Waldemar Sardaczuk
Eine nicht unwahre Geschichte
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Impressum: © 2003 Leuchter Edition GmbH Illustrationen: Elsabé Botes, Marble Hall, Südafrika Lektorat: Kurt-Jürgen Gleichmann Umschlaggestaltung und Satz: K.-H. Schablowski Druck: Schönbach-Druck ISBN: 3-87482-400-4 Bestell-Nr. 547.400 Alle Rechte vorbehalten Leuchter Edition GmbH Postfach 11 61 64386 Erzhausen Tel: 06150-9736-0 Fax: 06150-9736-36 E-Mail: verlag@leuchter-edition.de www.leuchter-edition.de AVC Literaturdienst Postfach 12 66 63659 Nidda Tel: 06043-4524 Fax: 06043-8136
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Inhalt Erster Teil Haben Hühner Ohren? ...................................................................... 5 Allerlei Eier ........................................................................................ 5 Gib’s ein Weiterleben hinter der Eierschale? ............................... 11 Raus aus den Schalen ................................................................... 18 Nur die Mitte ist ein sicheres Nest ................................................ 23 Rufen und Schreien bringt Hilfe herbei ......................................... 28 Party im Hühnerhof ........................................................................ 32 Begegnung in der Schöpfung ....................................................... 36 Spatzen sind unbezahlbar ............................................................. 43 Unerhörter Skandal, unerhört ....................................................... 48 Vornehme Verwandtschaft ............................................................ 59 Zweiter Teil Du und Jesus – Zur Besinnung ..................................................... 71 Dritter Teil Zwergschule und andere Nester ................................................... 75 Was wir tun und was du tun kannst .............................................. 92 Interview .................................................................................... 93
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Vorwort Dieses Buch widme ich meinen Enkelkindern Alessandra, Vanessa und Danny – und allen Kindern, die auf Papa, Mama oder Opa und Oma verzichten müssen. Es tut mir so Leid, dass viele Kinder ohne Brot und Bett, ohne Wasser und Strom, ohne Eltern und Zuhause leben müssen. Ja das gibt‘s. Hungern und allein sein tut sehr weh. Traurig sein aber nützt diesen Kindern nichts. Deshalb hoffe ich, am Ende der Geschichte werden viele meiner großen und kleinen Leserinnen und Leser für ihr Zuhause dankbar sein – aber auch gern die angebotenen Möglichkeiten nutzen, um ein Helfer oder eine Helferin für Kinder in Not zu sein. Schreibt mir bitte, wie es euch gefallen hat. Gerne möchte ich wissen, ob euch meine ausgedachte Geschichte im ersten Teil gefallen hat. Genauso gern aber würde ich euch durch Brieffreundschaft oder Kinderpatenschaft in Kontakt mit anderen Kindern bringen, die sich freuen würden, von euch zu hören. Euer Waldemar Sardaczuk
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Erster Teil Haben Hühner Ohren? Geschichte für Vanessa und Danny … und für dich! Ein Dutzend Eier lagen nebeneinander. Das sind nach der alten Zählart 12 Stück. Ein Ei glich dem andern, rundlich, oval, schön – und doch jedes einmalig, eine Persönlichkeit! Nicht gequirlt, als Omelett in der Pfanne, auch nicht in kochendem Wasser, um hart oder weich gekocht als Frühstücksei gegessen zu werden. Das ist nicht die höchste Berufung eines Eies. Die Eier, von denen ich jetzt erzähle, lagen im Nest unter den schützenden und wärmenden Flügeln der Mutter. Neues Leben sollte entstehen. Ob die Eier wohl zufrieden, fröhlich und dankbar waren? Hört selbst! …
Allerlei Eier „Halt endlich deinen Schnabel“, piepste Blessy. „Du blasses Ei hast mir gar nichts zu sagen!“, konnte man hören, wenn man ganz still war. „Schecki hat Recht, es ist ziemlich eng hier, und sehen kann man auch gar nichts. Wie lange soll es noch dauern? Für was soll das gut sein, immer nur still zu sein und sich von Mama wärmen zu lassen?“, piepste es durcheinander. Alle bewegten ihre Flügelchen, aber da war kein Platz, um sich richtig auszustrecken. „Nein, diese Enge, ich will hier raus!“ Einer wollte ganz besonders laut sein und sich aufregen, aber sein „Kikeriki“ kam einfach nicht raus, so sehr er sich anstrengte. Alle
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lachten über den misslungenen Hahnenschrei, wie man es eines Tages nennen würde. Er war schon was Besonderes mit seiner schönen braunen Farbe. Deshalb nannten ihn alle Brauni, einfach Brauni. Er war auch größer als seine Geschwister und lag mitten im Nest. Mutter Lydia lächelte vor sich hin: „Diesmal hat’s geklappt – gluck, gluck, gluck!“ Die Bäuerin selbst hatte gesucht; tagelang hörte man sie schimpfen: „Wo bleiben nur meine Eier? Ich will backen und den Männern Frühstück machen. Die wollen Rührei auf dem Teller sehen. Ostern steht vor der Tür, gerade jetzt könnte man viel Geld verdienen. Die Eierpreise steigen – und die Hühner streiken!?“ „Übrigens“, rief sie ihrer Tochter Bettina zu: „Wo ist das braune Huhn, das fehlt schon einige Tage. Es ist doch schon lange auf unserem Hof – wird sich doch nicht verlaufen haben? Oder wurde es gar von einem Fuchs oder einem streunenden Hund gerissen? Das wäre schade!“ Die gereizte Stimme verwandelte sich in Trauer und Mitleid: „War ein gutes Huhn, unsere Lydia. Auf geht’s, sucht in Ställen, in der Scheune, auf dem Heuboden und im Schuppen! Vielleicht hat Lydia ja ihre Eier versteckt.“ „Ja, Mutti, vielleicht spielt sie Osterhase“, meinte die kleine Christiane und hüpfte vor Freude. „Wie will sie aber die Eier rosa färben?“ „Nicht rosa, ich will meine Eier lila!“, rief der Vater, „und zwar sofort und mit Speck und in der Pfanne.“ Wenn Vater sprach, mussten alle springen. Selten machte er Witze. Über die lila Eier aber musste er selber lächeln und meinte nur: „Wir finden sie schon, nehmt die Saski mit.“ Saskis Spürnase war gefürchtet auf dem ganzen Hof und in der Nachbarschaft. Keines der Tiere mochte sie. So ein gemeiner Schnüffler – und verpetzen konnte sie gut. Erschnüffelte sie irgendetwas, dann schlabberte, sprang und bellte sie, bis jemand von den Menschen kam und sie lobte, manchmal sogar belohnte. Dann benahm sie sich noch hundsgemeiner. Nur vor Igeln hatte sie Angst. Als Saski noch jung war, hatte sie mal voll in solch ein kleines Stachelknäuel reingebissen. Das Gejaule und Geheule war so erbärmlich, dass allen Tieren die Schadenfreude verging. Ach
