen die ersten Straßengangs auf der Szene. Das waren wirklich harte Kämpfer, zum Teil noch im jugendlichen Alter. Wenn die irgendwo mit einhundert Mann auftauchten, wurde es ungemütlich. Die nahmen jedem, der nicht schnell genug laufen konnte, gern mal die Jacke oder die teure Sonnenbrille ab. Diese Jungs haben das „Abziehen“ in Hamburg eingeführt. Gern zahlte der eine oder andere Gastronom, um diese Banden nicht vor der Haustür oder im Laden zu haben, damit die Gäste nicht belästigt wurden; denn Schlägereien sind schlecht fürs Geschäft. Ich habe selbst einige wirklich grausame Schlägereien gesehen, wo ein paar der Beteiligten nachher richtig übel zugerichtet waren. Das war kein Spaß mehr, da ging es um Leben und Tod. Eine dieser Gangs tauchte regelmäßig im After-Eight auf. Unser Boss Ulli hatte uns Angestellten gar nicht erzählt, dass er von einer Motorrad-Rockerbande gebeten worden war, doch mo53
natlich eine gewisse Summe freiwillig zu investieren, damit seinem Lokal nichts passieren würde. Aber Ulli dachte wohl, wenn er die ganze Gang in seinem Laden kostenlos versorgte, könnte er sich diese Schutzgeldzahlungen ersparen. Nicht zum Scherzen aufgelegt Es war 9 Uhr abends, und Ulli und ich trafen im Laden die letzten Vorbereitungen für den Abend. Ich machte gerade eine kleine Pause und rauchte vor der Tür einen Joint, als ein AmischlittenCabriolet mit fünf Mann vorfuhr. Es waren vier Rocker in Kutte und ein stadtbekannter Mörder, der von der Polizei steckbrieflich gesucht wurde. Auf den Steckbriefen und in der Zeitung konnte man über den lesen: „Vorsicht! Bewaffnet!“ Einer von ihnen war ein echter Riese, an die zwei Meter groß und drei Zentner schwer, ein Typ, dem man nicht gern im Weg sein wollte. Die Fünf stiegen aus und gingen an mir vorbei, ohne auch nur Hallo zu sagen. Wortlos setzten sie sich in eine Ecke. Ich war wohl zu bekifft, um zu bemerken, dass Ulli, unser Boss, es auf einmal eilig hatte durch die Getränkereiche unter dem Tresen in den Getränkekeller zu verschwinden. In der Gefahr ließ mich dieser Penner einfach allein. Gerade in diesem Moment fiel mir wieder ein, dass die Rocker ein paar Jahre vorher irgendwo einen Kellner im Streit erstochen hatten, was nicht unbedingt zu meinem Wohlbefinden beitrug. Ich dachte, es wäre klug, erst mal ein bisschen Atmosphäre zu schaffen und legte eine Rolling-Stones Scheibe auf. Dann ging ich zu den Männern (statt mich zu verdrücken, was vielleicht besser gewesen wäre) und fragte: „Was darf ich bringen?“ „Wir sind nicht zum Trinken gekommen!!“, war ihre nicht eben überraschende Antwort. Hätte ich ja auch draufkommen können. Zunächst sagte ich lieber nichts und ging wieder zum Plattenteller, da hatte ich plötzlich eine Idee, über die ich innerlich lachen musste. Ich wartete ein paar Minuten und ging dann wieder an den Tisch, baute mich vor der Gangstertruppe auf und sagte etwa Folgendes: „Wenn Sie hier nichts trinken wollen, müssen Sie den Laden verlassen! Denn wir sind hier keine Bahnhofshalle!!“ Ich meinte, das wäre ein Witz, aber der Satz hatte offensichtlich gesessen. Jetzt merkte ich, dass die absolut nicht gekommen waren um zu lachen 54
und außerdem meinen Humor nicht verstanden. Langsam stand der Riese auf. Plötzlich hatte er ein dickes Bowiemesser in der Hand und schlitzte mit einer Handbewegung erst mal die Rückseite der mit Leder bezogenen Bank auf, dann machte er einen Schritt auf mich zu, das Messer in Bauchhöhe. Zum Glück sprang da der Mörder auf und drückte sich dazwischen, dabei zischte er dem Rocker zu: „Halt dich zurück, wir sind wegen dem Geschäft hier.“ Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er mich im Nacken und zog mich vor die Tür. Dann kam er mit seiner Nase ganz dicht an meine, sah mir in die Augen und sagte: „So ein Quatsch machst du nicht noch mal! Du hast Glück! Wenn ich Lust hätte, würde ich dich jetzt umlegen. Also sei froh, dass ich jetzt keinen Bock dazu habe!!“ In seinen Augen sah ich, dass er das, was er sagte, auch meinte. Ich hielt die Luft an und mein Herz schien still zu stehen, ich war kurz davor, einfach abzusacken und bewusstlos umzufallen. Der Mörder ließ mich wieder los und ging zurück zu den anderen, und ich machte erst mal einen Gang um den Block: Ich brauchte frische Luft. Als ich mich wieder gefangen hatte, ging ich zu den Rockern, die immer noch in der Ecke saßen. Ich wusste, was ich zu tun hatte, und bat demütig um Entschuldigung für mein Verhalten. Ich erklärte ihnen, dass ich vollgekifft gewesen war und dachte, sie würden mein Verhalten als Witz verstehen. „Danke, dass ihr mich nicht plattgemacht habt. Darf ich auf Kosten vom Boss Champagner ausgeben?“ Diesmal hatte ich wohl den richtigen Ton getroffen. Das war die Respektnummer. Sie tranken in Ruhe die Flasche aus und verabschiedeten sich mit „wir kommen wieder“. Das war das letzte Mal, dass ich echte Rocker nicht ernst genommen habe. Mir war absout klar, dass ich an diesem Abend auch hätte sterben können. Aus Sicht der Rocker wäre das vielleicht sogar nützlich gewesen. Einen Kellner umzulegen, hätte sofort allen in der Stadt gezeigt, wo es lang geht, und viele hätten noch bereitwilliger gezahlt, wenn diese Jungs um eine Spende baten.
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Revierkämpfe Zu dieser Zeit wurde die Schutzgelderpressung auf St. Pauli ein heißes Thema. Selbst der Spiegel brachte damals einen längeren Bericht darüber. Es war die Zeit, als auf St. Pauli die ersten Menschen in Bandenkonflikten erschossen wurden. Die Sitten wurden deutlich rauer. Alles fing, wenn ich mich richtig erinnere, mit dem Tod eines berühmten und erfolgreichen Zuhälters an. Keiner wusste so richtig, wie er aus dem Leben geschieden war, aber man konnte deutlich spüren, dass es einen Machtwechsel gegeben hatte. Über Nacht hatte sich eine neue Gruppe auf dem Kiez breitgemacht, und die waren auch bereit zu töten. In der Folge zogen immer mehr klassische Zuhälter, die lieber auf Mord und Gewalt verzichten wollten, aus Hamburg fort. Schließlich wollte keiner mit einer Kugel von irgendeinem Heißblütigen, vielleicht erst 17-Jährigen im Kopf in einem Hinterhof enden. Die neuen Macher auf dem Kiez kamen aus jahrzehntelanger politischer und kultureller Unterdrückung. In ihrer Kultur gehörte die Blutrache noch zum Selbstverständnis. Der Kiez war zwar in der Lage, sich selbst zu organisieren und sich seine eigenen Gesetze zu geben, aber die meisten großen Zuhälter, die ich kannte, waren zu weich und zu bequem geworden, um sich gegen diese neuen Gangs zu wehren. Mit Karate und einem Baseballschläger konnte man aber nichts gegen skrupellose Messerstecher oder eine Pistolenkugel aus dem Hinterhalt ausrichten. Die Angst war groß, und keiner wollte der erste Tote sein, und so ging der Kiez zügig den Berg runter. Die Herren, die damals mit viel Kampf das Revier übernommen hatten, sind mittlerweile reich geworden und leben heute etwas zurückgezogen. Und wieder traten hungrige neue Gruppen auf, die Druck an allen Ecken machten. Die, die überleben wollten, machten Platz oder gaben zumindest ein Stück vom Kuchen ab. Das ist das Prinzip der Straße. Willst du nicht für dein Geschäft sterben (und wer will das schon), gehst du, oder teilst. Schließlich bewaffneten sich auch die deutschen Gangs und fingen an, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Eine Schießerei in einem Eroscenter mit zwei Toten war dann der Beginn, dass auch Deutsche sich gegenseitig platt machten. Kurz zuvor saß man 56
noch am Tisch, trank was zusammen, und plötzlich kam ein gereizter Ton und schon wurde geschossen. Der neue Feind von außen, der sich auf dem Kiez breitmachte, war zu mächtig, also lagen die Nerven blank und man machte sich gegenseitig fertig. Ich hielt mich aus allem schön raus und begann, obwohl ich nur ein schmächtiger Typ war – wenn auch zwei Meter lang –, als Türsteher zu arbeiten. Ich kannte alle und die meisten kannten mich, zumindest vom Sehen. Für mich war nur wichtig zu wissen, wo ich mir, falls es an der Tür Schwierigkeiten geben sollte, im Laden die richtige Hilfe holen konnte. Das tat ich zum Beispiel dann, wenn randalierende Besoffene oder andere Krawallmacher reinwollten und ich allein nicht einschüchternd genug wirkte. Die richtigen Schläger, die einfach zum Spaß gern mal jemanden zusammenschlugen, durften bei mir umsonst in den Club, solange sie sich benahmen; dafür revanchierten sie sich bei mir. Wenn sich die Gelegenheit bot, machte ich ein paar schnelle Dollars als Fotomodell oder Statist für irgendwelche Neue-RevueGeschichten. Die Mutter eines Freundes, die Fotografin für die Bild-Zeitung war, vermittelte mich für eine Story in „Bild der Frau“. Die Serie hieß „Ein Mann sucht eine Frau“. Darin ließen sich Männer unterschiedlichen Alters mit verschiedenen Fotos und dazugehöriger Geschichte in der „Bild der Frau“ ablichten und bekamen dann von überall her Zuschriften von Frauen die an einer Bekanntschaft interessiert waren. Bei mir waren es immerhin schmeichelhafte 200 Zuschriften. Aber weil meine Lebensgeschichte erlogen war, warf ich alle Briefe unbeantwortet in den Müll. Meine Mutter zog es inzwischen nach Marbella, Spanien. So hatte ich die große Wohnung für mich allein und vermietete zeitweilig ein oder zwei Zimmer an Fotomodelle, die mir durch eine Agentur vermittelt wurden. Ach ja, meine Mutter ...
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Nächstes sollte ich mir das geistliche Werkzeug abholen. Es ging zur Geistertaufe, der Initiierung in den alten babylonischen Kult der Tempelprostitution. Ich malte nach Vorschrift einen fünfzackigen Stern auf eine Holzplatte, stellte in die Ecken brennende Kerzen, zog mich aus, übergoß mich von Kopf bis Fuß mit Öl, das vorher mit einer Zauberformel von mir „heilig“ gemacht wurde, sprach dann eine andere Zauberformel und rief zu den Gottheiten, dass sie mich mit ihrer Kraft erfüllen sollten, damit ich ihnen und den Menschen mit Sex dienen könnte. Ich betete und salbte mich von Kopf bis Fuß, dabei verwandte ich laut Anweisung besondere Aufmerksamkeit auf die Genitalien. Plötzlich erfüllte etwas Mächtiges den Raum. Ich fühlte die Ankunft des Geistes, den ich gerufen hatte, und hieß ihn willkommen. Als er mich erfüllte, erlebte ich einen nie gekannten Zustand der Ekstase, einen Rausch, von dem mein ganzer Körper und meine Seele bis ins Tiefste erfasst wurde. Mit Visionen vor meinem inneren Auge und erfüllt von Begierde, die mich in einen Rausch versetzte, betete ich einen Augenblick meine Götter an, während ich eine brennende Kraft, besonders in meinen Genitalien, spürte. Diese Götter, die schon seit Jahrtausenden ihre Herrschaft unter den Menschen ausübten, eines ihrer Medien in der Neuzeit war ich nun geworden! Sie würden mir helfen, das zu werden, was ich sein wollte. Ich merkte: „Diese Geisterkraft macht mich auch seelisch stark, nicht nur körperlich.“ Ich hatte die besten Chancen, so meinte ich.
