Kapitel 5
Der Kampf um Liebe „Das ist und war von Anfang an das Werk des Vaters – uns nach Hause an sein Herz zu ziehen. Das ist unsere Bestimmung.“ (George MacDonald)
Als Bob in meinem Büro saß, bemerkte ich sofort, dass er sehr aufgeregt war. Er hatte eigentlich gar nicht kommen wollen, erklärte er mir, aber er musste sich etwas von der Seele reden. Am vergangenen Sonntag hatte er einen Gottesdienst in unserer Gemeinde besucht, weil er gehört hatte, dass wir auch für kranke Menschen beteten. Bob litt an heftigen Kopfschmerzen. Nach der Predigt ging er nach vorne, um für sich beten zu lassen. Als er sich dem Altarraum näherte, sah er, dass einige Leute weinten und zitterten, als für sie gebetet wurde. „Schrecklich, diese Emotionalität!“, dachte er. Er bemerkte, dass Frauen für die Leute beteten, die nach vorne kamen, und dass in einem Fall eine Frau sogar für einen Mann betete. „Diese Frauen wissen nicht, welchen Platz sie in der Gemeinde einnehmen sollen!“, grummelte er. Als er dann noch Kinder zwischen den Erwachsenen sah, stürmte er wütend von dieser Anstoß erregenden Szene davon. Tage später kam er nun, um mir zu sagen, wie er darüber dachte. Nachdem ich seine Beschwerden angehört hatte, fragte ich ihn, ob er noch über irgendetwas anderes wütend sei. Er dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er mir, dass er eigentlich auch auf Gott zornig sei, und zwar aus folgendem Grund: „Ich bin jetzt seit vielen Jahren Christ 68
und habe hart daran gearbeitet, Gott zu gefallen. Ich lese die Bibel und bete jeden Tag. Ich bezahle regelmäßig auf den Pfennig genau meinen Zehnten. Ich sorge in meiner Familie für angemessene biblische Ordnung. Ich diene treu in meiner Gemeinde. Und was habe ich davon? Ich bin erschöpft, fühle mich frustriert und habe diese elenden Kopfschmerzen, gegen die Gott offensichtlich nichts unternehmen will. Ich gehorche ihm und er führt mich an Orte, an denen nichts so ist, wie es sein sollte.“ Ich versuchte Bob zu erklären, dass während der Gebetszeit etwas geschah, was er offensichtlich nicht sehen konnte; dass Gott den Menschen, die Heilung brauchten, seine barmherzige Gegenwart schenkte. Wenn er sie tief mit seiner Barmherzigkeit anrührte, weinten viele Menschen vor Erleichterung. Frauen beteten bei uns, weil sie gleiche Rechte an diesem Barmherzigkeitsdienst hatten. Und wer wollte die Kinder davon abhalten, nach vorne zu kommen, wenn sie sahen, wie ihre Eltern von der Liebe Gottes angerührt wurden? Ich erklärte ihm, dass Barmherzigkeit für uns eine höhere Priorität darstellte als ein bestimmter, strenger Verhaltenskodex. „Bob“, sagte ich, „Sie haben viel davon gesprochen, was Sie für Gott getan haben. Was hat Gott in letzter Zeit für Sie getan?“ Seine spontane Antwort war: „Verdammt, wenn ich das wüsste!“ Entschuldigen Sie die drastische Ausdrucksweise, aber darin drückte sich sein tatsächlicher Gefühlszustand aus. Er war sehr frustriert und wütend. Da ihm auch nach längerem Überlegen nichts einfiel, was Gott für ihn getan hatte, schlug ich ihm vor, Gott darum zu bitten, dass er Bob an diesem Nachmittag seine Barmherzigkeit zeigte. Ich betete und wir warteten still. Plötzlich begann Bob zu weinen. Er war von einer lebhaften Erinnerung an eine Begebenheit aus seiner Kind69