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ja: Saski war ein pudeliger Dackel mit Garantieschein, dass sie ein Hund war. Alle Kinder liebten Saski, wenn sie auch gelegentlich zu viel bellte. Hören und gehorchen konnte sie aber aufs Wort, besonders wenn es von ihrem Herrn kam. Sie konnte neben der Wurst sitzen bleiben und nicht mal an ihr schnuppern – bis ihr erlaubt wurde und man sie aufforderte: „Saski, nimm!“ Ja, mit Gehorsam schmeckt alles besser, mit Ungehorsam aber selbst die schönsten Süßigkeiten bitter. Gluckenmutter Lydia saß indessen im Strohschober hinter Balken, Körben, Ersatzteilen und ausgedienten Möbeln. Spinnweben hingen wie Gardinen herab. Ein ideales Versteck. Durch lose Dachpfannen blinzelte die Sonne gelegentlich hinein, verriet aber niemandem, wo sie Lydia gesehen hatte. Nachdem das mollige Nest nach tagelanger Arbeit fertig geworden war, hatte sich Glucke Lydia hineingesetzt. Zwölf Eier lagen darin! Sie konnte sehen, was auf dem Hof und vor dem Haus passierte. All ihr Wissen und Können hatte sie mit Hennenkraft verbunden; sie hatte zusammengetragen, herbeigekratzt, sich selbst ihre weichsten Federn herausgezogen und so ein schönes Heim bereitet. Die Kleinen sollen es gemütlich haben, ein feines molliges Nest. ‚Ja, ja, ich zeige es allen, was aus einem Weichei werden kann, wenn es nur still und lang genug die Mutterwärme aushält. Ich selbst will hier ausharren, bis ich das Wunder des neuen Lebens sehe.‘ Das Suchkommando unter Leitung von Knecht Karl und der herumspringenden Saski, die immer wieder mit „Such, Saski, such!“ angespornt wurde, war eine gefährliche Aktion gegen Lydia. Zum Glück fanden sie hier und dort ein verlorenes Ei. Ihre Kolleginnen hatten es manchmal nicht mehr bis zum Legeplatz geschafft – flutsch, war eins davon rausgekullert, und erleichtert hatten die Hennen gerufen: „Kootkodak, Kootkodort, Kootkohier“, aber selten kam jemand, um solch ein Ei abzuholen. Jetzt hielten die Eierräuber Sammelernte. „Hier ist eins!“ – „Ich habe auch eins!“
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„Hier war eins“, jammerte Bettina, „ich hab‘ versehentlich draufgetreten.“ Saski durfte es aufschmatzen; das schmeckte ihr so gut, dass sie noch lange danach ihre Pfoten leckte. Henne Lydia war mit sich zufrieden. ‚Dummes Huhn?‘, dachte sie, ‚wer ist hier dumm?‘ Die klugen, senkrecht gehenden Zweibeiner waren zwar groß und manchmal richtig nett, wenn man sich abgequält und ein extragroßes Ei gelegt hatte. Aber warum, gluck, gluck, ärgerten sie sich oft mit den Worten „dummes Huhn“? Von wegen. Nicht mal Saski-Schnüffelriecher war klug genug, sie zu finden. ‚Als dummes Huhn verspotten sie einen manchmal, stoßen mit Füßen nach uns, werfen Essensreste, faules Obst, abgenagte Knochen oder auch Stöcke und Steine nach uns. Der blöde Köter springt uns an, und unsere Eier nehmen sie uns weg. Aber wie arm wären die Menschen ohne unsere Eier!‘ ‚Sie könnten‘, sann Lydia weiter, ‚schon ein bisschen dankbarer für unsere Erzeugnisse sein. Sie machen daraus gekochte oder gebratene Eier, Rühr- oder Spiegeleier. „Schöne Eiernudeln“ schreiben sie auf Tüten oder „Kuchen und Torten mit frischen Eiern“. Dann gibt es noch Ostereier und, was für ein Quatsch, Schokoladeneier. Einer mag Drei-Minuten-Eier, ein anderer brüllt: „Ich will Fünf-Minuten-Eier!“ Sollen wir etwas auch noch beim Eierlegen auf die Uhr schauen?‘ ‚Hi, hi! In einem hat unser Obergockel Recht. Er hat zwar noch nicht einmal ein winzig kleines Ei je rausgedrückt, aber wo er Recht hat, hat er Recht, und dann wird er so wütend, dass sein Kamm ganz rot anläuft: „Eierlikör, Eierlikör“ rufen sie und trinken von dem gelben verpanschten Zeug, das sie aus unseren schönen Eiern machen. Ja, ja, sie trinken das gelbe Gesöff, bis sie blau sind und torkeln, diese schlauen Menschen. Und nun habe ich sie alle überlistet. Durch meine Eier wird keiner besoffen. Staunen werden sie, wenn meine Eier laufen, springen und singen – ja, ja, singen …!‘ ‚Lydia, nun aber mal langsam!‘ korrigierte sie sich ein bisschen. Gleichwohl hätte Lydia am liebsten laut gegackert: ‚Hier bin ich, hier ganz oben, sucht nur weiter, ihr findet mich doch nicht!‘ – ‚Halt den Schnabel, Lydia, halt den Schnabel!‘, sagte sie sich dann wieder
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selbst. ‚Willst du für ein bisschen Ergeiz und Stolz deine Kinder verlieren?‘ Nein, sicher nein! Sie breitete ihre Flügel ganz weit aus, streckte sie, drückte dann fest und zog auch die entfernten Eier am Rand zu sich, unter sich, ließ ihr Herz schneller schlagen, um mehr Wärme zu erzeugen.
Gibt’s ein Weiterleben hinter der Eierschale? „Kinder, hört mal ganz doll zu! Ich mag nicht, wenn ihr streitet. Ich erzähl’ euch mal was. Ruhe – auch Brauni und Schecki! Ich weiß doch auch was Schöneres zu tun, als hier zu sitzen, schon 16 oder gar 17 Sonnenaufgänge und Mondscheine lang. Langsam krieg‘ ich Hunger und Durst.“ „Ich höre auch euren Vater ganz früh rufen. Seine Aufgabe als Wecker macht er sehr zuverlässig – früher als die Sonne ist er wach, sogar die Bäuerin und der Bauer hören auf ihn. Sie stehen langsam auf aus ihren Nestern, die zwar größer, aber nicht bequemer sind als unseres hier. Dann rufen sie durchs Haus, bis alle auf den Beinen sind und durcheinander rennen. Also, das macht euer Vater wirklich gut, aber …“ ,Aber …‘, fuhr sie in ihren Gedanken fort, ‚er hat mich nicht einmal besucht. Könnte mich doch mal ablösen, mir mal Brütpausen gönnen. Aber nein … Sind sich die stolzen Gockel dafür zu schade und scheuchen lieber junge Hühner? Ja, ja, manche Väter … Sogar bei den Menschen nennt man sie gelegentlich „Oller Gockel“ oder noch schlimmer … Doch das gehört jetzt nicht hierher. Was wollte ich eigentlich sagen …?‘ „Kinder, wo waren wir, wovon sprach ich?“ „Du hast gesagt“, piepste Brauni, „du wüsstest was Schöneres zu tun. Aber was gibt es denn Schöneres, als dass wir so mollig zusammen sind?“ „Ja, jetzt hab’ ich’s wieder. Es gibt eine schöne große Welt. Herrlich, mit richtig viel Platz zum Laufen.“
