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Kapitel 8

Der Rettungsversuch

A

ndré war zwar nicht besonders groß und schwer, doch er stand kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und konnte Lionel und Judd nicht helfen, während diese ihn die drei Treppenfluchten hinunterschaffen. Judd hatte den Eindruck, dass André zu sprechen versuchte, doch er brachte nur ein Gurgeln heraus. Judd hielt seine Augen möglichst geschlossen, um sie vor der Hitze und dem Rauch zu schützen. Er blinzelte, wenn er spürte, dass Lionel sich drehte, und einmal sah er, wie ein brennendes Holzstück auf Lionels Schulter fiel und Lionel zusammenzuckte. Es blieb auf ihm liegen, und Lionel musste eines von Andrés Beinen loslassen, um es abzuschütteln. Dadurch verlor auch Judd den Halt. Andrés Gewicht zog ihn hinunter, und er merkte, dass er ins Taumeln geriet. Während die Jungen sich bemühten, André wieder fester zu ergreifen, ertönte über ihnen ein lautes Krachen. Der Boden des oberen Stockwerks stürzte ein. Würde es den zweiten Stock mitreißen und sie unter den brennenden Trümmern begraben? Sie hatten keine Zeit, lange zu überlegen. Judds Haut brannte und seine Lungen schrien nach Sauerstoff. Er bohrte seine Hände tiefer unter Andrés Achseln und bewegte sich noch schneller. So gut es ging, versuchte er, den viel schmächtigeren Lionel zu entlasten. André fing an, die Arme zu schwenken und zu schreien, und Judd fragte sich, ob er ihm wohl einen Kinnhaken würde versetzen müssen, um ihn vor sich selbst 88

zu beschützen, wie er es in Filmen schon mal gesehen hatte. Aber sie hatten keine Zeit, und er wusste nicht, ob er stark genug war, einen erwachsenen Mann k. o. zu schlagen. Nun waren die Jungen vom Feuer eingeschlossen. Judd hörte, wie die Mauern und Decken hinter ihnen einstürzten. Die ganze Treppe erbebte unter ihrem Gewicht, und während die letzten der anderen Mieter durch die Tür nach draußen drängten, kamen drei Feuerwehrmänner mit Äxten in der Hand herein. Sie blickten sich suchend um. Offensichtlich hatten sie Judd, Lionel und André noch nicht entdeckt. Sie betrachteten das Inferno um sich herum, sahen sich an, schüttelten den Kopf und wollten wieder nach draußen gehen. »Hey!«, brüllte Judd verzweifelt. »Helfen Sie uns!« Die drei wirbelten herum, warfen ihre Äxte durch die Glastüren nach außen und eilten die Treppe hoch. »Ihr Jungen verschwindet jetzt!«, sagte einer der Feuerwehrmänner. »Wir haben ihn!« Judd legte André ab, doch Lionel weigerte sich, ihn loszulassen. Judd behielt die Eingangstür im Blick. Er fürchtete, er würde auf der Stelle ohnmächtig werden, wenn er keine frische Luft bekam. Als er an Lionel vorbeiging, packte er ihn am Arm. Er war erstaunt, wie stark der Junge war. Zuerst schaffte es Judd kaum, ihn von der Stelle zu zerren, doch da er schon weiter unten war, riss er Lionel einfach von seinem Onkel los. Gerade als der Feuerwehrmann André hochnahm und sich über die Schulter legte, gab die Treppe unter ihnen nach. Die Feuerwehrmänner und die Jungen stürzten einen Meter in die Tiefe. André rutschte dem Mann von der Schulter und schlug hart auf dem Boden auf. »Raus hier! Raus hier!«, schrie einer der Männer. »Alle!« Der Feuerwehrmann legte sich André wieder über die Schulter und trieb die Jungen mit seinen Knien und 89


