657172

Page 1

Kapitel 1

Die Kirche am Ende?

Kirche in der Krise Haben Sie sich, vielleicht in den Ferien, schon einmal in eine Kirche verirrt? Haben Sie vielleicht irgendwo einmal still auf einer der Bänke gesessen und sich gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass Christen die Tuchfühlung mit der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung so weitgehend verlieren konnten? Oder Sie haben sich zu Hause schon einmal bei dem Gedanken ertappt: »Hilfe, meine Gemeinde ist auf dem besten Weg, in dieser Gesellschaft keine Bedeutung mehr zu haben!« Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich einmal nacheinander drei Kirchen in einer Stadt besucht habe. Zunächst die Anglikaner. Sie hielten ihre Liturgie mit großer Ruhe und Feierlichkeit in ihrer traditionsbewussten Art. Dabei zogen sie vor allem die Elite der oberen Mittelschicht der Stadt mit ihrem Standardliederbuch und ihrer klassischen Musik während der Opfersammlung an. Die Pfingstler dagegen riefen ihre Hallelujas und freuten sich an überschwänglichem, geradezu hochtourigem Lobpreis in einem Stil, der sich seit Generationen nicht geändert zu haben schien. Anschließend warnte der Prediger seine nicht gerade akademisch geprägte Versammlung vor den Gefahren des Intellektualismus. Die Baptisten schließlich hatten einen mittelschichtigen, mittelalterlichen, mittelprächtig singenden Chor, der ziemlich schlichte Lieder von sich gab zu Melodien, die in den frühen Fünfzigern vor dem Aufkommen des Rock ’n’ Roll aktuell waren. Alle drei waren nach den gängigen Maßstäben gute Gemeinden. Sie waren zahlenmäßig recht groß und jede von ihnen war 13


Teil 1

Den Abgrund überbrücken

zweifellos überzeugt, dem Reich Gottes optimal zu dienen. Sie schienen ziemlich zufrieden zu sein mit dem, was bei ihnen ablief. Es entsprach ihren eigenen Bedürfnissen wohl recht gut. Trotzdem schmerzte mich etwas zutiefst. Hier gab es eine Stadt mit verschiedenen, an der Bibel orientierten Gemeinden. Sie gestalteten ihr Gemeindeleben auf unterschiedliche Weise und respektierten sich dabei sogar gegenseitig. Alles Voraussetzungen, die durchaus unterschiedlichen Menschen in ihrer Umgebung erreichen zu können. Doch die Realität sah anders aus. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Ortes blieb den Gemeinden gegenüber völlig gleichgültig, vollkommen unberührt von ihrem Leben und unbewegt von ihrer Botschaft. Sicherlich, für die Insider war es gut, zu diesen Gemeinden zu gehören, aber für Außenstehende hätten sie genauso gut auf einem anderen Planeten existieren können. Die Kirchen in England und auf dem Kontinent durchleben zur Zeit eine Phase, die durch einen massiven Schwund an Mitgliedern gekennzeichnet ist. So verlor die Kirche zwischen 1975 und 1989 in England 47 000 Menschen pro Jahr. Das sind fast 1 000 Menschen pro Woche, und das durchaus nicht nur als Sterbefälle. Auch scheint es, dass viele Kirchgänger die Gewohnheit des sonntäglichen Kirchgangs nach und nach ablegen. Ein Vergleich des Altersdurchschnitts der Kirchenmitglieder mit dem der Gesamtpopulation des jeweiligen Landes veranschaulicht die Dramatik der gegenwärtigen Entwicklung. In Australien und den USA sind die Mitglieder vieler Gemeinden im Durchschnitt auffällig älter als die Bevölkerung der Umwelt. In England waren zum Beispiel 1989 55 Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter 45 Jahren, während in der Kirche 10 Prozent weniger dieser Altersschicht angehörten. Doch auch diese Zahlen beschönigen nur den eigentlichen Zustand. Erschreckende Tatsache ist, dass in England die Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen diejenige ist, die sich am wenigsten für einen ernsthaften Kontakt mit der Kirche interessiert: 94 Prozent von ihnen wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Das bedeutet also, dass in den neunziger Jahren prozentual mehr Leute in der Kirche sterben werden als in der übrigen Gesellschaft, einfach weil es mehr ältere Leute in den Kirchen gibt. Darum wird sich, wenn es hier nicht zu einer umwälzenden Veränderung kommt, die Geschwindigkeit des Mitgliederschwun14

Die Kirche am Ende?