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„Mami, was ist laufen?“, wollte Blessy wissen. „Wartet, wartet, ich sag es euch ja. Also, das ist viel Platz mit Sand und Wiese, Gras, Blumen, Samenkörnern, Käfern, Würmern und …“ „Was? Wie? Glaub’ ich nicht, glaub’ ich nicht, ich mach’ meine Augen ganz doll groß auf und seh’ gar nichts“, piepste Brauni ganz aufgeregt, „Mutti, du erzählst Märchen. So was gibt’s doch nicht! Diese schreckliche Enge, und es wird immer enger. Ich stoß’ überall dran und komme nicht raus. Man erstickt hier noch. Wenn ich wenigstens dich nur ein einziges Mal sehen könnte! Meine Piepmatzen neben mir, die du Geschwister nennst, fühlen sich auch schrecklich eingeengt.“ „Ja, ja, ganz schrecklich eng und dunkel, und die harten Wände kommen immer näher“, piepsten alle. „Ich will trotzdem weiterhören“, meinte Schecki, „es ist so eine schöne Geschichte.“ „Und fliegen sollt ihr bald!“ „Mami, was ist fliegen?“ „Na ja, wie soll ich das erklären? Fühlt mal, ihr habt unten am Körper zwei Füßchen. Damit werdet ihr gehen.“ „Ich hab nur eins, klagte Blessy“, doch gleich korrigierte sie sich, „da ist noch eins, ich fühl es, es bewegt sich. Wenn ich nur Platz hätte!“ „Ich fühle es auch, ich habe zwei“, sagten alle nacheinander. Und Brauni meinte: „Ich habe drei, nein, vier Beinchen!“ Mutter lachte: „Das sind nicht vier Beine, sondern das oben an der Seite sind zwei Flügel. Siehst du, Brauni, damit kannst du später fliegen.“ Blessy jammerte: „Ich wollte, ich hätte diese Dinger gar nicht, dann wäre mehr Platz. Wofür hat man etwas, was man doch nicht benutzen kann“, und sie weinte schließlich sogar. Brauni piepte ganz aufgeregt „Wer glaubt eigentlich den ganzen Unsinn vom Weiterleben hinter der Eierschale? Wer von uns war da schon? Keiner, der aus der Eierschale raus ist, ist wieder gekommen.“ „Später, später, wann?“, fiel ein anderes ein. „Ich will jetzt fliegen, nicht immer später!“ „Wartet, wartet, habt Geduld, gluck, gluck“, sagte Mutter Lydia, „also, ihr werdet bald rumlaufen und fliegen.“
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„Wie langweilig, immer warten und warten.“ „Ich weiß es, denn ich habe selber auch in so einer kleinen Welt gesteckt. Alle Tiere, sogar die ganz großen, und auch die Menschen haben ihr Leben im Ei begonnen.“ „Wirklich, Mama, du warst auch mal so winzig klein?“ „Ja, alle, alle waren so eingeengt. Einige, besonders die Menschen, waren in einem so kleinen Ei, dass man es kaum sehen kann. Na ja, davon werdet ihr später mehr hören, dafür braucht es einen ziemlich großen Verstand.“ ‚Gluck, gluck, dummes Huhn nennen sie mich‘, schweifte Lydia wieder in Gedanken ab. ‚Adler sollte ich sein, hoch hinaus fliegen, aber mein Schöpfer hat mich für die Erde gemacht! Und ich habe noch nie gehört, dass der Bauer ruft: „Koch mir ein Adlerei!“ Aber wenn der Hähnchenbraten misslungen ist, schimpft er: „Wo kommt denn der alte Adler her?“ Ja, Adler fliegen hoch hinaus. Sie rauben Küken und können sich auf dem Felsen verstecken Aber hat so ein großer starker Vogel je etwas Vernünftiges für die Menschen gemacht? Kürzlich klagte der Bauer, dass der Adler sogar ein neugeborenes Lamm geraubt hätte.‘ Lydia bewegte sich, streckte Flügel und Beine: „Man wird ganz lahm von der Sitzerei!“ Doch sogleich besann sie sich und sagte: „Entschuldigung. Seid ihr alle warm? Geht es euch gut?“ „Mir ist kalt“, rief Blessy, und sofort zog Mutter Lydia ihre Blessy besonders nahe zu sich, ließ Wärme und Sorgfalt fließen. „Ich denke, Papa wird nur noch einige Male die Sonne ankündigen müssen, hoffentlich vergisst er es nicht. Was würden die Menschen und die Tiere nur machen, wenn der stolze Gockel seiner Pflicht nicht nachkäme, weil er dummes Zeug macht? Schrecklich, wenn die Welt dunkel bleibt und der Mond länger aufbleiben muss. Hoffen wir, dass es klappen wird – noch vier-, fünfmal das Kikeriki, dann beginnt ein neues Leben für euch.“ „Ich will aber jetzt sofort laufen und fliegen!“ Brauni versuchte wieder, sein Kikeriki rauszudrücken. Es lag ihm schon in der Kehle, aber kein Platz war da, den Hals zu strecken. „Wieso denn später, morgen, bald, warum nicht jetzt gleich?“ Trotzig weinte er, und dicke Tränen liefen aus seinen Augen.
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„Brauni, Liebling, du wirst es schwer haben in der neuen Welt mit deiner Ungeduld und deinem Trotz. Die neue Welt ist schön, sehr schön“, meinte Mutter, „ich freu’ mich schon, hier aus dem Versteck rauszukommen. Vater Gockel wird staunen, euch zu sehen, und die Kinder werden hüpfen und singen. Und wenn ich euch erst einmal der Bäuerin und dem Bauer vorstellen kann! Aber die neue Welt ist auch sehr, sehr gefährlich. Sehr gefährlich! Versprecht mir hier und jetzt schon, dass ihr immer in meiner Nähe bleibt. Das heißt natürlich nicht unter mir, aber neben mir. Hört zu, wenn ich aber so mache“ – sie verabredeten ein Geheimzeichen – „dann kommt sofort, ja, sofort zu mir, wie ihr jetzt seid, so nahe wie irgend möglich. Abgemacht? Merkt euch ganz fest dieses Zeichen. Und wo immer ihr seid, lasst alles fallen und liegen und kommt zu mir gelaufen, unter meine Flügel. Wenn ihr euch immer so bei mir versammelt, wird euch nie etwas Schlimmes passieren.“ Eindringlich ermahnte Mutter Lydia ihre Kinder. „Piep, piep“, versprachen alle, nur Brauni dachte: ‚Wenn es so etwas wie ein neues Leben gibt, dann will ich selber tun, was ich will. Einmal muss die Zeit doch zu Ende sein, sich immer bei Mutti zu verstecken.‘ Aber er sagte nichts. Das Gluckenleben war nicht immer leicht für Lydia. Sie musste lachen, wenn sie daran zurückdachte, wie die alten Hühner lauthals vom Kükenkriegen erzählten: „Kinderkriegen ist nicht leicht“, hatten alle übereinstimmend gesagt und hier und da nach Futter gepickt. Die halbblinde Berta war besonders launisch. Im Kampf um eines ihrer Kinder war sie dauerhaft verletzt worden. Nun hatte sie immer das Nachsehen und gar den Spott: „Auch die blinde Berta findet einen Wurm. Der muss aber sehr langsam sein“, kicherten alle im Hühnerchor, „wenn Berta ihn fangen will.“ Hunger und Durst quälten Lydia zunehmend. ‚Noch vier Tage, noch drei Tage …‘, tröstete sie sich. Irgendwie wusste sie es. Eine Information vom Schöpfer ließ sie spüren, die ungefährliche Zeit fürs Brüten ihrer Küken ging langsam zu Ende. Noch lagen sie einfach nur da, aber ihr Gemecker, Verzeihung, ihr Gepiepse war zu hören. Nein, ihre Kleinen waren keine Ziegen, die meckern, sie
