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Kapitel 1

Warum unsere Volkskirche wieder zu einer Kirche für das Volk werden muss Vom Suchen, vom Müssen und von der Volkskirche Vor Jahren waren meine Frau und ich mit unseren Kindern bei Freunden zu Besuch. Sie wohnten am Rand einer größeren Stadt, nahe einer vierspurigen Bundesstraße. Wir Erwachsenen saßen im Garten, während die Kinder spielten. Wir waren ins Gespräch vertieft und bemerkten nicht, dass sich Christian (4) auf Entdeckungsreise begeben hatte. Aber dann war die Aufregung groß! Im Garten war er nicht, im Haus auch nicht, vor dem Haus – Fehlanzeige. In größter Aufregung machten wir uns auf die Suche. Dabei kam uns eine Marotte unseres Sohnes zu Hilfe: Er wusste genau, wo bei jedem Auto der Tankdeckel sitzt und wie man ihn aufbekommt. Diese Fähigkeit dürfen Sie nicht unterschätzen, weil es damals noch vereinzelte Exemplare etwa des alten Mercedes gab, bei dem sich der Tankdeckel unter dem hinteren Nummernschild befand – für Klein-Christian kein Problem. So folgten wir schlicht den geöffneten Tankdeckeln der an der Straße geparkten Wagen und gabelten ihn kurz vor der Bundesstraße auf. Kennen Sie das Gefühl, wenn ein Kind verschwunden ist? Als Vater von vier Kindern kenne ich es nur allzu gut. In solchen Fällen gibt es ein paar ganz klare Konsequenzen: Ich lasse alles stehen und liegen, um mein Kind zu suchen. Alle anderen Dinge treten in den Hintergrund; die Suche nach meinem Kind hat höchste Priorität. 9


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Ich finde innerlich nicht eher wieder zur Ruhe, bis ich es gefunden habe, weil ich mir die Gefahren ausmale, in denen mein Kind schwebt. Um es zu finden, ist mir kein Preis zu hoch. Wahrscheinlich würden Sie es ähnlich sagen oder nachempfinden. Und genauso wird auch Gottes Reaktion im Hinblick auf seine verlorenen irdischen Kinder beschrieben. Jesus gebraucht eine Reihe von Bildern, um die Verzweiflung des himmlischen Vaters zu illustrieren: Da ist der Hirte, der von 100 Schafen eines verloren hat, aber um dieses einen willen alles stehen und liegen lässt, sich aufmacht und unermüdlich sucht, bis er es wieder auf seinen Schultern nach Hause trägt. Da ist die Frau, die eine Silbermünze – und damit ein Stück ihres Brautschmucks – verloren hat und das ganze Haus auf den Kopf stellt, bis sie ihren Schatz wieder gefunden hat. Und als sie ihn endlich findet, ist ihre Erleichterung so groß, dass sie spontan ein Fest feiert. Sie lädt zum Fest ein, weil sie etwas Wertvolles wieder gefunden hat. Und dann ist da noch der Vater, der sich vor Sehnsucht verzehrt, bis sein verlorener Sohn wieder heimkehrt, ja ihm sogar entgegenrennt – und dann vor Freude ein Fest feiert (vgl. Lk 15).

Genau so empfindet auch Gott, sagt Jesus. Menschen ohne Kontakt zu Gott, Menschen, die ihr Leben führen, als gäbe es Gott nicht, Menschen, die es aufgegeben haben, nach Gott zu fragen und ihm zu trauen, sind für Gott wie der kostbare und unersetzliche Schmuck. Gott leidet, wenn das Wertvollste und Kostbarste verloren geht. Und das Wertvollste und Kostbarste sind wir; jeder Einzelne ist eine Silbermünze im Brautschmuck Gottes. Gott macht sich auf die Suche. Nicht der Mensch wird hier von Jesus als eifriger, frommer Gottsucher gemalt. Nein, Jesus beschreibt Gott als einen eifrigen und nimmermüden Menschensucher. Er stellt alles hintan, um seine MenGott als eifriger und nimmermüder Menschensucher.

