Sie erreichten die Bergkuppe und jagten hinab in das nächste Tal. Ein paar Sekunden lang, vielleicht zehn, waren sie allein mit dem Brummen ihres Motors. Und dann kam der größere Landrover über den Berg und heftete sich wieder an ihre Fersen. Jason spürte, wie sich Panik in ihm breit machte. Sie würden sterben. Das wusste er mit tödlicher Sicherheit. Sein Leben würde noch an diesem Tag enden.
2 Der Jeep schaffte es, den Vorsprung von einer halben Meile zu halten. Jason verlangte dem Motor alles ab. Die graue Staubwolke hinter ihnen verhinderte, dass sie den Landrover im Blick behielten. Aber wann immer sie über eine Bergkuppe kamen, sahen sie, dass der Wagen sich einfach nicht abschütteln ließ. „Können Sie aus dieser Schrottkiste denn nicht mehr herausholen?“, fragte Leiah. „Wir sitzen nicht in einem Porsche!“ Jason spürte beinahe ihren brennenden Blick auf seinem Hinterkopf. Sie musste ziemlich abgebrüht sein; nur eine starke Frau konnte in diesem Land überleben. Aber im Augenblick war es nicht das Land, das ihr Leben bedrohte, sondern ein bewaffnetes Armeefahrzeug, das sich an ihre Fersen geheftet hatte. Allmählich tat es ihm Leid, dass er sie überhaupt mitgenommen hatte. Aber zumindest sorgte sie dafür, dass das Kind still blieb. Caleb kauerte immer noch neben ihr, den Kopf auf ihre Knie gelegt. Er gab keinen Ton von sich. „Denken Sie, die haben aufgeholt?“, fragte er. „Ich sehe nichts als Staub. Woher soll ich wissen, ob sie aufgeholt haben?“ „Ich habe Sie nur gefragt, ob Sie denken, die hätten aufgeholt.“ Sie sah kurz zurück und verkündete dann ihr Urteil. „Sie haben aufgeholt.“ „Sind Sie sicher?“, fragte Jason alarmiert. „Sie haben gefragt, was ich denke. Ich denke, sie haben aufgeholt.“ „Das ist nicht gut. Woher wissen Sie das?“ „Sie sind näher dran.“ 22
Auf einer Bergkuppe blickte Jason rasch nach hinten. Die Staubwolke des Landrovers war noch immer ein Stück hinter ihnen, kam aber tatsächlich näher. Schnell drehte er sich wieder um und korrigierte die Richtung des Jeeps, der von der Straße abzukommen drohte. „Halten Sie Ihren Blick auf die Straße gerichtet. Wir möchten nicht noch von Ihnen getötet werden“, ermahnte Leiah. Er ignorierte sie für den Augenblick. Eine weitere halbe Stunde schafften sie es, den Abstand zu halten, und Jason begann, sich von der Panik ihrer Flucht zu erholen. In einer guten Stunde würden sie Adwa erreichen, die nächstgelegene Stadt in dieser Bergregion. Wenn sie es bis Adwa schafften, dann hatten sie eine Chance. Sie befanden sich nun in einer Gebirgslandschaft in 1 600 Metern Höhe. Mit ein wenig Glück würde die kühle Bergluft die Leistung des Motors noch steigern. Der Himmel wusste, dass der Jeep nicht für eine solche Verfolgungsjagd geschaffen war. Zu beiden Seiten erhoben sich zerklüftete Bergwände mit tiefen Felsspalten, die von der Trockenheit, die schon seit Monaten herrschte, ganz braun waren. Sandsteinfelsen zogen sich in gezackten Linien über beide Seiten des Horizonts. Es war, als würde man auf der Leinwand durch Teile North Dakotas fahren, hatte Jason häufig gedacht. Über 100 Kilometer weiter östlich fiel die salzverkrustete Danakil-Wüste zum niedrigsten Punkt der Erde ab, etwa 125 Meter unter dem Meeresspiegel. Über 100 Kilometer westlich von ihnen ragte der Ras Dashan über 4 600 Meter in den Himmel. Es war ein Land der Extreme. Der Junge stieß einen leisen Schrei des Erstaunens aus, und als Jason sich umdrehte, sah er, dass er endlich den Kopf gehoben hatte und auf die steilen Abhänge links von ihnen starrte. Leiah sprach leise auf Amhara auf ihn ein. „Ishee, ishee.