Kapitel 7
Wieder in der Schule udd war richtiggehend übel, als er sich in den dichten Verkehr zur Junior High School einfädelte. Lionel war seltsam ruhig geworden, seit die vier Jugendlichen ins Auto gestiegen waren, aber Ryan plauderte munter drauflos. Vicki hatte nur gesagt, sie frage sich, ob sie wohl jemand erkennen würde. Judd konnte sich nicht daran erinnern, sie in der Vergangenheit gesehen zu haben, aber es bestand ja auch tatsächlich ein Riesenunterschied zwischen der hartgesottenen Herumtreiberin mit den schwarzen Lippen und den schwarz bemalten Augenlidern und der hübschen jungen Frau, die nun neben ihm saß. Für viele der Schüler war dies nichts anderes als der erste Schultag nach langen Ferien. Alle hatten sich sorgfältig gekleidet und ausgestattet, und ihre Eltern brachten sie zur Schule und sahen ihnen ängstlich nach, als sie das Schulgebäude betraten. „Ich frage mich, wie viele wohl ihre Eltern verloren haben“, meinte Ryan. „Mann, da habe ich ja was zu erzählen.“ „Gibt’s denn immer noch eine Erzählstunde?“, fragte Vicki. „Nein, aber bestimmt wollen doch alle den anderen mitteilen, wo sie waren, was sie gesehen haben und wer von ihren Bekannten fort ist und so weiter.“ Im Rückspiegel sah Judd, dass Lionel nickte, aber er starrte auch weiterhin aus dem Fenster. Judd sprach leise mit Vicki. „Willst du ins Schulbüro gehen und dir neue Bücher besorgen?“ „Ich denke schon“, sagte sie. „Vermutlich werden sie mir etwas dafür berechnen.“
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„Wenn du Geld –“ „Ich weiß, Judd“, unterbrach sie ihn schnell. „Danke. Ich sage es dir. Ich werde mir einen Job besorgen.“ „Das musst du aber nicht.“ „Oh doch, das muss ich. Ich bin kein Sozialfall oder so was.“ „Lass mich hier raus“, rief Ryan. „Ich sehe dort einige meiner Freunde!“ „Warte noch“, wandte Judd ein. „Wir müssen darüber sprechen, was du in Bezug auf deine Situation sagen wirst.“ „Meine Situation? Was meinst du? Meine Eltern sind tot. Wie sonst kann ich das ausdrücken? Du denkst doch nicht, ich würde anfangen zu weinen oder so was? Ich glaube nicht, dass ich noch weinen kann.“ Judd ordnete sich in die Schlange der Wagen ein, die vor dem Eingang vorfuhren. „Lionel und du, ihr müsst euch eine Geschichte ausdenken, wo ihr jetzt wohnt.“ „Du meinst, wir sollen lügen?“ „Natürlich nicht. Aber ihr dürft nicht erzählen, dass ihr mit anderen Jugendlichen zusammenwohnt. Ihr könntet sagen, ihr seid bei Leuten aus der Gemeinde untergekommen.“ „Gute Idee“, erwiderte Lionel. „Ich bin nicht sicher, ob ich bereit bin, allen zu erzählen, dass ich als Einziger von meiner Familie zurückgelassen wurde. Aber ich wette, sie wollen wissen, was unserer Meinung nach passiert ist. Wenn sie mich fragen, sage ich es ihnen.“ Judd fuhr an die Seite und hielt an. „Seid ihr sicher, dass ihr nach der Schule nach Hause laufen wollt?“ „Es ist ja nicht weit“, meinte Lionel. „Außerdem müssten wir sonst eine Stunde lang auf euch warten. Es bleibt uns also nichts anderes übrig.“ Judd nickte. Vicki meinte: „Nach der Schule sollten wir uns gegenseitig berichten, was passiert ist, also versucht, euch alles zu merken.“ 61
„Ist ja schon gut“, sagte Ryan. „Jetzt lasst uns endlich gehen!“ „Vielleicht fordern sie die Kinder, deren Eltern fort sind, auf, neue Formulare auszufüllen, wer im Notfall zu benachrichtigen ist“, meinte Judd. „Dann werden wir Bruce Barnes’ Namen und die Telefonnummer der Gemeinde angeben“, sagte Ryan. „Wir haben das alles doch schon unzählige Male durchgekaut.“ Judd entriegelte die Türen, und es schien, als sei Lionel schneller draußen als Ryan. „Auf einmal fühle ich mich wie ein Vater“, sagte Judd zu Vicki, als er sich wieder in den Verkehr einfädelte. „Es hätte mir nichts ausgemacht, noch eine Weile zu warten, bis ich anfange, mir Gedanken zu machen, was ein paar halbwüchsige Teenies den ganzen Tag treiben werden.