Und jetzt die Praxis Nun war ich als Geweihter eines alten babylonischen Kultes auf dem Weg. Schnell wurden meine Bitten erhört. In einer kultivierten Bar kam ich ins Gespräch mit einer Dame, die zwar die allerbesten Jahre schon hinter sich hatte, aber sich Mühe gab, so zu wirken, als sei sie noch jung genug für ein Abenteuer. Aus Neugierde fragte sie mich, was ich denn beruflich mache. Siebzehn Jahre war ich und benahm mich selbstbewußter und frecher als manch älterer Mann. So antwortete ich das erste Mal in meinem Leben auf solch eine Frage mit: „Ich bin Callboy, gnädige Frau, ich 78
verkaufe mich an Frauen für ein einzigartiges Erlebnis.“ Sie erkundigte sich nach dem Preis; allerdings nicht für sich, wie ich dann erfuhr. Sie hatte eine Freundin im oberen Teil der Bar, die sollte bald heiraten, und der wollte sie noch einmal ein wenig „Spaß“ schenken, wie sie es nannte. So holte sie ihre Freundin, und die fing, leicht angetrunken wie sie war, erst mal an zu kichern, als sie mich sah. „Du bist also ein Callboy? Ich kenne dich doch vom Sehen, du wohnst doch hier im Viertel. Und wie lange machst du das schon?“, meinte sie. Ich blieb ganz ungerührt und antwortete, dass ich neu im Geschäft und mein Preis 500 Mark sei. Diese Frau, sie war wohl ungefähr 30 Jahre, musterte mich von Kopf bis Fuß und war offenbar sehr amüsiert. Wir wurden uns einig. Ein wenig später ging ich mit den beiden Frauen zum Essen in ein feines spanisches Lokal in der Nähe. Ich konnte es kaum fassen, aber die Eltern dieser Frau, die bald heiraten wollte, und ein paar Freunde waren auch mit dabei. Ich saß, aß und schwieg, um bloß keinen peinlichen Patzer zu machen. Die Eltern waren vielfache Millionäre und die Tochter, die mich nun als Geschenk von ihrer Freundin bekam, war ein Leben im Überfluss gewöhnt. Es machte ihr sichtbar große Freude, mich nun am Tisch als ihre Nutte dabei zu haben. Wir sahen uns nur kurz an und schmunzelten. Ich war ihr erster gekaufter Mann, sie war meine erste Kundin. Aber die Freundin, die auch beim Essen mit dabei war, war offenbar die Einzige, die wusste, was da laufen sollte. Sie hatte mich zwar ihrer Freundin geschenkt, selber machte sie sich aber nichts aus Männern und zog es vor, sich in ihrem thailändischen Schloß mit Frauen, die sie gekauft hatte, zu vergnügen. Für die anderen war sie nur die Besitzerin eines angesehenen und gut gehenden Unternehmens in Hamburg. Reiches und doch armes Deutschland. Nach dem Essen ging es in eine Edelwohnung an der Alster, die ich erst früh am Morgen wieder verließ. Ich träumte, wie gesagt, von einer großen Karriere als Lover-Boy, und so begann ich, Frauen, die nach Geld aussahen, von vornherein wie potentielle Kundinnen zu betrachten. Reiche und verwöhnte Frauen sind oft zu Tode gelangweilt und freuen sich schon über jede charmante Zweideutigkeit. Viele dieser Frauen haben quasi ihre Seele verkauft, nur um am Wohlstand eines Mannes Teil zu haben, der sich 79
ansonsten nicht mehr viel aus ihnen machte. Wenn eine solche Frau für einen Tag Kosmetikbehandlung 600 Mark ausgeben konnten, warum dann nicht auch für andere Erfrischungen? Wenn ich eine dieser frustrierten Damen im Schutz der Anonymität auf der Straße ansprach, in der Hoffnung, mit ihr ins Geschäft zu kommen, versuchte ich mit frechen Sprüchen wie „Guten Tag, gnädige Frau, etwas Spaß gefällig?“ schnell Mauern einzureißen. Ich hatte keine Angst, mich zu blamieren. Ich entwickelte mich zügig zu einem schamlosen, aufdringlichen und gelegentlich auch ordinären Typen, der dabei recht sprachgewandt vorging. Nicht immer ging es mir ums Geld, bei gewissen Frauen wollte ich mir auch etwas beweisen, die für mich unerreichbaren wenigstens einmal verführen. Immer auf der Suche nach einem neuen Kick Die Mutter eines Freundes, die für die Bild-Zeitung fotografierte, fragte mich eines Tages, ob ich nicht Lust hätte, als Porno-Modell zu arbeiten. Ihr Freund sei Porno-Produzent und suchte ständig neue Gesichter und gut gebaute Typen. An den wollte sie mich vermitteln. Was für eine Freude! Endlich ging es los! Ich rief also bei diesem Klaus an, der mir mitteilte, dass ich zuerst mal zu einem Foto-Shooting kommen sollte. Das sei das Beste für Anfänger. Er versicherte mir, ich würde bestimmt viel Spaß haben! Ich hatte also den ersten wichtigen Karriere-Termin, was gab es noch zu überlegen? Na ja, ein bisschen beunruhigte mich die Frage, ob ich nicht versagen würde. Ich fragte mich, ob ich wirklich den Mut besaß, mich vor fremden Menschen mit bezahlten Frauen so intim zu zeigen. Aber ich sagte den Termin zu. Als ich dann vor der Tür des Fotostudios stand, hielt ich noch einen kleinen Moment inne. Für einen Augenblick ahnte ich, dass ich durch diese Tür in eine andere Dimension treten würde und dass ich nicht als derselbe Frank wieder raus käme. Danach wäre es öffentlich, für alle Welt zu sehen, was für ein sexbesessener Typ ich war oder sein wollte. Ich würde mich von allem Normalen abgrenzen, und das Normale würde sich von mir abgrenzen. Einen Augenblick noch hörte ich die Stimme meines Gewissens in mir: „Weißt du, wie teuer dich dieser Schritt kommt? Du wirst teuer 80
dafür bezahlen!“ Doch die Gier nach Neuem war zu groß. Mein Vertrag mit der Lust war geschlossen und mußte nun von mir erfüllt werden! Bloß nicht blamieren, nicht ausgelacht werden. Ich schaffe es! Ich will es! Durch diese Tür in ein neues Leben! Die Tür wurde von dem netten Klaus geöffnet. Das Studio war in einer riesigen Altbauwohnung, vollgepackt mit modischen Möbeln, wie ich sie nur aus Filmen kannte. Bunt und teuer. Im Hintergrund lief Musik, es wurde gelacht. In einer Ecke saßen einige Zuhälter und alberten herum, tranken und koksten. Es dauerte nicht lange, bis auch mir jemand eine Prise anbot. Beim „ersten Mal“ wollte ich aber lieber nicht – erst mal den Job und dann das Vergnügen! Ein Schluck Whisky zur Entspannung, das musste reichen. Ich fürchte, die Jungs sahen mir sogar an, wie aufgeregt ich war! Immerhin stellte man mir einen Porno-Partner, einen Body-Builder, zur Seite, der mir die nötige Unterstützung und Einweisung geben sollte. Ich fand das ziemlich verständnisvoll. Und jedenfalls war ich nicht allein. Dann kam die Partnerin rein, und ich traute meinen Augen nicht! Eine bildhübsche große Blondine aus München, Sekretärin im Hauptberuf, 30 Jahre alt. Nett, freundlich, äußerst gepflegt, einfach eine Augenweide! Es wurden die Kostüme und die Rollen verteilt und kurz besprochen, und dann zeigten wir uns schamlos vor der laufenden Kamera! Vor jedem neuen Bild wurde erst mal ein Probefoto gemacht, um zu sehen, ob alles richtig ausgeleuchtet war. Nach drei Stunden war alles im Kasten, und wir beiden hatten eine ganze Menge Geld mehr in der Tasche. Meine Feuertaufe als Porno-Darsteller hatte ich also hinter mir und bestanden! Wollte ich noch mehr? Und ob! Aber an dem Abend ging ich mit Freunden erst mal richtig feiern! Weitere Aufträge folgten schnell. Ich machte die verrücktesten Aufnahmen, immer mit Kostümen, an den seltsamsten Orten. Einmal gingen wir kurz vor der Eröffnung des Hamburger Rummelplatzes zu dem Besitzer des Riesenrades und buchten eine Kabine. Das Rad wurde eine halbe Stunde lang nicht gedreht, und hoch über Hamburg schwebend machten wir dort unsere Aufnahmen in luftiger Höhe. Ein andermal drehten wir als Mannschaft mit 10–14 Darstellerinnen und Darstellern in einem riesigen Anwesen mit Swimming81
Pool hoch über den Bergen Ibizas. Dort wurden dann vierzehn Tage lang jeden Tag verschiedene Aufnahmen am Strand oder im alten Marmorabbruchgebiet gemacht. Ich saß gern in einem aufblasbaren Plastiksitz im Schwimmbad und ließ mich vom Wind hin und her treiben, den Blick in das Tal und ein Glas Champagner in der Hand, zwischendurch meiner Foto-Pflicht nachkommend. Koksen, saufen, huren, viel lachen und sehr gutes Essen – was die äußeren Umstände anging fühlte ich mich wie im Paradies. Wäre da nicht die andere Seite gewesen. Die Kollegen dort waren zum Teil hauptberufliche Nutten, aber ich war überrascht, wie viele der Darsteller in ihrem „normalen“ Leben ganz seriösen Berufen nachgingen. Manche von uns waren richtig gestörte Persönlichkeiten, seelisch kranke, gebrochene Menschen, die in der Kindheit schlimmsten Missbrauch erlebt hatten. Ich erinnere mich an Menschen, die sich während der gesamten Aufnahmen total kindisch benahmen und permanent wie kleine Kinder sprachen. Andere litten unter schizophrenen Persönlichkeitsstörungen oder waren von einem sexuellen Hunger getrieben, der sie nie zur Ruhe kommen ließ. Immer wieder kam es nach erledigter Arbeit zu Nervenzusammenbrüchen. Manchmal halfen schon ein paar tröstende Worte, aber in vielen Fällen konnten nur starke Medikamente diese Menschen beruhigen. Insgesamt war es eine grausame, bizarre Szenerie. Aber ich war ja dabei, weil ich berühmt werden wollte. Ich wusste, dass die erfolgreichsten männlichen Darsteller in der Szene sich selber produzierten und dabei teilweise sehr reich geworden waren. Aber ich glaube, dafür fehlte mir irgendwie der Geschäftssinn, und mit meinem Drogenkonsum wäre das auch nicht vereinbar gewesen. Nur einmal wurde ich sogar ganz seriös vom Stern-Magazin für eine Titelstory als Modell gebucht. Es sollte ein Bericht über Pornografie und Callboys werden. Die Szene, die wir dafür stellten, war: Ich im Bett und drei vom Kiez geholte Nutten dazu. Ich machte natürlich gerne mit – für Geld, Eitelkeit und um Kontakte zu knüpfen. Eines Tages dachte ich, der große Durchbruch sei gekommen, als Bavaria-Film aus München mich für einen „richtigen“ Film engagierte. Ich hatte eine ziemlich umfangreiche Rolle in einem Dokumentarbericht über Hamburger Callboys und die käufliche 82
Liebe, der später sogar im Fernsehen gesendet wurde. Mit dem Regisseur verstand ich mich zwar prima, aber mehr wurde doch nie daraus. Das viele Geld, das ich verdiente, gab ich meistens sofort wieder aus. Taxi fahren, Drogen, Klamotten. Parallel vermietete ich wieder zwei Zimmer meiner Wohnung an Fotomodelle, die mir von verschiedenen Agenturen vermittelt wurden. Die führte ich, wenn sie das wollten, in die Hamburger Szene ein, und wir hatten viel Spaß zusammen. Wenn ich vernünftig gelebt hätte, würde ich heute zumindest eine Eigentumswohnung mein eigen nennen. Aber ich war nicht vernünftig. Wollte ich nie sein. Gleichzeitig arbeitete ja noch in der Szene, und da sprach es sich schnell rum, dass ich nun Pornos machte. Einige suchten gezielt in den Porno-Läden nach den Magazinen, in denen ich abgebildet war. Diese Bekanntheit half mir bei meinem Türsteherjob etwas Respekt zu verschaffen, weil ich ja andererseits kein Schlägertyp war. Frauen, die ich gar nicht kannte, kamen auf mich zu mit der Frage, ob ich denn wirklich so ein guter Liebhaber sei? Sie hatten gehört, dass ich Pornos machte und wollten mal was anderes erleben. Es war offensichtlich: Pornographie wurde immer gesellschaftsfähiger. Dann kam AIDS AIDS schlug in der Szene ein wie ein Bombe und durchquerte meine Karriere-Pläne. Eben wollte ich mir noch ein Edel-Appartement in der City einrichten und Inserate in den Tageszeitungen starten, um mich ganz darauf zu konzentrieren, ein LuxusCallboy für betuchte Frauen zu werden. Aber wegen AIDS war sowohl mir als auch meiner potentiellen Kundschaft die Lust darauf vergangen. Einige Ärzte wollten mir zwar erzählen, dass man sich vor dem AIDS -Virus mit dem Kondom schützen könnte und dass das Virus nicht durch Küssen übertragen würde. Ich hielt das aber für Schwachsinn. Meine Rechnung ging so: wenn ein Virus wie Herpes durch Küssen übertragen wird, wenn Hepatitis, auch hochinfektiös, durch Tröpfchen übertragen wird, dann ist es doch eine Illusion zu glauben, AIDS wäre weniger ansteckend. Und mir war klar, anders als bei anderen Krankheiten, die faktisch meis83