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schenkinder zu suchen. Wir sehen hier das Bild eines Gottes, der sich tief herablässt. Früher sprach man von der Kondeszendenz Gottes (Johann Georg Hamann, Hermann Bezzel), von der »Herablassung« Gottes. Und Kondeszendenz bedeutet auch, dass er sich in seiner »Herablassung« auf die Lebensbedingungen seiner Menschenkinder einlässt. Darum kommt er ja auch in einem Stall zur Welt, hineingebunden in eine bestimmte Zeit, an einen bestimmten Ort und in eine bestimmte Kultur. Es ist das Bild eines Gottes, der lieber leidet, als seine Menschen preiszugeben; dafür lässt er sich auch ans Kreuz schlagen. Es ist ein Bild von der Sehnsucht und der Leidenschaft Gottes, der es nicht erträgt, seine geliebten Menschenkinder in der tödlichen Ferne zu wissen. Darum zieht er los und macht sich auf die Suche. Am Ziel ist dieser Gott erst, wenn er sie gefunden hat: Wenn ein Mensch wieder anfängt, auf Gott zu hören, ihm zu antworten, Gutes von Gott zu erwarten und seinen Geboten zu gehorchen. Dieses Bild sollten wir im Kopf und im Herzen haben, wenn wir an unser Thema denken. Warum muss denn unsere Volkskirche wieder zu einer Kirche für das Volk werden? Muss sie es wirklich? Warum muss das so sein? Vielleicht behaupten wir, es müsse so sein, weil die Kirche sonst keine Überlebenschance habe. Eine Kirche, die sich vom Volk entfernt und nur noch ein Nischendasein führt, wird nicht überleben. Sie wird immer mehr Kirchen schließen und zu Museen oder Szene-Discos machen. Sie wird die Gehälter der Pfarrer nicht mehr zahlen können. Sie muss sich ändern, wenn sie überleben will, denn wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Alle diese Gründe treffen zu, sind aber nicht der ausschlaggebende Grund für dieses »Muss«. Vielleicht behaupten wir dies, weil es nicht nur für die Kirche wichtig ist, sondern auch für unser Volk, moderner gesagt: für unsere Gesellschaft. Vielleicht sagen wir: »Was wird denn aus unserer Gesellschaft, wenn die Kirchen nicht mehr für die Würde des Menschen eintreten, für Gerechtigkeit und Fairness auch den Schwachen gegenüber?« Ist es nicht so: Auch unsere säkulare Gesellschaft lebt von Werten, die sie sich nicht selbst geschaffen hat und die sie nicht selbst erhalten kann, sie 11


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braucht darum auch als säkulare Gesellschaft eine nichtsäkularisierte Kirche? Ja, es ist so, und es wäre fahrlässig, diese Rolle der Volkskirche in unserer Gesellschaft zu unterschätzen – aber auch das ist nicht der Grund für dieses entschiedene »Muss«. Vielleicht sagen wir dies, weil unser Volk auch auf die spezifischen Leistungen der Kirche angewiesen ist: Wer übernimmt all die Kindergärten und Altenheime, die Beratungsstellen und Krankenhäuser? Wer sorgt für die Gestaltung der festlichen Anlässe im Leben, der Geburten, Eheschließungen und heiligen Abende, und wer hilft uns, mit den schweren Stunden fertig zu werden, wenn Menschen sterben? Wer ist da, wenn wir nur noch zum Telefon greifen können und Seelsorge suchen? Ja, auch das ist wahr. Unschätzbar ist immer noch der Wert kirchlicher Diakonie und Seelsorge, auch wenn andere nun ebenfalls auf diesen Markt drängen. Immer noch ist die Volkskirche ein Marktführer in Sachen Begleitung und Unterstützung, in Sachen Fest und Feier. Aber auch das ist nicht der Grund für dieses entschiedene »Muss«, das die Veranstalter des Kongresses »Kirche mit Vision« in ihrer Weisheit auf die Prospekte geschrieben haben. Was aber ist es dann? Es ist die Leidenschaft Gottes, der nach verlorenen Töchtern und Söhnen sucht. Schauen wir einmal in eine KonIm Herzen Gottes kordanz, was wir dort über das kleine wohnt ein Wörtchen »muss« lernen. Ich beschräninneres »Muss«. ke mich dabei auf einen der Zeugen, auf den Evangelisten Lukas. Bei ihm findet sich das Wörtchen »muss« 12-mal. Jesus muss als 12-Jähriger (Lk 2,49) im Hause seines Vaters sein, es ist ihm innere Verpflichtung und Berufung. Dann sagt er mit dem gleichen Nachdruck denen, die ihn in Kapernaum festhalten wollen (das sind die ersten Vertreter der »Betreuungskirche«): »Ich muss auch den anderen Städten das Evangelium predigen vom Reich; denn dazu bin ich gesandt« (Lk 4,43). Dieses innere »Muss« treibt ihn voran. Eine verkrümmte Frau heilt Jesus am Sabbat (Lk 13,10–17), und als

