657382

Page 1

Kapitel 9

Die Flucht m späten Donnerstagabend fuhren Judd, Vicki, Lionel und Ryan zur Nicolai High. Vicki hatte ein Fenster in der Dusche des Umkleideraumes vor der Turnhalle leicht geöffnet gelassen. Judd parkte ein paar Straßen entfernt und jeder schnappte sich eine Schachtel mit Ausgaben der Tribulation News. Es war ihre bisher beste Ausgabe. Dank Johns Computerkenntnissen sah sie richtig professionell aus. Die Leser der Tribulation News würden erfahren, dass die Unterzeichnung des Vertrages mit Israel am kommenden Montag in der Bibel vorhergesagt worden war. Die Leser sollten davon überzeugt werden, dass die Schreiber wussten, wovon sie sprachen. Sie wurden aufgefordert, ihre Beziehung zu Gott vor dem Beginn der Trübsalszeit in Ordnung zu bringen. John und Mark hatten sogar eine nicht zurückverfolgbare E-Mail-Adresse angegeben, an die sich die Leser wenden konnten, wenn sie weitere Informationen haben wollten oder Interesse an einer Bibelgruppe hatten. Die Jugendlichen waren sich auch bewusst, dass die Sache mit dieser Prophezeiung schief gehen konnte. Sollte Bruce sich in Bezug auf die Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Israel geirrt haben, verloren sie ihre Glaubwürdigkeit. Doch dieses Risiko wollten sie eingehen. Alle vier Jugendlichen trugen dunkle Kleidung und hatten sich eine Mütze tief ins Gesicht gezogen, da sie gehört hatten, dass seit kurzem Überwachungskameras installiert worden waren. Judd und Lionel sollten sich zum hinteren Eingang

A

78

der Schule schleichen. Dort konnten sie sich leicht hinter den Büschen verstecken. Vicki und Ryan tasteten sich an der hinteren Wand entlang zu einem Innenhof. Dieser Hof war gut beleuchtet und auf Vickis Signal hin, überquerten sie schnell den Hof. Ryan folgte ihr in die Dunkelheit. Vorsichtig stiegen sie ein paar Stufen zu einem Keller hinab. Zumindest roch es wie ein Keller. Eine schwache Glühbirne erleuchtete eine Tür mit einem vergitterten Fenster. Etwas weiter unten befand sich ein kleines, mit Spinnweben überzogenes Fenster. „Das habe ich offen gelassen“, flüsterte Vicki. „Wir befinden uns unmittelbar unter der Turnhalle in der Nähe der Duschen.“ Vicki stieß das Fenster auf. „Kannst du dich hindurchzwängen?“ „Es ist eng“, stöhnte Ryan. „Kein Wunder, dass du das nicht wolltest. Sieht so aus, als würden die Spinnen hier eine Party feiern.“ „Mist! Geh links zu der Treppe und hoch in die Turnhalle, über das Basketballfeld zum Hintereingang. Dort befinden sich die einzigen Türen, die nicht an die Alarmanlage gekoppelt sind.“ Vicki kehrte zu Judd und Lionel zurück. Erst wenn Ryan die Tür öffnete, wollten sie zum Schulgebäude rennen. „Warum dauert das denn so lange?“, flüsterte Lionel. „Es ist ein weiter Weg“, erklärte Vicki. „Und ziemlich dunkel. Vermutlich muss er sich vortasten.“ „Und wenn ein Hausmeister da ist?“, fragte Judd. „Oder einer der Typen von der Weltgemeinschaft?“ „Daran darf ich nicht mal denken“, meinte Vicki. Der Wind wurde stärker. Judd und Lionel setzten sich auf die offenen Schachteln, damit die Zeitungen nicht davonflogen. Sie zogen sich ihre Mützen tief ins Gesicht. „Seht nur“, sagte Vicki. Eine Tür am Ende der Sport– halle wurde geöffnet. Ryan steckte den Kopf heraus. Er 79