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würden natürlich piepsen, krähen, gackern – nie meckern. Auf was man so kommt, wenn man so lange brütet! Sie schreckte auf. Was war das für ein Geknabber, Kratzen und Scharren? Irgendjemand hatte sie verraten! Waren es die süßen Mäuschen mit ihrem Pfeifen und Gefiepe, die überall erzählten: „Wir wissen, wo Lydia ist! Pieps, pieps, Lydia sitzt auf Eiern!“? Die Bauersleute verstanden die Mäusesprache nicht, aber die Ratten sperrten ihre spitzen Ohren zu großen Hörtrichtern auf. „Wo, wo?“, wollten sie wissen: und durch die Geschwätzigkeit der Mäuschen erfuhr jeder, der die Mäusesprache verstand, wo das Versteck ist. Außer den gierigen Ratten hatte auch der Eier stehlende Iltis mitgehört und machte sich gleich auf, den Ratten hinterher. Dabei ließ er eine stinkende Spur hinter sich, damit ihm keiner folgte. „Gefüllte Hühnereier, das mag ich, gut angebrütet, wie lecker; die hol’ ich mir! Schleich’ ganz weich, schleich ganz still, gleich krieg’ ich, was ich will“, summte er und reimte weiter: „Schleich’ ganz leise auf Iltisweise, dann gibt’s Futter für die lange Reise …“ Die Ratten waren zuerst da, kratzten vorsichtig, schnüffelten, blinzelten umher. Richtig, da hinter dem Spinnenvorhang! Wie klug, sich da zu verstecken. Ihre schlauen Augen hatten Mutter Lydia entdeckt. Sie wagten sich immer näher ans Nest. Zack – und nochmals zack! Das saß. Mutter Lydia konnte kämpfen. Ihr Schnabel hatte immer noch Kraft, und sie dachte: ‚Kommt nur, ihr Räuberbande! Ich bin gut ausgeruht. Hab’ schon lange nichts zu hacken gehabt. Wollte mir das Hacken eigentlich zur Kükenbefreiung aufbewahren. Aber meine Muskeln sind straff!‘ Zack, und noch einmal zack, und noch einmal zack für den stinkenden Iltis! „Meine Brut kriegt ihr gemeines Gesindel nicht. Kommt nur her, wenn ihr eins von meinen Eiern wollt …! Hier gibt’s nur Salz und Pfeffer, gleich auf den Kopf, noch besser in die Augen. Salz und Pfeffer ohne Ei!“ frohlockte sie. ‚Gluck, gluck, was für eine Aufregung mit dem Gesindel! Mit denen werde ich schon fertig …‘ Sie erschrak: Was würde aber sein, wenn die Kleinen erst da waren und rumtollten? ‚Dann wird’s gefährlich‘, wusste sie. ‚Ja, die neue
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schöne Welt ist nicht nur friedlich. Das Leben hat viele Feinde und ist auch gefährlich. Aber wenn meine Kleinen auf mich hören, werde ich sie mit meinem Leben schützen.‘ Die Ratten und der Iltis zogen blutend ab. „Wir kommen wieder“, zischten sie, „und bringen noch Freunde mit!“ „Ihr und Freunde, ihr habt doch gar keine Freunde“, lachte Lydia hinterher. Dann wurde sie nachdenklich: ‚Freunde haben die nicht, aber ihre Artgenossen gibt‘s in großer Anzahl. Ratten, Iltisse und andere Stinker sterben bei stärkstem Gift nicht aus. Auch das Böse vermehrt sich, oft sogar schneller als das Gute. Die Bösen nehmen zu, üben Gewalt, rauben, stehlen, töten, verbreiten Angst und Schrecken. Woher kommt das nur? ‚Man sollte alle Bösen und Schlechten einfach umbringen‘, grübelte sie, ‚weg mit ihnen, sie haben kein Recht zu leben, diese Biester.‘ Aber ‚Vorsicht, langsam, altes Huhn!‘, durchzuckte es Lydias Kopf, ‚was ist, wenn du selber schlecht bist, du oder deine Hühnersippe? Kommt ja vor, kann ja passieren …‘ Sie beruhigte sich langsam, und bald waren alle Gedanken wieder beim Brüten. Es würde nicht mehr lang dauern.
Raus aus den Schalen Die Zeit kam, das größte Ereignis im Leben eines Eies einzuleiten. Über den heftigen Kampf der Mutter zum Schutz ihrer Küken sagte Lydia noch nichts, um sie nicht zu erschrecken. Jeden Tag nur eine Lektion. Wer täglich seine Pflicht erfüllt, merkt gar nicht, welche Gefahren er übersteht. „Hört zu“, rief sie, „wie geht es euch? Große Ereignisse stehen bevor. Macht mal ein bisschen Gymnastik!“ „Was ist das schon wieder, Gyyym-ääh-naas-tiik?“ Brauni konnte das schwere Wort nur stotternd nachsprechen. „Hab’ ich nicht. Wo soll das sitzen? Hat irgendjemand von euch Gym-nas-tik? Du etwa, Bleichei, oder du, Dotti?“ „Das hat man nicht, das tut man“, meinte die Mutter. Aber das ist menschlich gesprochen. Wir Hühner sagen einfach: „Bewegt euch!“
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„Ich kann nicht“, presste Schecki. „Wie sollst du das können, wenn nicht mal ich das kann?“, schimpfte Brauni. „Das sind nur Wände aus Kalk, die euch einsperren“, ermunterte Mutter Lydia. „Die Schale, die euch vom neuen Leben trennt, ist nur ganz dünn. Ihr müsst jetzt raus aus eurem Gefängnis. Bewegt euch. Marsch, los, bewegt euch fester, streckt eure Beinchen aus, auch wenn es weh tut. Drückt mit den Flügelchen. Haltet jetzt eure Schnäbel und schlagt lieber kräftig damit zu, immer vor euch hin, noch mal, noch mal!“ Gespannt wartete sie, was unter ihr geschehen würde. „Nicht nachlassen, nicht müde werden, schlagt drauf, immer fester, ja noch mal! Versuchen wir es alle zusammen. Keiner sagt einen Piep, dafür nehmt den Kopf so weit zurück, wie eben möglich, und dann mit dem spitzen Schnabel zugeschlagen, auch wenn es aua macht.“ „Was ist aua?“ „Ruhe jetzt. Und alle schlagen zu, jetzt!“ Blessy war die Erste, die etwas nach draußen drückte. Irgendwie wurde der „Ring“, der sie umgab, weiter. „Mutti, Mutti“, rief sie, „irgendetwas ist passiert! Meine Schale platzt wirklich, es gibt Platz!“ „Weiter, weiter, drück, schlag’ weiter, streng’ dich an, Blessy, gleich hast du’s geschafft!“ Und dann konnte sie Blessy in der neuen Welt begrüßen. Welche Freude für das Küken, geboren zu werden, Platz zu haben, Mutti zu sehen, Luft zu atmen, im molligen Nest zu liegen. „Wie schön, o, wie schön“, piepste sie. Brauni rief ärgerlich: „Gib bloß nicht an, du Weichei, spinn’ nicht, es ist doch alles wie immer, dunkel und eng.“ Schecki piepste ganz aufgeregt. „Ich glaub’s, ich glaub’s, Blessy hat Recht, ich sehe, ich hab’ mehr Platz! Wie schön, piep, piep!“ Sie war selig und ruhte erst einmal etwas aus. War das eine Anstrengung! Noch nicht alle Schalen losgeworden, noch nicht trocken hinter den Ohren. Ohren, die man bei Hühnern nicht so sieht, die aber trotzdem da sind und funktionieren. Hühnerkinder können hören, brauchen
