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Aufschauen Früher betrachtete ich die Gemeinde aus der Sicht eines prüfenden Konsumenten. Den Gottesdienst verstand ich als eine Darbietung. Gebt mir etwas, das mir gefällt. Unterhaltet mich. Über Leute wie mich sagte Sören Kierkegaard, dass wir dazu neigen, die Kirche als eine Art Theater zu betrachten: Wir sitzen im Zuschauerraum und beobachten aufmerksam den Schauspieler, der alle Blicke auf sich lenkt. Werden wir gebührend unterhalten, zeigen wir unsere Dankbarkeit mit Applaus und Jubelrufen. Kirche sollte jedoch genau das Gegenteil von Theater sein. In der Gemeinde ist Gott derjenige, dem Anbetung dargebracht wird. Der Priester sollte nicht die Rolle des Hauptdarstellers spielen, sondern eine ähnliche Funktion übernehmen wie ein Souffleur, jener unauffällige Helfer, der neben der Bühne sitzt und flüsternd Hilfestellung bietet. Das Entscheidende geschieht in den Herzen der versammelten Gemeinde, nicht unter den Schauspielern auf der Bühne. Wir sollten den Gottesdienst nicht mit der Frage verlassen: „Was hat er mir gebracht?“, sondern mit der Frage: „Hat Gott sich über das gefreut, was geschehen ist?“ Heute versuche ich, in einem Gottesdienst aufzuschauen, meinen Blick über die Bühne hinaus auf Gott zu richten. Eine solche Veränderung meiner Sichtweise hat mir geholfen, mit dem „Mangel an Talent“ zurechtzukommen, den ich in verschiedenen Gemeinden finde. Um das Scheinwerferlicht vom Pastor wegzulenken, versuchen manche Gemeinden, viele Laien am Gottesdienst zu beteiligen. Sie schreiben Lieder oder Gedichte, führen kleine Darstellungen auf, singen in Trios, stellen Banner her, drücken sich durch Tänze aus. Ich muss gestehen, dass viele dieser Bemü24


hungen, wenn man sie am objektiven Maßstab der Ästhetik oder auch nur am subjektiven des „hilfreichen Zuflüsterns“ misst, wenig dazu beitragen, meine eigene Anbetung zu bereichern. Allmählich hat sich jedoch die Erkenntnis eingestellt, dass Gott und nicht die versammelte Gemeinde der entscheidende „Zuschauer“ ist. Ich versuche, eine Lektion von C. S. Lewis zu lernen, der sinngemäß Folgendes über seine Gemeinde schrieb: „Ich mochte ihre Hymnen nicht, die nur fünftklassige Gedichte mit sechstklassiger Musik sind. Aber als ich dabeiblieb, erkannte ich ihren Wert. Ich erkannte, dass die Hymnen (die nur sechstklassige Musik waren) dennoch von dem alten ,Heiligen‘ in der Bank nebenan mit Hingabe und Gewinn gesungen wurden und ich es nicht einmal wert war, ihm die Stiefel zu putzen.“ Die Kirche ist nicht in erster Linie dazu da, Unterhaltung zu bieten, die Bereitschaft zu fördern, verletzbar zu werden, oder das Selbstwertgefühl zu stärken oder Freundschaften zu begünstigen, sondern Gott anzubeten. Wenn sie in diesem Punkt versagt, hat sie wirklich versagt. Ich habe gelernt, dass Pastoren, Musik, Sakramente und das andere „Drumherum“ der Gottesdienste bloße Hilfsmittel sind, um das eigentliche Ziel zu fördern: die Anbetenden mit Gott in Berührung zu bringen. Wenn ich je an dieser Tatsache zweifle, lese ich wieder das Alte Testament, das den konkreten Anweisungen für die Gottesdienste in der Stiftshütte und im Tempel fast genauso viel Raum widmet wie das Neue Testament dem Leben Christi. In ihrer Gesamtheit legt die Bibel den Schwerpunkt eindeutig auf das, was Gott gefällt – das, was schließlich der eigentliche Punkt des Gottesdienstes ist. Gott anzubeten, sagt Walter Wink, heißt, sich daran zu erinnern, wem das Haus gehört. In der Gemeinde kann ich als Zuschauer zur Bühne bli25


