Eckard Krause
„Ich bin das Brot“ Vom Lebenshunger nach Tiefe, Erfüllung und Sattheit
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n diesem Kapitel wollen wir Ihnen Appetit auf mehr machen; darauf, die Sehnsucht nach einem gelingenden Leben ernst zu nehmen, und darauf zu genießen, dass Jesus nicht nur die Seele, sondern auch den Leib satt machen will. Mit Hilfe eines alten Bildes versuchen wir, zwischen Askese und geistlicher Völlerei den Weg zu finden, der hinter den vielen Gaben den Geber sieht und es uns ermöglicht, ein völlig neues Verständnis von Erfüllung auszuprobieren.
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Meditation Ich hungere nach mir, denn ich habe mich irgendwo verloren. Irgendwo in den Erwartungen der Vielen, irgendwo in meiner trügerischen Unsicherheit, irgendwo in der wüsten Gier nach Anerkennung, irgendwo in der tauben Selbstzufriedenheit. Dort, wo alles voll ist, bleibe ich leer. Es geht mir so gut, dass ich die Leere verdränge, es geht mir so gut, dass ich die Fragen nicht höre, es geht mir so gut, dass ich den Hunger abtöten möchte. Doch manchmal vermisse ich mich, rufe nach mir und höre meine Stimme in der weiten Leere hallen. Manchmal höre ich, wie jemand nach mir ruft, sehr weit weg, von einem Ort in mir, den ich noch nicht kenne, doch der Weg dahin ist verstellt. Dort, wo alles voll ist, bleibe ich leer.
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Ich hungere nach mir, denn die schale Wirklichkeit sättigt immer nur für einen Augenblick. Ich hungere nach dir, denn unter deiner Schale ahne ich einen verborgenen Schatz. Ich hungere nach der Welt, denn ich fühle, dass ich nur einen winzigen Bruchteil erkenne. Ich hungere nach Gott, denn ich sehe, dass mein Glaube sich hinter Fassaden verschanzt. Wie kann ich dieses Leben lieben, wenn es sich mir doch geheimnisvoll entzieht? Wenn ich es riechen, fassen, schmecken könnte, wenn die Leere gefüllt wäre, wenn das Gieren keine Macht mehr über mich hätte, wäre ich frei, mich zu sehen, dich zu sehen. Ich probiere alles, was ich finden kann, doch ich werde nicht satt. Wenn ich einmal satt sein werde, werde ich alles finden.
Fabian Vogt
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„Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“
Es macht Freude, mit Ihnen über diese wunderschönen Jesusworte nachzudenken, weil sie etwas Faszinierendes haben. Wir spüren sofort, dass in ihnen nicht nur geballte Lebensweisheit auf uns wartet, sondern ein Stück von uns. Und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass wir zusammen beim Nachdenken diesem Jesus ein Stück ähnlicher werden. Das kann durchaus auch einen schmerzhaften Prozess mit sich bringen. Vielleicht sage ich Ihnen im Folgenden Dinge, die ich mir selbst eigentlich nicht so gerne sagen lasse und die Sie vielleicht auch nicht so gerne hören. Sind Sie bereit, sich darauf einzulassen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Jesus immer da an mir handelt, wo ich mich auf seine Herausforderungen einlasse, da, wo sich ein eigenartiger Widerspruch in mir auftut. Ich ahne, dass etwas Neues „Ich habe die auf mich wartet, aber ich bin in Erfahrung meinem jetzigen Dasein doch gemacht, dass sehr gefangen. Früher sagte man Jesus immer da an in frommen Kreisen: „Der alte mir handelt, wo ich Adam ist noch nicht ersäuft!“ mich auf seine Das stimmt. Er röchelt noch. Herausforderungen „Ich bin das Brot des Leeinlasse.“ bens.“ Ich habe den Abschnitt, aus dem diese Aussage stammt, bewusst noch einmal im Zusammenhang der gesamten Bibelstelle betrachtet, weil es sehr wichtig ist zu wissen, in welchem Kontext Jesus ein solches Wort sagt. Also: Wie war das mit dem Wort vom Brot? Jesus hatte gerade 32
