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James BeauSeigneur

Das Jesus-Gen Roman

Auszug aus: Kapitel 10: Die große Katastrophe Leichter Regen begann zu fallen und Decker rannte. Unbeholfen bahnte er sich den Weg durch das hohe Gras und versuchte, den Disteln und dem wilden Brombeergestrüpp auszuweichen. Sein Zuhause und damit die Sicherheit vor dem bevorstehenden Gewitter lagen unmittelbar hinter dem nächsten Hügel. In seiner Entschlossenheit war er sich des seltsamen Gefühls nicht bewusst, dass er in einem kleinen, noch nicht acht Jahre alten Körper steckte. Die Gewitterwolken hatten sich in Windeseile zusammengezogen, und eine Zeit lang schien es so, als würden sie genauso schnell wieder verschwinden. Doch als der Regen einsetzte und in der Ferne auch schon der erste Donnerschlag ertönte, war ein Wolkenbruch enormen Ausmaßes zu erwarten. Während er rannte, waren Deckers Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Er hatte Angst vor irgendeiner unausweichlichen Wende der Ereignisse, die ihm bevorstand. Es schien ... es schien ihm, als habe er dies alles schon einmal erlebt. Da war irgendetwas auf seinem Weg - etwas, vor dem er Angst haben sollte. Aber was? Plötzlich gab die Erde unter seinen Füßen nach. Deckers Hände flogen über seinen Kopf, während er nach der feuchten Luft griff und verzweifelt versuchte, seinen Sturz abzubremsen. Er spürte die Erde wieder, als sein Magen und seine Brust gegen eine Wand aus Erde prallten und an einem rauen Abhang entlang rutschten, der ihn zu verschlucken drohte. Beim Aufprall wich alle Luft aus seiner Lunge, doch bevor er wieder nach Luft schnappen konnte, durchzuckte ihn ein scharfer Schmerz, als Dutzende seltsam geformter Vorsprünge gegen seinen Körper kratzten, sein Hemd zerrissen und es ihm über den Kopf zogen, während er den Abhang hinunterglitt. Seine Hände griffen in eine Masse kleiner Fasern, die ihm schnell wieder entglitten, doch dann durch


eine festere und haltbarere Wurzel ersetzt wurden. Wie betäubt blieb er reglos daran hängen. Augenblicke verstrichen. Dann begann Decker, sich vorsichtig wieder hochzuziehen. Er hoffte, sein Halt würde unter seinem Gewicht nicht nachgeben. Er zog sich ein paar Zentimeter hinauf und schlüpfte wieder in sein Hemd. Da er jetzt wieder sehen konnte, stellte er fest, dass er an einer Baumwurzel hin, die einen Durchmesser von etwa einem Zentimeter hatte. Den Tränen nahe, wandte er langsam den Kopf und blickte nach unten. Entsetzt stellte er fest, dass seine Fantasie ihm keinen Streich gespielt hatte. Unter ihm gähnte ein Loch von etwa zehn Metern Tiefe, das sich verengte und dann in eine andere Richtung weiterging. Er schloss die Augen und dachte an den vergangenen Sommer, als er das erste Mal von solchen Löchern gehört hatte. Sein Cousin Bobby und er waren auf zwei Maultieren seines Onkels zu dem Feld nördlich des Milchstalles geritten. Bobby hatte ihm eine Stelle im Feld gezeigt, wo schon so lange ein alter Heuwagen stand, dass um diesen herum Disteln mit dunkelroten Blüten gewachsen waren. Bobby, der ohne Sattel ritt, hob das Bein und glitt von seinem Maultier herunter. „Komm schon“, sagte er, während er die selbst gemachten Zügel des Maultiers an einem verrosteten Eisenstab des Wagens festband. In seiner Stimme lag Abenteuerlust und Decker ließ sich so etwas nicht zweimal sagen. „Sei ganz vorsichtig“, warnte Bobby ihn, als er sich langsam an den Rand eines Loches im Boden auf der anderen Seite des Wagens heranschob. Decker folgte Bobby und stand schon bald am Rand des Abgrunds und sah hinunter. „Mann, ist das tief“, staunte Decker. „Was ist das?“ „Ein Schlundloch“, erklärte Bobby. „Ein was?“ „Ein Schlundloch. Es ist unendlich tief“, sagte Bobby von seinem Wissen überzeugt. „Ach, das ist verrückt“, erwiderte Decker. „Ich kann den Boden sehen.“ „Das ist nicht der Boden, das ist nur die Stelle, wo es in eine andere Richtung abdreht.“ Bobby zupfte leicht an Deckers Hemd und die beiden gingen zur anderen Seite des Loches. „Sieh nur hinunter“, forderte Bobby ihn auf und deutete auf die Stelle, die der Boden des Schachts zu sein schien. Decker konnte nicht sagen, wie weit dieser hinabführte, aber er konnte sehen, dass der Schacht in der anderen Richtung weiterverlief. Er hockte sich auf den Boden, um besser sehen zu können, doch es war einfach zu dunkel.