cken oder ich kann zu Gott aufschauen. Derselbe Gott, der sich die Mühe machte, konkrete Einzelheiten für die Tieropfer der Israeliten zu nennen, sagte ihnen später: „Ich brauche keinen Stier aus euren Ställen und keine Ziege aus eurem Pferch, denn mir gehören alle Tiere des Waldes und das Vieh auf tausend Hügeln.“ Indem sie sich auf die Äußerlichkeiten des Gottesdienstes konzentrierten, hatten sie das Entscheidende versäumt: Sein Interesse galt dem Opfer des Herzens, einer inneren Einstellung der Ergebenheit und Dankbarkeit. Wenn ich heute einen Gottesdienst besuche, versuche ich, mich auf diesen inneren Geist zu konzentrieren, statt mich wie ein Theaterkritiker, der ästhetische Urteile fällt, auf dem Stuhl zurückzulehnen. Ich habe römisch-katholische und russisch-orthodoxe Messen besucht, die der in Amerika vorherrschenden Konsummentalität völlig widersprechen. Die meisten katholischen Messen betonen die Predigt – oder Homilie –, und ich habe nur wenige Priester gehört, die in einem Predigtwettbewerb gut abschneiden würden. Wenn ich nach dieser Schwäche frage, zucken sie die Schultern. Für sie ist das Sakrament der Kommunion oder Eucharistie der Mittelpunkt der Messe; sie selbst sind nur „Souffleure“. In russisch-orthodoxen Kirchen sprechen die Priester nicht einmal die Sprache des Volkes, da nur wenige der Versammelten die altslawische Liturgie verstehen. Chöre singen die Botschaft des Evangeliums und viele Messfeiern verzichten ganz auf die Predigt. Worauf es ankommt, ist die Anbetung: Auch hier dienen der Priester, die Ikonen, die Kirchenarchitektur, der Weihrauch und der Chor als „Souffleure“. Aus vielen Gründen halte ich mich weiter an die protestantische Tradition des Gottesdienstes, in der das von der Kanzel gesprochene Wort stärker betont wird. Aber ich mache mir nicht mehr so viele Gedanken über den Musikstil, 26


die Gottesdienstordnung und das „Drumherum“ der Gemeinde wie zu der Zeit, als ich noch „Gemeindekonsument“ war. Indem ich mich damals auf das Drumherum und nicht auf das eigentliche Ziel – Gott zu begegnen – konzentrierte, verpasste ich die wichtigste Botschaft von allen.

Sich umschauen Auf meinem Weg zurück zur Gemeinde machte ich am Anfang den Fehler, mir bewusst Gemeinden auszusuchen, die aus Menschen wie mir bestanden. Ich suchte nach einer Gemeinde, die meinem Bildungsniveau, meinem biblischen Hintergrund und meinem Geschmack in Sachen Liedern und Liturgie entsprach. Auf merkwürdige Weise wiederholte ich die Fehler der Gemeinde meiner Kindheit, die versucht hatte, jedes Anzeichen von Abweichung schon im Keim zu ersticken. Sie ließ keine farbigen Menschen zu, verspottete die Emotionalität der Gottesdienste in den Gemeinden der Farbigen unserer Stadt und zog über die Pfingstler und andere her, die eine andere Auffassung von geistlichen Gaben hatten. Die Folge war eine verarmte, steife Form des Gottesdienstes. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts sagte Martin Luther King jr. oft (mit einem Zitat von Billy Graham), elf Uhr am Sonntagmorgen sei die Stunde mit der stärksten Rassentrennung, und heute kann der farbige Pastor und Politiker Jesse Jackson diesen Spruch durchaus wiederholen. Man hat wenig geändert, um heterogene Gottesdienste zu fördern – ja, die Gemeindewachstumsexperten äußern sogar Vorbehalte dagegen. Regierung und Wirtschaft haben mit Aktionsplänen und Quotensystemen experimentiert, um die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu korrigieren; 27