tens heilbar waren, waren AIDS und seine Folgen definitiv tödlich. Ärzten, die mir erzählen wollten, dass AIDS nicht durch Küssen übertragen wird, habe ich immer den gleichen Vorschlag gemacht: „Ich bringe Ihnen, Herr Doktor, eine AIDS -kranke Nutte, die küssen Sie bitte kräftig vor meinen Augen. So können Sie mir beweisen, was Sie da glauben.“ Ich fand keinen, der das gewagt hätte. Es fällt uns Menschen schwer zu akzeptieren, dass unsere Freiheit nicht unendlich ist. Aber AIDS machte jedem nüchtern denkenden Menschen klar, angemessen zu reagieren hieße, entweder auf eine gewisse Art treu zu sein oder weiter unverbindlichen Sex zu treiben und eines Tages womöglich deswegen zu sterben. Das ist wie Russisches Roulett. Und mittlerweile gibt es auch tatsächlich echte AIDS -Roulettspiele, bei denen sich Sexsüchtige zum anonymen Partnertausch treffen und der Gastgeber bewusst eine Person einlädt, die HIV- positiv ist. In der Sucht, mit der Sucht und durch die Sucht sterben ist das Ziel. Es ist zum Verzweifeln! Weil ich aber keinen Ausweg aus meiner eingefahrenen Lebensbahn fand, setzte sich bei mir irgendwann der Gedanke, dass ich wahrscheinlich an AIDS als an einer Art „Berufskrankheit“ sterben würde. Gut, dann sollte es eben so sein! Nur andere Menschen wollte ich nicht wissentlich gefährden, und darum beschloss ich wenigstens regelmäßig einen AIDS -Test machen zu lassen. Am Anfang der AIDS -Panik gab es den HIV-Test noch kostenlos, und so ging ich regelmäßig zu meinem Hausarzt, der von meinen Sexgeschäften wußte. Eines Tages fragte er, warum ich denn nicht aufhören würde, mit Sex mein Geld zu verdienen. Ich erklärte ihm, dass ich vom Sex besessen sei und mit Sex sterben wollte. Sex war mein Gott – bis in den Tod! Nur wollte ich andere nicht unnütz durch Ansteckung gefährden und – ach ja, wenn es denn so weit wäre, würde ich gerne den ungefähren Todeszeitraum wissen. Nach diesem Bekenntnis wollte der Arzt mich nicht mehr in seiner Praxis sehen. Er hielt mich für durchgeknallt, für verrückt und gefährlich. Ich wurde melancholisch. Es machte mich traurig, dass das, was zuvor noch so kinderleicht schien, jetzt wegen dieser Krankheit mit einer großen Verantwortung verbunden war. Aber Sex, 84
Drogen und jede Art verbotener Vergnügungen hatten mich in ihrem Bann. Ich lief immer schneller, mir selber voraus, mein Schatten überholte mich. Ich fand nicht mehr die Ruhe, all diese verrückten Erlebnisse zu verarbeiten – zu genießen gab es daran schon lange nichts mehr. Aber bloß nicht stehen bleiben. Wenn ich dann mal wieder für Porno-Sachen gebucht wurde, waren das die Gelegenheiten, für kurze Zeit in eine „farbige Hochglanzfantasiewelt“ zu fliehen. Ich hatte Todesahnungen und nahm an, dass ich bald sterben würde. Um auf andere Gedanken zu kommen, schloss ich mich daher für eine Weile einer Drückerkolonne auf Deutschlandtour an. Kreuz und quer durch Deutschland immer mit demselben Spruch: „Guten Tag, ich komme von bla, bla, bla und biete Ihnen bla, bla, bla ...“ Für jedes verkaufte Abonnement gab es 15 Mark, der Boss erhielt natürlich ein Mehrfaches und ließ uns das Benzin noch selber bezahlen. Richtig mies wurde es, wenn konkurrierende Kolonnen in der gleichen Gegend waren. Dann konnte es schon mal wirklich brutale Schlägereien geben. Nach drei Monaten hatte ich die Nase voll davon und konnte mich auch ohne Probleme wieder verabschieden. Irgendwie brauchte ich doch was anderes.
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24 Stunden Fremdenlegion
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m Film „Rambo“ spielt Sylvester Stallone einen vagabundierenden Vietnam-Veteranen, der in einer Kleinstadt Ärger mit einem wirklich bösartigen Sheriff bekommt und daraufhin als bis an die Zähne bewaffneter Einzelkämpfer mit der „Mach-sie-alle-plattMethode“ hunderte Polizisten in die Flucht schlägt. Diese Story hatte es mir angetan. In meiner Phantasie wurde ich solch ein durchgeknallter Einzelkämpfer, der auf St. Pauli alles platt machen würde und alle würden vor mir zittern! Auf dem Kiez gab es ja auch tatsächlich ein paar Typen, vor denen alle einen Riesenrespekt hatten und die ihr eigenes Gesetz waren. In diese Stimmung passte es ganz gut, dass ich in Pöseldorf einen Mitarbeiter des Französischen Instituts kennen lernte, dem ich von meiner Abenteuerlust erzählte. Der fand das großartig und berichtete mir seinerseits von der Fremdenlegion, die genau das Richtige für Typen wie mich sei. Naja, ich hatte bereits früher Männer kennen gelernt, die Legionäre gewesen waren, daher wusste ich, dass dort der Spaß auf einer anderen Ebene gesucht wurde. Aber diesmal war es anders, ich fühlte mich persönlich angesprochen. Eines Tages bot dieser Franzose mir an, mich auf seiner Tour nach Hause in Straßburg bei der Legion abzusetzen. Kurzerhand packte ich meine wichtigsten Sachen in einen Rucksack und verabschiedete mich nur bei meinem besten Freund. Es war der 23. 12., als wir in Straßburg ankamen. Der Mann redete noch ein paar Worte mit dem wachhabenden Unteroffizier am 87
Eingang, dann war er weg und ich wurde willkommen geheißen. Der ganze Komplex wirkte eher wie ein großes Gefängnis mit seiner hohen Mauer und dem Nato-Stacheldraht. Man wollte nicht gesehen werden und die Waffenbestände sollten vor Waffendieben von der Mafia oder aus Terroristenkreisen geschützt werden. Die Mauern waren weiß angestrichen, und um die ganze Anlage war ein Sicherheitsabstand von 50 Metern, in dem sich buchstäblich nichts befand. Das Ganze war eine Festung, umgeben von Flutlichtern, die weit hinaus leuchteten. Wir traten in den Vorraum, wo sich eine Art Pförtnerloge befand. Da ich nicht Französisch sprach, musste mein Begleiter übersetzen. Zuerst einmal wollte ich klarstellen, dass ich kein Gewaltverbrecher auf der Flucht vor der Polizei, sondern einfach ein Abenteurer war. Der Unteroffizier, der wohl Spanier oder Lateinamerikaner war, machte einen netten und entspannten Eindruck. Er erklärte mir, dass der Lärm, den wir deutlich aus den oberen Räumen hören konnten, von der Weihnachtsfeier der Offiziere und Unteroffiziere herrührte. Ich solle mich erst mal auf das Abendessen um 19 Uhr freuen. Ich wurde in das Geschäftszimmer gebracht, wo ich ein paar Broschüren in deutscher Sprache über die Entstehung der Legion, über die Ethik und die Aufträge dieser zu den härtesten Armeen der Welt zählenden Truppe zu lesen bekam. Dann kam zu meiner Begrüßung ein markanter Offizier, der mich in gutem Deutsch interviewte. Er wollte sofort wissen, was für ein Verbrechen ich begannen hätte. Er meinte, dass nur Männer in die Legion kämen, die vor irgendetwas weglaufen würden. Recht hatte er. Er erklärte mir noch, dass die Legion ohnehin mit den deutschen Behörden zusammenarbeiten würde und er früher oder später sowieso alles herausbekäme. Ich solle also besser gleich die Wahrheit sagen. Als ich ihm versicherte, dass ich wirklich nur ein Abenteurer sei, fand er das zwar irgendwie seltsam, aber schließlich akzeptierte er es. Dann wurde ich zu der Kleiderkammer gebracht, wo ich zuerst meinen gesamten privaten Besitz samt Rucksack abgeben musste und im Gegenzug einen billigen Trainingsanzug und ein paar ausgetretene Turnschuhe erhielt. Eine etwas unpassende Bekleidung, angesichts der winterlichen Temperaturen, die deutlich unter dem Gefrierpunkt lagen. Selbst innerhalb des Gebäudes fror ich damit 88
noch. Auch den Personalausweis musste ich abgeben. Nur einen 20-Mark-Schein steckte ich mir vorsichtshalber in die Unterhose. Nach deutschem Gesetz ist der Eintritt in die Fremdenlegion strafbar. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum es für manchen Söldner eine attraktive Aussicht ist, dass die Legion jedem Soldaten, der mindestens fünf Jahre treu gedient hat, eine neue Identität anbietet. Neuer Name, neue Legende und nach längerem Dienst sogar die Aussicht auf die französische Staatsbürgerschaft und eine Pension sind für viele, die zu Hause eine Menge Knast erwartet, ein Ziel, für das sich manches ertragen ließ. Für den, der es wollte, unterhielt die Fremdenlegion auf einer Karibikinsel sogar einen eigenen Altersruhesitz, der ausschließlich für Legionäre eingerichtet war. Schöne Aussichten eigentlich, vorausgesetzt, man überlebt bis dahin. Ich wurde auf die Etage gebracht, wo die Unterkünfte und der Speisesaal waren. Da diese Niederlassung nur eine Art Verwaltungsbrigade war, die hauptsächlich als Sammelstelle für Freiwillige diente, waren nicht viele Schlafräume nötig. Neben den neuen Rekruten waren offensichtlich auch Soldaten zur Genesung und Behandlung in der Kaserne, denn ich sah Männer auf dem Gelände, die mit Krücken oder Bandagen umhergingen. Im Esssaal saßen etwa zwanzig Männer mit ausdruckslosen Gesichtern an einem langen Tisch. Sie schienen sich fast nur auf ihr Essen zu konzentrierten. Einige unterhielten sich leise in Französisch. Es lag eine gewisse Nervosität in der Luft, die man fast körperlich spüren konnte. Ich setzte mich neben einen großen breitschultrigen Typen, der wortlos sein Essen in sich rein schaufelte. Da er auch Deutscher war, kamen wir schnell ins Gespräch und er erzählte mir, dass er in der Nacht zuvor in einer Disco im Streit jemanden so unglücklich ins Gesicht geschlagen hatte, dass der umfiel und tot liegen blieb. Jetzt erwarteten ihn mindestens fünf Jahre wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge. Also war er lieber abgehauen und zur Legion geflohen. Er wusste auch nicht genau, was ihn hier erwartete, aber was immer es war, es schien ihm auf jeden Fall besser als fünf Jahre Bau. Er hatte sogar eine Frau und Kinder und man merkte ihm an, dass das Unglück, das er nun über zwei Familien gebracht hatte, ihn nicht kalt ließ. 89