„Wo kommt das her?“, fragte Decker. „Was meinst du damit? Denkst du, wir hätten das gegraben oder so was?“ Decker warf Bobby einen vernichtenden Blick zu, und Bobby, der zu dem Schluss gekommen war, dass dies nicht der richtige Ort für einen Kampf war, fuhr fort: „Sie sind einfach da. Eines Tages ist noch alles eben und schon am nächsten Tag ist da ein Schlundloch. Darum nennt man sie auch Schlundloch, schätze ich.“ Decker versuchte erneut, einen besseren Blick darauf zu erhaschen, und dann kam ihm eine Idee. „Wir holen ein Seil und klettern hinunter, um es zu erforschen!“ „Bist du verrückt?“ „Komm schon! Wir holen ein richtig langes Seil. Oder besser noch, wir suchen uns zwei Taschenlampen und holen diese Rolle mit dem Seil aus der Scheune. Wir können das Seil an einem der Maultiere festbinden und hinunterklettern. Ich habe schon gesehen, wie die Leute das im Fernsehen gemacht haben.“ „Mann, du bist wirklich verrückt! Mein Dad hat mir von drei Typen erzählt, die drüben in ,Moore County‘ in ein Schlundloch gestiegen sind. Sie kamen nie wieder hoch und zwei Monate später hat man ihre Leichen im Duck gefunden!“ Decker sah Bobby an und versuchte herauszufinden, ob er das einfach nur erfunden hatte. Bobby fuhr fort: „Ich habe dir gesagt, diese Dinger haben keinen Boden!“ In diesem Augenblick sahen sie Bobbys Dad durch das hohe Gras auf sie zumarschieren. Er war zornig. „Bobby!“, rief er, „was um alles in der Welt machst du da? Willst du reinfallen? Du gehst sofort von dem Loch weg oder ich prügle dich windelweich!“ Die beiden Jungen rannten, so schnell sie konnten, zu den Maultieren. Diese Szene hatte Decker klargemacht, dass Bobby in Bezug auf die Gefahr nicht geflunkert hatte. Der Regen nahm nun zu, und die Erde, in die Decker sein Gesicht drückte, hatte sich in Schlamm verwandelt. Seine Hände hielten die Wurzel umklammert, seine Kleider waren nass, sein Bauch völlig zerkratzt und blutig, und ihm wurde langsam kalt. Er versuchte, um Hilfe zu rufen, gab aber auf, als er heiser wurde. Er befand sich nur wenige Meter unter der Oberfläche, doch er sah keine Chance, sich noch weiter hochzuziehen. Decker versuchte, dies als Abenteuer zu sehen; irgendwie würde er herauskommen und dann könnte er den Kindern in der Schule davon erzählen. Vielleicht würde man ihm viel Mitgefühl entgegenbringen, und seine Mom würde ihm möglicherweise sogar erlauben, morgen nicht in