aber man hört nur ganz selten (falls überhaupt) von einer Gemeinde, die einen Aktionsplan einführt, um Minderheiten stärker einzubeziehen. Obwohl ich in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Gemeinden besucht habe, stammt vieles von dem, was ich über Gemeinden gelernt habe, aus der LaSalle Street Church in Chicago. LaSalle erlebte dieselben Konflikte wegen Gottesdienststilen, dieselben Probleme wegen der Finanzen, dieselbe Mischung aus engagierten und unverbindlichen Christen, die in den meisten Gemeinden anzutreffen ist. Sie ist alles andere als eine perfekte Gemeinde. Aber wenn ich heute an die 13 Jahre zurückdenke, die ich dort verbracht habe, erkenne ich, dass sie mir so manche wichtige Einsicht darüber vermittelt hat, was Gemeinde sein kann und sein sollte. Als ich anfing, in die LaSalle Street Church zu gehen, hatte ich mich damit abgefunden, dass auch Kirche nur eine geistliche Übung ist. Zu meiner Überraschung wurde der Sonntagmorgen aber schon bald etwas, auf das ich mich freute, statt es nur zu ertragen. Warum? Ich führe es auf die erfreuliche Vielfalt von Menschen zurück, die dieser Gemeinde angehörten. Dort lernte ich, nicht nur aufzuschauen, sondern mich auch umzusehen. Ich betete Gott inmitten von Menschen an, die mir absolut nicht ähnlich waren. Die Gemeinde befindet sich auf halber Strecke zwischen den reichsten und den ärmsten Stadtvierteln von Chicago. Zwei Blocks weiter östlich liegt die Gold Coast, deren Bewohner ein Durchschnittseinkommen von über 50 000 Dollar haben; zwei Blocks weiter westlich befindet sich Cabrini Green, in dem es fast ausschließlich Sozialwohnungen gibt, deren Bewohner ein Durchschnittseinkommen von unter 3 500 Dollar haben. LaSalle übernahm die Rolle einer „Brückengemeinde“ zwischen den beiden Stadtteilen. Zu den dortigen Pastoren gehörte auch Bill Leslie, der wie ich viele 28


Erfahrungen mit dem rassistischen Fundamentalismus gemacht hatte. Er war Präsident der Studentenvertretung an der streng nach Rassen getrennten Bob Jones University gewesen und sein Schwiegervater hatte bei dem Gouverneurswahlkampf von Lester Maddox mitgewirkt, der ein Verfechter der Rassentrennung war. Vielleicht als Reaktion darauf machte Bill die Versöhnung zwischen den Rassen zu einem Hauptziel der Gemeinde. LaSalle war die erste Gemeinde, in der ich eine breite Vielfalt erlebte. Am Sonntagmorgen bereiteten Freiwillige immer ein kostenloses Frühstück für Senioren zu, von denen viele anschließend zum Gottesdienst blieben – der Geruch von frischen Brötchen und Schinken in einer Gemeinde hat einiges für sich, wie ich feststellte. Die Hälfte der Senioren waren Afroamerikaner, die andere Hälfte waren Weiße. An kalten Tagen kamen auch Obdachlose zum Frühstück und manchmal streckten diese Besucher sich anschließend auf den Sitzbänken aus und schnarchten laut während des Gottesdienstes. Dieser Gemeinde gehörten auch einige graduierte Studenten an, die gerade an renommierten Bildungsstätten wie der Northwestern oder der University of Chicago ihren Doktor machten, sowie Ärzte, Rechtsanwälte und andere Menschen mit umfassender Bildung. Auf Grund dieser Zusammensetzung musste ich, wenn ich lehrte oder gelegentlich predigte, das Evangelium in allgemein verständlicher Art und Weise darlegen. Ich musste mir immer wieder die Frage stellen, ob meine Worte einer obdachlosen Frau genauso etwas zu sagen hatten wie einem Theologiestudenten. Ich staunte immer mehr darüber, dass Gott durch das Evangelium sowohl reiche Akademiker anspricht als auch ungebildete Leute von der Straße. Und ich fing an, mich auf die Gemeinde als einen Ort zu freuen, an dem mich Men29


schen umgaben, die anders waren als ich. Oberflächlich betrachtet hatten wir nur wenig gemeinsam; aber unsere Hingabe an Jesus Christus gab uns etwas, das wir miteinander teilten. Einmal nahm ich an einem Wochenendseminar unter der Leitung von Scott Peck teil, der zehn Juden, zehn Christen und zehn Muslime eingeladen hatte, um seine Theorie von Gemeinschaft auf die Probe zu stellen. Peck glaubt, dass die meisten Menschen das Pferd von hinten aufzäumen: Wir meinen, Gemeinschaft entwickle sich erst dann, wenn Menschen, die unterschiedliche Ansichten vertreten oder aus unterschiedlichen Hintergründen kommen, ihre Konflikte bereinigt haben. Im Nahen Osten setzen sich zum Beispiel die führenden Vertreter verfeindeter Staaten zuerst zusammen, um Friedensabkommen zu vereinbaren. Erst anschließend lernen die Menschen dann vielleicht (oder auch nicht), in Frieden zusammenzuleben. Nach Auffassung von Peck könnte der Frieden viel natürlicher zustande kommen, wenn die politischen Führer zuerst lernen würden, in Gemeinschaft zu leben, um dann Konfliktlösungen zu erarbeiten. Für dieses Wochenende mit Scott Peck werde ich immer dankbar sein, weil es mich lehrte, was die Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde eigentlich erreichen könnte und sollte. Die christliche Grundlage für Gemeinschaft – die versöhnende Liebe Gottes – übersteigt alle Unterschiede von Nationalität, Rasse, Gesellschaftsschicht, Alter und Geschlecht. Unsere Gemeinsamkeiten kommen zuerst; die Fragen, die uns trennen, folgen später. In der LaSalle Street Church und an einigen anderen Orten habe ich eine Ahnung davon bekommen, was möglich ist, wenn Gemeinschaft sich auf der Grundlage dessen bildet, was wir gemeinsam haben. Es entsteht eine Familie Gottes, 30


