Ende, zum wirklichen Ende, bis zur Wiederkunft Jesu und dem Tausendjährigen Reich zu zählen. Natürlich würde vorher noch vieles geschehen, aber die Schwindel erregenden Ereignisse der vergangenen Wochen, die regelrecht an den Menschen vorübergerast waren, würden noch vor dem letzten Gericht Gottes vor der Schlacht von Armageddon in eine wundervolle Ruhepause übergehen. Dann würden die Geschehnisse wieder ihren Lauf nehmen. Wie sehr freute er sich auf wenigstens eine kleine Ruhepause zwischen den Krisen. Rayford kämmte sich das Haar zurück und setzte seine Kappe auf. Die kommenden Tage würden darüber entscheiden, ob er und seine Freunde bis zum Ende überleben würden.
Buck stand unter der Dusche und ließ das Wasser so heiß über sich fließen, wie er es ertragen konnte. Doch scheinbar war im Hotel „König David“ eine Regulierung eingebaut, denn nach ein paar Minuten wurde das Wasser zuerst lauwarm, dann kalt. Da Personal und Energie knapp waren, mussten sie sich augenscheinlich auf diese Weise behelfen. Buck steckte gerade so viel Geld ein, wie er brauchte, um den Wagen vollzutanken. Chaims Rat folgend, ließ er seine Brieftasche und seinen Pass im Zimmer zurück. Einen Parkplatz zu finden war noch schwieriger als am Tag zuvor, und er musste eine halbe Meile weit laufen, bis er endlich die Straße erreichte, an der noch zu beiden Seiten die verlassenen Militärfahrzeuge standen. Trotz der frühen Morgenstunde herrschte bereits ansehnlicher Betrieb auf dem Tempelberg. Riesige Fernsehmonitore hingen an jedem Aussichtspunkt, und die Menschen, die auf die für den Mittag angesetzten Festlichkeiten warteten, vertrieben sich die Zeit, indem sie die Sendungen des GC Networks verfolgten, und winkten, wann immer sie sich selbst auf dem Bildschirm entdeckten. Zu Bucks großer Erleichterung erspähte er Chaim sofort. Dieser saß nicht weit von der Stelle entfernt, an der die beiden Zeugen gesessen hatten, wenn sie sich vom Predigen ausruhten. Buck eilte zu ihm hinüber. Mit übereinandergeschlagenen Beinen saß der alte Mann da und starrte in den Himmel „Guten Morgen Chaim“, grüßte er ihn, aber sein Gegenüber ignorierte ihn. „Tut mir Leid“, fügte Buck schnell hinzu. „Micha.“ Chaim lächelte unmerklich und wandte sich ihm zu. „Cameron, mein Freund.“
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„Haben Sie etwas gegessen?“ „Ich bin noch immer nicht hungrig“, erwiderte Chaim. „Bemerkenswert.“ „Gott ist gut.“ „Und hat er Sie ermutigt, gestärkt, bevollmächtigt?“, fragte Buck. „Ja, ich bin bereit.“ Seine Worte klangen jedoch alles andere als mutig. Im Gegenteil, er wirkte sogar noch müder als am Tag zuvor. „Haben Sie geschlafen?“, fragte Buck. „Nein, aber ich habe geruht.“ „Wie funktioniert das?“ „Es gibt nichts Besseres als das Ruhen im Herrn“, erklärte Chaim, als habe er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan. „Und was geschieht nun?“, fragte Buck. „Wie sieht der Plan aus?“ „Gott wird es uns zeigen. Er offenbart mir nur, was ich wissen muss und wann ich es wissen muss.“ „Unglaublich.“ „Höre ich da eine Spur Sarkasmus aus Ihren Worten heraus, Cameron?“ „Ich bekenne mich schuldig. Ich plane gern alles bis ins Detail.