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sich aber nie die Ohren zu waschen; denn statt Ohrmuscheln wie die Menschenkinder haben sie unter den Federn eine Art Hör-Scheibchen. Geboren werden kann sehr anstrengend sein. Zuerst gab es feine Risse in der Schale, und dann brach sie auf. Mit den kleinen Schnäbeln ließen sich Stücke rausdrücken, die wurden dann zerhackt, zerkleinert und rausgestoßen. Weg mit der Schale, die sie so lange festgehalten und eingeengt hatte. Es gab wirklich ein „neues Leben“, eine neue Welt, viel Platz! Es wurde hell und immer heller. Anfangs mussten sie die Äuglein immer wieder zumachen, so hell wurde es. Brauni rief, und der Ärger ließ ihn anschwellen, so dass sein Platz noch enger wurde: „Schluss mit dem Blödsinn von neuem Leben und neuer Welt; das gibt es nicht! Es ist immer noch dunkel und sehr eng.“ Und dann, nach einer kleinen Pause: „Ich will raus, wenn man überhaupt je aus seiner Schale rauskommen kann!“ Jetzt wurde Mutter Lydia ängstlich. Sie wusste, dass es bei Brauni alles ein wenig länger dauern würde. Er war in einer harten Schale, und Küken mit harter Schale hatten es immer schwerer. Natürlich sollte er vor Ärger, Zorn und Neid auf die freudig befreiten Piepser nicht ersticken! Lydia gab einen kräftigen Schnabelschlag auf das Ei, natürlich sanfter, als sie bei den Ratten zugehauen hatte. Noch einmal und noch einmal musste sie schlagen. Brauni hatte wirklich eine harte Schale. Mutter wusste aber, drinnen war ein feuchter, liebenswerter, lebensfähiger weicher Kern. Den wollte sie rausholen. „Mutti, Mutti, was machst du, warum schlägst du mich? Aua, aufhören, ich hab’ doch nichts getan, warum hackst du mich?“ Brauni duckte sich weinerlich. „Halt, geh zur Seite“, sagte Lydia und schlug noch mal und noch mal zu. Es gibt keine Schale, die so hart wäre, dass Mutterliebe nicht öffnen könnte, auch wenn sie kräftige Schläge setzen muss, gezielt und sicher und fest, aber vor allem mit gutem Erfolg. Endlich ein langer Riss im Ei, der sich ziemlich schnell spaltete – und – und … mit einer nur halben Schale am Hinterteil (nein,
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nicht hinter den Ohren, denn Hühner, wie wir schon hörten, haben keine solchen Ohren) tauchte etwas benommen Brauni in der neuen Welt auf. „Letzter, Letzter!“, riefen erst Pipsi, dann alle anderen. „Ich bin König, ich bin die Erste gewesen!“, rief Blessy. So kam es dazu, dass gleich ab der ersten Minute im neuen Leben Brauni beleidigt war. Sein erster Gedanke und seine ersten Worte waren nicht: „Dankeschön, liebe Mami, dass du mir geholfen hast.“ Er sagte auch nicht: „Es stimmt, was du gesagt hast, es gibt ein neues Leben. Wie schön, aus der Enge und Dunkelheit heraus zu sein.“ Vielmehr krähte, nein, krächzte er: „Ich werde euch zeigen, wer König ist, wer der Erste ist!“ „Brauni, Brauni, beginnt man so das neue Leben, begrüßt du so deine Geschwister?“, ermahnte die Mutter. „Und Blessy, ärgere deinen Bruder nicht!“ Man konnte schnell erkennen: Brauni war ein Hahn, und Blessy würde ein gutes Legehuhn werden. Mutter Lydia schaute voller Stolz ihre Küken an. Was für eine prächtige Brut! Alle waren gesund. Vergnügt piepsend tappten sie im Nest umher, fielen kopfüber durcheinander. Wie lustig das neue Leben war! Die neue Welt bestand zunächst nur aus einem fröhlichen Kinderzimmer als Spielplatz. „Wartet nur, bis ihr auf dem Hof seid und die große neue Welt erlebt.“ Mutter Glucke verfiel ins Grübeln: ‚Das ist ein Wunder. Ich kann es kaum fassen. Alle Eier kamen aus mir, nie habe ich sie verlassen. Sie waren alle unterschiedlich.‘ Die Menschen sagten zwar: ‚Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen‘, aber die Mutter wusste: Jeder war in Größe, Farbe und Form eine Persönlichkeit. Was sichtbar war, glich nur einem „Kalkball“. Unwissende würden das darin verborgene Wunder leugnen. Aber jetzt …? Schon am ersten Tag bewegten sie die Beinchen und spreizten die Flügelchen, ohne Batterie und Aufzugsmechanismus. Da war dem Schöpfer ein schönes Stück Leben gelungen. Jedes ein Original, lebend, bunt, beweglich und zerstörbar. Sie waren wollig, flaumig, kleine Wollknäuel, die auf Beinen stelzten, mit roten Schnäbelchen. Ein tiefer Seufzer entrang sich
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Lydias Innerstem: „Wie kann ich meinem Schöpfer nur danken und meine Freude ausdrücken? Irgendwann in einer guten Stunde hat ER sich das ausgedacht, und es funktioniert. Es klappt auf jeden Fall bei mir und meinen Lieblingen!“ ‚Nun aber Schluss mit Andacht und Lobpreis‘, sagte sich unsere Kükenmutter, ‚an die Arbeit! Bis jetzt ist alles gut gegangen, doch nun müssen neue Taten folgen. Hier können wir nicht immer bleiben.‘ „Piep, piep“, kam es auch schon aus zwölf Schnäbeln. Sie wusste, was das hieß: „Gib, gib!“ Die Kleinen brauchten Futter. Das Stroh im Nest und im Umkreis war einige Male bis aufs letzte Körnchen durchsucht. Leider hatte der Schöpfer sie nicht wie andere Geschöpfe ausgestattet, wo Mutter für ihre Kleinen Milch auf Vorrat hatte. Ihr fehlte die Brust. Lydia wollte schon schmollen: Keine richtigen Ohren, keine Brüste, keine Milch. Aber dann lachte sie. „Wie würde ich mit Brüsten aussehen?“ Sie mussten weg aus diesem Versteck. Alle Kinder zwischen die Flügel setzen und runterfliegen, dazu hatte sie keinen Mut. Seit die Hühner sich mit den Menschen auf Eier für Futter und Stall geeinigt hatten, war ihnen das Fliegen vergangen. Runter ging es zwar leicht, aber die Landung konnte sehr unangenehm werden. An den Balken und Brettern runterklettern, wie sie hochgekommen war – das war mit den Kleinen zu gefährlich. Ratten und Iltis hielten sich auf Distanz. Ihr Knurren und Rumschleichen verrieten Wut und Gier. In sicherer Distanz warteten sie schon voll Hunger, weil sie sich dachten: ‚Bald gibt’s Küken zum Frühstück und Abendbrot! Lydia sitzt in der Falle. Sie muss jetzt durch unser Gebiet, zusammen mit zwölf kleinen süßen Küken auf wackeligen Beinen. Da fangen wir sicher mehr als eins!‘ Schleck, schleck, die Spucke lief ihnen schon aus dem Maul. Lydias Entscheidung stand fest: Wir können nur weg, wenn Vater Gockel die Sonne und die Menschen geweckt hat. Die Sonne schien immer nur kurz richtig kräftig hierher – und dann war es so weit! Dann verkrochen sich die Ratten und Räuber, diese Dunkelgesellen. Sie wollte diesen Beschluss bekannt machen, es war höchste Zeit.