“ Caleb wandte seine Aufmerksamkeit nun dem Jeep zu. In fassungslosem Schweigen betrachtete er das Fahrzeug, das ihn immer weiter von seiner eigenen Realität fortbrachte. Vermutlich hatte der Junge noch nie einen Wagen gesehen, geschweige denn war er in einem gefahren. In dem Kloster hinter ihnen war Calebs Vater gerade getötet worden, dessen war sich Jason sicher. „Achten Sie darauf, dass er nicht hinausfällt“, mahnte Jason. „Behalten Sie die Straße im Blick. Ich kümmere mich schon um den Jungen.“ Er drehte sich um und sah sie an. Ihre Augen blitzten in einem Blau, 23
das heller war als der wolkenlose Himmel. Jason unterdrückte eine Bemerkung. Wie der Priester und das Kind war auch sie ein Rätsel. Plötzlich stotterte der Motor einmal kurz. Ein Schauer lief Jason über den Rücken. Er trat auf das Gaspedal, doch es war bereits ganz durchgetreten. Laut Benzinanzeige war der Tank noch halb voll. „Wir verlangen ihm zu viel ab“, sagte Leiah. Jason antwortete nicht. Falls das zutraf, hatten sie ein Problem: Noch immer waren sie gut 30 Kilometer von jeglicher Zivilisation entfernt. Vielleicht war das ein einziger … Der Motor stotterte erneut, und Jason spürte, wie es ihn kalt überlief. Er trat immer wieder auf das Gaspedal. Die Straße war eben, keine abschüssige Stelle in Sicht, die den Motor ein wenig entlastet hätte. „Das ist nicht gut“, bemerkte Jason. „Nein, ganz und gar nicht.“ „Wir müssen von der Hauptstraße runter. Sie werden uns einholen, wenn wir langsamer werden.“ „Ja, das werden sie.“ „Da gibt es doch eine Straße, die ein paar Meilen in Richtung Osten führt –“ „Den Weg nach Biset? Sind Sie verrückt? Sie können auf keinen Fall mit einem Wagen durch diese Schluchten fahren!“ „Haben Sie eine bessere Idee?“, fuhr er sie an. „Offensichtlich scheinen Sie sich ja hier gut auszukennen, also warum klären Sie mich nicht auf? Zumindest hätten wir die Möglichkeit, unsere Verfolger in die Irre zu führen.“ „Ja, natürlich. Und wir könnten genauso gut von einer Klippe springen. Das würde sie wirklich überraschen. Auf der Straße haben wir zumindest eine Chance, auf allen vier Rädern zu bleiben. Vielleicht passt sich der Motor nur an.“ Als habe er ihre Worte verstanden, machte der Jeep kurz darauf einen Satz, bevor er seine Geschwindigkeit wieder aufnahm. „Kommt Ihnen das wie eine Anpassung vor? Vielleicht bin ich in der Kunst des Überlebens nicht so bewandert wie Sie, aber in den zwei Jahren hier im Land habe ich so einiges über Jeeps gelernt. Das war eher ein Todesrasseln als ein Kraftschöpfen.“ „Und in den drei Jahren, die ich bereits in dem Land lebe, habe ich ebenfalls ein paar Dinge gelernt. Und dazu gehört, dass der Weg nach Biset, den wir auf Ihren Vorschlag hin nehmen sollen, für Kamele geeignet ist, aber nicht für Jeeps. Er ist unpassierbar.“ 24
Sie hatte nicht ganz Unrecht. Plötzlich stockte der Wagen dreimal hintereinander. Jason warf einen raschen Blick in den Rückspiegel und sah, dass Leiah sich ebenfalls umgewandt hatte. Der Landrover hatte aufgeholt. Der Junge starrte ihn mit großen Augen an. Da war sie. Jason umklammerte das Lenkrad mit festem Griff. Die Abzweigung war kaum mehr als eine Spalte in dem Felsen zu ihrer Rechten, hinter der nächsten Biegung. „Haltet euch fest. Haltet euch einfach nur fest.“ „Sie werden uns umbringen“, stöhnte Leiah. „Passen Sie auf den Jungen auf.