Schultern vor sich her zur Tür. Sie stiegen durch das hindurch, was von der Glastür noch übrig geblieben war, und taumelten hinaus in die Nachtluft. Judd atmete tief den rettenden Sauerstoff ein. Der Feuerwehrmann legte André etwa zehn Meter von dem Inferno entfernt auf dem Boden ab. Über sein Funkgerät forderte er einen Sanitäter an. Schnell drehte er sich um, und als er seine Mitarbeiter nicht entdeckte, rannte er zurück zum Haus. Noch im Laufen schnappte er sich seine Axt. Judd beobachtete, wie er nach Hilfe rief, um die beiden im Haus gefangenen Feuerwehrmänner zu befreien. Einige Kollegen hatten sich unterdessen Sauerstoffmasken aufgesetzt und drangen ins Gebäude ein. Als Judd sich umdrehte, sah er Lionel, der sich beinahe über seinen Onkel geworfen hatte. André schien dem Tode nahe zu sein. Noch immer sickerte Blut aus der rechten Seite seines Halses und sein Herzschlag hatte sich verlangsamt und war schwächer geworden. »Nein! Nein!«, schrie Lionel. »Gott, lass ihn nicht sterben! André!« Judd legte die Hand auf die tiefe Wunde in Andrés Hals. Der Verletzte versuchte zu sprechen. »So wird es in der Hölle sein«, krächzte er. »Ich habe es verdient, Lionel.« »Nein! Wir alle haben es verdient, André! Aber du musst nicht dorthin! Geh nicht!« »Es ist zu spät. Ich werde es nicht schaffen, mein Kleiner.« »André! Du kannst doch noch immer in den Himmel kommen! Bete! Bete!« »Es ist zu spät.« »Für die Verbrecher, die neben Jesus am Kreuz hingen, war es auch nicht zu spät! Bitte, André!« Judds Finger lagen auf der Schlagader, wo André, wie Judd annahm, von einer Kugel getroffen worden war, bevor LeRoy die Wohnung in Brand gesteckt hatte. 90

Er spürte genau, als Andrés Herz zu schlagen aufhörte. Dieser schlug noch um sich, schüttelte den Kopf. »Bekomme keine Luft«, flüsterte er. Und plötzlich wurde sein Körper schlaff. Lionel schluchzte, während er mit seinem T-Shirt Andrés Gesicht und seinen Mund abwischte. Er beugte sich vor und begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung, aber Judd wusste, dass der Herzschlag genauso wichtig war wie die Atmung. Judd begann, gleichmäßig Andrés Brust zu drücken, und mit jedem Druck schoss eine kleine Blutfontäne aus Andrés Hals. »Es hat keinen Zweck, Lionel«, sagte Judd. »Er ist tot.« »Nein! Gib nicht auf!« Zwei Sanitäter kamen und zerrten die Jungen von André fort. »Lasst mich mal zu ihm, Jungs«, forderte einer. »Ich kann mehr tun als ihr.« Er drückte André eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, während sein Partner am Hals nach dem Pulsschlag suchte. »Was ist mit ihm passiert?«, fragte er. »Ich glaube, er wurde erschossen«, erklärte Judd. »Halten Sie ihn am Leben!«, beharrte Lionel. »Zu spät, Junge. Es tut mir Leid.« »Versuchen Sie es!« »Junge, dieser Mann ist tot. Wir müssen uns jetzt um die Feuerwehrmänner kümmern. Es tut mir Leid.« Lionel war verzweifelt. Er wollte nicht von Andrés Seite weichen, auch nicht, als die Sanitäter mit einem Laken zurückkehrten und Lionel erklärten, der Leichnam würde bald abgeholt. Judd versuchte, Lionel zu überreden, doch mit ihm zu kommen, aber dieser rührte sich nicht. Er sprach nicht, betete nicht, tat gar nichts, außer an Andrés Seite zu knien und zu weinen. »Ich werde Vicki und Ryan erzählen, was passiert ist, und den Wagen holen«, sagte Judd. Lionel reagierte 91