die Schule zu gehen. Er dachte daran, seinen Gürtel abzunehmen und ihn irgendwie als Seil zu benutzen, um sich hochzuziehen. Junge! Das wäre eine Geschichte, dachte er. Aber es gab nichts, an dem er ihn befestigen konnte. Und auf keinen Fall würde er eine Hand von der Wurzel lösen und versuchen, seinen Gürtel aus der Hose zu ziehen. Eine Stunde lang hing er an diesem schlammigen Abhang und hielt sich an der Wurzel fest. Der Regen hatte beinahe aufgehört, aber der Himmel verdunkelte sich zusehends. Der Abend brach an. Plötzlich vernahm er die Stimmen seiner Mutter und seines älteren Bruders Nathan. Sie riefen nach ihm und kamen immer näher. Er rief - nicht um Hilfe, sondern um sie zu warnen. „Bleib weg, Mom! Das ist ein Schlundloch.“ Aber natürlich blieb sie nicht weg. Kurz darauf sah er ihr entsetztes Gesicht am Rand des Loches auftauchen. Auf Händen und Knien war sie an den Rand herangekrochen. Nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück, als sie ihn an der Wurzel etwa einen Meter unterhalb des Randes hängen sah. Sie gab sich Mühe, logisch zu denken. Sie betrachtete seine Finger, die die Wurzel umklammert hielten. Sie schienen so winzig. Das Blut war schon längst aus ihnen gewichen und sie waren weiß und vom Regen verschrumpelt. Flach auf dem Bauch liegend, griff sie nach unten, reckte sich, rutschte noch ein Stückchen weiter, sehr wohl wissend, dass der Boden unter ihr jeden Augenblick nachgeben konnte und sie dann beide in das schlammige Grab fallen würden. In einem letzten Versuch, noch einen Zentimeter vorzurutschen, hielt sie den Atem an, drückte sich flach auf den Boden und grub ihre Schuhspitze tief in den weichen Boden, damit sie nicht abrutschte. „Halte dich nur fest, Schatz. Ich hole dich sofort heraus“, sagte sie mit fester Stimme. Hoffnungsvoll beobachtete er, wie sich ihre Finger um sein rechtes Handgelenk schlossen. Es war bereits zu gefühllos, als dass er ihren Griff noch spüren konnte. Als sie sicher war, dass sie festen Halt hatte, begann sie, ihn hochzuziehen. Sie zog ihn ein paar Zentimeter, während Decker nach Kräften versuchte, sich mit den Füßen an dem Abhang abzustoßen. „Lass die Wurzel jetzt los, Schatz“, sagte sie, „ich halte ich.“ Aber Decker konnte nicht loslassen. Der Griff, der ihn vor dem Schlund des Todes bewahrt hatte, wollte sich nun nicht lösen lassen. Seine Hände waren gefühllos, ineinander verschränkt, und er konnte sie nicht dazu bringen, die Finger zu bewegen. Seine Mutter zog noch stärker. „Ich kann nicht loslassen, Mami, ich kann meine Hände einfach nicht lösen“, rief er. Erst jetzt begann er zu weinen.


„Es ist in Ordnung, Mami hat dich und wird dich nicht loslassen.“ Sie zog. Mit all ihrer Kraft und Liebe zog sie. Und dann hörte sie plötzlich auf zu ziehen. Decker fuhr im Bett hoch. Es war nur ein Traum gewesen. Es war tatsächlich geschehen, genau so, aber das war vor Jahren gewesen. Trotzdem spürte er unerklärlicherweise den festen Griff seiner Mutter an seinem rechten Unterarm. Er versuchte, ihn zu bewegen, aber er tat weh und war schwer. Im trüben Licht der frühen Dämmerung betrachtete er seinen Arm und erkannte, was los war. „Elizabeth, wach auf und lass meinen Arm los“, sagte er. „Komm schon, Schatz. Du hast anscheinend einen schlimmen Traum oder so etwas.“ Decker kam der Gedanke, wie absurd es war, dass er ihr sagte, sie hätte einen schlimmen Traum. „Elizabeth, komm schon, du tust mir weh. Wach auf und lass meinen Arm los!“ Decker nahm ihre Hand und löste ihre Finger von seinem Arm. Nachdem er sich endlich befreit und seinen Arm geschüttelt hatte, damit das Blut fließen konnte, legte er sich wieder hin, um weiterzuschlafen. Aber irgendetwas stimmte nicht. Elizabeth hatte sonst einen leichten Schlaf. „Elizabeth!“, rief er laut, aber es kam keine Reaktion. Er rollte sich auf die Seite und schüttelte sie, um sie aufzuwecken, doch sie wachte nicht auf. Er schüttelte sie erneut, aber es kam noch immer keine Reaktion. Plötzlich durchzuckte ihn ein entsetzlicher Gedanke. Er griff nach ihrem Handgelenk. Da war kein Pulsschlag. Er legte die Finger an ihre Halsschlagader. Nichts. Er lauschte auf ihren Herzschlag, aber er hörte nichts. Sein Blutdruck stieg und sein Herzschlag beschleunigte sich. Sein Kopf begann zu schmerzen. Er versuchte zu verstehen, was da passierte. Wiederbelebung, dachte er plötzlich. Ihr Körper ist noch warm. Es muss gerade erst passiert sein. Ich muss es mit Wiederbelebungsmaßnahmen probieren. Er zerrte die Laken von ihrem leblosen Körper. Es war Jahre her, seit er die entsprechenden Handgriffe gelernt hatte; er betete, dass er sich jetzt daran erinnern würde. Mal sehen, dachte er, leg eine Hand oben, die andere in die Mitte der Brust. Warte! War es oberhalb der Stelle, wo die Rippen zusammentreffen, oder unterhalb? Unmittelbar oberhalb!, dachte er. Er begann Druck