“ Er rechnete damit, dass der Staub ihr Ausweichmanöver tarnen würde; je mehr Staub er aufwirbelte, desto besser. Laut Tacho fuhren sie über 60 Kilometer pro Stunde, als sich der Sandstein neben ihnen auftat. Jason riss das Lenkrad herum, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Der Jeep holperte über einen niedrigen Graben und tauchte ein in etwas, das aussah wie ein sandiges Flussufer. Steine von der Größe einer Kokosnuss lagen im Flussbett. Ein schmaler Pfad zog sich durch die Mitte. Leiahs Kamelpfad. Jason riss das Lenkrad von einer Seite zur anderen, als er versuchte, die Steine möglichst zu umfahren. Aber es waren einfach zu viele. Das linke Vorderrad stieß gegen ein besonders großes Exemplar und der Jeep kippte zur Seite weg. Jasons Knie krachten gegen das Lenkrad und er zuckte zusammen. Er erhaschte einen kurzen Blick von Leiah, die hinter ihm in der Luft hing. Wie sie es schaffte, sich im Jeep zu halten, überstieg Jasons Begriffsvermögen. Aber andererseits, falls es jemand schaffte, dann ein Mensch mit ihrer Entschlossenheit. Und ihr gelang es auch noch, den Jungen festzuhalten. „Festhalten!“ Der Motor stotterte mittlerweile immer schlimmer. Sie holperten nun über den Sand, mieden die Steine und umfuhren ein Ufer, das sich links von ihnen erhob. Hier war der Pfad noch so breit, dass der Jeep hindurchpasste, aber Jason wusste, dass Leiah Recht hatte: Innerhalb der nächsten beiden Kilometer verengte sich der Pfad zu kaum mehr als einem Trampelpfad. Aber er hatte nicht vor, noch zwei Kilometer weiterzufahren. Oder auch nur einen. Falls er den Jeep in einer der Schluchten zu ihrer Rechten verstecken konnte, hatten sie vielleicht eine Chance. Er lenkte das Fahrzeug in die zweite Schlucht und sah zurück. Es war noch nichts von dem Landrover zu sehen. „Bleibt in Deckung.“ 25
„Sie werden uns umbringen.“ „Halten Sie einfach nur Ihren hübschen Kopf unten!“ Unbeobachtet fuhren sie in die Schlucht hinein und Erleichterung machte sich in Jason breit. Welch ein herrliches Gefühl. Hohe Felswände erhoben sich zu beiden Seiten und unmittelbar vor ihnen. Eine Sackgasse – nicht unbedingt seine erste Wahl, aber mit ein wenig Glück hatte er ihr Leben gerettet. Er fuhr den Jeep tief in die Schlucht hinein und versteckte ihn hinter mehreren Felsbrocken an ihrem Ende. Schließlich stellte er den Motor ab. Jason zog sich am Rollbügel hoch und spähte zurück zur Öffnung, die etwa 300 Meter entfernt war. Nichts. Ein leiser Wind rauschte durch die Schlucht, aber es war das Klopfen seines Herzens, das ihm in den Ohren dröhnte. Er hielt die Luft an und lauschte auf das Brummen eines Motors. Noch immer nichts. Jason stieß die Luft aus und betrachtete die beiden auf dem Rücksitz. Seine rechte Hand, die auf dem Rollbügel lag, zitterte entsetzlich. „Hören Sie was?“ Die Krankenschwester sah ihn wortlos an. Zum ersten Mal konnte er sie in Ruhe betrachten, ohne dass sie in unmittelbarer Gefahr schwebten. Ihre Erscheinung war dunkel, aber ganz eindeutig westlicher Herkunft. Die Nase war spitz und ihre Augen sehr blau. Aber jetzt entdeckte er noch etwas anderes, an ihrem Hals, am Kragen ihrer dunkelblauen Tunika. Ihre Haut am Hals war entsetzlich vernarbt. Brandwunden, die von ihrem Gewand verdeckt wurden. Sein Blick wanderte höher und traf ihren. Sie wusste, dass er es gesehen hatte. Das zeigte ihr Gesichtsausdruck. Trotzig richtete sie sich auf. „Hören Sie etwas?“, fragte er. Sie hielt seinem Blick einen Augenblick länger stand, dann zog sie sich hoch, sodass sie durch die Öffnung der Schlucht sehen konnte. Sie hielt sich neben ihm am Rollbügel fest, und er sah, dass ihre Arme, obwohl von der weiten Tunika verdeckt, ebenfalls vernarbt waren. „Nein“, erwiderte sie. Caleb kletterte langsam vom Rücksitz und stieg aus. Mit zitternden Beinen stand er vor dem Jeep und betrachtete ihn ehrfürchtig. Der Anblick erinnerte Jason an einen verirrten Welpen. In all der Aufregung hatte Jason den Jungen beinahe vergessen. Und doch steckten 26