“ Vicki lächelte nur und nickte. Sie wirkte sehr angespannt. Auf dem Parkplatz der ehemaligen Prospect High School waren Lehrer, Trainer und Büroangestellte dabei, die Wagen einzuwinken. Sie gaben über Megafon ihre Anweisungen. „Macht euch heute keine Gedanken über Parkplaketten! Wir werden das später regeln! Am schwarzen Brett findet ihr Informationen zu Klassenräumen und Stundenplanänderungen! Heute wird nur verkürzter Unterricht stattfinden. Wir beginnen mit einer Schülerversammlung im Field House! Setzt euch zu euren Klassen!“ „Egal wo?“, fragte Judd durch das Fenster. „Nein, die Anfänger sitzen auf der linken Empore, die Schüler der zweiten Jahrgangsstufe auf der rechten Empore, die der dritten Jahrgangsstufe hinten im Saal und die Schüler der vierten Jahrgangsstufe vorn.“ Vicki war sehr blass und den Tränen nahe, als sie aus dem Wagen ausstieg. „Willst du während der Eröffnungsveranstaltung bei mir bleiben?“, fragte Judd. 62
Sie seufzte. „Am liebsten schon. Denkst du, das ginge?“ „Du siehst sowieso nicht wie eine Anfängerin aus“, meinte er. „Vielleicht wirst du dich zu deiner Klasse setzen müssen, falls sie es herausfinden, aber was wollen sie schon machen? Dich rausschmeißen?“ Judd wartete, während Vicki einen Lehrer fragte, was sie wegen ihrer Bücher unternehmen sollte. „Wenn das alles ist, was du verloren hast, Mädchen“, antwortete der Lehrer, „dann kannst du dich glücklich schätzen. Wir werden bei der Versammlung darüber sprechen. Komm nicht zu spät.“ Die Flure waren wie immer überfüllt. Als die Glocke läutete, wurde jedoch klar, dass der Raum, in dem sich bei einer Schülerversammlung die Schüler normalerweise immer gedrängt hatten, nur zu etwa 70 oder 75 Prozent gefüllt war. Und ein ähnliches Zahlenverhältnis galt auch für die Lehrer, die auf der Bühne hinter dem Rednerpult saßen. Judd und Vicki hatten sich zu den Schülern der elften Klasse gesetzt. Die Direktorin, Mrs. Laverne Jenness, trat vor das Mikrofon. „Willkommen zurück“, sagte sie. „Ich bin stolz, euch darüber zu informieren, falls ihr das neue Schild bisher noch nicht gesehen oder in den Nachrichten davon gehört habt, dass ihr keine ,Prospect Knights‘ mehr seid. Ihr seid jetzt ,Nicolai Carpathia Doves‘!“ Vermutlich hatte sie eine begeisterte Reaktion erwartet, denn sie wirkte entsetzt, als die Schüler anfingen zu lachen und Buhrufe zu äußern. Doch als die Lehrer applaudierend aufsprangen, begannen auch die meisten Schüler zu klatschen. Judd dachte zuerst, sie würden sich nur wie gewöhnlich über die Lehrer lustig machen, aber schon bald wurde deutlich, dass sie es durchaus ernst meinten. Mrs. Jenness strahlte. „Ich freue mich über eure Begeisterung“, sagte sie. „Diese Entscheidung musste 63
getroffen werden, ohne euch vorher um eure Meinung zu fragen, aber auf der Verwaltungsebene gab es beinahe uneingeschränkte Unterstützung. Ich freue mich wirklich über eure Zustimmung. Schon lange stand der Name unserer Schule zur Diskussion. Der bisherige war einfallslos und ohne Aussagekraft und gab eigentlich nur den Namen der Stadt wider, in der wir wohnen. Und ein Ritter ist natürlich ein Krieger, ein streitbares Maskottchen. Nach einem so großen, aber gleichzeitig bescheidenen Führer und Pazifisten benannt zu werden wie der UN-Generalsekretär Nicolai Carpathia, nun, das sollte uns alle mit Stolz erfüllen.“ Die Schüler riefen: „Nicolai High! Nicolai High! Nicolai High!“ Mrs. Jenness lächelte, dann hob sie die Hände und bat um Ruhe. „Mir ist bewusst, dass nur wenige Wochen vergangen sind, seit dieses überaus tragische Unglück über unseren Planeten hereingebrochen ist. Viele von euch haben Familie, Freunde und geliebte Menschen verloren. Sie trauern noch immer. Vielen Dank, dass ihr trotzdem wieder zur Schule gekommen seid, um eure Ausbildung fortzusetzen. Wie ihr euch vorstellen könnt, sind die Beratungsdienste, die unser Schuldistrikt anbietet, vollkommen überlastet. Aber wenn ihr professionelle Hilfe braucht, setzt euren Namen bitte auf die Warteliste. Habt keine Angst und schämt euch nicht, darum zu bitten. Wir alle versuchen, den Schock zu zu verarbeiten.“ Judd bekam einen Stoß in die Seite. Vicki deutete auf zwei Schüler der zwölften Jahrgangsstufe, die einige Reihen vor ihnen saßen. „Sind das Bibeln?“, fragte sie. „Sieht so aus“, antwortete Judd. „Kennst du sie?“ Vicki schüttelte den Kopf. „Hey, sieh nur.“ Ein Fußballtrainer ging zu den Schülern, hockte sich in den Gang und sprach mit ihnen, lächelte, nahm ihnen aber trotzdem die Bibeln ab. Als er vorbeieilte, griff Judd nach ihm und flüsterte: „Was sollte das, Coach Handlesman?“ 64
„Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Thompson“, erklärte Handlesman. „An dieser Schule waren Bibeln noch nie erlaubt.“ „Aber selbst jetzt, nach allem, was passiert ist?“ „Gerade jetzt“, erwiderte der Trainer und ging weiter. „Merk dir die beiden, Vicki“, sagte Judd. „Wir werden alle Freunde brauchen, die wir kriegen können.“ Mrs. Jenness sprach weiter über die Schwierigkeiten und die erlebten Traumata. Die Klassen würden zusammengelegt werden müssen, und es galt Schwierigkeiten zu überwinden. „Habt Geduld mit uns. Wir werden unser Bestes tun, um die Klassen neu zusammenzufassen und neue Stundenpläne aufzustellen. Die Zahl der fehlenden Schüler und Lehrer scheint sich ungefähr die Waage zu halten, darum werden die Klassengrößen ungefähr gleich bleiben. Diejenigen, die ihre Bücher verloren haben, können sich bis Freitag im Buchladen neue Bücher kaufen. Sagt euren Lehrern Bescheid. Und jetzt, bevor ich euch entlasse, möchte ich euch gern um eure Hilfe bitten. Nach dieser weltweiten Tragödie, von der wir heimgesucht worden sind, ist es nur natürlich, dass ihr das Bedürfnis habt, darüber zu sprechen. Es ist wichtig, und unsere Therapeuten haben mir geraten, euch Gelegenheit dazu zu geben. Wenn also alle Formalitäten erledigt sind, werden die Lehrer euch die Möglichkeit geben, über das Erlebte zu reden. Einige von euch möchten vielleicht über ihren Verlust und ihre Ängste sprechen. Andere möchten das lieber nicht. Bitte respektiert diese Schüler und fragt sie nicht nach Einzelheiten, bevor sie bereit sind, von sich aus zu erzählen. Und ihr könnt noch etwas für mich tun. Wie ihr wisst, hat es viele Spekulationen in Bezug auf die Ursache für das große Massenverschwinden gegeben. Nach Meinung unserer Berater gehört es zum Heilungsprozess, dass ihr euch Gedanken dazu macht und diese Gedanken auch 65
aussprecht. Aber ich muss euch an die strikte Trennung von Staat und Kirche erinnern, die dazu beigetragen hat, dieses Land groß zu machen. Wir sind eine öffentliche Einrichtung, und dies ist kein Forum, in dem wir religiöse Ansichten vertreten sollten. Ich weiß, dass viele Erklärungen für die Ereignisse religiösen Ursprungs sind. Ich sage nicht, dass sie keine Gültigkeit haben. Wie die meisten von euch habe ich Angehörige verloren. Ihre nächsten Familienmitglieder haben mich daran erinnert, dass diejenigen, die verschwunden sind, so etwas vorhergesagt und uns erklärt hätten, was von einem solchen Ereignis zu halten sei. Obwohl dies auch in meiner Verwandtschaft geschehen ist und obwohl man diese Dinge durchaus näher untersuchen sollte, werde ich sie nicht auf Schuleigentum und während des Unterrichts diskutieren. Und ich bitte euch, das auch nicht zu tun. Selbst wenn ich von ganzem Herzen glauben würde, dass dies die beste Erklärung für das große Massenverschwinden ist, was selbstverständlich nicht der Fall ist, da könnt ihr sicher sein, würde ich sagen, dass hier der falsche Ort ist, um solche Ansichten zu vertreten. Vielen Dank für euer Verständnis. Ich bitte euch, euch eure Fragen bis zum Unterricht aufzuheben, es sei denn, jemand hat ein dringendes Thema, das die gesamte Schülerschaft interessiert. Also dann … oh, da ist ja doch eine Frage von einem Schüler. Bitte stehen Sie auf, nennen Sie laut und deutlich Ihren Namen und stellen Sie Ihre Frage, sodass ich sie verstehen und über das Mikrofon wiederholen kann. Aber wenn es nicht etwas ist, das die gesamte Schule betrifft, möchte ich Sie bitten –“ „Es betrifft die ganze Schule, Mrs. Jenness!“, rief Judd mit klopfendem Herzen. „Mein Name ist Judd Thompson, und ich habe mich gefragt, ob Sie das nicht noch ein wenig deutlicher formulieren könnten!“ „Was denn, Mr. Thompson? Was ist unklar?“ 66