heit überrascht worden. Er sah sich als kleinen Jungen neben seinem Vater im Auto sitzen. Sein Vater deutete auf ein Reklameschild, das Bob ihm vorlesen sollte, aber Bob verhaspelte sich bei dem Versuch, den Text auszusprechen. Tränen stiegen ihm in die Augen, als auf dem Gesicht seines Vaters der Ausdruck tiefer Missbilligung erschien. Er schaute mich mit denselben Tränen in den Augen an, als er sagte: „Egal was ich tat, ich war nie gut genug für meinen Vater. Ich konnte ihn nie dazu bringen, mir zu sagen, dass er mich so liebte, wie ich war.“ Als Bob erzählte, merkte ich, wie auch meine Augen feucht wurden und ich mich daran erinnerte, wie ich selbst darum gekämpft hatte, mir die Liebe meines Vaters zu verdienen. Ich spürte, wie der Vater im Himmel Bob nahe kam und ihn mitten im Zentrum seines Schmerzes mit seiner Liebe berührte. Ich erklärte ihm, dass seine Beziehung zu seinem Vater wie eine Brille war, durch die er Gott sah, und dass ihm diese Brille ein verdrehtes Bild von seinem himmlischen Vater vorgegaukelt hatte. Als Folge davon versuchte er, sich Gottes Liebe durch religiöse „Leistung“ zu verdienen. Es war an der Zeit, seinem Vater zu vergeben und sich nach der Barmherzigkeit, dem Mitleid und der Liebe Gottes auszustrecken. Bob betete, und der Geist des Vaters fiel auf ihn. Er brach in Tränen aus und weinte den Schmerz der Zurückweisung, seine Ängste, seine Erschöpfung, seinen Frust und den emotionalen Schmerz aus sich heraus, der auch die primäre Ursache seiner Kopfschmerzen war. Bob wurde von Barmherzigkeit berührt, und seine sklavische Bindung an religiöse Werke war vorüber. Er war nach Hause zu einem Vater gekommen, der ihn für das liebte, was er war, und nicht für das, was er tat.
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Für die Liebe arbeiten Bevor Bob die Liebe des Vaters entdeckte, ähnelte er – wie ich auch – dem älteren Bruder aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. Wir alle arbeiteten hart, um uns die Liebe des Vaters zu verdienen. Da uns das nicht gelang, wurden wir müde, frustriert und wütend. Wir waren kritisch gegenüber anderen Menschen, die unseren Maßstäben nicht entsprachen, und eifersüchtig auf die, die emotionale Erfahrungen mit Gott machten, nach denen wir uns sehnten. Diese Eigenschaften beschreiben auch eine Personengruppe in der Bibel: die Pharisäer. Dieses Gleichnis wurde wohl tatsächlich ihretwegen erzählt. Achten Sie darauf, wie Lukas dieses Kapitel einleitet: „Eines Tages waren wieder einmal alle Zolleinnehmer und all die anderen, die einen ebenso schlechten Ruf hatten, bei Jesus versammelt und wollten ihn hören. Die Pharisäer und die Gesetzeslehrer murrten und sagten: ,Er lässt das Gesindel zu sich! Er isst sogar mit ihnen!‘“ (Lk 15,1-2) In seinem Dienst zeigte Jesus die barmherzige und mitfühlende Liebe des Vaters gegenüber Sündern, also gegenüber Menschen, die sie sich mit Sicherheit nicht durch beispielhafte religiöse Leistung „verdient“ hatten. Die Pharisäer waren überzeugt davon, dass ihnen die Gunst Gottes aufgrund ihrer selbstgerechten Werke zustand. Deshalb fühlten sie sich durch die Aussicht auf eine Beziehung zu Gott bedroht, die allein auf Barmherzigkeit und Gnade beruhte. So waren sie sehr kritisch gegenüber Jesus und den Menschen, die ihm folgten. Diese Geschichte war dazu gedacht, ihre Aufmerksamkeit zu wecken, in der Hoffnung, dass sie ihre Einstellung ändern würden. Wenn wir das Gleichnis lesen, sollten wir auf den älteren Bruder achten, damit wir den modernen Pharisäer in uns entdecken und wie Bob den Weg zurück zu unserem barmherzigen und liebevollen himmlischen Vater finden. 71