1. Kap.

des mit großer Wahrscheinlichkeit noch erhöhen. Es darf uns also nicht wundern, dass eine renommierte Zeitung wie der Independent on Sunday diese Situation so kommentierte: man könne sagen, dass »bei einem Kirchenbesuch von weniger als einem Zehntel der Bevölkerung die christliche Ära der Geschichte angehört« (David Nicholson-Lord, 20. Juni 1993). In Afrika, Asien und Lateinamerika wächst die Kirche dagegen in atemberaubendem Tempo. In Lateinamerika sind die evangelikalen Gemeinden seit 40 Jahren um jährlich 10 Prozent gewachsen. In Afrika wurden 1945 20 Millionen Christen geschätzt. 1978, also über 30 Jahre später, waren es bereits 70 Millionen. Und 1988, gerade 10 Jahre später, ist diese Zahl auf unglaubliche 250 Millionen angewachsen. Dabei handelt es sich in all diesen Beispielen um ein in jeder Hinsicht gesundes Wachstum! Oder betrachten wir den Fall einer einzigen Kirche, der Deeper Life Bible Church von Lagos, die von William Kumuyi geleitet wird. Sie ist schnell zu einer der größten Kirchen in der Welt angewachsen. 1973 hatte sie 15 Gemeindeglieder. 1982 waren es 5 000, heute mehr als 80 000, dazu kommen noch 40 000 Kinder. Inzwischen wurden mehr als 2 000 Tochtergemeinden in über 30 afrikanischen Ländern gegründet. Seit kurzem (1993) gibt es auch eine Deeper Life Bible Church in Europa. Kein Wunder, dass die Konferenz »Mission 2000« 1988 in Stuttgart zu dem Schluss kam: »Wir freuen uns über das noch nie dagewesene Wachstum der Kirche …« In den hochzivilisierten westlichen Ländern dagegen steckt die Wirksamkeit der Kirchen in einer tiefen Krise. Einige würden sogar sagen, es sei eine Überlebenskrise, besonders in den Städten. Befindet sich die Kirche dort vor dem endgültigen Aus? Einige Gemeinden werden allem Anschein nach tatsächlich »eingehen« und manche Glaubensgemeinschaft wird zur Bedeutungslosigkeit zusammenschrumpfen. Andererseits gibt es viele Gemeinden, die von neuen Lebenszeichen berichten, ja, in letzter Zeit sind sogar eine ganze Reihe neuer lebendiger Gemeinden entstanden. So hat auch die oben erwähnte Konferenz in Stuttgart festgestellt: »Wir glauben, dass für Gemeinden in Europa möglicherweise eine neue Zeit des Wachstums bevorsteht.« Unsere Gemeinde im Süden Londons ist ein ziemlich typisches Beispiel dafür. Die Mitgliederzahl ist seit Mitte der sechziger Jahre 15