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Brauni war schon wieder „Hahn im Korb“ und plante einen Ausflug, eine Entdeckungstour, wie er es nannte. „Hier ist es mir zu eng, ich will raus, hab keinen Platz! Geht aus dem Weg, ich habe Hunger, piep, piep!“, waren seine Worte. „Hunger“, riefen auch die andern. Mutter schimpfte: „Brauni, das hab’ ich doch schon alles von dir gehört. Bist noch nicht ganz trocken, machst noch ins Nest!“ „Haha, machst noch ins Nest“, wiederholten alle andern – auch, um von ihrem eigenen Ins-Nest-Machen abzulenken. „Du willst auf Tour, hast Hunger, woher hast du das? Hab ich dir das beigebracht? Wer redet so?“ „Das bringt das neue Leben mit sich“, piepste er keck. „Nein, du bleibst hier. Basta.“ „Mutti, was ist Pasta?“, wollte Schecki wissen. Nur sich jetzt auf keine Diskussion einlassen, beschloss Lydia. Sonst müsste sie Zähneputzen oder gar einen Besuch beim Italiener erklären. Also sagte sie laut und deutlich: „Basta! Das heißt: Ruhe!“
Nur die Mitte ist ein sicheres Nest „Brauni, zum letzten Mal, du bleibst hier im Nest, sonst …“ „Ja, Mami, was sonst?“ „Sonst fällst du runter, brichst dir die dünnen Beinchen, wirst lahm, oder noch schlimmer, die Ratten fangen dich, dann ist dein neues Leben schnell zu Ende. Dann fällst du in die Rubrik ‚Eintagsküken‘.“ „Mama, ich will kein Eintagsküken werden, ich werde lieb sein.“ „Gut, dann verstehen wir uns. Übrigens, heute werdet ihr Vater zum ersten Mal deutlich hören, ohne Eierschalen-Schallschutz!“ (Was für ein Wort hatte sie sich da einfallen lassen!) Sie sollten ihren Vater respektieren. „Bald wird es so weit sein! Er wird krähen – einige Male. Er kann herrlich krähen, euer Vater. Hat schon eine tolle Stimme und so viel Autorität! Sogar das große, helle Licht geht dann auf, die kleinen Lichter am Himmel gehen aus und in Hof und Haus und Stall gehen
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die Lichter an. Vater Gockel ist der Wichtigste hier überhaupt – ihr werdet ihn hören, das Licht sehen, und dann bringe ich euch runter.“ Leicht gedacht und gesagt – aber wie sollte sie das schaffen? Ihr Kopf platzte fast vom Nachdenken. Wie wollte sie ihre Küken nach unten bringen? Hier bleiben, klar, das ging nicht mehr lange – sie brauchten Futter und Platz. ‚Runterfliegen kann ich kaum selbst, und was mach ich erst mit meinen Küklein? Es ist zu hoch. Die fallen in den Tod. Dafür habe ich sie nicht ausgebrütet. Ach, es ist wirklich zu schade, dass wir Hühner nicht fliegen können …!‘ Sollten sie alle langsam, ganz langsam runterklettern über Balken, Bretter, Strohballen und alles Gelump und Abgründige? Das war genauso lebensgefährlich für die Kleinen. Die Ratten kicherten sicher schon und leckten sich die Pfoten in Vorfreude auf junge Hähnchen. ‚Wie kommen wir hier fort?‘ Was ein kleiner Hühnerkopf alles denken kann, ist erstaunlich. (Ob ein Huhn beten kann, ist eine andere Frage.) Lydia aber schmunzelte, als ob ihr eine Idee gekommen war, eine Eingebung vom Schöpfer: „Ich werde sie auf jeden Fall sicher in die neue Welt bringen“, sagte sie sich. (Zum Nachdenken: Was würdest du tun, wenn du ein Huhn wärst? Wie würden wir an Lydias Stelle unsere Kinder sicher ins neue Leben bringen? Wer hat eine Idee?) Unter der Henne piepste, wibbelte und krabbelte es, einige ängstlich, andere fröhlich und neugierig. „Wie viel neue Leben gibt es noch, Mama?“, riefen sie. Brauni dachte, in der Aufregung merke die Mutter nichts. Es gelang ihm, sich durch die Reihe der Geschwister zu drücken, nach hier und dort zu klettern. Wie schön doch das Drüberklettern war. Die Eierschalen lagen auch noch im Weg. Aber er schaffte es. So stand er neben der Mutter am Rand seiner Welt, Nest genannt. Er starrte nach unten und hatte Angst. Sollte er besser zurückgehen? Aber der Erste zu sein, war auch schon etwas. Es wurde langsam heller. Brauni erkannte: Unten war fester Boden und viel Raum. Da passte er locker mehrmals rein – richtig spitze für eine Tour. Fliegen, als
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Dritter Teil Zwergschule und andere Nester Eine Zwergschule ist keine Schule für Zwerge, sondern für Linda, Lisa, Eva, Heidi und Sammy, also nur für ganz wenige Kinder. Kannst du die Namen all deiner Klassenkameraden aufzählen? Wie viele bekommst du zusammen? Sind es mehr als 20 Mitschüler? Dann kannst du vielleicht gar nicht alle Namen nennen. Bitte versuch’s einmal. Und dann weiter: Wie viele Kinder sind in den Parallelklassen oder erst in der ganzen Schule? Anders ist es bei Linda, Lisa, Eva, Heidi und Sammy: Allein aus diesen fünf besteht die ganze Schülerschaft, und es gibt zwei Lehrerinnen für Grundschule, Realschule, Gymnasium. Warum es Zwergschule heißt, ist nun sicher klar. Auch das Schulgebäude ist ganz ungewöhnlich: ein Container. An der Tür steht: „Zutritt verboten“. Das war wohl der Streich eines Schülers, aber niemand hat das Schild entfernt. Wo diese Schule ist? In Starowa. Das liegt in Albanien. Die Schüler sind Kinder unserer „AVC-Nehemia“-Missionare. Jedes Kind ist in einer anderen Klasse, muss also unterschiedliche Lektionen lernen. Wenn man keinen Klassenkameraden hat, kann man bei niemandem abschreiben. Man kann sich auch keinen Kaugummi verdienen, wenn man abschreiben lässt. Eva, Linda oder Heidi müssen alle Fragen der Lehrerin selbst beantworten. Als Missionarskinder haben sie es nicht immer leicht und müssen manche Nachteile erdulden. Umso schöner, wenn die Kinder wie ihre Eltern Jesus lieben und sogar Missionare für Kinder sind. Als ich einmal in dieser Mini-Schule war, las ich für alle Klassen die Geschichte von der Glucke Lydia vor. Gespannt hörten die Kinder zu, lächelten, wurden aber auch ganz traurig. „Onkel Waldemar“,
