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In der Arabischen Wüste (1898)

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rbarmungslos brannte die Sonne auf den einsamen Reiter nieder, den seine Suche bis zu diesem verlassenen Berghang geführt hatte. Obwohl man seit Jahrhunderten anderer Meinung war, glaubte er, den historischen Ort erreicht zu haben. Er hielt kurz an, maß mit seinen Augen die Entfernung zum Gipfel, den er erklimmen musste, und hob schützend einen Arm vors Gesicht. Die Sonne blendete ihn so, dass er kaum etwas erkennen konnte. Doch ohne zu zögern eilte er weiter. Es würde schnell Abend werden und er hatte keine Zeit zu verlieren. Vielleicht waren seine Verfolger näher, als er dachte. Der Weg wurde steiler und er war jetzt gezwungen, sein Kamel zurückzulassen. Er band das Tier an einem Felsen fest und warf sich den Rucksack über die Schulter. Neben Landkarten, Skizzen und verschiedenen Kleinigkeiten hatte er auch eine Bibel in einem abgegriffenen schwarzen Ledereinband bei sich, dazu ein kleines, fast neues Notizbuch, in dem er sich erst seit ein paar Tagen Aufzeichnungen machte. Heute würde er das letzte Puzzleteil zu dem großen Gesamtbild fügen, an dem er sein Leben lang gearbeitet hatte. Er nahm einen kleinen Schluck aus seiner Wasserflasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich hatte er eines seiner beiden großen Notizbücher mitnehmen wollen, ohne die er normalerweise nie auf eine Forschungsreise ging. Es waren zwei identische Bücher, in denen er seit 20 Jahren die gesamten Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit sowie seine persönlichen Gedanken und Erlebnisse aufzeichnete. Aber unmittelbar vor seiner Abreise hatte er plötzlich den Eindruck, dass es falsch wäre, diese Bücher bei sich zu tragen. So stand nun das eine Buch in seinem Bücherschrank in Peterborough, während das andere im Hotelschließfach in Kairo lag. Sobald er zurück war, würde er alles aus seinem kleinen Notizbuch in die großen Bücher übertragen.


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Obwohl ihm seine Füße wehtaten, ging er eilig weiter. Er musste dem steilen Bergpfad folgen, der ihn auf den Gipfel des Dschebel al Lawz bringen würde. Bald würde er der Welt beweisen, dass die moderne Wissenschaft sich irrte! Wenn er seine Entdeckung präsentieren würde, könnte niemand mehr die Glaubwürdigkeit des Alten Testamentes leugnen! Damit würde alles in sich zusammenfallen, was die Wissenschaft in den letzten 30 Jahren geleistet hatte, um den christlichen Glauben zu diskreditieren. Er hatte jahrelang darauf hingearbeitet. Der christliche Glaube stand nicht erst seit der Veröffentlichung von Darwins »Die Entstehung der Arten« vor 39 Jahren unter Beschuss. Schon während des ganzen Jahrhunderts hatten viele namhafte Männer und Frauen dazu beigetragen, den Samen des Atheismus auszustreuen. Doch neuerdings verkündigten alle intellektuellen und akademischen Kreise laut und mit Eifer, die Entstehung des Lebens sei das Resultat von Zufällen, der Mensch habe sich aus niederen Arten weiterentwickelt und der biblische Schöpfungsbericht sei damit unhaltbar geworden. Sein Ziel war, mit einem einzigen genialen archäologischen Fund alle Skeptiker, Atheisten, Philosophen und Wissenschaftler für immer zum Schweigen zu bringen. Er würde nachweisen, dass der Mensch kein höher entwickelter Affe, sondern ein kreatives Wunder Gottes war. Es war ein anstrengender Aufstieg, trotzdem hastete er eilig bergan. Der Schweiß rann ihm über den Rücken. Er hatte inzwischen den Pfad verlassen, eilte aber so sicher bergauf, als wäre er schon oft dort gewesen. Tatsächlich hatte er den Berg bisher nur auf Karten studiert, doch das hatte er so gründlich getan, dass er jetzt ganz sicher gehen konnte. Als er wieder innehielt, stöhnte er vor Schmerz bei dem Versuch, die Last seines Rucksacks zu verschieben. Die schmalen Riemen schnitten ihm ins Fleisch und scheuerten die schweißnasse Haut wund. Ein Felsblock bot Schatten und lud zum Verweilen ein. Er warf den Rucksack auf die Erde und kauerte sich gegen den Stein. Sein Atem ging heftig; Schweiß brach aus allen Poren hervor. Seit zehn Stunden war er nun schon unterwegs und er spürte, wie seine Kräfte allmählich nachließen. Vorsichtig genehmigte er sich einen kleinen Schluck Wasser. Es war unglaublich heiß und er war erschöpft. Seit