nicht. »Ich komme, so schnell ich kann, wieder, aber vermutlich werde ich nicht in der Nähe parken können. Du brauchst erst zu kommen, wenn André abgeholt worden ist, in Ordnung?« Lionel zeigte keinerlei Reaktion. »Ich bin gleich wieder da.« Judd wollte zum Wagen laufen, doch als er sich erhob, konnte er kaum gehen. Er wusste nicht, warum ihm alles wehtat, seine Knöchel, seine Knie, seine Hüften, sogar seine Schultern. Er fühlte sich wie ein alter Mann, als er langsam an den Mietern, den Zuschauern und den Rettungswagen vorbeischlurfte. Die kühle Nachtluft tat seinen Lungen gut, aber sie brannte auf seinem Gesicht, das er kaum zu berühren wagte. Bestimmt hatte er überall Blasen und Verbrennungen, aber keinesfalls war er ernsthaft verletzt. Je weiter Judd sich von dem brennenden Gebäude entfernte, desto seltsamer erschien ihm diese Erfahrung. War alles nur ein Traum? War es tatsächlich passiert? Er konnte sich nichts vorstellen, das schlimmer war, als seine ganze Familie bei der Entrückung zu verlieren und allein zurückzubleiben, aber so etwas hatte er auch noch nie erlebt. Mit jedem Schritt wurde das Gebrüll des Feuers leiser, und obwohl er den Lichtschein der Flammen in der Dunkelheit sehr gut erkennen konnte, musste er sich abwenden und sich erneut der Realität stellen. Judd begann zu beten. Schluchzend dankte er Gott, dass LeRoy oder wer immer dafür verantwortlich war, nicht gekommen war, als Lionel sich noch in der Wohnung aufgehalten hatte. Bestimmt wäre auch er erschossen worden und anschließend verbrannt. Lionel hatte sich solche Mühe gegeben, seinen Onkel für Gott zu gewinnen. Judd konnte nur hoffen, dass Lionel akzeptierte, dass es sich hierbei um eine ganz persönliche Entscheidung handelte. Immerhin waren Lionel und er deswegen zurückgeblieben. Niemand konnte ihnen diese Entscheidung abnehmen. 92

Die Polizei hatte bereits einige Straßen abgesperrt. Aus allen Ecken schienen Gaffer herbeizuströmen, doch Judd war zu müde, um sich darüber aufzuregen. Er musste Vicki und Ryan unbedingt erzählen, was passiert war. Doch als er zu der Stelle kam, an der er den Wagen abgestellt hatte, war dieser verschwunden. Was sollte er jetzt machen? Weder Vicki noch Ryan besaßen einen Führerschein. Hatte jemand den Wagen gestohlen? Und wenn ja, wo steckten die beiden dann? War LeRoy vielleicht doch hier vorbeigekommen? Judd sah sich um und entdeckte einen Polizisten, der den Verkehr auf der Hauptstraße regelte. »Jemand hat meinen Wagen gestohlen!«, rief Judd. »Und meine beiden Freunde saßen darin!« »Dann haben sie ihn vermutlich gestohlen«, erwiderte der Polizist trocken. »Suche sie, dann findest du auch deinen Wagen.« »Sie sind viel zu jung und haben noch keinen Führerschein.« »Dann mach dich schnell auf die Suche. Ich habe hier zu tun.« »Aber ich habe keine Ahnung, wo ich nach ihnen suchen soll!« Der Polizist sah Judd nicht einmal an, sondern behielt den Verkehr im Blick. »Was für ein Wagen ist das?« »Ein BMW.« Der Polizist lachte. »Daddys Wagen, ja?« »Ja.« »Und was macht ein so netter Junge wie du mit einem solchen Wagen in einer Gegend wie dieser?« »Ich habe einen Freund begleitet.« »Noch ein reiches Kind, das hier nichts zu suchen hat?« »Nein!« »Ich kann dir nicht helfen, Junge. Ich fürchte, verlorene oder sogar gestohlene Wagen sind in einer Zeit wie 93


dieser von sekundärer Bedeutung. Wir haben noch nicht einmal genügend Leute, um dieses Feuer zu löschen.« »Wenn ich Ihnen sage, wer dieses Gebäude in Brand gesteckt und noch dazu einen Mann ermordet hat, werden Sie mir dann helfen, meinen Wagen zu finden?« Der Polizist drehte sich plötzlich zu Judd um. »Du meinst es ernst, nicht?« »Ich könnte es nicht ernster meinen«, antwortete er. »Warte hier«, forderte der Polizist ihn auf. Er eilte zum Straßenrand und zog eine blaue Straßensperre auf die Kreuzung, auf der stand: »Polizeisperre. Nicht weiterfahren«. Er ging zu seinem Streifenwagen und sprach in sein Funkgerät. Dann winkte er Judd zu sich heran. Sein Namensschild wies ihn als »Sergeant Thomas Fogarty« aus. »Das wird den Verkehr regeln, bis ich mir ein paar Informationen geholt habe«, erklärte er. »Und jetzt hör zu – puh, du riechst ja so, als wärst du in dem brennenden Haus gewesen.« »Das war ich auch«, erwiderte Judd, der es kaum erwarten konnte, seine Geschichte zu erzählen. Sergeant Fogarty packte Judd am Hemd und drückte ihn gegen einen Laternenpfahl. »Hör mir mal gut zu, mein Kleiner. Das hat nichts mit dir zu tun, aber ich war bei der Mordkommission, bis ich wieder zur Verkehrspolizei versetzt worden bin aus Gründen, die dich nichts angehen. Ich sage dir das nur, damit du weißt, dass ich etwas von Mord verstehe. Ich bin nicht auf der Suche nach einem neuen Fall, damit ich wieder zur Mordkommission versetzt werde, aber ich hätte auch nichts dagegen einzuwenden. Die Sache ist die: Falls du etwas über dieses Feuer weißt und tatsächlich ein Mord geschehen ist, werde ich merken, ob du lügst oder ob ein Körnchen Wahrheit an der Geschichte ist. Also, wie heißt du?« Judd nannte ihm seinen Namen und zeigte ihm seinen Führerschein. 94