Im Gleichnis befindet sich der ältere Sohn nicht im Haus seines Vaters, sondern arbeitet schwer auf den Feldern, als er von der Rückkehr seines eigensinnigen Bruders hört. „Der ältere Sohn wurde zornig und wollte nicht ins Haus gehen. Da kam der Vater heraus und redete ihm gut zu. Aber der Sohn sagte zu ihm: ,Du weißt doch: All die Jahre habe ich wie ein Sklave für dich geschuftet, nie war ich dir ungehorsam. Was habe ich dafür bekommen? Mir hast du nie auch nur einen Ziegenbock gegeben, damit ich mit meinen Freunden feiern konnte. Aber der da, dein Sohn, hat dein Geld mit Huren durchgebracht; und jetzt kommt er nach Hause, da schlachtest du gleich das Mastkalb für ihn.‘“ (Lk 15,28-30) Hier erkennen wir die Hauptmerkmale von etwas, was wir das „Älterer-Bruder-Syndrom“ nennen könnten. Der ältere Sohn schuftete auf den Feldern für seinen Vater. Das entspricht dem religiösen Leistungsdenken der Pharisäer. Außerdem ist er auf seinen Vater unterschwellig ärgerlich, weil er das Gefühl hat, dass seine ganze harte Arbeit nicht belohnt wird. Und schließlich ist er sehr kritisch gegenüber seinem Bruder, der keine so barmherzige Behandlung verdient. Diese drei Symptome erfordern nähere Betrachtung. Religiöses Leistungsdenken kann man definieren als den Versuch, sich Gottes Liebe durch gute Werke zu verdienen. Die Bibel macht deutlich, dass wir vor Gott, unserem Vater, durch seine Gnade gerechtfertigt sind und nicht durch unsere Werke. Wenn wir Christen geworden sind, sollten unsere guten Werke ganz natürlich aus unserer Liebe zu Gott heraus kommen. Aber oft ertappen wir uns dabei, dass wir versuchen, Gott durch gutes Verhalten „dazu zu bringen“, uns zu lieben. Warum tun wir das? Ein Grund ist unser gefallenes menschliches Wesen, das versucht, einen gerechten Stand vor Gott durch eigene Anstrengungen zu erreichen. Ein zweiter Grund ist, dass 72
wir selbst als Christen den Vater noch nicht wirklich kennen gelernt oder seine bedingungslose Liebe erfahren haben. Unsere Unsicherheit bringt uns dazu, uns die Liebe verdienen zu wollen, nach der wir uns sehnen. In unserem ständigen Streben nach Liebe verlassen wir das Haus unseres Vaters – paradox, aber wahr! Das ist offensichtlich dem älteren Sohn in der Geschichte passiert. Er verstand das wahre Wesen der Liebe seines Vaters nicht und dachte, er müsse hart arbeiten, um sie sich zu verdienen. Und je härter er arbeitete, je weiter er sich vom Haus und der Liebe des Vaters entfernte, desto verzweifelter wollte er diese Liebe erfahren. Doch das ist das Wesen wahrer Liebe: Je härter man dafür arbeitet, desto mehr entzieht sie sich. Das war auch bei den Pharisäern der Fall. In ihren Bemühungen, dem Gesetz treu zu gehorchen, drifteten sie in Selbstgerechtigkeit ab und entfernten sich von einer vertrauten Beziehung mit dem Vater. Je weiter sie sich von Gott weg bewegten, desto stärker brachte ihre verborgene Unsicherheit sie dazu, strikte Regeln zu befolgen in einem vergeblichen Versuch, sich so die