hielt den Daumen in die Höhe. Die drei rannten mit den Schachteln zur Turnhalle. Schon bald waren sie im Innern und in Sicherheit. „Ich bin falsch abgebogen und fand mich schließlich in einem großen Lagerraum wieder“, berichtete Ryan. „Sah aus wie ein Verlies. Das ideale Versteck für meine Bibeln. Ich musste unter der Treppe warten, weil der Hausmeister herunterkam. Er fegt den Umkleideraum oder so was.“ „Dann müssen wir uns beeilen“, sagte Judd. „Und versteckt euch, falls ihr ihn hört.“ „Man kann ihn nicht überhören“, erklärte Ryan. „Es scheint so, als hätte er einen großen Schlüsselring bei sich.“ Sie teilten sich in zwei Paare auf. Judd und Ryan nahmen sich die eine Seite der Schule vor, Vicki und Lionel die andere. Sie wollten sich in der Mitte treffen. In aller Eile falteten sie die Exemplare der Tribulation News und steckten sie durch den Schlitz in jeden Spind. Nur langsam kamen sie voran. Es war zwei Uhr morgens, als sie sich schließlich vor dem Schulbüro trafen. „Seht nur dort oben hinter dem Gitter“, sagte Judd. „Sie haben tatsächlich Kameras installiert. Morgen sehen sie sich bestimmt die Bänder an.“ „Können wir jetzt gehen?“, fragte Ryan. „Ich möchte nach Phönix sehen.“ „Ryan, warte!“, rief Vicki. Doch bevor sie ihn aufhalten konnte, stieß Ryan die Feuertüren auf. Ein schriller Alarm ging los. Ryan drehte sich mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen um. „Das wollte ich nicht“, flüsterte er. „Hier entlang!“, rief Judd. Sie rannten zur Turnhalle zurück. Als sie die Türen erreichten, hörte Vicki das Klingeln von Schlüsseln. Der Hausmeister. Er kam rasch näher. Judd riss die Tür auf und wollte hinauslaufen, doch dann blieb er wie angewurzelt stehen. Eine Sirene. Das Knirschen von Reifen auf dem Kies. 80

„Wir können es schaffen“, sagte Lionel. „Wir haben eine bessere Chance, wenn wir uns verstecken“, meinte Judd. „Das ist ein offenes Feld. Sie werden uns ganz bestimmt entdecken.“ „Das Verlies“, schlug Ryan vor. Schnell rannten sie nach unten, weg von den klirrenden Schlüsseln. Vicki spürte die Spinnen. Überall. Sie erschauerte und hielt sich ganz in Judds Nähe. Nach wenigen Minuten hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie befanden sich in einem innenliegenden Raum unterhalb der Turnhalle. Schachteln mit Papier und anderen Utensilien waren in dem Raum gestapelt. Die vier Jugendlichen hockten sich hinter ein paar Kartons. „Keine Sorge“, flüsterte Ryan, während er die Spinnweben fortwischte. „Das sind nur Überreste von Spinnen. Sie werden euch nichts tun.“ Judd kramte in seiner Tasche, dann hob er die Hand, um die anderen zum Schweigen zu bringen. Über sich hörten sie Schritte. „Sie sind in der Turnhalle“, flüsterte Lionel. „Ich hoffe nur, dass sie keine Hunde haben.“ „Hunde?“, fragte Vicki. Die Schritte kamen näher. Ein Lichtstrahl tanzte durch den Flur. Ein Mann rief und ein anderer kam zu ihm. „Durch dieses Fenster sind sie eingestiegen“, sagte der eine Mann. „Ich habe sie gehört. Ich habe hier im Flur gearbeitet. Vermutlich wollten sie ein paar Wände mit Farbe besprühen. Ich wette, wir haben sie mittlerweile verscheucht. Bestimmt sind sie auf demselben Weg verschwunden, auf dem sie hereingekommen sind.“ Der Lichtschein kam näher. „Hier unten stinkt es erbärmlich“, sagte der erste Mann. „Das kann ich dir sagen. Ich bin fast jeden Abend hier unten und habe mich noch immer nicht daran gewöhnt. Komm, lass uns hier verschwinden.“ 81