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man ihm Vorhaltungen macht, entgegnet er: diese Tochter Abrahams müsse doch von ihrer Fessel befreit werden (Lk 13,16). Dem miesepetrigen älteren Bruder im Gleichnis gebietet der Vater Freude, aber warum muss er sich freuen? Weil sein Bruder in der Ferne vom Vater tot war und nun wieder zum Leben zurückgefunden hat (Lk 15,32). Und als Höhepunkt dieser kleinen Theologie des göttlichen »Muss« wird berichtet, dass Jesus unter dem Baum steht und zu Zachäus sagt: »Ich muss heute in deinem Hause einkehren« (Lk 19,5). Übrigens: Auch das, was Jesus zustieß, musste geschehen; es gehört auch in diesen Zusammenhang: Er musste das alles leiden (Lk 24,26.44). Der Clou dabei ist, dass nichts und niemand den Christus Gottes hätte zwingen können. Dieses »Muss« ist kein äußerer Zwang. Dieses »Muss« hat seinen tiefen Grund im Herzen Gottes: Im Herzen Gottes wohnt ein »Muss«. Im Herzen Gottes wohnt ein inneres Nicht-anders-Können. Er kann nicht anders, weil er sich in Liebe an uns gebunden hat. Er kann nicht anders, weil diese Liebe nicht einmal durch unsere penetrante Aufsässigkeit und Widerspenstigkeit, durch unsere kleinen und großen Boshaftigkeiten zerstört werden kann. Er muss uns suchen und finden und sich freuen. Für dieses »Müssen« setzt er alles aufs Spiel, sogar seine göttliche Herrlichkeit. Und hier erst kommt die Kirche ins Spiel. Die Kirche ist der von Gott ins Leben gerufene Suchtrupp. Kirche ist Kirche, weil und solange sie sich aufmacht und Menschen sucht, die ohne Gott für Zeit und Ewigkeit verloren sind. Wie Jesus vom Die Kirche ist Vater gesandt wurde, ist nun die der von Gott Gemeinde Jesu zur Suche verlorener ins Leben gerufene Menschen gesandt und bevollmächSuchtrupp. tigt. Wie er soll sie sich aufmachen und hingehen. Wie er soll sie sich hineinbegeben in die Lebensbedingungen der Menschen, sich hineinbinden lassen in die Zeit, den Ort und die Kultur. Wie er soll sie voller Leidenschaft und Hingabe Menschen suchen. Wie er soll sie ihre Feste feiern, wenn Menschen verloren waren und sich haben finden lassen. In vielem ist die Kirche ersetzbar; darin aber ist sie unvertretbar. Darum also soll sie Volkskirche sein, Kirche für das Volk. Und wenn sie das nicht mehr sein will, dann hat sie ihr 13


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Existenzrecht verspielt. Eine Kirche um der Kirche willen ist nicht das Ziel der Wege Gottes. Eine Kirche, die sich nicht mehr auf die Suche nach Verlorenen macht, hat sich selbst überlebt. Zwei Grundüberzeugungen sind also notwendig, sonst werden Sie mit allem, was folgt, nur Bauchschmerzen haben: 1. Menschen sind es wert, mit ganzem Einsatz geliebt zu werden. Der Hintergrund für diese Überzeugung ist das Liebesgebot Jesu z. B. in Mt 22,34–40. 2. Menschen brauchen eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus, um leben und sterben zu können. Der Hintergrund dafür ist der Missionsbefehl Jesu in Mt 28,18–20.