Mir gegenüber saß ein schmächtiger, fast zerbrechlich wirkender Mann mit leidender Miene. Er war aus Liebeskummer hier. Seine Freundin hatte ihn verlassen, und nun wollte er wohl den Heldentod sterben. Die Leute am Tisch kamen aus verschiedenen Nationen, aber bei der Legion ist Französisch Amtssprache, und so musste jeder, der bleiben wollte, recht schnell Französisch lernen. Trotzdem war Deutsch auch recht verbreitet. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele deutsche Soldaten zur Fremdenlegion gegangen. Sie hatten ja nichts anderes als Krieg gelernt, und die Befreier hatten für sie schnell eine neue Verwendung. Die Fremdenlegion macht die Schmutzarbeit für Frankreich in Regionen, wo Frankreich aus politischen oder anderen Gründen nicht mit offiziellen Truppen präsent sein will. So durften dann die Fremden (also die Söldner) für Frankreichs Interessen und die seiner Konzerne in Afrika und anderswo sterben. Während des Essens, was übrigens nichts von der berühmten französischen Küche ahnen ließ, kam ein Unteroffizier zu mir und erklärte mir, dass zwar in dieser Nacht noch ein Transport nach Marseille zur Grundausbildung abgehen würde, dass ich aber noch nicht mit den anderen Neulingen gehen könnte. Es wurden immer genau zwanzig Mann gesammelt und dann unter Begleitung von Militärpolizisten per Bahn nach Marseille gebracht. Ich war eben der 21. Mann gewesen. So ein Pech. Ich sollte nun so lange in der Kaserne warten, bis wieder zwanzig Mann zusammen waren, um dann nach Marseille zu reisen. Das konnte manchmal schnell gehen, konnte aber auch Wochen dauern. In der Zwischenzeit sollte ich mich nützlich machen, als Putzhilfe in der Küche und bei den Toiletten. Noch am gleichen Abend musste ich meinen Dienst anfangen und die Speiseräume der Unteroffiziere aufräumen und saubermachen. Ich bekam einen lebhaften Eindruck von diesen Leuten, als ich feststellte, dass sie im Feiersuff die in Gelee eingelegten Eier an die Wände geworfen hatten. Alles war völlig verdreckt und ich ärgerte mich, dass ich nun die Putze machen musste. Sollte ich nun wochenlang hier der Haussklave sein? Als Nächstes war jedenfalls erst mal die Etagenküche dran. Nachdem ich bis nach Mitternacht gearbeitet hatte und endlich alles fertig war, ging ich in die Schlafstube mit den Etagenbetten für je drei Mann überein90
ander, auf denen Rotkreuzdecken lagen, und legte mich hin. Ich war so sauer darüber, dass sie mich nicht sofort mitgenommen hatten, dass ich gar nicht einschlafen konnte. „Was macht schon einer mehr im Zug nach Marseille aus“, dachte ich. Blöde Vorschriften. Da war nichts mit netter Familie und so; sie ließen mich hier einfach allein. Vom Hof her hörte ich Menschen, die sich in Französisch unterhielten, darunter auch einige Frauenstimmen. So ging ich zu dem vergitterten Fenster und sah, wie sich die Offiziere voneinander und von ihren Frauen verabschiedeten. Im Hintergrund warf die Stadt einen hellen Lichtschein an den Himmel. Es war Heiligabend, und ich saß hier hinter Gittern. Und das auch freiwillig. Die Legion – eine Familie? Bis jetzt war mir noch keiner begegnet, der auch nur im Entferntesten so was wie Familie ausgestrahlt hätte. Für mich waren das alles Todeskandidaten, und die meisten wussten wohl gar nicht, was Familie war. Und meine Familie war weit weg und hatte keine Ahnung von meinem neuesten Abenteuer. So wollte ich wenigstens mal meine Mutter anrufen und ihr mitteilen, wo ich nun gelandet war. Also ging ich zum wachhabenden Unteroffizier runter und fragte, wo ich mal telefonieren könnte. Doch der machte mir in gebrochenem Deutsch klar, dass das nicht erlaubt sei, vielleicht am nächsten Tag. O.k., es war ja bereits weit nach Mitternacht, also verschob ich den Anruf. Ich legte mich erst mal wieder hin, und diesmal schlief ich auch bald ein. Ich hatte sicher noch nicht lange geschlafen, da schreckte ich plötzlich hoch. Auf den Fluren hörte ich aufgeregtes Gebrüll. Noch völlig verschlafen stand ich wie in Trance auf und blickte das Treppenhaus hinunter, wo ich einige der Männer sah, die Stunden zuvor die Kaserne verlassen hatten, um nach Marseille zu fahren. Alle waren in Aufregung. Ich ging langsam runter und erfuhr, dass der schmächtige Typ mit dem Liebeskummer sich auf der Toilette des Zuges ein Brotmesser in den Bauch gestochen hatte und fast verblutet war. Die Mordkommission war schon da. Die mussten erst einmal prüfen, ob der nicht ermordet werden sollte. So etwas käme häufig vor, erklärte man mir. Oh Mann, kaum da, schon die erste Tragödie. Der Tod lag in der Luft. Ich musste unbedingt frische Luft schnappen und ging trotz der Kälte in den Hof. Dort hatte ich eine Cafeteria entdeckt. Drinnen sah ich 91
Männer beim Billardspielen, offensichtlich alles Veteranen. Sie waren älter, hatten alle tätowierte Arme und sahen aus wie Mörder. Toter leerer Blick. Kaum menschliche Züge, dachte ich. Im Vergleich mit diesen kam ich mir wie ein Weichei vor. Ich wusste instinktiv, dass die da drin schon unzählige Kämpfe hinter sich und viele getötet hatten. Bin ich wie die?, dachte ich. Bin ich echt so ein harter Macker? Plötzlich wachte eine Stimme in mir auf, die sagte: „Hallo, Frank! Willkommen bei der Legion! Träumen ist nun zu Ende. So wirst du in kurzer Zeit auch sein!“
Nichts wie weg Ich drehte mich wie ferngesteuert um. Ich war in einem Käfig und wollte einfach nur laufen, wieder weglaufen aus dieser Situation, in die ich mich erst vor kurzem selbst gebracht hatte. Meine Beine suchten sich den Weg praktisch alleine. Ich sah mich selbst wie in Zeitlupe, sah, wie meine Schuhe auf den weißen Kieselsteinweg auftraten. Als ich den Kopf hob, erblickte ich einen großen MilitärLaster, der ca. zwei Meter hinter einem Hoftor quer stand. Der war wahrscheinlich als Rammschutz dort geparkt worden, damit kein anderes Auto einfach das Tor durchbrechen konnte. Ohne nachzudenken sprang ich auf die Motorhaube, dann auf die Fahrerkabine, und von dort auf die Plane. Ich hatte Mühe, auf der nachgebenden Plane das Gleichgewicht zu halten, aber wie in den Actionfilmen, die ich gesehen hatte, sprang ich ohne zu zögern in den Drahtschutz auf dem Tor und machte gleichzeitig mit dem Oberkörper eine Rolle nach vorn. So ließ ich mich kopfüber nach vorn über die Mauer fallen, ohne den Draht anzufassen! Ich spürte im Fallen, wie der Draht an meinem Trainingsanzug entlangglitt, aber an dem glatten Stoff keinen Halt fand. So fiel ich, während ich mich in der Luft weiter drehte, die drei Meter nach unten. Ich kam ziemlich hart, aber immerhin halbwegs mit den Füßen zuerst auf. Der Adrenalinschub ließ mich Schmerzen und Angst vergessen. Ich wollte nur noch weg, egal wie. Sofort lief ich, ohne auf die Schmerzen in meinem Knöchel zu achten, über die ausgeleuchtete Freifläche in die Dunkelheit der angrenzenden Straßen. Bei einem Wohnhaus sah ich einen Mann, der sich um diese Zeit noch 92
in seiner Garage zu schaffen machte. So beiläufig wie möglich fragte ich ihn, wo die Grenze sei, aber er hatte schon an meinem Trainingsanzug erkannt, dass ich von der Legion kam. Trotzdem zeigte er mir die Richtung und wünschte mir in gebrochenem Deutsch noch viel Glück. Ich lief immer im Schatten der Gebäude. Würde der mich nun verraten und die Kaserne benachrichtigen? Nun bekam ich Verfolgungsangst; denn ich sah Militär-Jeeps durch die Straßen fahren. Ich dachte, die hätten meine Abwesenheit schon bemerkt und ganz Frankreich sei nun alarmiert. Immer auf der Hut, schlich ich mich in der Kälte an den Gebäuden oder Büschen entlang ein paar Ecken weiter. Endlich fand ich ein Taxi, das an einen Taxistand parkte. Auf allen Vieren schlich ich mich ran und klopfte an die Tür. Ganz vorsichtig kurbelte der Fahrer das Fenster ein Stück runter und sah mich misstrauisch an. Ich hatte keine Wahl und erklärte ihm ganz ehrlich in wenigen Sätzen meine Geschichte und warum ich geflohen war. Zum Glück verstand er einigermaßen Deutsch und war auch wirklich bereit, mir bei der Flucht zu helfen. Ich gab ihm den durchgeschwitzten Geldschein aus meiner Unterhose im Voraus, und nach fünf Minuten waren wir am Grenzübergang. Der französische Grenzbeamte sah mich erstaunt an. Ich gab ja auch ein seltsames Bild ab, wie ich humpelnd, weit nach Mitternacht und mitten im Winter, nur mit einem Trainingsanzug bekleidet, auf ihn zukam. Papiere hatte ich ja auch keine mehr, und er wollte einfach nicht glauben, dass ich eben aus der Kaserne geflohen war, die er natürlich gut kannte. Also erzählte ich ihm und seinen Kollegen die ganze Geschichte von Anfang an. Als er kapierte, dass meine Geschichte echt war, lachte er nur und rief einen Kollegen von der Kriminalpolizei, der gleich mit mir zurück in die Kaserne fahren wollte. Der Vorschlag gefiel mir natürlich überhaupt nicht, aber was sollte ich machen – um in Deutschland reinzukommen, brauchte ich ja zumindest den Ausweis. Also bin ich mit dem Kommissar zurück und stand wieder vor dem gleichen Unteroffizier, der mich am Vorabend schon einmal willkommen geheißen hatte. „Wie kommst du denn aus der Kaserne? Ich dachte du schläfst oben?“, übersetzte der Kommissar. Ich versuchte ihm dann klarzu93
machen, dass ich Angst bekommen hatte, dass ich nicht hart genug für die Legion sei und deshalb weggelaufen wäre. Dieser Soldat schien darüber ehrlich traurig zu sein und erklärte mir, die Legion wäre doch meine neue Mutter geworden! Sie hätte mir doch alles gegeben, was ich zum Leben brauchen würde. Ob ich es mir nicht noch mal überlegen wollte? Nein, ganz bestimmt nicht, das wusste ich. Ich hatte schon gehört, was mit Leuten passieren konnte, die versucht hatten von der Legion abzuhauen. Weil ich beharrlich blieb, wurde es dem Kommissar wohl langsam zu dumm und er bat darum, mir meine Papiere wieder auszuhändigen. Nach einigen Verzögerungen, die für mich Stunden zu dauern schienen, bekam ich dann auch tatsächlich meine Sachen übergeben und der Kommissar brachte mich zurück zur Grenze. Mein Glück war, wie mir der Grenzbeamte sagte, dass ich noch keinen Vertrag unterschrieben hatte, sonst hätte man mich nicht mehr gehen lassen, und nach Deutschland hätte ich auch nicht mehr ohne Schwierigkeiten zurückkehren können. Um 6 Uhr morgens schreite ich also im Dunkeln über die Brücke hinter dem Grenzübergang und bin wieder in meiner Heimat. Was habe ich bloß wieder für einen Blödsinn gemacht! Aber tief durchgeatmet und weiter. Ich steige in den ersten Zug Richtung Hamburg. Ohne Geld für eine Fahrkarte natürlich. Dem Kartenkontrolleur erzähle ich, dass ich von der Legion abgehauen sei, weil meine Mutter im Sterben läge, man mich aber nicht gehen lassen wollte. Deshalb sei ich da weg. Ohne einen Pfennig in der Tasche. Der Mann hatte Mitleid mit mir, und da gerade kein anderer im Abteil war, war er bereit einfach zu übersehen, dass ich keine Fahrkarte hatte. Er wollte in Frankfurt sogar seinen Kollegen bitten, mich umsonst weiterfahren zu lassen, und schließlich gab er mir sogar noch ein Frühstück aus. Mann, war ich froh, so einem Engel auf Schienen zu begegnen.