Die Jugendlichen warteten ein paar Minuten, dann schlichen sie auf Zehenspitzen zur Turnhalle. Die Männer waren weg. Judd öffnete die hinteren Türen der Turnhalle und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Nachdem die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, entdeckten sie das Blinklicht. Blaues Licht. Eine Stimme ertönte über Lautsprecher. „Polizei! Stehen bleiben!“ „Verteilt euch!“, schrie Judd. „Versucht, zum Wagen zu kommen!“ Vicki rannte mit Ryan los. Der Polizeiwagen setzte sich in Bewegung und fuhr in eine andere Richtung. Hinter Judd her, dachte sie. Sie und Ryan rannten an dem Fußballfeld vorbei in Richtung Stadt. Als sie die ersten Häuser erreicht hatten, blieben sie stehen, um Atem zu schöpfen. „Wo steht der Wagen?“, fragte Ryan. „In diese Richtung“, keuchte Vicki. „Du bist ganz schön schnell.“ Vicki und Ryan entschieden sich für den längeren Weg über Rasen und durch kleine Gassen. Ein Hund schnappte nach ihnen, als sie über einen Zaun steigen wollten. Als sie den Wagen endlich erreichten, waren weder Judd noch Lionel zu sehen. Ein Wagen kam mit ausgeschalteten Scheinwerfern näher. Schnell duckten sich Vicki und Ryan neben Judds Wagen. „Sie sind nicht da“, sagte eine Stimme. „Das ist Judd“, rief Ryan und erhob sich. „Nicht! Es könnte eine Falle sein!“, rief Vicki, aber es war zu spät. „Hey“, sagte Judd. „Ihr habt es also geschafft.“ „Wie seid ihr denn entkommen?“, fragte Vicki, die sich nun ebenfalls erhob. Judd und Lionel saßen auf dem Rücksitz des Wagens, John und Mark vorne. „Ich habe Judds Notruf auf dem Piepser bekommen“, erklärte John, „und wir sind gerade rechtzeitig gekom82

men, um zu sehen, wie diese beiden um ihr Leben gelaufen sind.“ Judd konnte nicht einschlafen. Er ging hinunter ins Wohnzimmer, wo auch die anderen saßen. Sie waren so aufgedreht, dass sie sich zusammengesetzt hatten und sich unterhielten. „So geht das nicht weiter, das halten wir nie und nimmer durch“, sagte er schließlich. „Zu viele kurze Nächte hintereinander. Selbst wenn wir nicht schlafen können, sollten wir ins Bett gehen und uns wenigstens ausruhen. Morgen wird es in der Schule hoch hergehen.“ Kurz vor Sonnenaufgang schlief Judd dann endlich ein und alle kamen zu spät zur Schule. Als er und Vicki das Schulgebäude betraten, sagte sie: „Ich dachte, die Leute von der Weltgemeinschaft würden heute wieder alle durchsuchen.“ Judd zuckte die Achseln. „Ich auch“, meinte er. In diesem Augenblick entdeckten sie die Schülerschlangen im Flur. Lehrer und Aufpasser der Weltgemeinschaft gingen mit Mülltüten bewaffnet von Spind zu Spind und holten die Exemplare der Tribulation News heraus. Mr. Handlesman brüllte die Schüler an und schlug mit der Hand gegen die Türen ihrer Spinde, wenn sie sich zu langsam bewegten. „Schüler, deren Spinde sich im linken Flügel befinden, haben sich sofort dort einzufinden“, verkündete Mrs. Jenness über Lautsprecher. „Alle anderen bleiben in ihrer Klasse.“ John gesellte sich zu Judd und Vicki. „Alle, die noch vor der ersten Stunde ihren Spind aufgemacht haben, haben ein Exemplar bekommen“, flüsterte John. „Jetzt ist die Schulleitung dabei, Schadensbegrenzung zu betreiben. Aber ihr solltet die Schüler hören, Judd. Alle sprechen darüber.“ Vickis Sportklasse saß auf der Tribüne. Niemand hatte sich bisher umgezogen. Mrs. Waltonen war in ein 83