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einem Jahr war er ununterbrochen auf Reisen; zuletzt hatte er 300 Kilometer durch die Wüste zurückgelegt, bevor er sich an die Besteigung dieses Berges gemacht hatte. Er war noch jung, sah aber durch sein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht älter aus. Er suchte den Fuß des Berges mit seinem Fernglas ab, konnte jedoch niemanden entdecken. Trotzdem spürte er, dass seine Verfolger nicht weit entfernt waren. Lange hatte er nicht verstanden, warum ihm diese Leute nachstellten. Erst jetzt, während er sich dem Ziel näherte und das bedrohliche Netz der Finsternis sich enger um ihn legte, begann er zu ahnen, wer seine Feinde waren. Diese Gedanken trieben ihn wieder auf die Beine und weiter voran. Seit einem Jahr hatte er alle Einzelheiten dieses Berges studiert; nun war er endlich vor Ort. Sein Körper litt unter der ungewohnten Hitze und der Anstrengung, aber sein Herz jubelte. Er war kein moderner Mose, kein Prophet, nur ein Archäologe. Aber er war überzeugt, dass Gott ihm etwas zeigen würde, das für seine Generation von großer Bedeutung war. Ob Mose diesen Berg bestiegen hatte, um in die Gegenwart des lebendigen Gottes zu treten? Was für ein atemberaubender Gedanke! Hatte sich Mose vielleicht in einer dieser Höhlen verborgen, während der Allmächtige zu ihm sprach? War es vielleicht hier gewesen, wo Gott an Mose vorüberzog und ihn seine Herrlichkeit sehen ließ? Hatte der Israelit hier die steinernen Tafeln mit den Zehn Geboten empfangen? Und vielleicht war dies der Ort, an dem lange vor Mose, Tausende von Jahren früher … Er wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Noch nicht. Das, was er hier vermutete, war zu gewaltig. Seit Jahren träumte er davon, die Dinge, die er nun entdecken würde, in die Welt hinauszuschreien. Nun war er den Fakten so nahe gekommen. Wenn dies wirklich der Ort war, für den er ihn hielt, dann … Er drehte sich um und sah ins Tal hinab. Etwas war nicht in Ordnung. Da entdeckte er es: Eine Staubwolke kam über die Ebene auf den Berg zu. Plötzliche Angst schnürte ihm die Kehle zu. Das Fernglas bestätigte seine Befürchtungen. Wie hatten sie es geschafft, ihm bis hierher zu folgen? War er sich nicht ganz sicher gewesen, dass er sie in Kairo abgeschüttelt hatte? Sie besaßen Pferde. Damit würden sie ihn bald ein-


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geholt haben. Er eilte, so schnell er konnte, den Berg hinauf, das Fernglas griffbereit in seiner Linken. Er musste den Gipfel erreichen, sich verstecken und Gott würde ihn beschützen. Dies war doch heiliger Boden. Gott würde den Feinden der Wahrheit nicht gestatten, ihre Offenbarung zu verhindern. Das Laufen fiel ihm nun immer schwerer. Er stolperte über etwas, das aus der Erde ragte, verlor das Gleichgewicht, seine Brille flog zu Boden und er fiel auf seine Hand. Blut tropfte auf seine Hose. Als er sich eilig wieder aufrichtete, blieb ein Blutfleck auf der Wurzel zurück, über die er gestolpert war. Er sah das Blut nicht und ahnte noch weniger, worüber er gefallen war, sondern griff hastig nach seiner Brille, von der ein Glas zerbrochen war, und lief weiter, so schnell er konnte.

Zwei Kilometer hinter ihm hatten die Reiter sein Kamel erreicht, das mahlend die Kiefern bewegte, ohne etwas zum Fressen zu haben. Ob an diesem trockenen Platz jemals etwas gewachsen war? Die Reiter waren ebenso außer Atem wie ihre Tiere. Sie hatten den Weg von Akaba in einer Rekordzeit zurückgelegt. Innerhalb von Sekunden hatten sie mit ihren starken Ferngläsern ihre Beute ausgemacht. Der Anführer hatte in die betreffende Richtung gedeutet; seine beiden Begleiter hatten genickt und dann ihren Pferden die Sporen gegeben. Sie waren so weit wie möglich den Berg mit den Pferden hinauf geritten. Nun, 20 Minuten später, mussten sie doch absteigen und ihre Verfolgung zu Fuß fortsetzen. Sie waren kräftig und trugen kein Gepäck. Lebensmittel und Wasser ließen sie in den Satteltaschen zurück. Nach getaner Arbeit würden sie in Ruhe ihre Mahlzeit einnehmen, bevor sie sich wieder auf den Rückweg machten. Jeder der Männer trug neben dem Fernglas auch noch ein Gewehr bei sich. Sie waren ihrem Opfer schon sehr nahe gekommen. Der Verfolgte keuchte heftig. Bald würde er zusammenbrechen. Immer wieder sah er sich wie ein gejagtes Tier um. Die Feinde kamen unvorstellbar schnell näher. Wie hatten sie ihn hier finden können? Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Was er jetzt brauchte, war ein Versteck. Wenn er sich selbst nicht mehr retten konnte, so musste er doch zumindest die Notizen der vergangenen Tage in Sicherheit brin-