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Die Vergangenheit holt mich ein
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uf dem Tisch lag ein blauer Brief: mein Einberufungsbescheid zur Bundeswehr! Dass die überhaupt an mich dachten! Den bisherigen Lebensstil konnte und wollte ich nicht mehr weiterleben. Die Drogen brachten keinen Kick mehr, und mein zügelloses Sexualleben langweilte mich. Ich war da angelangt, wo die Vorhersage meiner Mutter mich gesehen hatte – erschöpft in Exzessen und Ausschweifungen. Alles, das ganze Leben, kam mir nur noch sinnlos vor. Also beschäftigte ich mich erst mal mit der Frage: Sollte ich nun zur Bundeswehr gehen oder verweigern? Und wenn Bundeswehr, dann als einfacher Wehrpflichtiger oder gleich als Zeitsoldat? Ich hatte gehört, dass man dort auch als Ungelernter einen sicheren Arbeitsplatz finden konnte. Warum eigentlich nicht? Was hatte ich schon zu verlieren? Einfach in meiner Bude hocken und in Apathie versinken war jedenfalls auch kein Weg. Ausgebrannt und erschöpft, wie ich war, stellte ich mir vor, das Beste für mich sei, eine Art grundlegende Lebenskur zu machen, und die Bundeswehr könnte mir das bieten. Gleichzeitig Drogenentzug und Ausdauertraining zur Stärkung der Disziplin. Für die Fremdenlegion war ich ja zu weich, das hatte ich mir eingestehen müssen, aber doch nicht für die Bundeswehr. Das müsste ich schaffen. Ich wollte endlich einmal etwas Vernünftiges und Sinnvolles bis zum Ende durchhalten. Ich wollte wirklich lernen, „normal“ zu werden. In dieser Zeit sah ich mich selbst als Verrückten 109
und die Bundeswehr als Spiegelbild der Gesellschaft, in der ich einen Platz wünschte – zum ersten Mal im Leben. Fünfzehn Monate hätte ich auf jeden Fall ein geregeltes Leben vor mir. Diese Zeit sollte mir schon helfen, auf neue Gedanken zu kommen. Dreimal am Tag Essen, ein Dach über dem Kopf und von morgens bis abends ein strenges Programm. Ich stellte mir den Wehrdienst als eine Art Langzeittherapie durch Disziplin für mich vor, falls ich nicht sogar Zeitsoldat werden würde. Ja, der Gedanke, bei der Bundeswehr einen richtigen Beruf zu erlernen, gefiel mir immer besser. Und ich machte mir Hoffnung, dass die mich auch nehmen würden, denn es waren die geburtenschwachen Jahrgänge, so dass nur wenige sich als Zeitsoldaten anboten und auch eine Menge Schrott als Soldaten angenommen wurde. Trotz meines Drogenkonsums bescheinigte der Musterungsarzt mir, dass ich körperlich absolut fit war. Na, ich hatte ja auch ein bisschen was dafür getan. Mein Body war immerhin mein Kapital gewesen. Für den Flugdienst und für das Panzerfahren kam ich nicht in Frage, weil ich mit meiner Größe von zwei Metern dafür angeblich zu lang war. Am 1. Januar 1986 schritt ich in eisiger Kälte morgens um 6 Uhr in die Boehn-Kaserne in Hamburg-Rahlstedt und bekam meinen Laufzettel in die Hand. Hunderte anderer junger Männer hatten auch ihren ersten Tag bei der Bundeswehr und strömten mehr oder weniger alle mit dem gleichen Gesichtsausdruck auf das Gelände. Ich konnte förmlich den militärischen Geist riechen, der über dem Ganzen herrschte. Hier wartete nun eine andere Respektschulung auf mich, das wusste ich. Hier war alles geordnet, alles lief nach Plan, für alles gab es einen Plan. Eine Sprache für alle, ein Verhaltenskodex für alle. Jeder ist irgendwie irgendjemandem untergeordnet. Ich ahnte, ja ich hoffte sogar, dass alles, was in mir unordentlich war, hier geordnet würde. Ich hatte nur den einen Gedanken: nicht auffallen, nicht unfreundlich, nicht frech sein, nicht den Kiez-Jungen raushängen lassen. Dann hatte ich eine Chance! Ich hoffte, dass meine Porno-Vergangenheit mein Geheimnis bliebe! Das war meine größte Sorge. Ich fand meine Kampfbatterie-Einheit und meldete mich beim Empfangskomitee. Dies war eine Grundausbildungseinheit, die die Soldaten während der ersten drei Monate in grundsätzlichen 110
militärischen Dingen ausbildete, bevor sie dann auf ihre Stammeinheiten verteilt würden. Wegtauchen unmöglich An dem Tag war gerade ein Reporter-Team vom Hamburger Abendblatt da, die eine Reportage über den ersten Tag eines Rekruten bringen wollten. Der Fotograf wurde ausgerechnet auf mich aufmerksam, der ich eigentlich nicht unnötig auffallen wollte. War auch kein Wunder – braun gebrannt, mit langen lockigen Haaren, trug ich einen Pelzmantel, der mich wie ein Zuhälter aussehen ließ. Nicht auffallen war gar nicht so einfach. Der Fotograf ging schnurstracks zum Hauptmann der Batterie und sagte ihm, dass er mich gern als Fotomodell für die Reportage hätte. Der Hauptmann kam zu mir und fragte mich, ob ich bereit wäre, dem Redakteur ein Interview zu geben. Ich überlegte kurz. Wenn ich nein sagte, um nicht aufzufallen, würde ich dann noch von diesem Hauptmann einen Zeitvertrag bekommen? Bestimmt nicht! Also machte ich mit. Als Erstes wurde ein Foto beim Frisör gemacht, wie er meine Haarpracht entfernte, dann ein Foto beim Empfang der Bettwäsche in der Bettenkammer und zuletzt eins beim Bettenmachen mit meinem Unteroffizier. Immer schön lächeln. Der Titel lautete: „Bundeswehr als Hoffnung für Arbeitslose“. In der Story sprach ich dann von meiner positiven Einstellung zur Bundeswehr und ließ auch meine Hoffnung durchblicken, einen Zeitvertrag zu bekommen. Der Bericht war so positiv, dass er eine Zeit lang in Hamburg in allen Einheiten, selbst im Kreiswehrersatzamt an den Eingangstüren klebte. So wurde ich also bekannter, als mir lieb war, denn alle Wehrpflichtigen hielten mich jetzt natürlich für einen Arschkriecher. Die vorgesetzten Unteroffiziere zogen mich auf: „Du willst also ein echter Soldat werden?“ Die hielten sich für Stars. In seiner eigenen Wahrnehmung war jeder der große Einzelkämpfer. Für mich waren sie Weicheier, die sich freuen durften, dass ich mich gerade verändern wollte, sonst hätte ich sie fertig gemacht (in meiner eigenen Wahrnehmung). Aber ich behielt meine Meinung lieber für mich, auch wenn es mir schwer fiel. Hier sollte ich als Erstes das lernen, was ich am wenigsten hatte: Selbstbeherrschung. 111
Anders die Unteroffiziere: die hielten sich überhaupt nicht zurück und kündigten ganz offen an, dass sie mir eine harte Zeit bereiten würden. Ich sollte lernen, dass ich nicht das Zeug dazu hatte, einer von ihnen zu werden. Als ich das erste Mal, nachdem die Reportage erschienen war, in die mit 400 Mann vollbesetzte Kantine kam, ging augenblicklich ein Raunen durch den Saal und alles wurde ruhig. Mann, war mir das peinlich. Ich hatte das Gefühl, alle drehten sich nach mir um. Am liebsten hätte ich in den Saal gerufen: „Irgendjemand Schläge gefällig?“ oder so etwas. Instinktiv wollte ich mir Respekt verschaffen – oder untergehen. Natürlich war es besser, dass ich mich beherrschte und wortlos zu einem noch leeren Platz ging. 14 Tagen waren vergangen und eine ganze Reihe Rekruten hatten schon Verträge als Zeitsoldaten unterschrieben. Nur mich hatte der Hauptmann wohl vergessen. Aber ich gab nicht auf. Die nächste Zeit lernten wir, wie man einen Spind so ordentlich hält, dass man die gestapelten Hemden mit dem Lineal messen konnte. Jedes Paar Socken, jede Unterhose, jeder Stiefel hatte seinen vorgeschriebenen Platz. Jeden Abend vor dem Schlafengehen wurde der Schrank vom wachhabenden Unteroffizier überprüft. Wenn ihm ein Schrank nicht gefiel, durfte der Besitzer desselben Liegestützen machen. Wer auf die Idee kam zu widersprechen, durfte noch mehr Liegestützen oder Kniebeugen machen. Wir waren neun Mann auf einer Stube. Jederzeit mussten wir mit dem Besuch eines Vorgesetzten rechnen, auch nach dem offiziellen Feierabend. Wenn ein Vorgesetzter in der Tür stand, hatten alle sofort aufzuspringen. In Habachtstellung gehen und einer musste Meldung machen. „Kanonier Meier meldet Stube 109, mit neun Mann belegt, sechs Mann beim Kartenspielen, drei Mann beim Duschen, Herr Unteroffizier!“ Um 22 Uhr machte der Unteroffizier vom Dienst (kurz Uffz genannt) noch einen Rundgang durch alle Stuben und kontrollierte, ob alles aufgeräumt, die Räume gelüftet und jeder anwesend war. Dann trillerte er auf seiner Pfeife und schrie laut durch den Flur: „Liiiiicht aaaaus!“ Alles wurde still. Um 5 Uhr begann der Tag wieder mit einem lauten Trillerpfeifen und: „Batteriiiii, aufstehen!“ Dann hieß es zusammen waschen, zusammen frühstücken, alle antreten und zuhören, was für diesen 112
Tag auf dem Ausbildungsplan steht. Zuerst lernten wir marschieren. Stundenlang wurden wir bei Eis und Schnee und kaltem Ostwind auf dem Exerzierplatz herumgehetzt. Dann mussten wir lernen, militärisch zu grüßen. Wir lernten unsere persönliche Ausrüstung, die verschiedenen Waffengattungen und ihre Aufgaben und die Dienstgrade kennen. Dazu bekamen wir Unterricht, z. B. in Gesellschaftskunde, militärischen Traditionen, Ethik und Religion. Wenn es praktisch wurde, durften wir zum Übungsgelände marschieren, wo wir lernten, unter schwierigen Bedingungen zu überleben, uns zu tarnen, Gasmasken anzulegen und in voller Montur durch den Dreck zu robben, Verstecke und Zelte zu bauen, Feuer zu machen, usw. Gleich bei unserem ersten Ausflug in das Panzerübungsgelände befahl mein Uffz mir, in ein Wasserloch zu springen. Ich dachte, das kann nicht sein Ernst sein, bei dem eiskalten Wasser da reinzuspringen. Und weil er nur mir als einzigem diesen Befehl gegeben hat, weigerte ich mich zunächst, diesen Befehl zu befolgen. Die Antwort war deutlich: „Wollen Sie nun Zeitsoldat werden oder nicht?“ Kochend vor Wut und mit zusammengebissenen Zähnen sprang ich also wohl oder übel in das Loch. Danach durfte ich zwar die Wäsche wechseln, musste aber in nassen Stiefeln weitermarschieren, sodass ich am Abend blutige Füße hatte. Die ganze Tortur brachte mich echt an meine Grenzen, nach 14 Stunden bei Außentemperaturen um minus 10 Grad war ich fertig. Eben noch faul am Strand und nun hier. Aber ich beschwerte mich lieber nicht, das hätte sowieso nichts genutzt und mir nur Liegestützen oder Kniebeugen eingebracht. Wenn man erst mal richtig kaputt und müde ist, hört man ohnehin auf zu widersprechen und folgt ganz brav, weil man nur noch schlafen will. Oberstes Lernziel war: „Gib deinen Verstand am Kasernentor ab und lass deinen Vorgesetzten für dich denken!“ Korrektur von morgens bis abends. Anschreien, bestrafen, verfolgen, nicht zur Ruhe kommen lassen, körperlich erschöpfen, bis er nicht mehr kann, bis er uniform geht. Gehorchen, ohne nachzudenken, ist die Grundlage für militärische Einheit. Und in sich ist das Ganze ja auch stimmig: wo käme eine Armee hin, wenn jeder widersprechen könnte und nicht jederzeit folgen oder das tun würde, was man ihm sagt. Wie viele Jahre hatte ich mich treiben lassen. Wenn 113