intensiv gepredigt. Und schon das ist verrückt: Wie deutlich die Menschen gespürt haben, dass von diesem Mann nicht einfach nur Stroh gedroschen und eine Pflicht geleistet wird. Jesus muss mit einer unwahrscheinlichen Leidenschaft und einer nicht zu ermessenden Tiefe und Sehnsucht auf die Menschen zugegangen sein, sonst hätten auch damals nicht vier-, fünf- oder sechstausend begeisterte und berührte Leute über Stunden zugehört und dabei alle ihre Notwendigkeiten vergessen. Auf einmal knurrten die Mägen. „Danke für die guten und ergreifenden Worte, aber jetzt müssen erst einmal die Grundbedürfnisse gestillt werden.“ Und was tat Jesus? Jedenfalls nicht das, was wir heute ganz gerne nach dem klassischen Gottesdienst am Sonntagmorgen machen: Wir schicken die Leute nämlich nach Hause – und sagen: „Nun seht zu, wie ihr den hohen Anspruch und den unbegreiflichen Zuspruch Gottes, von dem wir hier reden, in euren Alltag umsetzt.“ Jesus ist da ganz anders. Er sagt: „Nein, ich bin auch für den Leib zuständig.“ Gott ist dafür zuständig. Das beten wir doch Jesus sagt: „Ich immer im Vaterunser: „Unser bin auch für den tägliches Brot gib uns heute“ – Leib zuständig.“ natürlich! Die Leute brauchen etwas zu essen. Nun stehen die Jünger da, hilflos. Sie haben von ihrem Meister selbstverständlich erwartet, dass er alles kann. Aber solche Alltäglichkeiten ... Ist das die Aufgabe des Sohnes Gottes? Brot machen? 200 Silberlinge hatten sie in der Hand und damit will er Tausende von Leuten satt machen? Ratlosigkeit macht sich breit. Aber dann kommt ein Kind, das zeigt zwei Fische und fünf Gerstenbrote her. Mehr gibt es nicht. Jesus blickt zum Himmel, segnet das Brot und teilt es, teilt es noch einmal und noch einmal und 33
noch einmal. Jeder reicht es an den Nächsten weiter. Und siehe da: Tausende werden satt. Das löst natürlich Begeisterung aus. „Wo sonst ist solch ein Gott, solch ein Helfer zu finden?“ Ja, Sprüchemacher gibt’s genug in dieser Welt und auch gute Sprüche. Aber dass jemand einem anderen so begegnet, ihn auch in seinen leiblichen Bedürfnissen ernst nimmt, dass jemand nicht nur auf die Seele abzielt, auf die Psyche, sondern auch den Leib meint, das ist ganz ungewöhnlich. Was dieser Jesus sagt, das tut er auch: Er stillt den Hunger der Menschen. Kein Wunder, dass sie in Massen hinter ihm herlaufen! Darin steckt für mich eine der großen Liebenswürdigkeiten dieses Jesus: Er gibt den Menschen nicht nur Nahrung für den Geist. Und wie sehr er etwas für den Geist gibt, habe ich selbst erfahren; Jesus hat mich „geistvoll“ gemacht. Ich wage gar nicht mehr, daran zu denken, wie ich war, bevor ich Jesus kennen gelernt habe. Manchmal erlebe ich mein früheres Dasein noch wie in einem Spiegel, wenn ich ehemaligen Freunden begegne. Ich denke dann: Kann das sein, dass der Glaube an Jesus dich so verwandelt hat, dass du plötzlich andere Dinge denkst, anders denkst, weise geworden bist? Natürlich hat Jesus heute die gleiche Kraft wie damals. Er hat mich in unserer Zeit in meiner Psyche verändert. Ich bin nicht nur zum Glauben gekommen und habe gelernt, auf den Himmel zu warten, sondern er hat mich heute zu einer neuen Persönlichkeit gemacht. Ich habe ein tiefes Selbstbewusstsein bekommen, als ich gelernt habe, dass er mein Gegenüber, mein „Du“ ist, an dem ich reife und wachse. Aber er hat nicht nur in meiner Seele Wunder vollbracht, sondern auch an meinem Leib! Davon kann ich viel erzählen, aber eigentlich müssen Sie selbst ausprobieren, was passiert, wenn Sie auch Ihren Körper Jesus anvertrauen. Wenn Jesus sagt, dass „in ihm und in der 34
Begegnung mit ihm“ all unsere Sehnsüchte nach Tiefe, Sattheit und Erfüllung gestillt werden, dann ist das eine unglaubliche Zusage. Und der sollten wir uns stellen. Ich kann nur ansatzweise verstehen, wie es war, als die Menschen kamen und sagten: „Zu dir wollen wir, Jesus!