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gen. Sie waren ihm wichtiger als sein Leben. Sollte er seine Erkenntnisse nicht mehr selbst an die Öffentlichkeit bringen können, würde Gott einen anderen dafür berufen. Das Notizbuch durfte nur nicht in die Hände der Feinde fallen. Er brauchte ein Versteck … Ein Schuss zerriss die Luft; einen halben Meter von ihm entfernt splitterte der Felsen. Sofort warf er sich flach auf den Boden. Doch das Echo des Schusses verhallte, ohne dass ein weiterer folgte. Stille breitete sich aus. Er erhob sich leise stöhnend und hastete weiter, noch schneller als bisher. Er war in höchster Gefahr und hatte keine Möglichkeit, sich zu schützen. An eine Waffe hatte er nicht gedacht, als er seinen Rucksack gepackt hatte. Er bog um eine Ecke, dankbar, dass er für kurze Zeit in Deckung war. Wieder explodierte ein Schuss, dieses Mal aus noch größerer Nähe. Er hörte die Männer fluchen, als sie ihn wieder verfehlten. Endlich sah er eine kleine Höhle, deren Eingang von einem Felsen halb verdeckt wurde. Er rannte darauf zu und kroch hinein, so schnell er konnte. Innen herrschte totale Finsternis, aber er erkannte rasch, dass diese Höhle für ihn selbst zu niedrig und zu kurz war. Hier würden ihn die Männer sofort entdecken. Eilig nahm er den Rucksack ab. Wenigstens sein Gepäck würde hier sicher sein. Er kroch hinein, so tief er konnte, und schob sein kostbares Geheimnis in die hinterste Ecke der finsteren Höhle. Währenddessen betete er halblaut. Er hoffte, dass Gott die Person hierher bringen würde, die seine Aufgabe zu Ende führen konnte. Ohne seinen Rucksack fiel ihm der Aufstieg leichter. Er rannte jetzt. Aber es war sinnlos; die drei Männer kamen immer näher. Er war erst 40 oder 50 Meter weit gekommen, als ihn eine Kugel traf. Er schrie vor Schmerzen und fiel zu Boden. Seine linke Wade blutete. Trotzdem rappelte er sich wieder auf und schleppte sich mühsam bergan, das verletzte Bein hinter sich herziehend. Eine Blutspur markierte seinen Weg. Er wusste, dass er diese Stunde nicht überleben würde. War dies der Berg, auf dem Gottes Gegenwart einst gewohnt hatte? Er spürte nichts davon. Und doch erfüllte ihn eine tiefe Befriedigung. Er hatte sein Leben für die Suche nach der Wahrheit gegeben und bereute es nicht. Auch wenn er nun nicht mehr die Möglichkeit hatte, alles ans Licht zu bringen, so würde diese Zeit doch ohne Zweifel kommen. Ein anderer würde seinen Weg fortsetzen. Trotzdem kämpfte er sich weiter nach oben. Er wollte sich so weit wie möglich von der Höhle entfernen, damit die Feinde nicht –


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Ein erneuter Schuss krachte aus ohrenbetäubender Nähe. Der Mann fiel vornüber; Blut rann aus einer Wunde in seinem Rücken. Er hatte nur noch wenige Sekunden zu leben. »Gott … Herr, Gott«, flüsterte er kaum hörbar, während eilige Stiefeltritte schnell näher kamen, »bewahre … bewahre das Geheimnis dieses Berges … vor … ihnen, bis … deine Zeit gekommen ist, oh mein Gott …!« Die Männer blieben stehen. Einer von ihnen trat dem blutenden Mann in die Seite; er gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Mit einem Fußtritt drehten sie den Körper auf den Rücken. Das Blut trocknete rasch auf dem heißen Gestein. »Er ist tot«, sagte der Erste. »Was machen wir mit ihm?«, fragte ein anderer. »Soll er doch hier verrotten! Wir sollten ihn zum Schweigen bringen, mehr haben sie nicht gesagt. Wir haben unseren Auftrag erfüllt.« Während er sprach, gab er dem Toten noch einmal einen Tritt. Die Leiche rollte ein kleines Stück den Abhang hinunter und blieb auf einem Felsvorsprung liegen. »Hier leben nur Geier, sonst nichts. Und das hier ist jetzt ihre Sache …« Der Mörder und seine beiden Komplizen wandten sich um und machten sich an den Abstieg. Eine Viertelstunde später stolperten sie über eine mächtige Wurzel, auf der ein Blutfleck zu sehen war. Sie ahnten nicht, dass es sich dabei um das Beweisstück handelte, das ihr Opfer gesucht hatte.


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