“ Chaim griff nach Bucks Hand und erhob sich unsicher. Er stöhnte, als seine Gelenke knackten. „Aber dies ist weder mein Plan noch mein Projekt, Sie verstehen.“ „Ich denke schon. Wir stehen also einfach herum und warten?“ „Oh nein, Cameron. Nicht einmal ich habe die Geduld, bis zum Mittag zu warten.“ „Und wenn Carpathia erst dann in Erscheinung tritt?“ „Ein Aufruhr wird ihn schon aus seinem Loch treiben.“ Buck fand das faszinierend, aber dieser zerbrechliche alte Mann sah kaum so aus, als könne er etwas bewirken. Erwartete er etwa, dass Buck etwas unternahm? Ohne Papiere? Ohne das Loyalitätszeichen? Buck war bereit, aber er wusste noch nicht, was er von Chaims Urteilsvermögen halten sollte. „Wann haben sie aufgehört, das Zeichen zu verteilen?“, fragte Buck. „Sie haben gar nicht aufgehört. Sehen Sie, zwei Reihen dort drüben bleiben offen, aber es scheint, dass die eine Vergabestelle geschlossen wird, obwohl noch so viele Menschen warten. Sie haben heute Morgen nichts bemerkt, Cameron?“ „Etwas bemerkt?“
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„Den Unterschied zwischen heute und gestern.“ Buck sah sich um. „Die Menge ist größer und alle waren früher auf den Beinen. Die Militärfahrzeuge stehen noch immer vor der Altstadt. Aber warum schließen sie eine Vergabestelle, wenn noch Menschen warten? Und warum sind sie gestern nicht fertig geworden? Sind noch mehr Menschen aufgetaucht?“ „Und Sie wollen Journalist sein!“ „Also gut, Sie haben gewonnen. Was habe ich übersehen?“ „Sie haben es selbst gesagt. Die Fahrzeuge stehen noch da.“ „Ach ja? Eine Demonstration der Stärke. Vermutlich rechnet Carpathia heute mit Opposition.“ „Aber sie würden doch nicht gehen und dann wiederkommen“, wandte Chaim ein. „Denken Sie, diese Soldaten hätten in den Fahrzeugen geschlafen? Das brauchen sie gar nicht. Es gibt Unterkünfte, Quartiere, in denen sie sich aufhalten können.“ „Und das heißt …?“ „Wie viele Soldaten haben Sie heute bei den Fahrzeugen gesehen?“ „Um ehrlich zu sein, Chaim, äh, Micha, ich war so darauf konzentriert, Sie zu finden und mich von Ihrem Wohlergehen zu überzeugen, dass ich nicht darauf geachtet habe. Ich war zu sehr in Eile.“ „Bestimmt. Und jetzt schauen Sie mal nach dort drüben: Sie weisen die Wartenden der noch geöffneten Reihe zu.“ „Und vermutlich wissen Sie auch den Grund dafür.“ „Natürlich“, erwiderte Chaim. „Und Sie sind nicht einmal Journalist. Aber trotzdem werden Sie es mir sagen.“ „Sie haben diese Reihe aus demselben Grund geschlossen, aus dem sich heute auf dem Tempelberg Zivilisten tummeln und keine Angehörigen der Weltgemeinschaft.“ Buck wirbelte herum und ließ seinen Blick über den gesamten Bereich schweifen. „Allerdings. Wo stecken sie nur?“ „Sie leiden. Schon bald wird es ihnen so schlecht ergehen wie dem armen Mr. Fortunato, der sich so elend fühlt, dass er beinahe dem Tode nahe ist. Wie unglaublich findig von unserem Herrn, jemandem die Idee zu geben, dass die Angehörigen der Weltgemeinschaft zuerst das Zeichen annehmen sollen. Sie haben das Zeichen des Tieres erhalten und sein Bild angebetet. Und jetzt sind sie Opfer der Prophezeiung aus Offenbarung, Kapitel 16, Vers 1 und 2.“ „Die Plage der Geschwüre!“, flüsterte Buck.