Teil 1

Den Abgrund überbrücken

von Jahr zu Jahr zurückgegangen. Dennoch ist die Gemeinde in den frühen Neunzigern größer als jemals in ihrer Geschichte. Und damit steht sie keineswegs alleine da. Aus der armseligen Situation heraus, in der die Gemeinden jahrzehntelang befangen waren, gibt es Anzeichen für einen neuen Aufbruch. In immer mehr Städten bricht neues Leben, neues Vertrauen und neue Hoffnung auf. Doch es reicht nicht, einige bewegende Geschichten vom Wachstum einzelner Kirchen und Gemeinden zu erzählen. Ich war früher einmal Verleger und meine Geschäftserfahrung hat mich ein wichtiges Prinzip gelehrt: Wenn sich ein Betrieb in einer Krise befindet, ist eine radikale Operation oder eine Geschäftsaufgabe erforderlich. Nach meiner Überzeugung ist die gute Nachricht von Jesus Christus für die Welt natürlich unendlich viel bedeutungsvoller als der Erfolg irgendeines Unternehmens. Darum meine ich aber auch, dass es sich die Kirche in den westlichen Ländern nicht mehr leisten kann, mit blindem Optimismus oder mit apathischer Resignation die Risse im kirchlichen Fundament zu übertünchen. Wie bei einer angeschlagenen Firma führt nichts an einer ehrlichen Bestandsaufnahme vorbei: Die Kirche im Westen braucht eine radikale Umstrukturierung. Dabei geht es nicht nur darum zu fragen, welche Veränderungen die Kirche nötig hat, um der Welt im 21. Jahrhundert das Evangelium vermitteln zu können. Die ernüchternde Wahrheit ist: Die Kirche ist nicht einmal in der Lage, dieser Aufgabe heute angemessen zu entsprechen.

Von außen betrachtet Seit dem Zusammenbruch des Sowjetblocks füllen ungewöhnliche Souvenirs die Touristenläden von Mittel- und Osteuropa: die Rangzeichen, Mützen und Mäntel der riesigen Armee des sowjetischen Reiches. Die Statussymbole einer Armee, die einmal halb Europa im Griff hatte, sind auf dem Abfallhaufen gelandet. Die alte Ausrüstung ist nun überflüssig und wird nicht mehr gebraucht. Genau so erscheint auch die Kirche heute vielen Menschen. Sie ist etwas, ohne das man sehr gut auskommen kann, belanglos für die Welt des späten 20. Jahrhunderts, einfach überflüssig. Wir müssen uns einmal in die Situation von Außenstehenden versetzen und die Kirche von ihrem Standpunkt aus betrachten. Statt unsere 16

Die Kirche am Ende?

1. Kap.

Art, wie wir Gemeinde leben, als normal oder natürlich anzusehen, sollten wir uns einen neuen Blick für unsere »Selbstverständlichkeiten« zulegen. Erst dann werden wir anfangen, die harte Wahrheit zu verstehen, dass das größte Hindernis für das Evangelium heute oft die Kirche selbst ist. Im Zusammenhang damit müssen wir uns im Folgenden über manches klar werden, was den Menschen in unserer modernen Welt stark beeinflusst.

Gebäude haben eine Botschaft Kairo und der Westen. Als ich kürzlich in Kairo war, besuchte ich eine renommierte Gemeinde. Die Anbetung war kraftvoll, die Predigt sehr klar, und die Tatsache, dass sie von einer Frau gehalten wurde, sprach in einer moslemischen Stadt Bände über die befreiende Kraft des Evangeliums. Dennoch machten mich zwei Dinge traurig. Zum einen die mit Christusbildern bemalten Fenster. Nun habe ich persönlich weder etwas gegen bemalte Fenster noch grundsätzlich etwas gegen eine Darstellung von Christus. Seit Gott Christus in menschlicher Gestalt gesandt hat und gesehen und berührt werden konnte, habe ich nie daran gedacht, dass eine Darstellung von Christus unter das alttestamentliche Bilderverbot fallen könnte. Aber Moslems nehmen dieses Gebot so ernst, dass ihre ganze Kunst sehr abstrakt und geometrisch ist. Man wird keine Darstellung von Menschen in ihren Moscheen finden, geschweige denn von Gott. Mir scheint, dass es die Christen sehr viel weniger kosten würde, auf diese Fenster zu verzichten, als es einen Moslem, der diese Kirche besucht, kostet, sie zu ertragen. Für ihn wäre es ein ständiger, kaum zu überwindender Stein des Anstoßes. Nichts ist unnötiger als eine solche Barriere. Ein weiteres Problem hatte ich mit der Einrichtung. Sie war schön. Die Bänke waren großartig, geschnitzt aus einem Holz von bester Qualität. Sie hätten hervorragend in eine herkömmliche amerikanische Gemeinde gepasst – und das war gerade das Problem! In Moscheen sind die Böden mit Teppichen bedeckt, dort gibt es keine Bänke. Bänke in dieser Umgebung wirken fremd, ausländisch, westlich. Für Moslems aber ist die westliche Welt eine Brutstätte der Unmoral und sie sehen die westliche Welt als christlich an. Darum hegen sie leicht den Verdacht, dass das Christentum moralisch verkommen ist. Wenn Christen den Baustil 17