Liebe Gottes zu verdienen. Das war die Lage, in der Bob sich befand. In dieser Lage befand auch ich mich, als ich versuchte, „Treffer für Gott zu erzielen“. Wenn wir merken, dass wir um die Liebe des Vaters ringen, befinden wir uns in einer Wettkampfhaltung. Wir bringen Leistung, um geliebt zu werden. Wir stehen mit uns selbst und mit anderen im ständigen Konkurrenzkampf, um im Leben an der Spitze zu stehen, an dem Platz, an dem Gott uns unserer Meinung nach sehen und uns seinen Segen geben muss. Der ältere Sohn stand im Wettkampf mit seinem jüngeren Bruder und war in seinen eigenen Augen der Gewinner. Die Pharisäer wetteiferten mit den Sadduzäern, indem sie krampfhaft einen noch strengeren religiösen Verhaltenskodex einhielten. Bob und ich bemühten uns, den 73
„durchschnittlichen Christen“ durch besonders gute Werke zu übertreffen. Wir dachten beide, wir würden gewinnen und den Preis der Liebe erhalten, aber in Wirklichkeit distanzierten wir uns immer mehr davon. In unserer Gesellschaft ist Konkurrenzdenken ein Lebensstil. Im positiven Sinn ist der Wettbewerb das Bemühen um Großartiges, das auch gerecht belohnt wird. Ein Beispiel hierfür ist der Kampf um olympisches Gold. Als Christen sollen wir uns durchaus um hervorragende Qualität in unserem Dienst für Gott bemühen, aber wir müssen nicht gut abschneiden, um uns Gottes Zuneigung zu verdienen! Die tiefe Unsicherheit in uns kann uns zu einer negativen Form von Wettkampf verleiten. Wenn das geschieht, können wir einem krankhaften Konkurrenzdenken in Bezug auf geistliche Übungen, Familienorganisation, Finanzen, Leistungen und Positionen erliegen. Selbst Pastoren müssen sich davor in Acht nehmen. Oft gibt es Indikatoren – rote Warnlämpchen auf dem Armaturenbrett des Lebens –, die uns sagen, dass wir in negatives Konkurrenzdenken verfallen sind. Ganz plötzlich spüren wir, wie Ärger oder harte Kritik gegenüber anderen Menschen in uns aufflammt. Vor einigen Jahren besuchte ich eine Gebetsversammlung mit etwa 300 Pastoren aus unserer Gegend. Sie fand in der Saddleback Community Church statt, einer sehr großen und bekannten Gemeinde in unserer Gegend, die von Pastor Rick Warren geleitet wird. Es gibt ein Phänomen, das sich immer dann beobachten lässt, wenn Pastoren zusammenkommen: Jegliche Unsicherheit in ihrem Leben kommt an die Oberfläche, wenn sie anderen Pastoren begegnen, deren Gemeinde größer ist als ihre eigene. Normalerweise verbergen wir diese Unsicherheit hinter unserem „pastoralen“ Verhalten, aber von Zeit zu Zeit sickert sie doch durch. Während der Begrüßung durch Rick Warren ließen viele der Pastoren ihre Blicke durch 74
den Raum wandern und versuchten zu schätzen, wie viele Sitzplätze dieser riesige Gottesdienstraum hatte. Wir schafften es, so lange Haltung zu bewahren, bis Pastor Rick uns erklärte, dass dieses Gebäude mit 3.000 Sitzplätzen nur als Versammlungsraum diente, während sich das eigentliche Gemeindehaus gerade im Bau befand und sich jedes Wochenende fünfmal zu den Gottesdiensten komplett füllte! Die Pastoren schnappten hörbar nach Luft. Unsicherheit machte sich breit. Als ich in das Büro meiner im Vergleich geradezu winzigen Gemeinde zurückkam, versuchte ich, meine aufsteigende Unsicherheit unter Kontrolle zu bekommen. Ich zog einen neuen Schreibblock heraus und notierte mir ein paar Dinge, die mir in Saddleback aufgefallen waren und die wir für unsere Vision vom Gemeindewachstum umsetzen konnten. Ich schrieb immer schneller, während mir mehr und mehr gute Ideen kamen. Als ich auf der vierten Seite ein rasendes Tempo erreichte, rief meine Sekretärin an: „Ich wollte Sie nur daran erinnern, dass Sie in einer halben Stunde eine Verabredung mit Ihrem Vater haben.