sie nur wegen ihm in dieser Klemme. Wegen eines zehnjährigen Jungen, der als Baby in dem Kloster abgegeben worden war und in vollkommener Isolation vom Rest der Welt entfernt aufgewachsen war. Und weil der Priester, der ihn adoptiert hatte, viel Mühe auf sich genommen hatte, dafür zu sorgen, dass er am Leben blieb. Die zitternden Knie des Jungen waren vermutlich die Folge dieser wilden Fahrt in dem metallenen Ungeheuer neben ihm – nicht der Bedrohung durch bewaffnete Soldaten, die sie verfolgten. Vermutlich würde er die Gefährlichkeit einer Waffe nicht erkennen, selbst wenn er sie in seinen Händen hielt. Sie verhielten sich auch weiterhin still. Jason lauschte aufmerksam, hielt immer wieder die Luft an. Ein Lämmergeier schrie über ihnen und Jason wandte den Blick nach oben. Der große Vogel glitt ruhig über den blauen Himmel. Ein Kichern hallte durch die Schlucht. Mehrere Dutzend Paviane spähten neugierig von den Felsen herab und begutachteten die Eindringlinge. Aber diese Geräusche waren so gewöhnlich wie das Gras in Nordäthiopien. „Das war wirklich knapp“, sagte Jason und sprang über die Tür. Leiah folgte ihm nicht. Sie hatte den Kopf geneigt und lauschte aufmerksam. Jason verstummte. Und jetzt hörte er es auch: ein leises Brummen, das vom Wind herangetragen wurde. Der Junge wandte sich zum Eingang der Schlucht um – er hatte es ebenfalls gehört. Jasons Herz machte einen Satz. Leiah duckte sich plötzlich. „Sie haben zurückgesetzt!“, flüsterte sie in Panik. „Sie kommen!“ Das Motorengeräusch des Landrovers war nun deutlich zu vernehmen. Entsetzt beobachtete Jason, wie der Wagen in die Schlucht einbog und dann direkt auf sie zuhielt. Unaufhörlich arbeitete er sich über die Steine hinweg und verringerte die 300 Meter Entfernung zwischen ihnen. Jason duckte sich und drückte sich mit dem Rücken an den Felsen, hinter dem sie sich versteckt hatten. Offensichtlich folgte der Landrover nun den Reifenspuren, nachdem der Jeep aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Sie saßen in der Falle! Leiah packte den Jungen und zog ihn hinunter in den Sand. Er stieß einen erschreckten Schrei aus und Leiah hielt ihm mit der Hand den Mund zu, damit er schwieg. Mit weit aufgerissenen Augen drehte sie sich zu Jason um. 27
Hoch über ihnen begannen die Paviane wieder laut zu lachen, als spürten sie den bevorstehenden Showdown. Jason konnte kaum denken, geschweige denn handeln. Eine Krankenschwester, ein Kind und ein Mann saßen in einer Schlucht in der Falle, sahen ausgebildeten Mördern entgegen, die gerade unschuldige Priester abgeschlachtet hatten. Schwer bewaffnete Soldaten gegen … Ein Gewehr. Das Gewehr! Jason kroch zum Jeep und suchte das Gewehr, das auf dem Boden des Fahrzeugs lag. Er schnappte sich die alte Waffe und öffnete das Handschuhfach. Eine Schachtel mit Patronen fiel heraus. In aller Eile zog er den Bolzen zurück und steckte die Munition in die Trommel. Eine Ladung ließ er in den Sand fallen; die würde er als Letzte einsetzen, falls es nötig sein sollte. Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten die Krankenschwester und der Junge sein Tun. „Sie denken, mit einem Gewehr könnten Sie etwas ausrichten?“, flüsterte Leiah. „Bleiben Sie unten“, befahl er. Er legte sich auf den Sand und kroch zum Rand des Felsens. Der Landrover kam immer näher und war nur noch 100 Meter von ihnen entfernt. Wenn er den Tank treffen könnte, hatten sie vielleicht eine Chance. Jason drückte die Wange gegen den Kolben des Gewehrs und zielte auf den Landrover. Sein Atem kam stoßweise, sodass er nicht richtig zielen konnte. Darum nahm er das Gewehr herunter und atmete erst einmal tief durch. Plötzlich zog das Fahrzeug nach links hinter eine Gruppe von großen Felsbrocken, 75 Meter von ihnen entfernt. Sie waren entdeckt worden! Der Schweiß lief Jason in die Augen und er musste blinzeln. Reglos lag er auf dem Boden. Die Fahrerkabine ragte hinter dem Felsen hervor, und er beobachtete, wie drei Männer in grünen Tarnanzügen ausstiegen und hinter dem Felsen in Deckung gingen. Kurz darauf begann der Wahnsinn: Maschinengewehrfeuer aus ihrer Richtung donnerte zwischen den Felswänden. Die Kugeln prallten an dem Felsen ab. Querschläger zischten an ihnen vorbei. Zum zweiten Mal an diesem Tag musste sich Jason der einfachen Erkenntnis stellen, dass er sterben würde. Diese Erkenntnis ernüchterte ihn wie ein Eimer kaltes Wasser, der ihm über den Kopf gegossen wurde. Er hielt ein Gewehr in den Händen, aber einschließlich der Munition, die er hinter sich in den Sand hatte fallen lassen, besaß 28
er weniger Kugeln als die Feinde in einer einzigen Runde aus ihrem Maschinengewehr abgaben. Jason zielte auf ihr Versteck und betätigte den Abzug. Ein lauter Knall. Die Maschinengewehre verstummten. Die Paviane auf den Felsen kreischten protestierend. Jason zog den Bolzen zurück und legte eine weitere Kugel ein. Überraschung! Ihr seid nicht die Einzigen mit einem Gewehr! Als Antwort darauf erfüllte eine Kakophonie von Gewehrfeuer die Luft, aber keines davon stammte von Jason. Die Kugeln prasselten wie ein Strom aus Blei auf sie herab. In Panik und ohne nachzudenken, feuerte Jason so schnell er konnte. Erst als der letzte Rest seines Verstandes ihm einflüsterte, dass er vermutlich nur noch ein oder zwei Kugeln hatte, hörte er auf. Leiah und den Jungen neben sich nahm er kaum wahr. Er blickte in ihre Richtung und entdeckte zu seiner Verblüffung, dass der Junge in eine Spalte geklettert war, um einen besseren Blick auf den Landrover werfen zu können. Weder er noch Leiah schienen getroffen worden zu sein. Und soweit er wusste, war er es auch nicht, aber sein Verstand arbeitete im Augenblick nicht besonders schnell. Das Maschinengewehrfeuer brach abrupt ab und er spähte um den Felsen herum. Er hatte noch eine, vielleicht zwei Kugeln in seinem Gewehr, und die eine, die im Sand hinter ihm lag. Drei Schüsse. Für drei Männer, die mit Maschinengewehren bewaffnet waren. Drei Mörder, die dazu ausgebildet waren … Plötzlich löste sich eine Gestalt von den Felsen und rannte geduckt zu einem Felsblock auf der anderen Seite der Schlucht. Zwei Gedanken schossen Jason mit überraschender Klarheit durch den Kopf. Der erste war, dass sie für den Soldaten in der neuen Position ein hervorragendes Ziel boten. Das war nicht gut. Der zweite Gedanke war, dass er das Gewehr noch nicht nachgeladen hatte. Sofort riss Jason den Bolzen zurück und lud nach. Er hatte den Atem angehalten und zielte so sorgfältig wie seine gespannten Muskeln es zuließen. Er drückte ab. Der Mann zeigte keine Reaktion. Jason lud nach und schoss erneut. Der Soldat gab einen Laut von sich und ging drei Meter von den Felsen entfernt zu Boden. Doch er war nicht in Deckung gegangen, sondern viel eher hingefallen. Jason nahm das Gewehr herunter, um besser sehen zu können. 29