„Warum die Redefreiheit nur für diejenigen gilt, die bestimmte Ansichten in Bezug auf die Ursache dieses Ereignisses unterstützen.“ „Dies ist keine Frage der Redefreiheit, junger Mann. Hier geht es um die Unabhängigkeit von Staat und Kirche. Vielen Dank, dass Sie die Frage angeschnitten haben, aber bitte bauschen Sie nichts auf, was jeder Grundlage entbehrt. Ihr könnt jetzt gehen!“ Judd war außer Atem und hatte einen knallroten Kopf, als er seine Sachen zusammensuchte. „Ich kann kaum glauben, dass du das gemacht hast“, sagte Vicki. Er betrachtete sie genau, um zu sehen, ob ihr das peinlich war oder ob sie es missbilligte. „Das war ich nicht“, antwortete er und schüttelte den Kopf. „Das war mein böser Zwillingsbruder. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben getan. Ich glaube nicht, dass ich überhaupt jemals in einer Schülerversammlung aufgepasst habe.“ „Hey, Judd, komm mit, Mann“, rief einer seiner Klassenkameraden und stieß ihm den Ellbogen in die Seite. „Das war ganz schön gewagt!“ Judd wollte dem Jungen sagen, dass er es ernst gemeint hatte, aber dieser war bereits in der Menge verschwunden. Coach Handlesman drängte sich zu Judd und Vicki durch. „Ich mochte dich mehr, als du dich noch unauffällig und uninteressiert verhalten hast, Thompson. Jetzt bist du anscheinend zum Klugscheißer avanciert, ja?“ „Nein, ich bin nur der Meinung, dass man Menschen, die versuchen die Wahrheit herauszufinden, keine Beschränkungen auferlegen sollte.“ „Ha, ha“, erwiderte der Coach und verschwand in der Menge. „Sei vorsichtig“, sagte Vicki. „Wir wollen doch nicht allzu sehr auffallen.“ „Was hast du in der ersten Stunde?“, fragte Judd. „Sport“, erwiderte sie. „Und du?“ 67
„Psychologie.“ „Das wird bestimmt interessant“, meinte sie. Judd nickte ihr zu, doch ihm fiel auf, dass Vicki abgelenkt war. Sie sah an ihm vorbei und erblasste. „Shelly?“, rief sie. „Shelly! Bist du das?“ Judd wollte Vicki sagen, dass er für sie beten würde, aber das klang zu abgedroschen, und außerdem war sie sowieso beschäftigt. Und seine Psychologiestunde mit Mr. Shellenberger fand in einem Raum am anderen Ende der Schule statt.
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Kapitel 8
Widerstand icki hatte nicht vorgehabt, Judd zu ignorieren oder ihn stehen zu lassen, aber er war verschwunden, noch bevor sie sich wieder zu ihm umgedreht hatte. Sie hatte ihre frühere Nachbarin Shelly seit dem Tag, an dem sie beide entdeckt hatten, was passiert war, nicht mehr gesehen, und sie hatte auch seither nichts mehr von ihr gehört. Sehr zu Vickis Entsetzen sah Shelly noch immer so aus wie an jenem Tag. Die Fünfzehnjährige starrte in die Ferne, als würde sie unaussprechliche Dinge sehen. „Alles in Ordnung, Shel?“, fragte Vicki. Shelly sah sie an; ihr glattes braunes Haar wirkte leblos und ungepflegt, ihre blassen grünen Augen blickten leer. „Ich kenne dich nicht“, sagte sie. „Natürlich kennst du mich, Shelly. Ich bin’s, Vicki.“ Shelly runzelte die Stirn und blinzelte. „Das gibt’s doch nicht“, erwiderte sie. „Vick, was ist denn mit dir passiert?“ „Mit mir?“ Die Worte waren heraus, noch bevor Vicki es verhindern konnte. Shelly war diejenige, die nicht mehr sie selbst zu sein schien. Vicki war jetzt vielleicht anders geschminkt und gekleidet, aber Shelly sah aus wie ein geprügelter Hund. „Bist du das wirklich, Vicki?“ Vicki nickte. „Shelly, ich weiß, was passiert ist. Ich habe meine gesamte Familie verloren, und –“ „Ich will nicht darüber sprechen, okay? Das will ich wirklich nicht.“ „Aber so schrecklich das auch war, Shelly, ich –“ „Nein!“, erwiderte sie zitternd.
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