es hart wurde, lief ich weg und gab auf. Ich hatte kein Durchhaltevermögen. Dadurch war für mich jetzt vieles noch schwerer. Ein Teil meiner Erwartungen ging jedenfalls in Erfüllung. Durch die Tagesroutine kam Ruhe in mich, und ich konnte ganz gut auf Drogen verzichten. Ich war froh zu sehen, dass es für mich eine echte Chance zur Rehabilitierung gab. Das war für mich ein echter Anreiz, der Traum von einer besseren Zukunft. Wenn ich mal träumen konnte, stellte ich mir vor, doch noch Unteroffizier zu werden, und vielleicht würde ich wegen meines Sprachtalentes dann zum Auswärtigen Amt bestellt. In sechs bis acht Jahren wäre ich dann Begleiter eines Militärattaches! Laut Laufbahnberatung war das alles möglich! Mann, ich mit Diplomatenausweis! Ja, ich wollte endlich erwachsen werden und dieses Lotterleben hinter mir lassen. Aber der Traum platzte schneller, als er entstanden war. „Porno-Pohl“ Gerade war ich so einigermaßen im Frieden mit mir und meiner Umgebung, als das passierte, wovor ich mich am meisten gefürchtet hatte: Meine Vergangenheit holte mich ein. Ich war gerade auf der Stube, als ein Kamerad aufgeregt zu mir kam und fragte: „Hey Frank, unten im Zimmer des Hauptmanns sitzen die Offiziere alle um ein Porno-Heft. Und weißt du was? Du sollst darin zu sehen sein! Sag mal, hast du wirklich Pornos gemacht? Oder hast du nen Doppelgänger?“ BUMM!! Alles brach über mir zusammen. Meine Hoffnung – von einer Sekunde zur nächsten war sie nur noch ein Scherbenhaufen. Panik wollte in mir aufsteigen und ich lief so schnell ich konnte runter zum Büro des Hauptmanns. Tatsächlich, ich konnte ihre Worte und ihr schallendes Lachen schon von weitem hören. Jetzt war ich dran, das wusste ich! „So einer will Zeitsoldat werden? Iss ja wohl n Witz!“ Hörte ich jemanden durch die geschlossene Tür. Ich klopfte an und fragte so ruhig wie möglich, ob ich stören dürfte. Es waren fünf oder sechs Personen in dem Raum und sofort richteten sich allen Augen auf mich. Sie sahen mich an, als ob ich von einem anderen Stern käme. Ich weiß nicht, ob ihnen die Situation irgendwie peinlich war, jedenfalls ließen sie sich nichts anmerken. Der Hauptmann 114
legte mir das Heft Nr. 51 aus einer besonders harten Serie vor. Ausgerechnet! Nicht nur im Heft war ich an mehreren Stellen deutlich zu erkennen, zu allem Überfluss hatten die auch noch ein Foto aus der Story für das Titelblatt ausgewählt und ich mittendrauf. Ein Soldat hatte wohl in einem Porno-Shop gestöbert und dabei dieses Heft entdeckt. Anstatt zu mir zu kommen, ging der lieber zum Hauptmann, um sich beliebt zu machen. Mann, ich schämte mich so. Wenn ich in dem Moment hätte sterben können, hätte ich es wahrscheinlich dankbar angenommen. Dabei wollte ich doch einfach nur neu anfangen. Ich rannte auf meine Stube zurück und zog das Kissen über den Kopf. Am liebsten hätte ich geweint, aber ich konnte nicht. Ich ahnte, dass morgen alles anders würde. Mir kamen Gedanken wie: Der Porno-Gott würde mich nun strafen, weil ich ihm jetzt nicht mehr folgen wollte. Nun war ich nicht mehr der große einsame Jäger, der durch die Straßen zog und nach Beute suchte, jetzt war ich der Gejagte. Und die Meute der Heuchler würde mich hetzen, bis sie mich entweder erlegt hatten oder ihnen das Spiel zu langweilig wurde – und das konnte dauern. Bis zum nächsten Morgen hatte bereits jeder Vorgesetzte meiner Einheit das Heft gesehen. Beim Antreten am Morgen sagte der Spieß: „Liebe Kameraden! Inzwischen haben es wohl alle gehört. Wir haben offenbar einen Hofnarren in unserer Einheit, einen, der auch noch Zeitsoldat werden wollte! Doch damit das klar ist: Solche Typen wollen wir hier nicht haben, und schon gar nicht als Zeitsoldaten!“ Das saß! Nach dem Antreten nannte mich das erste Mal ein Uffz mit dem Namen, der mich jetzt lange begleiten sollte: „He, Porno-Pohl, komm mal her!“ Ich ging hin, bat ihn aber, mich doch bei meinem richtigen Namen zu nennen. „Ne, ne, von nun an heißt du PornoPohl! Wenn’s dir passt, kannst du dich ja beschweren gehen!“ Das tat ich dann auch. Ich wandte mich an den Hauptmann der Einheit und bat ihn um Hilfe. Doch der gab mir nur zu verstehen, dass ich in seinen Augen verrückt sei. Besonders dass ich Zeitsoldat werden wollte, passte ihm bei meiner Vergangenheit überhaupt nicht. Die Bundeswehr sei ein Ort mit Moral. So etwas wie ich gehöre hier nun mal nicht her. Ich hätte die Bundeswehr lächerlich gemacht! 115
„Aber Herr Hauptmann, ich habe doch in dem Zeitungsbericht deutlich gesagt, dass ich die Bundeswehr gut finde, dass ich voll dahinter stehe und meine Zukunft hier sehe. Meine Vergangenheit bereue ich, aber ich kann sie nicht rückgängig machen.“ Meine Worte verhallten ungehört, dieser Hauptmann wollte mir nicht helfen. Er war schon genervt, dass er überhaupt einen Zeitsoldatenantrag von mir auf dem Schreibtisch hatte. Er erklärte mir, dass er mich nicht mehr sehen wollte und ich ihn nicht weiter belästigen sollte. Das war ein richtiger Schock! Ich wähnte mich in einer Institution, einer Demokratie, wo jeder eine faire Chance haben sollte, aber diese Ablehnung ging tiefer als die ohnehin schreckliche menschliche Neigung, Außenseiter zur Zielscheibe des Spotts zu machen. Das war offene Diskriminierung, das war Hass. Dabei gingen die Männer, die mich so abstraften, das wusste ich von Kameraden, oft selbst zu Huren oder kauften sich Pornos. Manche waren richtiggehend abhängig von Pornografie. Trotzdem sollte hier nicht meine Welt sein, eine Welt, die wie ich früher das Perverse anbetete. Hier war eine fremde Welt, die mir klarmachte, dass ich nicht zu ihr gehörte, noch nicht einmal geduldet wurde. Hier sollte ich zu spüren bekommen, dass ich Dreck war und wie Dreck behandelt wurde. Keine Chance wegzulaufen. Weglaufen bedeutete Knast, und da wäre es mir auch nicht besser ergangen. Jetzt noch nachträglich verweigern wollte ich auch nicht, da wehrte sich mein Stolz. Wenn schon leiden, dann bis zum bitteren Ende. Zum ersten Mal bereute ich, je als PornoDarsteller gearbeitet zu haben. In der folgenden Woche war ich der Gesprächstoff in der ganzen Hamburger Brigade. Der Typ, der eben noch Zeitsoldat werden wollte, hatte alle voll verarscht! Der ist in Wirklichkeit ein Porno-Star! Ich hatte das Gefühl, dass mich jeder neugierig angaffte. Besonders die Zeiten in der Kantine empfand ich als regelrechten Spießrutenlauf. Bei meinen Vorgesetzten gab es zwei sehr unterschiedliche Haltungen: die einen verachteten mich und ließen mich das auch spüren. Die waren es auch, die aktiv daran arbeiteten, zu verhindern, dass ich Zeitsoldat wurde. Aber es gab auch andere, die mir Sympathie entgegenbrachten, fair blieben und mir halfen, wo es ihnen möglich war. Leider sollte ich es für die nächste Zeit über116
wiegend mit der ersten Sorte zu tun bekommen. Die meisten Kameraden hielten jetzt lieber etwas Abstand zu mir, obwohl einige dabei zumindest freundlich blieben. Aber die Probleme, die ich jetzt offensichtlich hatte, waren für sie in einer anderer Dimension – damit wollten sie nichts zu tun haben. Die, die mit mir auf derselben Panzerhaubitze lernten, mussten sich ja wohl oder übel für zwei Monate an mich gewöhnen. Ach ja, Panzerhaubitze, als das muntere Kesseltreiben auf mich erst mal eröffnet war, interessierte es natürlich auch keinen mehr, dass ich laut Musterungsergebnis für den Einsatz auf einem Panzer zu groß war. Und es war wirklich empfindlich eng in der Kiste. Jedes Zimmer hatte einen persönlichen Uffz. Meiner heiß Meyer und hatte mich ja schon, als meine Porno-Vergangenheit noch gar nicht bekannt war, mächtig getriezt, weil ich Zeitsoldat werden wollte. Jetzt lernte ich ihn von einer ganz anderen Seite kennen. Eines Nachts kam er stockbesoffen um 4 Uhr morgens ins Zimmer, weckte mich auf und teilte mir lallend mit, dass er eigentlich großen Respekt vor mir habe. Er sagte, dass er es gut mit mir meine und sich nun entschlossen habe, mir zu helfen, ein guter Mensch zu werden! Nun ja, es gibt Menschen, die sind innerlich so hart, dass sie nur im Rausch etwas Mitgefühl zeigen können. Leider vergeht das Gefühl dann auch ebenso schnell wieder wie der Rausch, und so fiel es mir schwer, das alles ernst zu nehmen. Die Situation war mir nur peinlich. In den kommenden Wochen war ich auf Befehl des Hauptmanns am Wochenende als so genannter Kanonier vom Dienst einzuteilen. Das bedeutete 24 Stunden Dienst im Gebäude mit dem UvD, dem Unteroffizier vom Dienst. An jedem Eingang beim Treppenhaus gab es eine Art Loge, von der aus man den Eingangsbereich gut übersehen konnte. Dieser Raum sollte immer besetzt sein, und so saßen wir da zu zweit und hielten abwechselnd Wache. Es war ein harter Winter mit viel Schnee. Auf dem Kasernengelände hatten die Panzer den Schnee zu einer 20 Zentimeter dicken Eisschicht zusammengepresst. Der Hauptmann ließ mir den Befehl geben, in das Eis auf den Fahrbahn eine 30 Zentimeter breite Rinne entlang des Bürgersteigs zu schlagen, so dass bei beginnender Eisschmelze das Wasser schneller abfließen konnte. 117