Volkskirche – Kirche des Volkes oder Kirche für das Volk? Vor diesem Hintergrund erhalten wir auch die Antwort auf die nächste Frage, wie wir nämlich das Wort »Volkskirche« zu buchstabieren haben. Volkskirche – ist das Kirche des Volkes oder Kirche für das Volk? Sicher war Volkskirche lange Zeit auch Kirche des Volkes. Nach der Konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert wurde aus der bestenfalls geduldeten, meist aber verfolgten Sekte des Nazareners die Staatsreligion. Römischer Bürger zu sein hieß bald auch, Mitglied der christlichen Kirche zu sein. Bis weit in die Gegenwart hinein war es doch so: Die Kirchen konnten von sich sagen, die Mehrheit des Volkes sei in ihnen erfasst. Und daraus ergaben sich Rechte und Pflichten: das Recht z. B., sich über ein steuerähnliches System zu finanzieren und an staatlichen Schulen Unterricht zu erteilen, die Pflicht, intensiv in gesellschaftlicher Verantwortung mitzuarbeiten. Nachwuchs rekrutierte man wie von selbst durch die Säuglingstaufe. Wer getauft wurde, nicht austrat und vielleicht sogar Kirchensteuer zahlte, der gehörte dazu. Fast alle Bürger als Mitglieder zu haben und dann Mitglieder als Christen zu betrachten, das gehört zum Wesen der Volkskirche als Kirche des Volkes. Das geht auch aus einer Studie der Westfälischen Kirche (aus dem Jahr 2000) hervor: 14


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»Mitgliederorientierung bedeutet auch, alle Mitglieder der Kirche als Christinnen und Christen wahrzunehmen und nicht nur die, die sich von selbst melden oder in besonderer Weise einbringen.«1 Es ist übrigens ein uralter Streit: Um die Jahrhundertwende wollte der Dresdner Pfarrer Emil Sulze die Volkskirche erneuern. Er schlug vor, die Gemeinden zu verkleinern, da damals bis zu 70 000 Menschen zu einem Pfarrbezirk gehörten. Sulze gilt nun als »Vater des modernen Gemeindeaufbaus«. Er schlug nämlich vor, kleine Pfarrbezirke zu schaffen, die in noch kleinere Bezirke unterteilt werden sollten, in denen sich wiederum Laien als Seelsorger und Diakone um bedürftige Menschen kümmern sollten. So kann Kirche wirklich »Kirche des Volkes« sein. Alle gehören dazu, alle sind Christen, manche bringen sich ein, andere genießen gelegentlich den Service der Kirche. Das ist das Mitgliedschaftsmodell: Volkskirche als Kirche des Volkes. Der Rostocker Praktische Theologe Gerhard Hilbert widersprach: Dazu seien die Mitglieder der Kirche gar nicht in der Lage. Viele haben selbst keinen »blassen Schimmer« vom Evangelium. Zuerst müssen wir sie zu einem lebendigen Glauben führen, dann können sie im Sinne Sulzes für andere da sein. Denn, so Hilbert 1916: Deutschland ist Missionsland. Wir brauchen lebendige Gemeinden, die dann für das Volk da sein können. Volkskirche ist Kirche für das Volk. Das ist das Missionsmodell. Was ist denn nun richtig? Kirche des Volkes oder Kirche für das Volk? Ich glaube, dass unsere Kirche nur als Kirche für das Volk überleben wird. Zwei Gründe bringen mich zu dieser Überzeugung: Immer offensichtlicher wird der Selbstbetrug, wenn wir so tun, als seien Immer offensichtlicher alle, die einmal getauft wurden, allein wird der Selbstbetrug, aus diesem Grund schon Christen. Wer wenn wir so tun, als zufällig in einer Garage geboren wurde, seien alle, die einmal ist darum doch noch lange kein Auto getauft wurden, allein (B. Krause). Der Mehrheit der Protestanaus diesem Grund ten bleiben die zentralen Inhalte des schon Christen. Glaubens fremd und fern. Und das, was 15