Gespräch mit einer Assistentin vertieft. Die Mädchen unterhielten sich. Vicki saß vorne und hörte zu. „Warum sollen wir das denn nicht lesen?“, fragte ein Mädchen. „Es ist gefährlich“, antwortete ein anderes. „Da steht, am Montag würde ein Vertrag unterschrieben. Und der soll in der Bibel vorhergesagt worden sein.“ „Die Bibel war für mich immer ein Buch mit sieben Siegeln.“ „Aber hier steht, man könnte verstehen, was darin steht. Das finde ich logisch.“ Die Mädchen in Vickis Nähe flüsterten: „Ich möchte die Zeitung lesen. Mir ist egal, was sie sagen. Wenn ich eine auftreiben kann, werde ich sie behalten.“ Vicki war außer sich vor Freude. Genau das hatten sich die Mitglieder der Teens Tribulation Force erhofft. Am Ende der Stunde ertönte Mr. Handlesmans Stimme über den Lautsprecher. „Wir sind gerade Zeuge des letzten Falles von Rebellion an der ,Nicolai High‘ geworden. Wir werden die Verantwortlichen finden und wir werden sie noch heute finden. Jeder, der hilfreiche Informationen für uns hat, sollte sich sofort im Schulbüro melden.“ Ängstlich schlichen die Schüler durch die Gänge, als würden sie Kriegsgebiet durchqueren. Vicki wusste es zwar besser, doch sie hatte trotzdem das Gefühl, als würden ihre Mitschüler sie seltsam ansehen, so als wüssten sie von ihrer Mitarbeit an dieser Zeitung. Im Englischunterricht fragte Mr. Carlson: „Wie viele von euch haben diese Zeitung denn gelesen?“ Ein paar hoben die Hand. Vicki wusste, es mussten mehr sein, aber sie konnte nicht sagen, ob sie nur Angst hatten, sich zu melden, oder ob sie noch gar nicht hineingesehen hatten. „Warum empfindet die Schulleitung sie als so bedrohlich? Was meint ihr?“, fragte Mr. Carlson. 84

„Es gibt eine Menge Spinner an der Schule“, behauptete ein Mädchen. Vicki wusste, dass sie an der Schülerzeitung mitarbeitete. „Vielleicht versuchen sie, uns zu manipulieren, indem sie uns einreden wollen, Mr. Carpathia sei der Antichrist.“ „,Spinner‘ ist genau das richtige Wort“, meinte ein anderer. „Ich dachte, alle diese Leute seien weg.“ „Und wenn nun einer von euch zu diesen Spinnern gehören würde?“, fragte Carlson. „Ein Mitschüler? Ein Klassenkamerad?“ Die Schüler sahen sich im Klassenraum um. Sie lachten und deuteten gegenseitig auf sich. Vicki spürte, wie sie errötete. Mr. Carlson versuchte, die Ordnung wieder herzustellen, doch er schaffte es erst, als Coach Handlesman mit zwei Soldaten der Weltgemeinschaft eintrat. Plötzlich herrschte Totenstille im Raum. Die Beamten bauten sich neben der Tür auf, während Handlesman mit Mr. Carlson sprach. „Sie machen wohl Witze“, lachte Carlson. „Das muss ein Irrtum sein.“ Coach Handlesman wandte sich der Klasse zu. „Wer von euch ist Vicki Byrne?“ Vicki hielt die Luft an, als alle Schüler sich zu ihr umdrehten und sie ansahen. „Warum?“, fragte sie. „Was ist denn los?“ Coach Handlesman ging auf ihr Pult zu. Er beugte sich über sie. „Wir wissen Bescheid“, sagte er. „Es ist vorbei.“

85


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.