Meinen Klappspaten sollte ich dazu als Hacke verwenden. Eine verrückte Idee mit diesem Werkzeug, dachte ich. Aber Befehl ist Befehl. Und so kniete ich bei eisigem Wind in der Dunkelheit auf dem Eis und schlug fleißig mit meinem Klappspaten auf das Eis ein. Natürlich war der kleine Spaten für diese Aufgabe viel zu klein und zu leicht. So fragte ich den Uffz, ob er mir nicht eine Spitzhacke geben könnte, weil ich merkte, dass die Arbeit so unmöglich zu schaffen war. „Befehl ist Befehl, Porno-Pohl! Mach weiter wie befohlen und mach das Beste draus.“ Jetzt kam Wut in mir auf. Und mit Wut fing ich an, auf das Eis einzuschlagen. Ich hatte begriffen: Es ging hier gar nicht um das Eis, dazu wären ohnehin viel mehr Leute mit besserem Werkzeug notwendig gewesen, nein, das war persönlich, es ging darum, mich zu demütigen. Ich schrie und fluchte laut, während ich hilflos versuchte, mit aller Kraft etwas von dem Eis wegzubekommen. Alles wegen Porno! Ich schlug wie ein Irrer auf das Eis ein und zack, war der Spaten zerschlagen. Als ich mit dem zerbrochenen Spaten zum Uffz ging, gab er mir seinen und befahl „weitermachen!“. Nach fünf Minuten hatte ich den auch zerschlagen, schon aus Prinzip. Dann brauchte ich erst mal kein Eis mehr zu hacken. Am Montag wurde ich prompt bei der Schrankkontrolle gefragt, wo denn mein Spaten sei. Ich wusste leider nicht, dass ich persönlich dafür verantwortlich war, dass meine Ausrüstung immer vollständig war und den kaputten gegen einen neuen hätte tauschen können. Der Uffz, mit dem ich den 24-Stunden-Dienst hatte, hätte mir das sagen können, stattdessen ließ er den Spaten verschwinden und ich bekam die erste Anklage wegen Wehrmaterialbeschädigung. Der Hauptmann legte eine Disziplinarstrafe gegen mich fest: 400 Mark, mein gesamter Monatssold. Und den Spaten, den mir der Uffz geliehen hatte, musste ich auch noch bezahlen. Einmal wurde es lustig für mich. Auf dem Panzerplatz, wo wir lernten die Artillerie- Panzer zu bedienen, tauchte der Hauptmann auf, um uns bei der Ausbildung zuzusehen. Er hasste mich. Das wusste mein Vorgesetzter und wollte dem Hauptmann mächtig imponieren. Er ließ mich mit einer 43 kg schweren Granate im Arm auf dem vereisten Platz herumlaufen, während 240 Augen auf mich gerichtet waren, als ich so meine Runden lief. 118
Plötzlich kam mein schauspielerisches Talent in mir durch. In der nächsten Kurve kam ich kunstvoll ins Torkeln und ließ mich dann der Länge nach zu Boden fallen. Mit einem Riesenkrach schlug die Granate vor mir auf den Boden und rollte dann weg. Ich wusste nicht einmal, ob sie gefährlich war oder nicht, aber ich glaube, das war mir in diesem Moment auch egal. Wie ich hinschlug, so blieb ich regungslos liegen. Mensch, da kam Bewegung in die Menge. Alles rannte zu mir hin und sie überschlugen sich fast bei dem Versuch, mir erste Hilfe zu geben. Vorsichtig drehten sie mich um und fragten aufgeregt, wie es mir ginge und ob ich Schmerzen hätte. Doch ich lag nur mit offenen Augen da, sah durch alle hindurch und antwortete nicht. Dazu atmete ich auffällig schwer, als wenn ich keine Luft bekäme. Sie sollten glauben, dass ich einen Herzkollaps hätte. Und die Show wirkte: Dem Hauptmann stand die Angst im Gesicht geschrieben. Nach außen mimte ich den Sterbenden, aber innen konnte ich mich kaum halten vor lachen. Der Krankenwagen kam und brachte mich mit Blaulicht zur Sanitätsstation. Einer der Kameraden, die mir wohl gesonnen waren, war Gefreiter im Geschäftszimmer des Generals, von ihm erfuhr ich später, dass der Hauptmann wegen dieses Vorfalls zum Brigadegeneral gerufen wurde, um Rechenschaft abzulegen. Als der General meinen Namen hörte, war ihm gleich klar, dass es bei der „Übung“ nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Der General war ein gerechter Vorgesetzter, und weil er den Artikel im Hamburger Abendblatt gelesen hatte, war er grundsätzlich gut auf mich zu sprechen. Auch hatte er aus meiner Personalakte einiges von meiner Geschichte mitbekommen, aber er war der Meinung, dass bei der Bundeswehr jeder eine Chance bekommen müsste. Das half mir. Zwar hatte der Hauptmann nicht selbst verfügt, dass ich mit der Granate um den Platz laufen sollte, aber als der Ranghöchste hätte er die Pflicht gehabt, diesen Unsinn zu verhindern. Solch eine Aktion verstieß gegen die Sicherheitsvorschriften, und das hätte der Hauptmann wissen müssen. Der General war wohl der Ansicht, dass ein solches Verhalten der Vorbildfunktion eines Hauptmanns nicht angemessen sei und schrieb ihm ein paar ernste Worte ins Stammbuch. Und tatsächlich, von da an bis zur Entsendung in meine Stammeinheit ließ er mich mit schikanie119
renden Sonderübungen in Ruhe. Ich nehme an, diese Aktion war nicht gut für seine Karriere gewesen. Trotz dieses kurzen Triumphes war mir klar, dass ich verwundbar war. Und das bekam ich auch täglich zu spüren. Doch je mehr ich beleidigt und erniedrigt wurde und der Druck auf mich zunahm, desto stärker wurde ich in meinem Inneren. An das Strafputzen von WC, Duschen und Treppenhäusern nach Feierabend und am Wochenende gewöhnte ich mich. Ich sah es von der Seite: bei dem Leben, das ich früher geführt hatte, hätte ich ja auch für ein paar Jahre im Knast enden können. Da war das hier allemal besser. Trotzdem fand ich die Situation natürlich frustrierend, aber ich wollte wenigstens die 15 Monate Wehrpflicht durchhalten. Ich hatte ja, was ich mir vorgestellt hatte – und mehr: Wohnen und Essen frei; Drill-Therapie, viel Beschäftigung an der frischen Luft und dazu einen Umgangston, den ich wohl so schnell nicht wieder zu hören bekommen würde. Mit einer Mischung aus Trotz und Zynismus machte ich also weiter. Nach meiner Grundausbildung war ich ein so genannter Richtkanonier, der auf einer Panzerhaubitze der Stellvertreter des Unteroffiziers war. Dann wurden wir in unsere Stammeinheiten verlegt. Ich kam mit einigen Kameraden nach Neumünster-Boostedt, eine große Kaserne mit viel Grün drum herum. Nur Wald und Wiesen, dazwischen Panzerübungsgelände und Truppenübungsplatz. Wie im Kloster, abgeschieden von der Welt. Als Erstes wurden wir alle zum Gefreiten befördert, auch ich. Irgendwie atmete ich innerlich auf: hier könnte ich zur Ruhe kommen, mein Pflicht tun und den ganzen Mist hinter mir lassen. Und wer weiß, vielleicht ergäbe sich ja doch noch eine Gelegenheit Zeitsoldat zu werden. Nur Stunden später, ich hatte mich gerade in meiner Stube eingerichtet, fiel ich aus allen Träumen, als mein vorgesetzter Uffz mir sagte, ich sei ja wohl der Porno-Pohl, man habe schon von mir gehört, und außerdem, ich solle doch mal zum Chef kommen, zum persönlichen Gespräch! Nein, nicht noch einmal! Darum machte ich gleich klar, dass ich mir solche Anreden verbäte und notfalls eine Dienstaufsichtsbeschwerde dagegen einlegen würde. Das wirkte sofort! In der Grundausbildung hatte ich gelernt, dass man sich schriftlich beim nächsthöheren Vorgesetzten beschweren kann, wenn man sich 120
Kriegsgericht wegen Pommes frites
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ie letzte Nacht hatte ich ja noch in der Einzelzelle verbracht und wurde gleich in der nächsten Nacht wieder zur Wache eingeteilt. Ich sollte keine Ruhe mehr haben, mich nicht mehr entspannen können. Mit Entsetzen erinnerte ich mich noch daran, dass ich gestern fast zum Mörder geworden war. Aber es blieb keine Zeit, diese Sache zu verarbeiten. Ich merkte, wie ich langsam durchdrehte und wie diese Hetzjagd mich buchstäblich in den Wahnsinn trieb. Mann konnte sich nicht darauf verlassen, dass diese Vorgesetzten merkten, wann sie zu weit gegangen waren. Sie waren keine guten Menschenkenner. Es kam immer mal wieder vor, dass Männer an diesem erbarmungslosen System zerbrachen und sich erschossen. Wehe dem, der solchen Sadisten ausgeliefert war. Selbst höchste Vorgesetzte sahen manchmal weg, wenn sie von Schikanen und Verfolgung erfuhren. Sie hatten wahrscheinlich wichtigere Probleme zu lösen. Das verstieß zwar gegen die Fürsorgepflicht, aber wo kein Kläger ist, da findet sich meist auch kein Richter. Wegen des Wachdienstes hatte ich gerade mal eine Stunde geschlafen, in Uniform und mit dem Gewehr am Bett und der Munition auf dem Bauch, da wurde ich schon wieder geweckt. „Aufstehen und folgen!“ Ich wurde zur Baracke der Stabsführung gebracht. Die ganze Brigade war ja Teil einer großen Nato-Übung, und ich fiel fast um vor Schreck, als die Tür geöffnet wurde. Vor mir sah ich drei zusammengestellte Tische. In der Mitte saß der 145
Hauptmann Kranz, der Kompaniechef, einen Bundesadler aus Holz vor sich, links saß Oberfeldwebel Brenner, der mich eingesperrt hatte, und rechts saß Hauptmann Steinberg. Dazu waren noch ein paar mir fremde Offiziere anwesend und blickten mich gespannt an. Der Schauprozess „Gefreiter Pohl, da wir uns in einem Nato-Manöver mit Kriegsstatus befinden, haben wir hier die Möglichkeit, ein Disziplinarverfahren nach Kriegsrecht durchzuführen. Das ist nun meine Aufgabe. Ich werde als Ihr Richter das Urteil fällen, Oberfeldwebel Brenner ist der Ankläger, Hauptmann Steinberg Ihr Verteidiger, und Unteroffizier Appel ist als Zeuge zugegen. Ich eröffne hiermit die Verhandlung. Sie sind der Befehlsverweigerung angeklagt! Bekennen sie sich schuldig?“ Ich war geschockt. Hier saßen nun meine Feinde und wollten mit solch einem billigen Theater meine Zeit bei der Bundeswehr beenden. Das Ziel war, mich unehrenhaft zu entlassen, was im schlimmsten Fall eine auch zivilrechtlich gültige Vorstrafe bedeutet hätte. Was für eine Zukunft würde ich dann noch haben? Ich sagte: „Nicht schuldig, Herr Hauptmann! Was ich nicht verbrochen habe, kann ich nicht gestehen. Ich hatte mich ja an die Auflage gehalten, das Gebäude nicht zu verlassen – warum sollte ich dann lügen, wenn es um die Reinigung der Waffe geht? Sollte ich eine weitere Verlängerung der Ausgangssperre riskieren? Nein, Herr Hauptmann. Oberfeldwebel Brenner hat Unteroffizier Appel in meinem Beisein etwas zugeflüstert und danach konnte dieser sich plötzlich nicht mehr daran erinnern, meine Waffe inspiziert und mir Feierabend gegeben zu haben. Durch seine Lüge hat er mich schon für 24 Stunden in Einzelhaft gebracht. Das ist die Wahrheit!“ Ich weiß nicht, ob die erwartet hatten, dass ich jetzt einfach nachgeben würde, jedenfalls schrie Hauptmann Kranz mich jetzt an: „Geben Sie endlich zu, dass Sie schuldig sind! Ich will hier nicht ewig meine Zeit vertun!“ – „Selbst wenn Sie grün werden vor Wut, Herr Hauptmann, ich habe nichts falsch gemacht. Aber Sie haben eine Grenze überschritten. Sie sind für meine Freiheitsbe146