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sie wissen, gibt ihrem Leben kein sichtbares Gepräge. Wir tun ihnen deshalb auch keinen Gefallen, wenn wir in die Rudimente bürgerlicher Religiosität, die sich bei ihnen finden, einen lebendigen Glauben an Christus »hineingeheimnissen«. Sie sind als Menschen zu würdigen, die durch die Taufe zu Töchtern und Söhnen Gottes berufen sind. Und sie sind zu lieben, weil sie noch keinen Bezug zu Wort und Sakrament, zu Gemeinschaft und Dienst haben und darum in größter Gefahr sind, ihre Berufung zu verspielen. Darüber hinaus werden auch die Grenzen dieser Vorstellung immer deutlicher: Das volkskirchliche Betreuungssystem hat sich erschöpft und erschöpft nun seine Vertreter. Im Osten wird dies schneller sichtbar als im Westen: Eine flächendeckende Versorgungskirche wird man sich nicht mehr lange leisten können. Was aber ist dann zu tun? Die Kirche muss sich nach meiner Ansicht entschieden als Kirche für das Volk verstehen und ihren Dienst entsprechend umstellen. Das wiederum bedeutet: Wir sind dankbar für die Reste der alten Volkskirche. Wir sehen in dem, was zwar nicht mehr aktuell, aber vorhanden ist, einen Raum voller Möglichkeiten. Es gibt eine funktionierende Struktur, es gibt überall Kirchen und Mitarbeiter und Menschen, die immerhin auf ihre (wenn auch nur formale) Mitgliedschaft hin anzusprechen sind. 96 % der Kirchenmitglieder würden den Besuch eines Pfarrers akzeptieren, wenn nicht sogar wertschätzen. Diese Möglichkeiten gilt es dankbar anzunehmen und eifrig zu nutzen. Aber wozu zu nutzen? Meiner Ansicht nach dazu, dass in der Kirche »Gemeinden von Schwestern und Brüdern« 2 entstehen und wachsen können. Diese Kirche ist ein offener Raum für den Dienst der Kirche als Kirche für das Volk. Gemeinde aber ist hier nicht vorauszusetzen, sondern erst zu bauen! Parochien (= Gemeindebezirke) sind die uns zugewiesenen Planquadrate der missio dei, also die Räume, in denen Gemeinde Jesu gebaut werden kann. Die Bekennende Kirche hat dies 1934 auf der Barmer Bekenntnissynode zu ihrem Credo gemacht. Die Kirche ist dafür da, dass allem Volk die Botschaft von der freien Gnade Gottes verkündet werden kann (Barmen VI). »Allem Volk das Evangelium«, das ist das Motto der »Kirche für das Volk«. Eine solche Kirche sollen wir werden. Und zwar die Kirche mit dem großen Volk – und dies ist meine Vision. Das haben wir noch vor uns und nicht etwa schon hinter 16