“ Mein Vater war früher leidenschaftlicher Golfer gewesen, ist nun aber fast blind, und ich hatte versprochen, ihn zum Golfplatz zu fahren. Ich merkte, dass ich es bedauerte, meine Gemeindewachstumspläne sich selbst zu überlassen und ein paar „unproduktive“ Stunden auf dem Golfplatz verbringen zu müssen. Aber als meine Einstellung immer negativer wurde, wurde mir allmählich klar, was gerade in mir vorging. Meine Unsicherheit war bei diesem Pastorentreffen geweckt worden, und ich war in das „Älterer-Bruder-Syndrom“ verfallen: „Wenn ich härter arbeiten würde und eine größere Gemeinde hätte, würde ich mich besser und Gottes Liebe würdiger fühlen.“ Als ich schließlich losfuhr, um meinen Vater abzuholen, versuchte ich mich wieder auf die bedingungslose Liebe 75
Gottes zu konzentrieren. Als ich meinen Vater zu einem freien Übungsplatz führte, bemerkte ich die modische Kleidung und die teure Ausrüstung der anderen Golfer. Sie alle schienen auf die drei rostigen Schläger zu starren, die mein Vater irgendwann mal aus einem Wasserhindernis auf einem anderen Golfplatz gefischt hatte. Ich spürte, wie ich furchtbar verlegen wurde, und das trug nicht gerade dazu bei, meine Unsicherheit zu lindern. Ich half meinem Vater, sich am Abschlag aufzustellen, aber sein erster Schlag verfehlte den Ball völlig und enthauptete beinahe den Mann neben uns. Sein zweiter Versuch schickte den Ball weit nach rechts über den Zaun. Ich dachte darüber nach, wie viel ich jetzt mit meinen Notizen zu unserer Gemeindevision erreichen könnte, und meine Frustration wuchs. Ein weiteres Mal stellte ich meinen Vater richtig hin, er holte aus und legte einen perfekten Schlag hin. Ich hörte das satte „Plock“ eines sauberen Kontakts, als der Schläger den Ball auf eine perfekte Flugbahn über 160 Meter schickte. Mein Vater schaute mich mit seinem verschleierten Blick an, um eine Reaktion von mir zu hören. „Guter Schlag, Papa!“, sagte ich, und mein Frust schmolz dahin, als sich unsere Blicke trafen. Einen Augenblick lang glaubte ich, eine Träne in seinem Auge zu sehen. Ich wusste, dass in meinen Augen einige Tränen standen. In diesem Augenblick der Nähe zwischen meinem Vater und mir spürte ich, wie mich die Liebe meines himmlischen Vaters berührte. Mein Ärger war verflogen. Ich war wieder im Lot. Ich konnte den „Erfolg“ meines Lebens wieder an der Liebe Gottes für mich und an der Liebe einer Person messen statt an der Größe meiner Gemeinde. Das „Älterer-Bruder-Syndrom“ war gebrochen. Ärger ist oft ein Warnsignal, dass wir angefangen haben, uns Liebe verdienen zu wollen. Dieser Ärger entsteht aus der Frustration heraus, dass wir die Liebe nicht 76