raubung verantwortlich, und ich sage Ihnen, dass die Verfolgung, die ich seit einiger Zeit durch einige der hier anwesenden Herren erlebe, in Kürze von Ihren Vorgesetzten beurteilt werden wird. Sie sorgen ja gerade selbst dafür, dass Ihr Wahn korrekt dokumentiert wird. Das wird eines Tages zum Problem für Sie werden! Die Herren Generäle über Ihnen werden sehen, mit was für einem Schwachsinn Sie Ihre Zeit verschwenden!“ Es kam an diesem Tag zu keiner Verurteilung mehr. Ich denke, die Herren Offiziere waren jetzt doch ein wenig schockiert. Am nächsten Tag begann eine 72-Stunden-Außenübung, ein Kriegsspiel, bei dem zwei Truppen gegeneinander kämpften. Die einen trugen rote Armbinden, die anderen blaue. Wir schlugen unser Hauptquartier bei immer noch 20 Grad unter Null an einem Waldrand auf. Als ich schon auf der Ladefläche eines Transporters Platz genommen hatte, kam Hauptmann Steinberg zu mir und sagte: „Gefreiter Pohl, weil Sie sich so schlecht benommen haben, will keiner der Unteroffiziere Sie in seinem Fahrzeug haben. Ich gebe Ihnen daher den Auftrag, dort am Waldrand Posten zu beziehen und sich einen Schlafplatz einzurichten. Für die nächsten drei Tage sind Sie dort zum Wachdienst eingeteilt.“ Das war hart. Die Kameraden durften in den Fahrzeugen und Panzern schlafen und sich auch tagsüber je nach Manöverlage darin aufhalten. Das war zwar eng, aber diese Fahrzeuge haben immerhin eine starke Standheizung! Ich sollte nun drei Tage bei 20 Grad minus im Freien nachts unter meiner Plane liegen und dazu im Zwei- bis Vier-Stunden-Rhythmus Wache schieben! Das war was für ausgebildete Einzelkämpfer mit Spezialanzügen, aber doch nicht für mich! Währenddessen ließen die anderen es sich gut gehen und konnten sogar zwischenzeitlich in eine Kneipe fahren und sich was zu essen holen. Einige hohe Offiziere kampierten sogar mit ihren Wohnmobilen in der Nähe! Dort ließen sie dann auch mal einige besondere Günstlinge mit übernachten, inklusive TVAnschluss. Man wollte schließlich kein Fußballspiel verpassen, nur wegen dem bisschen Krieg-Spielen. Der Wachdienst an sich war schon eine ernste Sache. Damals wie heute bestand die Gefahr von Überfällen durch Terroristen oder Kriminelle, die darin eine günstige Gelegenheit sehen könnten, an scharfe Waffen und Munition ranzukommen. Ich lief daher 147
immer mit durchgeladenem und nur gesichertem G3-Schnellfeuergewehr rum. Um nicht zu sehr zu frieren, musste ich mich viel bewegen. Manchmal konnte ich mich unbemerkt an den Rand des Hauptquartiers schleichen, das ich bewachen sollte. Dort verborgen am Waldrande stand oft ein Fahrzeug der Sanitäter, die mich von Zeit zu Zeit mal unbemerkt in ihren VW-Bus mit Standheizung ließen, damit ich mich ein bisschen aufwärmen konnte. Die ersten 24 Stunden waren noch ganz erträglich, obwohl nachts ein kalter Ostwind wehte und alles verschneit war. Am zweiten Tag aber fühlte ich mich schon richtig elend. Und in der dritten Nacht war ich völlig durchgefroren und meine Kiefergelenke schmerzten so stark, dass ich sie nicht mehr bewegen konnte. In meiner Not ging ich noch einmal zum Hauptmann und bat ihn, dass ich mich endlich auch mal aufwärmen dürfte. Aber der drohte mir nur, dass er mich würde festnehmen lassen, sollte er mich im Inneren irgendeines Fahrzeugs sehen. „Sie sind doch ein harter Mann, Pohl, das bisschen Kälte kann Ihnen doch nichts anhaben!“ Und ein Truppenarzt war auch nicht zu sprechen. In dieser letzten Nacht hielt ich es einfach nicht mehr aus, es war so dunkel, dass ich kaum meine eigene Hand vor Augen sah, da bin ich einfach langsam von unserem Hauptquartier weggegangen. Der Kälteschmerz im Gesicht und in den Knochen war einfach zu stark. Ich wusste, dass das „feindliche“ Hauptquartier ungefähr 1000 Meter entfernt am anderen Ende einer zugeschneiten Wiese, in einem Bauernhof versteckt lag. Langsam bewegte ich mich darauf zu. Bei jedem Schritt brachen die 30 cm Schnee unter mir mit einem Krachen ein. Am gegenüberliegenden Waldrand angekommen, hörte ich eine Stimme aus dem Dunkel: „Halt! Wer da? Wie lautet die Parole?“ Klar, ohne Parole kam ich da nicht rein, trotzdem versuchte ich es einfach mal mit der Wahrheit: „Hier ist Porno-Pohl, kann ich reinkommen?“ – Einen Moment war Stille, dann sagte die Stimme: „Klar, kommt rein! Vorsicht, da ist ein Graben!“ Mann, war ich froh, ich hätte dem Kameraden um den Hals fallen könne. Die Soldaten auf der anderen Seite kannte ich nicht, die waren aus einer anderen Einheit, aber die kannten Porno-Pohl von Erzählungen. Nach den Regeln des Kriegsspiels hätten die mich festnehmen müssen, aber als ich ihnen erklärt hatte, dass ich mich seit drei Tagen nicht mehr hatte aufwärmen 148
können, erlaubten sie mir gerne, eine Stunde bei ihnen zu bleiben. Das war zwar streng verboten und hätte für sie durchaus gefährlich werden können, aber die brachten es nicht übers Herz, mich elende Gestalt sofort wieder in die Kälte hinauszuschicken. Nachdem ich mich ein bisschen aufgewärmt und etwas gegessen hatte, macht ich mich schnell wieder auf den Weg, ehe es noch Probleme gab. Zurück auf meinem Posten, erwartete mich schon der diensthabende Offizier und wollte wissen, wo ich gewesen sei. Ich versuchte ihm meine Situation zu erklären, und da er nicht zu der Truppe meiner Verfolger gehörte, blieb die Sache ohne Folgen für mich. Wegen der drei Tage, die ich in der Kälte verbringen musste, suchte ich ein Gespräch mit dem Chef der Brigade, einem Oberst. Leider war der General, der mich damals nach der Sache mit der Granate vor dem Hauptmann gerettet hatte, nicht mehr im Dienst. Aber ein Kamerad, der im Geschäftszimmer des Oberst Dienst tat, legte freundlicherweise ein Wort für mich ein, und so traf ich mich bald darauf zu einem Vier-Augen-Gespräch mit dem Oberst in seiner Baracke. Ich schüttete ihm mein Herz aus und erzählte ihm, dass ich mit den Nerven ziemlich fertig sei. Ich erzählte ihm auch, dass die beiden Hauptmänner von Anfang gedroht hatten, mich fertig zu machen, und dass ich um jeden Preis verhindern möchte, dass ich wegen erfundener Dinge am Ende noch unehrenhaft entlassen oder gar vorbestraft werde. Er hörte sich alles in Ruhe an und verschwand dann ohne weiteren Kommentar. Die nächste Reaktion war, dass ein paar Stunden später Hauptmann Steinberg mich zu sich holen ließ und mir eröffnete: „Gefreiter, der Oberst ist seit zehn Jahren mein Freund. Erwarten Sie nicht, dass der Ihnen helfen wird! Geben Sie auf, bevor es für Sie zu spät ist!“ Als wir wieder in Hamburg ankamen, wurde ich sofort aus meiner Abteilung entfernt. Das Zimmer durfte ich zwar behalten, aber Dienst tat ich ab sofort als Archivar der Vorschriftenstelle. Das war ein Raum im Stabsgebäude. Dort bekam ich den Auftrag, an einem Schreibtisch zu sitzen – mehr nicht. Den ganzen Tag rumhängen. Völlig allein. Das war wahrscheinlich der einsamste Platz in der ganzen Kaserne. Hier wollte man mich wohl für den Rest meiner Dienstzeit parken. Wenn ich nicht vorher aufgeben 149
würde. Der Raum war bis unter die Decke gefüllt mit den Dienstvorschriften der Bundeswehr. Also nutzte ich die Zeit, die Vorschriften zu studieren. Und da ich jetzt viel Zeit zum Nachdenken und eine Menge neuer Informationen hatte, kam mir sogar eine Idee, wie ich mich wehren konnte. Um nicht mehr an den täglichen Soldatenaktivitäten teilnehmen zu müssen, kramte ich erst mal alle meine Befreiungsscheine aus dem Rucksack hervor. Keine Stiefel tragen, keine Gewichte tragen, kein Staubfegen. Zwei Monate lang hing ich dann allein in diesem Raum rum, nahm nur beim Antreten teil und musste wie bisher regelmäßig und in kurzen Abständen 24-Stunden-Wachen absolvieren. Noch fünf Monate Doch der nächste Angriff kam aus einer ganz anderen Richtung: Ich wurde depressiv. Hoffnungslosigkeit und Angstzustände nahmen so sehr zu, dass ich kaum noch klar denken konnte. Ich hatte noch fünf Monate bis zum Dienstende, und zum ersten Mal befürchtete ich ernsthaft, es nicht zu schaffen und am Ende doch noch als Vorbestrafter entlassen zu werden. Die permanenten Anklagen zeigten Wirkung, und ein regelrechter Verfolgungswahn stieg in mir auf. So viele Jahre hatte ich hart am Rande der Kriminalität gelebt und es hätte manches gegeben, wofür ich hätte angeklagt und bestraft werden können, aber dass ich jetzt ausgerechnet für die Pornografie so leiden musste, wollte mir nicht in den Kopf. Der Sexgott, den ich so sehr angebetet hatte, ließ mich schon lange im Stich, und seinetwegen musste ich diese Verfolgung leiden. Einst war Sex meine große Stärke, jetzt war es zur Ursache für meine größte Verwundbarkeit geworden. Längst schon war ich der höchstbestrafte Soldat der 6. Division und fühlte mich wie ein lebendiger Toter. Ich spürte, wie ich von Woche zu Woche schwächer wurde. Seelisch krank. Ich spürte, wie es heranzog – wie eine Erkältung – aber ich konnte es nicht verhindern. Schlafstörungen stellten sich ein, und der Stabsarzt schickte mich zu einem Facharzt, der meinte, ich hätte durch die Erlebnisse der achtzehn Monate Depressionen bekommen, was ich auch ohne Arzt hätte sagen können. Aber immer noch wollte ich nicht vorzei150
tig abbrechen, weil ich einmal im Leben etwas zu Ende bringen wollte. Nur einmal. Bald fing ich an, wieder Stimmen zu hören. Diesmal flüsterten sie: „Bring dich um! Du schaffst es nicht! Gib auf!“ Zur gleichen Zeit werteten Hauptmann Kranz und Hauptmann Steinberg, da sie vom Oberst nicht korrigiert wurden, dies als Ermunterung weiterzumachen. Neben den Stimmen, die mich innerlich fertig machten, hatte ich jetzt ständig Schweißausbrüche und immer wieder Schwindelanfälle. Nachts wachte ich schweißgebadet auf. Um den Stress etwas abzubauen, ging ich dann auf dem Kasernenhof joggen. Wenn ich nun doch verrückt würde, dann sollten die anderen das auch mitbekommen. Ich schnitt zwei Löcher in ein Bettlaken, warf mir das Tuch über den Kopf und lief nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, laut schreiend als Gespenst um den Exerzierplatz herum, bis ich müde war. Einerseits half mir das sehr und blieb andererseits nicht unentdeckt. Allmählich fing man an, mich mit anderen Augen zu sehen.
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