Teil 1

Den Abgrund überbrücken

und die Einrichtung aus dem Westen importieren, wird daher ein unnötiges Hindernis aufgebaut. Nicht die Hürde des Evangeliums selbst, sondern das unnötige Hindernis der Verwestlichung. Wie oft müssen wir immer noch klarstellen, dass man kein traditioneller westlicher Kirchgänger werden muss, um Christ zu sein. Es ist wahrscheinlich sogar viel besser, wenn wir gerade das nicht werden! Aber Stil und Darstellung von Gebäuden sind nicht nur in anderen Teilen der Welt ein Thema. Sie sind gerade im Westen von grundlegender Bedeutung. Als vor einigen Jahren die anglikanische Kathedrale in Liverpool eröffnet wurde, bemerkte eine Zeitung: »Gott liebt Gotik«. Der Journalist schien zu meinen, dass ein Gebäude, das im Baustil auf das Mittelalter zurückgreift, genau zur Religion passt. Es vermittelte irgendwie den Eindruck, weit weg zu sein von der alltäglichen Welt, altmodisch, nostalgisch und lebensfern. Für viele Menschen manifestiert sich darin ein Gott, den man getrost ignorieren kann. Ein Gott für religiöse Leute – altmodisch, nostalgisch und ohne jede Berührung mit der realen Welt von heute. Pseudogotik und das moderne Paris. Die Franzosen sind entschlossen, Paris zu einer Stadt zu machen, deren Zukunft noch herrlicher ist als ihre Vergangenheit. Für die Regierung, für die Institute der Künstler und der Ausbildung sowie für die großen internationalen Gesellschaften schießen immer neue Gebäude wie Pilze aus dem Boden. Manche dieser Gebäude haben erregte Debatten ausgelöst. Über einige wird man spotten, bis sie abgebrochen werden; andere aber sind spektakuläre Erfolge und wurden ins Programm der Stadtbesichtigung aufgenommen. Weil Paris eine ehrgeizige und vertrauensvoll in die Zukunft blickende Stadt ist, sprüht ihre Ausstattung und Beleuchtung nur so vor Leben, ist abenteuerlich und kühn. Nichts von nachgemachter Gotik. Ich meine, die Vitalität des lebendigen Gottes läßt sich mit Sicherheit eher in den abenteuerlichen Architekturen des modernen Paris ausdrücken als in unseren müden, sicheren und irgendwie auch langweiligen Gebäuden. Einkaufen heute. Die Bedeutung des Baustils kann man aber vor allem an der Revolution in den Geschäften ablesen, denn Einkaufen ist zu einer führenden Freizeitbeschäftigung in der westli18

Die Kirche am Ende?