in der Einheit nicht mehr Gleichförmigkeit und Verschiedenheit nicht mehr Abgrenzung bedeutet. Wie leicht vergessen wir, dass die christliche Kirche die erste Institution in der Geschichte war, die Juden und Nichtjuden, Männer und Frauen, Sklaven und Freie auf gleicher Basis zusammengebracht hat. Die ersten Christen rissen trennende Mauern nieder. Anders als die meisten anderen Religionen nahmen Christen Männer und Frauen gleichermaßen an. Die Griechen schlossen Sklaven von den meisten gesellschaftlichen Zusammenkünften aus, während die Christen sie einbezogen. Im jüdischen Tempel waren die Anbetenden nach Rasse und Geschlecht getrennt; die Christen vereinten sie alle am Tisch des Herrn. Im Gegensatz zu der weitgehend männlichen Aristokratie Roms setzte die christliche Kirche Frauen und die Armen in Leitungsfunktionen ein. Der Apostel Paulus, ein „Hebräer von reinster Abstammung“ (Philipper 3,5), geriet ins Schwärmen beim Gedanken an „Gottes geheimnisvolle Weisheit, die bis jetzt verborgen war“. Gottes Absicht war es, sagt Paulus, diesen „verborgenen Plan [. . .] den Mächten und Gewalten in der himmlischen Welt durch seine Gemeinde bekannt [zu machen]“ (Epheser 3,9–10). Indem wir eine Gemeinschaft aus verschiedenen Gliedern bilden, haben wir die Chance, die Aufmerksamkeit der Welt zu fesseln und sogar die der nicht sichtbaren Welt. Mir ist natürlich bewusst, dass Vielfalt verschiedene Formen annehmen kann. Selbst in ausschließlich weißen oder ausschließlich schwarzen Gemeinden gibt es Verschiedenheit auf Grund von Altersgruppen, Bildungsniveau und wirtschaftlicher Schicht. Die Gemeinde ist der eine Ort, der Generationen zusammenbringt: Säuglinge, die noch an der Mutterbrust gestillt werden, Kinder, die immer zur falschen Zeit zappelig werden und kichern, verantwortungsvolle Er31


wachsene, die sich jederzeit angemessen zu benehmen wissen, und Senioren, die gelegentlich einnicken, wenn der Prediger allzu lange redet. Wenn ich heute nach einer Gemeinde suche, schaue ich mich nach den Menschen um, die in ihren Kirchenbänken oder auf ihren Stühlen sitzen. Ich kann so vieles lernen vom ungehemmten Anbetungsstil der Afroamerikaner und Pfingstler, vom beständigen Glauben der Senioren, von den täglichen Mühen der Mütter mit Vorschulkindern. Ich suche mir bewusst eine Gemeinde aus, die aus Menschen besteht, die anders sind als ich.

Hinausblicken Die Gemeinde, sagte Erzbischof William Tempel, ist „die einzige Genossenschaft der Welt, die zum Nutzen ihrer Nichtmitglieder besteht“. Das ist die Lektion, die ich besonders klar von der LaSalle Street Church gelernt habe. Die Gemeinden meiner Kindheit hatten betont, wie wichtig die Auslandsmission ist, und ich hatte mich immer auf die jährliche Missionskonferenz mit ihren Ausstellungen von Blasrohren, Speeren und Stammesmasken gefreut. Aber in Chicago lernte ich, dass der missionarische Auftrag der Gemeinde auch den Anforderungen der eigenen Umgebung gilt. Einer der Gründe, warum unsere „bunte“ Gemeinde gut funktionierte, lag darin, dass wir uns in dem Ziel eins machten, die Menschen unserer Umgebung zu erreichen. Wenn man aktiv anderen Menschen dient, denkt man weniger an sich selbst. Nachbarschaftsprogramme entstanden in LaSalle, als die Sonntagsschullehrer feststellten, dass viele Teilnehmer nicht lesen konnten, und ihnen nach dem Sonntagsgottesdienst Lesen und Schreiben beibrachten. Der Bedarf war 32


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