Der Mann lag reglos, mit dem Gesicht nach unten im Sand. In der Schlucht rührte sich nichts. Niemand bewegte sich. Die Blicke aller schienen von dieser einen unmöglichen Entwicklung gefesselt zu sein. Selbst die Paviane waren verstummt. Jasons Atem entwich in den weißen Sand zwei Zentimeter von seinem Mund entfernt. Schweiß lief ihm die Wangen hinunter. Er hatte den Mann erschossen. Die Lämmergeier schrien hoch über ihnen, aber über die Schlucht hatte sich eine unwirkliche Stille gelegt. Plötzlich war ein leises Wimmern zu hören. Nicht von der Gestalt, die mit dem Gesicht nach unten 40 Meter von ihnen auf dem Boden lag, sondern links von Jason. Er wandte den Kopf. Was nun folgte, schien in Zeitlupe abzulaufen. Caleb erhob sich. Und dann setzte er sich in Bewegung. Leiah griff nach ihm, und Jason sah, wie sich ihr Mund öffnete, hörte sogar ihren Protestschrei, aber selbst dieser Laut erschien ihm gedämpft. Vielleicht wegen der Schüsse, die er abgegeben hatte, oder wegen der tödlichen Erkenntnis, dass er nur noch einmal nachladen konnte, mit der Munition, die hinter ihm im Sand lag. Oder vielleicht auch, weil er sicher war, dass sie sterben würden. Der Junge begann plötzlich zu rennen, geradewegs zu dem auf dem Boden liegenden Mann hin. Jason ließ das Gewehr sinken, richtete sich auf und wartete auf die Schüsse. Aber es kamen keine. Vielleicht weil die zwei verbliebenen Soldaten über die Entwicklung genauso verblüfft waren wie er. Caleb rannte lautlos, sein blaues Gewand flatterte im Wind. Sein lockiges Haar flog über seine Schultern. Leiah verließ ihre Deckung und sprang in den offenen Bereich, als hätte sie die Absicht, ihm zu folgen. Die Soldaten hätten sie und auch den Jungen erschießen können, aber sie hatten ihr Feuer eingestellt. Caleb erreichte den Mann, der reglos auf dem Boden lag, und ließ sich mit dem Rücken zu Jason auf die Knie sinken. Er wimmerte erneut und beugte sich dann schweigend über den Mann. Die kreisenden Lämmergeier verstummten. In dem Tal herrschte eine Todesstille. „Was tut er da?“, hörte Jason sich flüstern. „Was tut er da?“ Leiah antwortete nicht. Sie machte einen einzigen Schritt nach vorn und blieb dann stehen. Mehrere Minuten, wie es schien, obwohl es höchstens 10 oder 15 Sekunden gewesen sein konnten, verharrten sie in ihrer Erstarrung, beobachteten den Jungen, der neben dem Mann kniete, wie ein Priester, der ihm die letzte Ölung erteilte. 30
Ein Gedanke schoss Jason durch den Sinn: der Gedanke, dass er keine Munition mehr hatte. Der Gedanke, dass er lieber ihre Situation durchdenken sollte, anstatt auf die Szene vor sich zu starren. Der Junge erhob sich, wandte sich von dem auf dem Boden liegenden Mann ab und kam mit ruhigen Schritten zu ihnen zurück. Noch immer schossen die Soldaten nicht auf ihn – vielleicht weil er ein Kind war. Ein heißer Windstoß wehte über den Sand und zog an dem Gewand des Jungen. Mit schwacher, verzweifelter Stimme rief Leiah: „Fetan, fetan!“ – „Beeile dich, beeile dich!“ Aber der Junge beeilte sich nicht. Plötzlich war in der Schlucht ein Husten zu hören. Und noch einmal. Der auf dem Boden liegende Mann bewegte sich. Jasons Herz klopfte zum Zerspringen. Instinktiv riss er an dem Bolzen, doch er hatte ja keine Munition mehr. Hinter ihm! Seine letzten Kugeln lagen hinter ihm. Der Mann auf dem Boden setzte sich auf und Jason erstarrte. Leiah rannte dem Jungen ein paar Schritte entgegen und hielt ihm die Hand hin. „Caleb! Caleb, fetan!