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sagte Linda, „das ist aber traurig, dass Brauni sterben musste!“ Bevor ich antworten konnte, sagte Lisa, die Gymnasiastin: „Ja, das ist zwar traurig, aber realistisch. Küken haben es nicht leicht zu überleben. Von unseren zehn haben nur vier es geschafft.“ Ja, es gibt viele Gefahren für Küken. Ganz wichtig ist es, der Mutter zu folgen, immer nahe bei ihr zu bleiben und bei Gefahr gleich Schutz unter ihren Flügeln zu suchen. Für Kinder ist das genauso wichtig. In Pogradec haben unsere Missionare Esther und Arnold Geiger eine große Schule für Albaner, in Durres tun dies Astrid und Hartmut Kämmer für Zigeunerkinder. Die gehen wirklich gerne hin und lernen sehr fleißig. Unser NEHEMIA-Christenhilfsdienst hat für Kinder in vielen Ländern Kindergärten, Vorschulen und Schulen eingerichtet, worüber sich die Kinder sehr freuen. Vielleicht kannst du dir nicht vorstellen, dass jemand gern zur Schule geht. Wenn ich SchulBesuche mache, frage ich die Schüler oft: „Welcher Unterricht gefällt dir am besten?“ Dann höre ich, dass einige Mathematik lieben, andere Physik, wieder andere Lesen und Schreiben. Wie können Kinder diese Fächer lieben? fragst du dich vielleicht. Ich selbst ging nicht so gern in die Schule. Vielleicht lag es am weiten Weg, den ich sogar im Winter zu Fuß laufen musste. Meine liebsten Stunden waren Pausen und Ferien. Erst später erkannte ich, warum es so wichtig ist, eine Schule zu besuchen und fleißig zu lernen. Im Februar 2002 erlebten meine Frau und ich den Start eines neuen Schuljahrs, und zwar an einer Schule in Nicaragua. Es war mir eine Freude. Dort gibt es ja viele Kinder, die mit sechs Jahren schon arbeiten müssen. Niemand sorgt für sie. Unzählige kleine Mädchen und Jungen haben kein Zuhause. Ihre Zukunft sieht nicht nur dunkel, sondern pechschwarz aus, so wie sie selbst oft. Da ist es, wie überall auf der Welt, lebenswichtig, lesen und schreiben zu können: Sonst wird man immer wieder betrogen und muss die schwerste und schmutzigste Arbeit tun. Viele verdienen am Tag nur etwa 15 Cent, manchmal noch weniger.
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Gerhard und Ruth Mantei sind als Missionare in dieses Land Nicaragua gegangen. Es liegt in Mittelamerika, zwischen Nordund Südamerika, wo das Land am dünnsten ist. Dort betreuen wir einige hundert Kinder. Eine Schulleiterin erzählte ganz traurig, dass einer ihrer Schüler, der Sebastian, prahlte: „Mein Vater ist im Gefängnis. Er ist ein Dieb. Und ich will auch ein Dieb werden!“ Als dann im Unterricht gesagt wurde, dass Jesus Wahrheit und Ehrlichkeit liebt und Stehlen Sünde ist, ging Sebastian nach einigen Tagen zu der Leiterin und sagte: „Ich will doch kein Dieb werden, weil Jesus das nicht liebt!“ Später kam er nochmals: „Ich will Polizist werden und dann Diebe fangen. Ich will wie Jesus werden und mithelfen, dass nicht mehr gestohlen wird!“ Da freute sich die Schulleiterin sehr. Also bringt die Schule nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen bei, sondern verändert den Charakter und die Wünsche der Kinder. Es ist wirklich begeisternd, durch die Klassen zu gehen und die Mädchen und Buben zu sehen, denen hier gedient wird. In einer Klasse fragte ich nebenbei: „Na, wer von euch hat heute noch nicht gefrühstückt?“ Ein Drittel meldete sich. Ich traute meinen Augen nicht. So viele Kinder haben kein Essen zu Hause und sind froh über die Mittagsmahlzeit in unserer Schulküche. Gerhard Mantei, unser NEHEMIA-Missionar, ging nach Nicaragua, um Kindern zu helfen. Neben den Schulen haben wir noch Landwirtschaft und eine Betreuung armer Dorffamilien. Sie bekommen Lebensmittel, Kleidung und Brillen. Ja, auch Brillen; denn die Armen können nicht zum Optiker gehen. Oft passen ihnen solche gebrauchten Brillen, und endlich können sie wieder klarer sehen. Nicht nur Kinder nehmen gelegentlich eine Brille und setzen sie auf, nur um damit besser auszusehen. Unser Gerhard war glücklich, dort zu sein, aber auch traurig, weil er als fast 40-Jähriger immer noch allein war. Er dachte fast schon, dass ihn ‚niemand liebte‘, obwohl er ein feiner Mann war. Schließlich fand er die Richtige. Manchmal muss man lange warten. Er fand die einzig Richtige, die beste Frau für ihn, Ruth aus Guatemala. Sie spricht nicht nur Spanisch wie die Leute in Nicaragua, sondern ist
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auch Lehrerin. Ruth ist sehr lieb und sehr hübsch und lacht immer fröhlich. Sie erzählte ein lustiges Erlebnis. Als ihr kleiner Neffe hörte, dass sie heiraten wollte, war er ganz entsetzt und erzählte andern weiter: „Meine Tante Ruth heiratet einen Schäferhund!“ Die Erklärung liegt in der Sprache. Auf Spanisch hört sich „ein deutscher Pastor“ – „pastor alemán“ – ähnlich an wie „deutscher Schäferhund“. Vielleicht wollt ihr wissen, wo überall es NEHEMIA-Schulen gibt: In Afrika, am Viktoriasee, ist unser Kinderdorf „Betania“ (Bethanien). Alle Bewohner in unserem Dorf sind Waisenkinder, deren Eltern an AIDS gestorben sind. Die dortige Schule ist keine Zwergschule; denn aus den nächsten Dörfern und der ganzen Umgebung kommen Kinder. Es ist ein schönes Bild, wenn alle in ihrer Schuluniform zu Andacht und Gebet auf dem Schulhof zusammenkommen. Dabei singen sie auch die Nationalhymne und halten die Landesfahne hoch. Stellt euch vor, auch die „Diddle-Maus“ hat geholfen, diese Schule zu bauen! Kennt ihr die „Diddle-Maus“? Ja, sogar in ihrem „Käseblatt“ stand etwas über uns geschrieben. Danke, liebe „DiddleMaus-Eltern“, dass ihr uns geholfen habt! Auf der Insel Sansibar im Stillen Ozean, vor der Küste Afrikas, haben wir auch einen Kindergarten. Dort in der moslemischen Umgebung und islamischen Kultur findet man Mädchen ziemlich unwichtig und meint, sie sollen gar nichts lernen. In unserem Kindergarten aber lernen sie das ABC und Einmaleins – und natürlich lernen sie auch Jesus kennen. In Costa Rica (Mittelamerika) kommen ca. 1000 Kinder in unsere Schule, fast alle aus schwierigen Elternhäusern, oder sogar ohne Vater und Mutter. Das ist das schlimmste Unglück für Kinder, nicht beide Eltern zu haben. Leider oft auch, weil die Väter – manchmal sogar Mütter – ihre Kinder im Stich lassen. Ein Kind braucht aber Vater und Mutter. So hat es der liebe Gott liebevoll geplant und angeordnet. Gott als der gute himmlische Vater weiß, was Kinder brauchen. Eben Vater und Mutter und ein Zuhause.