auszuüben, aber ihr Körper sank auf der Matratze ein. Er musste sie auf eine feste Unterlage legen. Schnell packte er ihre Arme und zog sie auf den Boden. Er versuchte es erneut. „Oh Gott!“, sagte er laut. „Ich habe vergessen, in ihrem Mund nachzusehen.“ Decker öffnete den Mund seiner Frau und suchte darin nach irgendetwas, das vielleicht die Luftröhre versperrte. Es war zu dunkel. Er knipste das Licht an, verlor aber weitere kostbare Zeit, bis seine Augen sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Erneut sah er in ihren Mund, konnte aber nichts entdecken. Mit den Fingern griff er hinein. Da war nichts. „Gott, hilf mir!“, betete er in Tränen der Verzweiflung aufgelöst. Das hätte ich als Erstes machen sollen. Er hatte kostbare Sekunden verloren. Schnell blies er zwei Atemzüge Luft in ihre Lungen und drückte mit beiden Händen gegen den mittleren und unteren Teil des Brustkorbs. „Eins, zwei, drei, vier, fünf“, zählte er leise, dann blies er ihr wieder Luft in die Lungen. „Eins, zwei, drei, vier, fünf.“ Er wiederholte den Vorgang. Wieder und wieder. „Stirb nicht ... Elizabeth, bitte stirb nicht“, schluchzte er. Wieder und wieder. Fünf Minuten. „Bitte, Liebling. Bitte wach auf! Gott, bitte lass sie aufwachen.“ Aber da war noch immer nichts. Ruf den Krankenwagen. Nur ein paar noch. „Eins, zwei, drei, vier, fünf.“ Decker schnappte sich das Telefon vom Nachttisch neben dem Bett. Mit zitternden Fingen wählte er den Notruf, während er das Telefonkabel zu der Stelle zog, wo Elizabeth lag. Das Telefon zwischen Schulter und Ohr geklemmt, fuhr er mit den Wiederbelebungsversuchen fort. Es war besetzt. Er hielt inne und wählte erneut. Besetzt. Wie kann besetzt sein? „Gott, hilf mir!“, wiederholte er. Er drückte die 0 für die Vermittlung. Auch besetzt. Er versuchte es erneut, aber es war noch immer besetzt. Decker ließ den Hörer sinken. 30 Minuten lang setzte er seine Wiederbelebungsversuche fort, wobei er alle fünf Minuten versuchte, den Notarzt zu erreichen. Endlich kam er durch. Er hielt den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt und machte mit der Wiederbelebung weiter, während es am anderen Ende der Leitung läutete und läutete. Minuten vergingen und es läutete. Hatte er sich vielleicht verwählt? Wagte er nun, da er endlich durchgekommen war, den Hörer einfach wieder aufzulegen? Nein, nein! Wie konnte er sich bei der 911 verwählt haben? Wenn er nicht die richtige Nummer eingegeben hätte, würde es nicht läuten. Es sei denn, es sei denn, er hätte aus Versehen die 411, die Nummer für die Auskunft, gewählt. Das war unwahrscheinlich, aber in seiner Panik war alles möglich.


Er legte auf und wählte erneut. Besetzt. Das Wählen dauerte nicht lange, aber als er seine Wiederbelebungsversuche wieder aufnahm, bemerkte er etwas, das ihm vorher entgangen war. Fast eine Stunde war vergangen und Elizabeths Körper wurde kalt. Sie war tot. Er konnte nichts mehr tun. Sie war tot. Decker setzte sich auf den Boden neben sie und weinte. Der Gedanke, sie jetzt zu verlieren, wo er endlich erkannt hatte, was es bedeutete, sie richtig zu lieben, war mehr, als er verkraften konnte. Seine Muskeln schmerzten von den Anstrengungen der Wiederbelebungsmaßnahmen. Draußen ging gerade die Sonne auf, als sei es ein Tag wie jeder andere. Elizabeth hatte den Sonnenaufgang immer geliebt. Der Radiowecker sprang an, und die Stimme des Kommentators setzte mitten im Satz ein, aber Decker nahm es nicht wahr. Er hörte das Geräusch, aber das war auch alles. Tränen liefen ihm über die Wangen; er wischte sie nicht fort. Wenn er Elizabeth nichts weiter mehr anzubieten hatte als seine Tränen, dann würde er sie lassen, wo sie hinfielen. Bald würden Hope und Louisa aufwachen. Wie sollte er ihnen erklären, was passiert war? Wenigstens um ihretwillen musste er stark sein. Weinend nahm er Elizabeths Körper und legte ihn wieder ins Bett. Er zog die Laken hoch und legte die Decke sanft um sie. Erst jetzt drangen die Worte des Radioansagers zu ihm durch. „Aus der ganzen Welt kommen Berichte herein“, erklärte der Ansager mit heiserer Stimme. „Tausende, Hunderttausende, vielleicht noch mehr, haben bei der zweifellos schlimmsten Katastrophe der Menschheitsgeschichte ihr Leben verloren. Die Todesfälle scheinen sich auf der ganzen Welt fast zur selben Zeit ereignet zu haben. Bisher hat niemand eine Erklärung dafür, warum dies passiert ist.“ Was! Was sagte er da? Die Worte hallten wie ein Donnerschlag in ihm nach. Tausende tot? War auch Elizabeth eines dieser Opfer? Wie konnte so etwas passieren? Durch Strahlung? Giftgas? Einen terroristischen Anschlag? Aber warum waren nur ein paar getötet worden und andere nicht? Die Antwort erhielt er Augenblicke später, als der Ansager fortfuhr: „Es gibt kein offensichtliches Muster bei den Todesfällen: Schwarze, Weiße, Indianer, Japaner, Chinesen, Männer, Frauen, Kinder ...“ „Kinder?“, rief Decker laut. „Nein!!!“ Decker rannte aus dem Schlafzimmer. Ein Augenblick verging, dann ertönte ein gequälter Aufschrei, stieg die Treppen hinauf, durchdrang die Wände und wirbelte die winzigen Staubpartikel auf, die im frühen Morgenlicht tanzten. Dies war kein irdischer Schrei. Aber niemand hörte ihn. Sie waren alle tot. Decker war allein.