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Chaim blickte ihn bedeutungsvoll an, dann setzte er sich in Bewegung und trat in einen offenen Bereich. Buck stolperte und wäre beinahe gefallen, so verblüfft war er von den tiefen Tönen, die aus der Kehle des zierlichen Mannes kamen. Chaims Stimme war so laut, dass alle inne hielten und herüberstarrten. Buck musste sich die Ohren zuhalten. „,Dann hörte ich‘“, rief er, „,wie eine laute Stimme aus dem Tempel den sieben Engeln zurief: Geht und gießt die sieben Schalen mit dem Zorn Gottes über die Erde! Der erste ging und goss seine Schale über das Land. Da bildete sich ein böses und schlimmes Geschwür an den Menschen, die das Kennzeichen des Tieres trugen und sein Standbild anbeteten.‘“ Die Menschen, die auf dem Tempelberg herumschlenderten, blieben stehen und erschraken bei der durchdringenden Stimme. Buck staunte über Chaims Haltung. Der alte Mann stand gerade und wirkte größer, seine Brust wölbte sich, wenn er zwischen den Sätzen einatmete. Seine Augen funkelten, sein Kiefer war angespannt und er gestikulierte mit geballten Fäusten. Jetzt begannen die Neugierigen, sich um den alten Mann in dem braunen Gewand zu versammeln. „Was?“, fragte jemand. „Was sagst du?“ „Wer Ohren hat zu hören, der höre! Der Gott des Himmels hat den Menschen der Sünde gerichtet, und diejenigen, die sein Zeichen angenommen und sein Bild angebetet haben, sind heimgesucht worden!“ „Verrückter alter Narr!“, rief ein anderer. „Du wirst noch getötet werden!“ „Bevor du weißt, wie dir geschieht, werden wir deinen Kopf rollen sehen, alter Mann!“ Buck hatte den Eindruck, dass Chaims Stimme noch lauter wurde, falls das überhaupt möglich war. Er brauchte keinen Verstärker, denn es war offensichtlich, dass alle Menschen auf dem Berg ihn hören konnten. „Niemand wird es wagen, die Hand gegen den Auserwählten des Herrn zu erheben.“ Die Leute lachten. „Du bist ein Auserwählter? Wo ist dein Gott? Kannst du tun, was unser auferstandener Potentat tun kann? Willst du, dass Feuer vom Himmel fällt und von dir nur noch ein Häufchen Asche übrig bleibt?“ „Ich verlange, von dem Bösen gehört zu werden! Er muss sich vor dem einen wahren Gott verantworten, dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs! Er soll es nicht wagen, das Volk Israel anzutasten, die an
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den allerhöchsten Gott und seinen Sohn glauben, den Messias, Jesus von Nazareth!“ „Du hörst besser –“ „Ruhe!“, brüllte Chaim und das Echo hallte von den Mauern wider. Die Menge war sprachlos. Drei junge bewaffnete Soldaten in Uniform kamen angelaufen. Auch eine Frau befand sich darunter. „Ihre Papiere, bitte“, forderte sie. „Ich habe keine Papiere und brauche sie auch nicht. Ich stehe hier in der Autorität des Schöpfers des Himmels und der Erde.“ „Ihre Stirn ist ohne Zeichen. Zeigen Sie mir Ihre Hand.“ Chaim zeigte seinen rechten Handrücken. „Siehe die Hand des Dieners Gottes.“ Die Frau hob ihre Pistole und stieß Chaim am Arm an. Sie wollte ihn zu der Warteschlange vor der Verteilstelle des Loyalitätszeichens schieben. Doch er rührte sich nicht. „Kommen Sie, Sir. Sie sind entweder betrunken oder unterernährt. Ersparen Sie sich den Kummer und mir den Papierkram. Lassen Sie sich Ihr Zeichen geben.“ „Und dann das Bild Carpathias anbeten?“ Sie funkelte ihn an und entsicherte ihre Pistole. „Sie werden ihn als Seine Exzellenz oder Seine Heiligkeit oder als den auferstandenen Potentaten ansprechen.