1. Kap.

chen Welt geworden. Immer neue Einkaufszentren entstehen und locken die Konsumenten aus den Innenstädten und den veralteten Warenhäusern heraus in eine neue Art der Einkaufs- und Freizeiterfahrung. Alles ist hier unter einem Dach zu haben. Die Auswahl ist enorm, die Bequemlichkeit beträchtlich, das Angebot an Speisen zwischen den Einkäufen immer exotischer. Für Descartes war noch klar: Wenn ich denke, dann bin ich. Sartre setzte dagegen: Wenn ich handle, dann bin ich; aber unsere moderne Konsumgesellschaft wird von einer trivialeren Beschäftigung bestimmt. In der heutigen Welt weiß jemand, dass er ist, wenn er Shopping geht. Käufer erwarten von einem Geschäft nicht nur, dass die richtigen Waren mit den richtigen Preisen versehen werden. Auch das Drumherum muss stimmen. Berühmte alte Warenhäuser auf beiden Seiten des Atlantik haben nicht verstanden, dass man nicht nur die richtigen Produkte anzubieten hat, sondern auch die richtige Umgebung. Die Folge davon war, dass sie aus dem Geschäft ausgeschieden oder unter ein neues Management gekommen sind, das die Welt von heute versteht. Die modernen Einkaufszentren und Läden erkennen, dass Präsentation die halbe Miete ist, weil es beim Einkaufen nicht mehr einfach nur um Produkte geht, sondern um einen Lebensstil. Ein paar Geschäfte überleben immer noch mit der alten Philosophie »Hoch stapeln und billig verkaufen«. Aber die meisten Geschäfte sind bis ins letzte Detail gestaltet. Es sind nicht nur die Karton- und Plastikbehälter, die verpacken; der Laden selbst ist zu einer Verpackung geworden für die Waren, die er verkauft. Einkaufszentren wird man lieben oder verabscheuen. Viele Leute finden den hohen Standard der Präsentation faszinierend und anziehend. Andere beklagen die Tatsache, dass diese Orte einfach keinen Charakter haben, keine besondere Tiefe oder Stil, auch wenn der erste Eindruck glänzend erscheint. Sie meinen: Hat man ein Einkaufszentrum gesehen, kennt man sie alle. Ob man nun jeden freien Samstag in diesen Zentren verbringt oder sich widerstrebend einmal im Jahr zu Weihnachtseinkäufen dorthin aufmacht, eins ist klar: Die Leute werden beim Einkaufen visuell immer sensibler. Wir fällen unser Urteil über die Qualität eines Produkts zunehmend vom ersten Eindruck her, den das Geschäft auf uns gemacht hat. Das Gleiche trifft auf Büros und Banken zu. Immer mehr Geld wird für die Präsentation ausgege19


Teil 1

Den Abgrund überbrücken

ben, die eine sichtbare Botschaft über die Qualität der Organisation und ihrer Produkte oder Dienstleistungen vermittelt. Nun denke man einmal an ein typisches Kirchengebäude. Die meisten machen rein optisch einen reichlich antiquierten Eindruck. Abgelaufenes Linoleum wird teilweise von einem billigen und ramponierten Teppich verdeckt, dessen ehemals kräftige Farben schon längst verblaßt sind. Müde Poster, die für Ereignisse werben, die schon vor mehreren Wochen stattgefunden haben, hängen wellig an schlecht gestrichenen Wänden. Irgendjemand muss den Gemeinden eine Menge gallegrüner Glanzfarbe untergejubelt haben, denn eben diese immer gleiche jämmerliche und langweilige Farbe scheint Kirchentüren und Fenster in jeder Stadt zu zieren. Gemeindeleitungen scheinen billige Lampen zu bevorzugen. Defekte Birnen und das grelle Licht nackter Leuchtstoffröhren gehören zum Inventar vieler Gemeinden, während Geschäfte, Büros und Wohnungen zunehmend unaufdringliche Beleuchtungseffekte einsetzen. Und dann die Einrichtung. Es gab einmal eine Zeit, in der die meisten Leute auf blankem Holz saßen. Dieses kann wunderbar aussehen und hält über Generationen. Dennoch ziehen die meisten heute zu Hause und im Büro etwas Bequemeres vor. Ich bin mir sicher, dass das Sitzen auf einer langen Kirchenbank ganz natürlich war, als man auch zu Hause auf Holzstühlen und -bänken gesessen hat. Aber die Welt hat sich geändert. Die Holzbank gehört heute nicht mehr zur idealen Wohnungseinrichtung. Sie ist fremd und unbequem, und Außenstehende fühlen sich sicher nicht auf ihr wie »zu Hause« – und das ist mehr oder weniger ihre allgemeine Reaktion auf die Kirche und auf Gott. Wir leben in einer Zeit, in der viele Konsumenten ein Produkt in erster Linie nach seiner Verpackung und ein Einzelhandelsgeschäft nach dessen Schaufenster und seinem Eingang bewerten. Die mit den heutigen Einkaufsgewohnheiten erzeugten Erfahrungen formen in den Menschen eine neue Art visueller Ansprechbarkeit. Auch steigt damit ständig der Anspruch auf immer mehr Qualität und Rafinesse. In einer solchen Welt, in der man vom Aussehen eines Gebäudes auf die Qualität der Produkte oder Dienstleistungen schließt, stehen wir vor einem schwerwiegenden Problem. Heruntergekommene Gebäude lassen ein Produkt zweiter Wahl erwarten. Ein negativer Eindruck von unserem »Produkt« wird bereits bei jemandem geweckt, bevor er überhaupt einem 20

Die Kirche am Ende?

