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Kapitel 1 Nur mit einem dünnen Metallseil gesichert, hing ich über dem Abgrund. Mehr als hundert Meter unter mir waren die zerklüfteten roten Felsen der Marsoberfläche wie Speere auf mich gerichtet. Die Temperatur war inzwischen von minus 70 Grad auf angenehm warme fünf Grad über dem Gefrierpunkt angestiegen. Ein kräftiger Wind zerrte an meinem Körper und versetzte das Kabel in heftige Schwingungen. Aber es hätte schlimmer kommen können. Ich hätte auch ebenso gut in einem Sandsturm feststecken können, während der Sand mit über 100 Kilometer in der Stunde an meiner Titanhülle rüttelte und mir komplett die Sicht versperrte. So wie es jetzt war, hatte ich eine fantastische Aussicht. Wenn nicht gerade ein Sandsturm tobt, erscheint die Sonne auf dem Mars um die Mittagszeit blau vor einem karamellfarbenen Himmel. Die Wolken sind nicht mehr als vage Nebelstreifen am Himmel, die in einem helleren Blau als die Sonne schimmern. Ich überblickte das gesamte Tal unter mir und nahm die Orange- und Rottöne der Marsoberfläche in mich auf. Ungefähr 15 Kilometer entfernt lebten im Inneren einer gigantischen Kuppel die zweihundert Wissenschaftler und Techniker, die die erste Marskolonie hier gegründet hatten. Diese Kuppel bot Sauerstoff, Wasser, Wärme und Nahrung – alles das, was Menschen brauchen, um zu überleben. 7


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Aber hier draußen? Hier gab es weder Sauerstoff noch Wasser. Keine Wärme und erst recht nichts Essbares. Und diese zerklüfteten Felsen schienen nur darauf zu warten, dass ich irgendeinen Fehler machte. Aus dieser Höhe wäre es auch kein großer Vorteil mehr gewesen, dass die Schwerkraft auf dem Mars nur etwa ein Drittel der Erdgravitation ausmacht. Wenn ich von diesem Seil abrutschen würde, würden die Felsen unter mir die Hülle meines Roboters wie Dolche durchbohren. Und die Lage wurde auch nicht gerade leichter dadurch, dass ich einen Gast auf meinem Rücken hatte. Vor mir lag nun die Herausforderung, uns beide wohlbehalten auf den Grund dieses Tales zu bringen. Oben war das Metallseil an einem tief im Boden verankerten Haken befestigt, von wo es hundert Meter in die Tiefe reichte. In jeder Hand hielt ich einen Greifer, mit denen ich mich am Seil festhielt. Durch diese Greifer hatte ich einen viel sichereren Halt als alleine mithilfe meiner Finger. Die Kunst war nun, den Greifer meiner rechten Hand zu lösen und für einen Moment nur an dem Greifer der linken Hand zu hängen, während ich mit der freien rechten Hand den Greifer ein Stück tiefer neu ansetzte. Hatte ich dann mit der rechten Hand wieder Halt, dann löste ich vorsichtig den Greifer der linken Hand und setzte ihn wiederum ein Stück unterhalb der rechten Hand neu an. Und so weiter. Es war ein mühsames und langsames Vorankommen und ich musste voll konzentriert dabei sein. Dadurch, dass der untere Teil meines Körpers Räder hatte, wurde meine Lage etwas einfacher. So brauchte ich mich nur langsam, sehr langsam, am Felsen herabrollen zu lassen, während ich uns mit den Händen am Seil sicherte. Wir hatten ungefähr den halben Weg nach unten geschafft, als es geschah. Mein rechtes Rad traf auf eine Stelle, wo der felsige Untergrund nachgab. Ein Teil des Felsens löste sich aus der Wand und stürzte in die Tiefe. Dadurch verlor meine 8


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rechte Seite den Halt, schwang nach innen und zog mich zur Seite. Das wäre noch kein so großes Problem gewesen, wenn ich in diesem Moment wenigstens das Seil mit beiden Händen umklammert gehabt hätte, aber ich hing nur an dem Greifer meiner linken Hand. Voller Panik wollte ich auch mit der rechten Hand nach dem Seil greifen. Weil ich mich aber schon in Schwingung befand, verpasste ich das Seil und schlug meine Hand mit Wucht gegen den Felsen. Das wiederum versetzte mich in eine Bewegung, die mich vom Felsen wegtrieb. So schwang ich wie ein Pendel hin und her. Durch die geringe Schwerkraft auf dem Mars reichte der Schub aus, mich fast zwei Meter von der Felswand wegzustoßen und in der Rückwärtsbewegung schlug ich dann mit voller Fahrt gegen die Wand. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand mit einem Baseballschläger eins übergezogen. Während ich weiter mit der Linken das Kabel umklammert hielt, versuchte ich verzweifelt, auch mit der Rechten wieder Halt zu gewinnen. Aber ich hatte endgültig das Gleichgewicht verloren, nicht zuletzt auch wegen der Last auf meinem Rücken. Meine Räder rollten an der Felswand nach oben, während das Gewicht auf meinem Rücken den Oberkörper nach hinten und nach unten zog. Das Kabel schwang immer stärker. Noch immer versuchte ich mit der rechten Hand wieder Halt zu finden. Vergeblich. Dann … Klick! Der Verschluss, der den Passagier auf meinem Rücken festhielt, öffnete sich und plötzlich hatte ich keinen Passagier mehr. „Rawling!“, schrie ich, während ich ein Gewirr aus Armen und Beinen nach unten stürzen sah. „Rawling!“ 9


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Sekunden später zeigte eine enorme Staubwolke an, dass der Körper auf dem Boden aufgeschlagen war. Ich hatte versagt.

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