“ Plötzlich rappelte sich der Mann auf und blieb in Verteidigungsstellung hocken, wie ein Ringer, der seinem Gegner gegenübersteht. In diesem Fall dem Jungen, der jetzt zehn Meter von ihm entfernt war und gelassen weiterging. Der Soldat betastete seine Brust, als suche er die Verwundung, dann wirbelte er auf der Suche nach seinem Gewehr herum. Er hob es auf und starrte dem Jungen nach. Ein letztes Mal fuhr er sich über die Brust, dann rannte er in einer fremden Sprache rufend zu dem Landrover. Verblüfft und ungläubig beobachtete Jason, wie die Soldaten in den Landrover stiegen. Der Motor sprang an und eine Staubwolke hinter sich herziehend brauste der Wagen davon. Innerhalb von Sekunden war er aus der Schlucht verschwunden. Jason merkte, dass ihm der Mund offen stand, und er klappte ihn zu. Der Sand knirschte zwischen den Zähnen, und er wollte ihn ausspucken, doch sein Mund war trocken. Taumelnd erhob er sich. Caleb sah dem Landrover nach. Leiah hatte ihre Hand auf den Kopf des Jungen gelegt. Tränen liefen ihre staubigen Wangen hinunter. Lange Zeit blieben sie reglos stehen und starrten in die Schlucht. Jason begriff nicht , was gerade passiert war. Sie waren am Leben und das war gut. Das war unglaublich. „Wir sollten losfahren“, sagte er schließlich. „Sind sie fort?“, fragte Leiah. 31
„Im Augenblick schon. Aber sie werden wiederkommen.“ Er wandte sich dem Jeep zu. „Ich garantiere Ihnen, sie werden wiederkommen.“
3 „Offenbar war er doch nicht getroffen“, bemerkte Jason. Leiah saß auf dem Beifahrersitz und blickte nach hinten, wo Caleb hockte und die zerklüftete Landschaft betrachtete. Der Junge hatte keinerlei Erklärung gegeben, zumindest keine, die sie oder Jason verstehen konnten. Er hatte ein paar Sätze auf Ge’ez gesprochen, der Sprache, die von den meisten äthiopischen Priestern bevorzugt wurde, aber sie beherrschte diese Sprache nicht besonders gut. Sie war nicht einmal sicher, ob der Junge Englisch sprach, obwohl es sie nicht überraschen würde. Wenn die Priester ihn Amhara und Ge’ez gelehrt hatten, hatten sie ihm bestimmt auch Englisch beigebracht. Sie blickte den Amerikaner an. „Was denn sonst? Hat die Kugel den Soldaten vielleicht nur erschreckt und er ist in Ohnmacht gefallen?“ „Nein. Aber offensichtlich hat sie keinen Schaden angerichtet. Tote Männer rennen nicht zu ihrem Wagen zurück und fahren davon.“ „Das tun auch Soldaten nicht, die den Feind in die Enge getrieben haben.“ Mit hochgezogener Augenbraue sah er sie an. „Machen Sie sich immer über Männer lustig, die Ihnen das Leben gerettet haben?“ Seine Augen waren fast so blau wie ihre. Mit seinem blonden Haar könnte er durchaus skandinavischer Herkunft sein. „Mir das Leben gerettet? Sie meinen, Sie hätten das mit Ihrem Erbsenschießer geschafft? Verzeihen Sie, das hätte ich beinahe vergessen.“ „Sie sind doch am Leben, oder etwa nicht? Als ich das letzte Mal hinsah, war das Kloster ziemlich zerstört. Sie mögen von dieser Fahrt vielleicht nicht besonders begeistert sein, aber ob es Ihnen gefällt oder nicht, sie hat Ihnen das Leben gerettet.“ Er hat Recht, Leiah. Dieser Mann hat dir tatsächlich das Leben gerettet. „Sie haben Recht. Es war nicht gerade ein leichter Tag.“ Schweigend starrte Jason vor sich hin. Sie würden auf schnellstem 32