1. Kap.

einzigen Gläubigen begegnet ist und bevor er Gelegenheit hatte, die eigentliche Botschaft zu hören. Unser dürftiges Image lässt auf einen Gott schließen, der in einen Ramschladen passt.

Fernsehen Sogar noch mehr als das Einkaufen ist das Fernsehen zu einer dominierenden Macht geworden, welche die moderne Welt maßgeblich prägt. Wir können die zeitgenössische Kultur auch nicht ansatzweise verstehen, wenn wir uns nicht den Einfluss dieses stärksten aller Medien bewusst machen. Fernsehen verschlingt in fast jedem Haushalt Zeit. Fernsehmahlzeiten haben das gemeinsame Abendessen der Familie ersetzt. Ob wir das lieben, was wir sehen oder nicht – die meisten von uns können kaum anders, als einzuschalten und dabeizubleiben. Einige reagieren auf die Dominanz des Fernsehens mit dem Verkauf ihres Geräts und entziehen sich so seinem Einfluss. Auch wenn das als eine Form geglückter Selbstbefreiung funktionieren kann, ist es doch keineswegs der Weg, den unsere Gesellschaft einschlägt. Interaktive Unterhaltungs- und Informationssysteme sind der Weg der Zukunft. Der Kasten in der Ecke stellt nicht nur ein riesiges Angebot an Sendern über Satelliten und Kabel zur Verfügung. Er wird bald auch eine Computerverbindung haben, die für Unterhaltung auf CDBasis sorgt. Das von den heutigen Computerspielen vertraute Abschießen von Außerirdischen wird in Zukunft in Spielfilme eingebettet sein, deren Handlungsverlauf und Ausgang vom Zuschauer selbst durch sein Eingreifen bestimmt wird. Ferner: Viele Banken und Geschäfte bieten bereits seit einigen Jahren ihre Dienstleistungen via Bildschirm an, sodass derartige Transaktionen bequem von zu Hause aus getätigt werden können. Man täusche sich nicht, der Einfluss des Fernsehens wird weiter wachsen. Um zu verstehen, wie das Fernsehen unseren Blick für die Welt verändert, ist es aufschlussreich, einmal einen Dokumentarfilm oder ein Fernsehspiel von heute mit einem aus den sechziger Jahren zu vergleichen. Damals neigten Dokumentarfilme viel stärker zu einem linearen Verlauf. Sie präsentierten ihren Gegenstand so ähnlich wie ein Buch. Heute wird das Thema mehr schlaglichtartig entwickelt, sodass der Betrachter nicht mehr durchgängig folgen können muss. Früher stellten Dokumentar21