“ „Ich nenne ihn den Fleisch gewordenen Satan!“ Sie drückte Chaim den Lauf ihrer Waffe an die Brust und schien abdrücken zu wollen. Buck trat vor; er fürchtete, jeden Augenblick den Schuss zu hören und seinen Freund auf das Pflaster fallen zu sehen. Aber die junge Frau rührte sich nicht, sie blinzelte nicht einmal mit den Augen. Chaim sah ihre Partner an. „Wann haben Sie Ihr Zeichen erhalten?“ Die Angesprochenen legten ihre Waffen an. „Wir gehörten zu den Letzten“, erklärte einer. „Und Sie haben das Bild angebetet?“ „Natürlich.“ „Dann werden auch Sie bald leiden. Die Geschwüre haben sich bereits in Ihrem Körper ausgebreitet.“ Der eine blickte den anderen an. „Ich habe tatsächlich etwas am Unterarm. Sieh nur.“ Sein Gegenüber entgegnete: „Willst du wohl aufhören? Wir haben das Recht, diesen Mann zu erschießen, und ich hätte gute Lust, das zu tun.“
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„Erschießt ihn!“, rief jemand aus der Menge. „Was ist mit eurer Kollegin los?“ Beide betrachteten sie vorsichtig, dann wandten sie sich erneut Chaim zu: „Sir, wir müssen Sie bitten, sich in die Warteschlange zu stellen, sonst werden Sie die Konsequenzen zu tragen haben.“ „Ich bin nicht zum Märtyrertum aufgerufen worden, junger Mann. Wenn meine Zeit kommt, werde ich mich stolz vor der Klinge beugen und den Gott des Himmels anbeten. Aber wenn Sie nicht auch bewegungsunfähig werden wollen, sollten Sie dem Einen, den Sie anbeten, mitteilen, dass ich mit ihm sprechen möchte.“ Einer der Soldaten drehte sich um und sprach in sein Walkie-Talkie. Dann: „Ich weiß, Sir. Aber Korporal Riehl kann sich nicht rühren, und –“ „Was?“ „Er hat sie gelähmt, Sir, und –“ „Wie?“ „Das wissen wir nicht! Er fordert –“ „Erschießen Sie ihn!“ Der junge Mann zuckte die Achseln, dann zielten beide mit ihren Pistolen auf Chaim. „Geben Sie mir das Gerät!“, forderte Chaim und griff nach dem Walkie-Talkie. Er drückte auf den Knopf. „Wer immer Sie sind, sagen Sie Ihrem so genannten Potentaten, Micha wolle ihn sprechen.“ „Wie kommen Sie an dieses Funkgerät?“, fragte die Stimme. „Er wird mich und meinen Assistenten in der Mitte des Tempelbergs zusammen mit drei bewegungsunfähigen Soldaten finden.“ „Ich warne Sie –“ Chaim stellte das Walkie-Talkie ab. Innerhalb weniger Sekunden tauchten ein halbes Dutzend weiterer Soldaten mit gezückten Pistolen auf. „Niemand hat das Recht, ein Treffen mit Potentat Carpathia zu fordern“, schimpfte einer. „Doch, das habe ich!“, rief Chaim und die sechs Männer betrachteten ihre gelähmten Gefährten. „Nun, Sir, darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?“ „Sie können mich Micha nennen.“ „Also gut, Mr. Micha. Der Potentat befindet sich in der Knesset, wo sein Jerusalemer Hauptquartier aufgeschlagen wurde. Wenn Sie uns bitte dorthin begleiten würden –“ „Ich fordere ein Treffen mit ihm, und zwar hier. Sie können ihm mitteilen, dass er sich im Falle einer Weigerung einem dezimierten lei-
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denden Stab gegenübersehen wird. Ich bin bereit, die Plagen zurückzuholen, die von den beiden Zeugen vom Himmel herabgerufen wurden! Fragen Sie ihn, ob es ihm gefallen würde, wenn seine Sanitäter und Ärzte ihre Geschwüre und Karbunkeln mit in Blut verwandeltem Wasser behandeln müssten.“
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