“ So ging die Geschichte nämlich weiter: Tausende von Zuhörerinnen und Zuhörer hatten Jesus gesucht, denn er war weggegangen, nachdem er dieses Brotwunder vollbracht hatte. Er ahnte ja, was auf ihn zukam: Die Leute liefen in Scharen umher und wollten ihn zum König machen. Na, wen denn sonst? Einen Mann, von man so viel empfangen kann, den darf man sich doch nicht entgehen lassen. Das ist übrigens eine seltsame Motivation: Die Menschen glaubten Jesus, sie wollten ihm vertrauen, weil sie von seinem Brot gegessen hatten. Ahnen Sie, warum so viele „Führer“ Erfolg haben, wenn sie erst einmal ein paar Bedürfnisse befriedigt haben? Aber wir werden merken: Jesus reagiert sehr eigenartig und schroff, wenn man ihn als Futterkrippe betrachtet. Noch einmal: Die Sehnsucht der Menschen, die Sehnsucht nach Sattheit, nach Erfüllung und Tiefe, diesen Lebenshunger, den kann ich gut verstehen. Wenn man überhaupt den Versuch wagen sollte, der Wir sind umgeben Gesellschaft ein Etikett anzuund nehmen Teil an heften, dann vielleicht dieses: einer Gesellschaft, Sie und ich, wir sind umgeben die sich durch von und nehmen Teil an einer Sehnsucht, Suche, Gesellschaft, die sich durch Sucht und ResignaSehnsucht, Suche, Sucht und tion auszeichnet. Resignation auszeichnet. Ich glaube, dass den Menschen in keiner der bisherigen Kulturen so viel Geld und so viele Möglichkeiten zur Verfügung standen, um sich das Leben 35
„satt“ zu machen, wie in unserer westlichen Welt. Nie zuvor gab es einen solchen Wohlstand und nie zuvor gab es so viele Angebote, dem Leben Qualität zu geben. Es ist unfassbar. Ich fühle mich oft wie ein Wanderer zwischen den Welten. Ich bin meist drei-, manchmal viermal im Jahr in Indien und lebe dann mit einem Stamm der Ureinwohner Indiens zusammen. Diese sind fast ausschließlich Analphabeten, Animisten, die daran glauben, dass jedes Ding beseelt ist, und die all das nicht haben, was wir angeblich zum Leben brauchen. Manchmal, wenn ich mich nach einigen Tagen wieder an ihre Lebensweise gewöhnt habe, denke ich, ja, ich sehne Ich spüre plötzlich, mich danach, ich könnte noch dass all die Wege, so wie diese Menschen sein, auf denen wir denn ich spüre plötzlich, dass all „satt“ werden die Wege, auf denen wir „satt“ wollen, im Grunde werden wollen, im Grunde bebereits in uns sind. reits in uns sind. Sie beherrschen uns, aber sie tragen nicht wirklich dazu bei, dass unser Leben Tiefe und Qualität hat. Und da stehe ich zwischen den Welten, spüre zwei Herzen in meiner Brust schlagen – und weiß nicht, wo ich hingehöre. Ich habe dann in mir zwei Menschen – und einmal gehöre ich zu dem einen Kulturkreis und einmal zu dem anderen. Es ist ein eigenartiges Gefühl. Da sind die einen, die wirklich Hunger haben. Immer wieder, immer mehr. Und die anderen, die zu viel in sich hineinstopfen, aber auch nicht satt sind. Die Bibel gebraucht ein schönes Wort für das, wonach wir uns eigentlich sehnen: Wir wollen „lebenssatt“ sein, wie zum Beispiel in „Er starb alt und lebenssatt. Das Leben hat ihn satt gemacht.“ Es gibt nur wenige Men36
schen, die wirklich lebenssatt sind. Wenn junge Leute oft dieses Gefühl der Unausgewogenheit haben, wenn sie zwischen Lebenshunger und Überkonsum hin- und hergerissen sind, dann kann ich das verstehen. Aber ich erlebe so viele ältere Menschen – die meisten davon sind älter als ich –, die immer noch nicht das Maß kennen, die immer noch nicht satt geworden sind und zwischen „Hungern“ und „überreichem Dasein“ nicht ihren Frieden finden. Und das macht mich traurig. Der Arzt und Therapeut Victor Frankl, der vor einigen Jahren gestorben ist und als Begründer der sinnorientierten Logotherapie gilt, hat einmal gesagt: „Die Menschen leben heute mit einem existenziellen Vakuum“ – in einem Sinnloch. Und je größer dieses Loch wird – und es ist bei vielen schon so groß wie die Sahara –, desto stärker versuchen die Hungernden, in dieses Loch etwas hineinzuziehen. Und wer dieses Loch in sich spürt, diese Gier nach Sattheit, der ist in aller Regel kein Feinschmecker, sagt Frankl. Der „zieht sich rein“, was er kriegen kann – wie man heute so gerne sagt –, aber es gelingt ihm doch nicht, dieses Loch zu stopfen. „Wir amüsieren uns zu Tode“, so heißt ein soziologischer Bestseller, der die Sache auf den Punkt bringt: Wir entwickeln Fantasien und gleichzeitig Perversionen, um immer wieder neue Kicks und neue Lust zu verspüren. Doch diese Dinge füllen das Loch nicht, sie vergrößern es nur noch, sie dehnen es aus. Und darunter lauern Abgründe. Bei Ihnen und bei mir. Wenn ich in mich hineinschaue, dann bekomme ich manchmal Angst vor mir selbst. Ich denke noch nicht einmal an sexuelle Perversionen, die heute wie selbstverständlich angeboten und gelebt werden. Obwohl die Sexualität ein treffliches Sinnbild für unseren immer perverseren Umgang mit Lebenslust ist: Es kann heute ja nicht mehr einfach nur Sex sein. Es muss immer mehr 37