Teil 1

Den Abgrund überbrücken

filme oft eine abstrakte These auf, die sie visuell belegten. Heute wird das Allgemeine durch das Besondere erzählt. Das Fernsehen präsentiert gegenwärtig fast immer eine Geschichte, in der ein Problem oder ein Thema anhand der meist misslichen Lage einer bestimmten Person »aus erster Hand« erfahrbar gemacht wird. Früher haben Regisseure alle Phasen einer Handlung nacherzählt, etwa wenn jemand auf Reisen geht, indem er das Haus verlässt, ins Auto steigt, zum Bahnhof fährt und so weiter. Heute können Drehbuchautoren sich darauf verlassen, dass der Zuschauer mit der Bildsprache souveräner umgeht. So sind schnellere Szenenwechsel möglich, weil der fernseherfahrene Zuschauer die Lücken in der Erzählung selber schließt. Das ist heute bei allen gängigen Programmen die normale Vorgehensweise. Die Erzählfäden der Geschichten von heute sind vielschichtig und unterbrochen. Sie weben ein sich schnell bewegendes Muster aus vielen verschiedenen Versatzstücken. Das Einsetzen ausgeklügelter Mittel im heutigen Fernsehen bedeutet nicht, dass die Programme intelligenter oder weniger intelligent werden. Sie erzeugen zunächst nur ein schnelleres Tempo. Sie führen auch zu einer geringeren Toleranz gegenüber abstrakten Behauptungen und zu kürzeren Konzentrationsphasen. Die Hauptnachrichten werden in angenehme Portionen aufgeteilt, als wären sie um die Werbepausen herum aufgebaut. Mehr noch, das Fernsehen ist fast überall allergisch gegenüber dem »redenden Kopf«. Wenige Gesichter werden länger als dreißig Sekunden ohne irgendeinen wechselnden visuellen Anreiz gezeigt, sei es im Hintergrund oder durch einen eingeblendeten Film, zu dem sie weiter sprechen. Die meisten Fernsehprogramme haben auch eine Aversion gegen die Darstellung nur eines Gesichtspunktes. Zu fast jedem Thema, ob leicht oder anspruchsvoll, werden gewöhnlich zwei Experten oder Streithähne in Szene gesetzt, die darüber diskutieren. Keiner hat Zeit, einen Gedanken zu entwickeln. Es gibt auch keinen Raum für Kompromisse. Es ist eine Art geistiger Gladiatorenkampf, in dem knackige und griffige Aphorismen die Schwerthiebe sind, die schon vorher oft geübt wurden in der Hoffnung, sie einmal einsetzen zu können. Das erweckt den Eindruck von Unparteilichkeit, als ob die Fernsehanstalten sich voll dessen bewusst wären, was es bedeutet, in einer pluralistischen Welt zu leben, auf deren Markt die Meinungen enorm unterschiedlich sind. Das führt aber auch dazu, dass ernsthafte Diskussionen zu 22

Die Kirche am Ende?

1. Kap.

einer Unterhaltungsveranstaltung verkommen, in der der eigentliche Gewinner fast immer der Produzent ist. Das Fernsehen verbraucht eine Unmenge an Themen im Interesse hoher Einschaltquoten. Überzeugende Argumente werden durch Auftreten, Persönlichkeit und rhetorischen Glanz ersetzt. Einige der großen Parlamentsredner des vorigen Jahrhunderts würden heute überhaupt nicht mehr übertragen: zu langatmig, zu hässlich und was im Blick auf politischen Erfolg im Zeitalter des Fernsehens am schlimmsten ist: einige von ihnen hatten Bärte! Dreht euch um, Lincoln und Disraeli, es ist kein Platz mehr für den großen alten Stil im Unterhaltungszeitalter! Wir können einige Schlüsselaspekte der Fernsehkultur folgendermaßen zusammenfassen: Ein höheres Tempo, oft verbunden mit plötzlichen Themenund Stimmungswechseln. Zunehmendes Erzählen von Geschichten statt abstrakter Gedanken. Schwindende Linearität, dafür aber eine zunehmende Tendenz, die Bindeglieder zwischen Schlüsselszenen unsichtbar zu lassen. Zunehmende Formlosigkeit – man denke nur an die Steifheit im Fernsehen der fünfziger Jahre. Man beachte auch, dass die heutigen Gäste in mittleren Jahren bei Quizsendungen oft Pullover und Hemden mit offenem Kragen statt des früher üblichen Jacketts mit Krawatte tragen. Zunehmende Zuschauerbeteiligung. Die alte Form des Vortragssaals implizierte ein passives Publikum, das die Aufgabe hatte, still zu sitzen und die Weisheit der Experten aufzusaugen. Dies ist ein auslaufendes Modell. Heute erwartet jeder mit Recht, seine Meinung äußern zu dürfen bzw. zu können. Zunehmender Einfluss visueller Reize. Einige der aufwendigsten Produktionen im modernen Fernsehen lassen sich bei Werbespots beobachten; hervorragend gefilmt, genial gemacht, oft mit intelligentem Humor gewürzt. Was das Auge begeistert, überzeugt gewöhnlich mehr als alles Marktschreierische. 23


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.