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Euch Kindern möchte ich sagen: Bitte, bitte nehmt euch im Herzen Folgendes ganz fest vor, versprecht es: „Ich will nie meinen Kindern so etwas antun – sogar wenn man es mir selbst angetan hat! Amen (so sei es).“ Gott wird euch helfen. Abgemacht? Costa Rica ist übrigens das Nachbarland von Nicaragua, wo Ruth und Gerhard Mantei leben und arbeiten. Zusammen mit Kriemhilde – so heißt meine Frau, mit der ich seit 40 Jahren verheiratet bin – besuchte ich eine unserer Schulen. Zu unserem Empfang war eine tolle Party für uns organisiert. Das war so richtig feierlich, auch mit Fahnen: die deutsche Fahne in Schwarz-Rot-Gold und die Fahne von Costa Rica in Blau-Weiß-RotWeiß-Blau mit einem Wappen. Eine tolle „Schlägergruppe“ trat auf. Die schlugen natürlich nur ihre Trommeln, nicht uns. Dafür aber richtig laut. Als die auf die „Pauke gehauen“ haben, ist uns fast das Trommelfell geplatzt, ich meine das in den Ohren; ihre Trommel dagegen blieb ganz. Die werden noch viele damit ärgern oder erfreuen. Auf jeden Fall sind die Jungs ganz stolz, spielen zu dürfen. Singen können die auch. Dann trat ein Mädchen auf. Ganz tapfer hielt es vor uns als Ehrengästen, allen Lehrern und Mitschülern eine Rede: „Wir Kinder wollen uns bedanken bei euch, Pastor Sardaczuk und Frau Kriemhilde. Sagt unseren Paten in Deutschland und in der Schweiz herzliche Grüße und Dank, dass sie für uns beten und Geld schicken. Wir freuen uns, dass wir in diese Schule gehen können!“ Ihre Stimme stockte, wurde heiser, und unter Tränen konnte sie nur noch rausbringen: „Wo wäre ich heute, wenn es euch und die Schule nicht gäbe?“ Meine Kriemhilde weinte los, und auch mir und anderen Besuchern stiegen die Tränen in die Augen. Das war so echt und wahr. Sie war ja nicht zum Weinen auf die Bühne gestiegen. Ja, wo wären sie und die Hunderte anderer Mitschüler aus den Slums von St. José: Kindersklaven, Lustobjekte, Bettler, Verbrecher, Bandenmitglieder, ausgenutzt, weggeworfen, zerstört und zertreten … Gott sei Dank ist es in ihrem Leben anders gekommen, hat ihr Leben eine großartige Chance. Gläubige Lehrer mit Herzenswärme und Liebe bringen Pedro, Aldino, Claudio, Hermano,
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Cecilia, Claudia, Teresa, Maria und vielen anderen das Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Unsere Schule ist in einem ganz armseligen Armenviertel gebaut, von dem die Stadtoberen sagten, der Ort sei zu gefährlich. Die Kriminalität ist so stark, dass die Polizei sich kaum hintraut. Die Männer dort haben mehr Waffen als die Polizei. Aber wir dachten, das ist der richtige Platz für eine christliche Schule, die bärenstark auftritt. Es gibt für alle armen Familien eine Suppenküche. (Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen, stimmt’s? Ich bin jedenfalls ganz friedlich, wenn ich satt bin.) Dazu kommt die Gute Nachricht von Jesus, der helfen kann und es auch gerne tut. Also beten die Kinder für ihre kranken Eltern oder für den Vater, der trinkt – ihr wisst schon, nicht nur Wasser oder Tee, sondern Schnaps. Aus dem vielen Schnaps, Rum, Whisky oder wie das Zeug noch heißt, kommt so viel Elend. Armut, Krankheit, Verbrechen und zerbrochene Familien sind die Folge. Neben der Schule ist eine Gemeinde entstanden, auch eine Kirche wurde gebaut. Es war eine große Freude, in dieser Kirche zu predigen. Die Kinder sangen, sagten Gedichte auf … und stellt euch vor, viele Eltern kommen regelmäßig in den Gottesdienst, weil sie Jesus in seiner verändernden Kraft erlebt haben! Es gibt nur ein Problem: Immer wieder verlassen Kinder unsere Schule. Wir weinen oder lachen darüber: Lachen, wenn die Eltern eine bessere Arbeit gefunden haben, ein Haus in einer besseren Gegend mieten und sich so „nach oben arbeiten“ können. Weinen, wenn Eltern nur für den Moment denken, die Kinder einfach mitnehmen und sagen: „Auch wir können nicht lesen und schreiben. Kommt mit, ihr könnt jetzt Kaffeepflücker werden oder durch Feldarbeit etwas Geld verdienen …“ Tatsächlich, der Kaffee muss, bevor er getrunken werden kann, erst gepflückt werden. Danach wird er geschält, getrocknet, geröstet, gemahlen und dann gebrüht, manchmal mit viel Zucker und ganz heiß getrunken. Aber Kinder trinken ja noch keinen Kaffee, um davon keine „schlappe Nase“ zu bekommen, oder welche Gründe man sonst noch nennt. Meist mögen Kinder auch noch keinen Kaffee.
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Von Nicaragua und Costa Rica fahren wir nun immer die TransPanama-Straße in Richtung Süden. Diese Straße ist Tausende Kilometer lang und reicht von Alaska im hohen Norden über Kanada, USA, Mexiko bis Feuerland ganz im Süden. Wir fahren natürlich nicht mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto, tagelang, immer nach Süden. Dann kommt man endlich in Lima an, der Hauptstadt von Peru. Aber da sind wir immer noch nicht am Ziel, nur zum Anhalten, ein wenig auszuruhen und einen Besuch zu machen. Noch ein paar Kilometer weiter liegt Gomas – ein Ort am Fuße mächtiger Berge. Dort steht auch schon eine große Schule mit Kindergarten, Hauptschule und Secundaria (so nennt man die Mittel- oder Realschule). NEHEMIA hat sie dort gebaut, samt Landwirtschaft und Gartenprojekt. Sie wird jetzt von Peruanern geleitet. Aber auch einer unserer Missionare lebt noch in Lima. Dort hat er eine Zwergschule für seine drei Kinder. Wir fahren noch weitere 1000 km südlich, bis Ilo, immer am Strand des großen Pazifik entlang, fast zur Grenze nach Chile. Kurz vorher halten wir an. Dort wohnen nämlich Frank und Teresa Fröschle (die heißen wirklich so) und ihre lieben drei Kinder Immanuel, Priscilla und Antonella. Mitten in der „Pampa“, das ist so ein Stück Wüste und Einöde, nur Sand und Dreck und Müll. Da mitten drin steht „Betanien“ wie eine Burg. Wir gehen durch das große Tor. Natürlich muss man erst anklopfen und dann warten, warten, bis jemand kommt und von innen öffnet: „Muchos bienvenidos – vielmals willkommen!“ ‚Hey, wo bin ich hier?‘ denkt man. ‚Sieht so das Paradies aus?‘ Man ist durch Staub und Müll gewatet, hat Dreck und Gestank geatmet, aber dann reibt man sich die Augen. Hier ist alles so schön, so sauber: die Wände schön weiß gestrichen und feine Bilder drauf gemalt, die Wege gepflastert, Blumenbeete und Sträucher mit richtig grünen Blättern und bunten Blumen. Das gefällt mir – echt cool, das Ganze. Frank begrüßt einen in Deutsch, na, genau genommen, eher auf Schwäbisch. Er kommt nämlich aus Pforzheim. Und wie kam er
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