sein; etwas ganz Besonderes, Ausgefallenes. Und das trifft auf alle Lebensbereiche zu. Ich denke an die zahlreichen Kicks, die sich Menschen in den Extremsportarten holen. Ich denke an den unglaublichen Überkonsum, den wir uns durch all die „Lebensmittel“ leisten, die zur „Lebensmitte“ werden. Merken Sie: Wir schaffen es nicht. Die Sehnsucht nach Erfülltsein, der Hunger, das bleibt, obwohl wir alles im Überfluss haben. Ist das nicht absurd? Wir können ja wirklich alles haben, aber je mehr wir Je mehr wir essen, nehmen, desto leerer werden desto hungriger wir; je mehr wir essen, desto werden wir. hungriger werden wir; und je mehr wir trinken, desto durstiger werden wir. Aber was können wir tun? Ist möglicherweise die Sehnsucht falsch? Sollten wir nicht die Sehnsucht empfinden, unser Leben zu verbessern? Es kann doch nicht sein, dass wir all unsere Sehnsüchte begraben. Natürlich, in der Kirche wird das manchmal gelehrt. Dort hört man Begriffe wie „Selbstverleugnung“, „Kreuz tragen“, „Leid“, „Verzicht“, „Opfer“, und in so manchem puritanischen Pietismus findet man das immer noch sehr gut. Worte wie „Hunger nach Leben“, „Erfülltsein“, „Sattheit“ sind in diesen Kreisen eher suspekt. Dort argumentiert man: „Wenn es uns so wenig gelingt, ein erfülltes Leben zu führen, ist das dann vielleicht gar nicht Gottes Wille?“ Haben die Recht, die sagen: „Der Weg der Selbstverleugnung, des Verzichts, der Einengung, der Askese, das ist eigentlich der wahre Weg?“ Ich erinnere mich noch an ein Bild, das ich einmal als Kind sah; es hing bei irgendeiner christlichen Frau und darauf war ein mythologisches Motiv abgebildet: Es wurden zwei Wege gezeigt. Der eine war schön und breit. 38
Da tanzten die Leute, sangen, tranken, waren vergnügt und spielten Karten. Und schon als kleiner Junge merkte ich: „Wow, das ist richtig schön.“ Doch dann sah man am Ende des breiten Weges schon die Flammen und die Leute stürzten alle in die Hölle – es war natürlich ein ganz grauenvoller Anblick. Da wurde mir kleinem Jungen klar: „Augenblick! Das ist vielleicht gar nicht der Weg, den ich in meinem Leben gehen soll, der führt ja gar nicht zur Erfüllung und zum Glück – obwohl er so einladend aussieht. Möglicherweise ist der christliche Weg gerade der andere.“ Dieser wurde dann auch sehr ausführlich beschrieben: Man sah einen schmalen Pfad; es ging immer bergauf – ich glaube, es hat in Strömen geregnet –, und die Menschen sahen eigentlich alle sehr ernst aus. Aber, siehe da: Am Ende war ein strahlendes Licht zu sehen und ein heller Schein wartete auf die Erschöpften – und irgendwie schwebten am Schluss alle. Aber ich muss gestehen: Das hat schon damals auf mich keinen Eindruck gemacht. Ich dachte: Wenn das die christliche gute Nachricht ist, dann vielen Dank. Wenn ich in der Hoffnung, irgendwann einmal ein erfülltes Dasein zu bekommen, hier auf Erden ein Leben voller Entsagungen führen muss, dann stimmt irgendetwas nicht. Und ich habe den Glauben dann – Gott sei Dank – auch ganz anders erfahren. Ich möchte an dieser Stelle eines ganz deutlich sagen: Auch wenn ich Teil dieser sehnsuchtsvollen Gesellschaft und auf meiner Suche nach Erfüllung noch längst nicht am Ziel bin, glaube ich ganz sicher, das Gott den Menschen nicht erst nach dem Tod ein erfülltes Leben schenkt. Gott will, dass unser Leben gelingt. Das ist die gute Nachricht. Die Vorstellung, dass wir dafür zwangsläufig hier leiden müssen, halte ich für Resignation. Natürlich versuchen Christen verantwortungsvoll mit sich umzugehen, aber viel zu oft wird 39