»Wie lange fährst du schon Auto?« »Noch nicht so lange«, erwiderte Judd. Fogarty führte Judd zum Streifenwagen. Sie setzten sich hinein und Fogarty gab eine Suchmeldung nach Judds Wagen raus. Dann erzählte Judd ihm die ganze Geschichte. Er begann mit dem Verlust seiner Familie (»Ich habe auch ein paar Verwandte verloren«, erklärte Fogarty), und dann erzählte er, wie er und Lionel sich kennen gelernt hatten. Er berichtete dem Beamten auch von dem vorgetäuschten Selbstmord, der eigentlich ein Mord gewesen war, von dem Eindringen der Bande in Lionels Haus, Ryans Erlebnis mit LeRoy, Lionels Besuch bei André an diesem Abend und alles, was dann geschehen war. »Und du vermutest, dass dieser LeRoy geschossen hat, weil dein Freund, wie heißt er noch mal –?« »Ryan.« »Richtig, weil Ryan den braungelben Van erkannt hat.« »Genau.« »Dann wollen wir mal zum Tatort zurückkehren und uns um deinen Freund kümmern.« Als Sergeant Fogarty sich in den Verkehr einreihte, erhielt er eine Nachricht über sein Funkgerät. Ein Streifenwagen hatte gerade den BMW und die gesuchten Personen entdeckt. »Wer ist der Fahrer?«, fragte Fogarty. »Weibliche Person, Byrne, Victoria, minderjährig, keine Fahrerlaubnis. Der andere Insasse ist eine männliche Person, Daley, Ryan, zwölf Jahre alt.« »Zehn-vier. Wie lautet ihre Geschichte?« »Sie sagt, sie hätten auf zwei andere Freunde gewartet, den Fahrer, eine männliche Person, Thompson, Judd Jr., 16, und eine männliche Person, afroamerikanisch, Washington, Lionel, 13 Jahre alt. Das ist eine lange Geschichte, Sergeant. Sie dachte, sie wären hinter geschlossenen Türen und mit laufendem Motor in Sicher95


heit. Doch dann seien sie von einem Van beinahe gerammt worden, behauptet sie.« »Lassen Sie mich raten. Er war braungelb.« »Zehn-vier.« »Okay. Lassen Sie sie gehen, es sei denn, sie hat eine grobe Verkehrswidrigkeit begangen.« »Der Wagen stand, als ich ihn gefunden habe.« »Geben Sie mir Ihre Position, dann bringe ich den Fahrer innerhalb einer Stunde vorbei.« Andrés Leichnam wurde gerade in einen Wagen geschoben, als Sergeant Fogarty vorfuhr. Er bat einen Sanitäter, nach einer Verletzung der Schlagader zu suchen. »Ich habe bereits nachgesehen, Sir. Unserer Meinung nach war dies die Todesursache. Das muss natürlich noch vom Leichenbeschauer bestätigt werden, aber dieser Mann ist verblutet. Er hat übrigens keine Ausweispapiere bei sich.« »Dann will ich Ihnen mal sagen, wer er ist«, erklärte Fogarty. Er hatte die Information von Judd und Lionel bekommen, der betrübt auf dem Rücksitz des Streifenwagens saß. Der Sanitäter heftete ein Namensschild an den Leichnam. »Wir werden nach einer Nadel im Heuhaufen suchen müssen«, meinte Fogarty zu den beiden Jungen, als er sie zu Judds Wagen fuhr, »aber wir werden mit Metalldetektoren nach der Kugel suchen und vielleicht sogar eine Waffe in den Trümmern finden.« Judd seufzte. Sein ganzer Körper schmerzte, und er trauerte mit Lionel, der auf dem Rücksitz saß und leise vor sich hin weinte.

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