erfahren, für die wir doch so hart arbeiten. Ärger kann auch die Folge der Vaterlosigkeit unseres Lebens sein. Das Fehlen der Liebe eines Vaters in unserer Kindheit schlägt uns eine schmerzhafte, unverdiente Wunde. Die natürliche Reaktion darauf ist Ärger, und dieser Ärger verwandelt sich oft in tief verwurzelte Wut, weil Kinder nicht in der Lage sind, mit solchen Wunden umzugehen, sie offen zu legen und durch Vergebung heilen zu lassen. Die ständigen Versuche, sich die Liebe eines Vaters zu verdienen, vergrößern unseren inneren Schmerz nur noch. Die Kombination aus der Wut unserer Kindheit und dem Frust, der aus unserem nutzlosen religiösen Abmühen als Erwachsene entstanden ist, hinterlässt in unserem Leben eine Spur der Wut. Und diese Wut ist ein Indikator dafür, dass wir die Liebe des Vaters brauchen, die unsere Wunden heilt und uns von unserem Leistungsdenken befreit. Aus dieser Kombination von Konkurrenzdenken und wachsender Wut entsteht eine kritische Haltung gegenüber anderen Menschen. Der ältere Sohn war kritisch gegenüber seinem Bruder. Die Pharisäer kritisierten die Zolleinnehmer, die Prostituierten und Jesus. Bob kritisierte die „emotionalen“ Leute in der Gemeinde. Eine kritische Haltung besagt, dass andere nicht so hart gearbeitet haben wie wir und deshalb nicht so viel Segen verdienen wie wir, geschweige denn mehr! Eine kritische Haltung ist das natürliche Nebenprodukt von Konkurrenzdenken: Wir müssen gewinnen, um geliebt zu werden. Wir wollen andere weniger kompetent und weniger verdienstvoll dastehen lassen, als wir es sind. Als der verlorene Sohn die Party, das Mastkalb und das beste Gewand bekam, sah sich der ältere Bruder veranlasst, die schweren Geschütze seiner Kritik aufzufahren, um seine Vorrangstellung wiederherzustellen. Immer wenn wir merken, dass wir eifersüchtig auf andere sind oder sie 77
verurteilen, müssen wir vermutlich genau hinschauen, woher diese Gefühle kommen. Von Zeit zu Zeit spüre ich in mir die Kritik gegenüber einem anderen Menschen oder einer Gruppe von Menschen aufsteigen. Dann muss ich in mein Herz schauen, um zu sehen, ob ich unbemerkt wieder einmal das Haus meines Vaters verlassen habe. Vor einigen Jahren kehrte ich im Flugzeug von einer sehr erfolgreichen Konferenz zum Thema „Die Vaterliebe Gottes“ zurück. Voller Energie stürzte ich mich sofort auf anstehende Projekte in meiner Gemeinde. Irgendwie rutschte ich wieder in meine alte „Triff den Handschuh“Mentalität zurück, ohne es selbst zu merken. Ich entdeckte mein Abdriften zu spät. Als ich in die Auffahrt unseres Hauses fuhr, drückte ich den automatischen Türöffner für die Garage und stellte das Auto ab. Zwei Dinge nahmen meine Aufmerksamkeit beinahe gleichzeitig in Anspruch: Meine Frau, die herauskam, um mich zu begrüßen, und ein riesiger Wäscheberg, der sich auf dem Waschküchenboden vor der Maschine türmte. Meine ersten Worte zu meiner Frau, als sie mich umarmte, waren: „Was hast du eigentlich gemacht, während ich weg war?“ Diese dummen und verletzenden Worte entfuhren mir, noch bevor ich darüber nachgedacht hatte. Sie zeigten den Zustand meines Herzens ganz deutlich: Es war fest im Griff des „Älterer-Bruder-Syndroms“! Janet wich sofort zurück, richtete sich auf und sagte: „Was sind wir doch religiös!“ Ertappt! Außerhalb des Hauses meines Vaters. Vom Konkurrenzdenken geprägt. Kritisch. Glücklicherweise zeigte meine Frau Mitleid mit mir und ließ mich ins Haus. Natürlich erst nachdem ich meine Reue bewiesen hatte ...
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