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uns. Die »Kirche mit Vision« hält Ausschau, und sie sieht das große Volk, das zu ihr gehören soll. Noch einmal hilft uns Lukas weiter. Im 18. Kapitel der Apostelgeschichte erzählt er, wie es Paulus in Korinth erging. Nach schweren Auseinandersetzungen zieht dieser in das Haus von Titius Justus um. Es ist eine äußerst lebhafte Szene: hier Streit und Kampf, dort aber Menschen, die zum Glauben kommen und sich taufen lassen. In der Anfechtung ergeht eine göttliche Vision: »Fürchte dich nicht«, sagt der Herr in der Nacht zu Paulus, »sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden; denn ich habe ein großes Volk in dieser Stadt« (Apg 18,9b–10). Und auch uns spricht diese Ermutigung an: Sie trifft uns in unserer Haltung, so viel aus Sorge und Angst heraus zu tun. Wir sehen, dass immer weniger Menschen zu uns kommen. Wir hören, dass in jedem Jahr etwa 250 000 Mitglieder aus der Evangelischen Kirche austreten. Wir beobachten, wie wenig viele Getaufte über das Evangelium wissen. Wir bemerken, wie die öffentliche Meinung uns gar nicht mehr fragt, was die Christen denn zu aktuellen Sachverhalten sagen. Wir fürchten um die Kirche. Und wir reagieren hektisch mit immer neuen Aktivitäten, sind fleißig bis zum Umfallen – in unserer Sorge um die Kirche und um die Stadt. Wir müssen ja etwas tun, um dem Verfall der Volkskirche zu wehren. Die Vision, die der Teufel an die Wand malt, ist eine Volkskirche ohne Menschen und ohne Bedeutung. Aber dieses Bild finden wir im Evangelium nicht. Jesus möchte unseren Blick weglenken vom Bild des Teufels an der Wand. Er hat eine ganz andere Perspektive für die Volkskirche: »Ich habe ein großes Volk in dieser Stadt«, sagt Jesus. Das Die Vision, die ist die Perspektive Jesu für seine Mitder Teufel an arbeiter: ein großes Volk in dieser die Wand malt, Stadt. Dem Apostel Paulus wird dies ist eine Volkskirche zu einer Zeit gesagt, in der nicht viel ohne Menschen und davon zu sehen ist. Natürlich halten ohne Bedeutung. sich Menschen zur Gemeinde, aber im Großen und Ganzen ist Paulus in der Synagoge auf Ablehnung gestoßen, und wie er bei den Heiden ankommen wird, ist noch 17


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höchst ungewiss. In dieser Stunde macht ihm Jesus deutlich: »Ich habe ein großes Volk in dieser Stadt.« Paulus sieht zwar noch nichts davon, aber Jesus zeigt ihm einen Moment lang, was er einst wird sehen können. Das ist die »Voraus-Beziehung« Jesu zur Stadt Korinth. Das ist der Vorsprung Gottes vor unserer Missionsarbeit. »Du, Paulus«, sagt Jesus diesem, »ich habe in dieser Stadt Großes vor. Menschen werden zum Glauben finden und sich in Hauskirchen sammeln. Eine Gemeinde wird entstehen, und zwar eine große Gemeinde. Menschen werden dort Hilfe und Trost finden. Es wird Jünger geben, die sich um andere kümmern und die mit den Gaben des Geistes anderen Menschen dienen. Ich habe ein großes Volk in dieser Stadt. Darum fürchte dich nicht und schweige nicht. Darum rede und predige und arbeite und baue die Gemeinde in Korinth. Du siehst sie noch nicht, aber ich sehe sie.« Mit diesem Wort im Herzen und dieser visionären Verheißung Jesu vor Augen arbeitete Paulus daraufhin eineinhalb Jahre in Korinth. An diesem Beispiel wird eines ganz deutlich: Es gehört untrennbar zusammen, dass wir von Jesus Visionen bekommen, diesen Visionen Glauben schenken und darum zielgerichtet und planvoll arbeiten. Spannend wird dies alles dann, wenn es darum geht, den Visionen Jesu mehr Vertrauen zu schenken als dem, was uns den Mut rauben und lähmen will.

Die Kirche für das Volk ist eine evangelistische Kirche Was ist das, »Evangelisation«? »Evangelisation ist die besondere, der Kirche zweifellos auf der ganzen Linie gestellte Aufgabe, dem Wort Gottes eben unter den zahllosen Menschen zu dienen, die es theoretisch längst vernommen und positiv aufgenommen und beantwortet haben müssten, es aber faktisch noch nie oder nur aus irgendeiner Ferne und darum für ihre Beteiligung an der Sache der Gemeinde bedeutungslos vernommen haben.«3

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