Außer sich vor Kummer und Trauer taumelte Decker die Treppe zum Wohnzimmer hinunter und ließ sich in einen Sessel sinken. Oben im Schlafzimmer sprach die Stimme des Radioansagers weiter. „Überall herrscht Entsetzen, überall herrscht Leid. Noch nie hat es auf der Welt Verluste solchen Ausmaßes gegeben. Kein Krieg, keine Seuche, kein Ereignis in der Geschichte kann mit dem Ausmaß dieser Katastrophe verglichen werden. Und niemand kann sicher sein, dass es vorüber ist. Was immer das Leben von so vielen Menschen gefordert hat, kann es wirklich so schnell zugeschlagen haben und genauso schnell wieder vorbei sein? In unserem Studio sind drei meiner Kollegen gestorben, einer, als er vor gut einer Stunde neben mir stand und sich mit mir unterhielt. Es gab keine Warnung. Solange ich lebe, wird mir die Szene, wie mein Kollege und Freund einfach mitten im Satz abbricht und zu Boden sinkt, vor Augen stehen. Und während ich mich an diesen Augenblick erinnere, wo der Tod hier und auf der ganzen Welt zugeschlagen hat, muss ich mich fragen: Ist es vorbei? Wird es wieder zuschlagen? Wird dieser Satz, dieses Wort, dieser Atemzug mein letzter sein? Wird dasselbe erneut geschehen, anderen oder mir zustoßen wie den vielen Opfern? Ist dies das Ende der Welt? Es ist nicht unvernünftig, sich diese Frage zu stellen. Handelt es sich hierbei um irgendeine tödliche Seuche, die einer eindringenden Armee von interstellaren Kolonisten vorauseilt, die den Planet Erde säubern soll, damit diese hier Wohnung nehmen können? Oder ist dies etwas noch Heimtückischeres? Nicht der Angriff einer Spezies auf eine andere, sondern ein Angriff unserer eigenen Spezies von innen heraus? Ein Akt unvergleichlichen Terrors und Rohheit? Eine krönende Leistung in der endlosen Parade der Unmenschlichkeit des Menschen dem Menschen gegenüber? Millionen von Menschen auf der ganzen Welt sind tot, aus keinem ersichtlichen Grund. Mindestens 30 Linienflugzeuge sind gegen Berge geprallt, auf Felder oder Städte gestürzt. In Brasilien und Argentinien, wo es gerade mitten am Vormittag ist, herrscht auf den Straßen Chaos. Autos, die von Opfern der Katastrophe gefahren wurden, sind in andere Fahrzeuge und Fußgänger gerast. Es gibt Berichte von Atomkraftwerken, die sich am Rande einer Katastrophe befinden, während überlebende Techniker ihre toten Kollegen in ihrem Aufgabenbereich ersetzen. Einige Überlebende der Katastrophe sind gezwungen gewesen, ihre Toten zurückzulassen, um Wohngebiete in der Nähe eines umgestürzten Zuges zu evakuieren, aus dem Chemikalien austreten. Die Regierungen der ganzen Welt rufen ihre Bürger auf, Ruhe zu


bewahren. Die Menschen werden gebeten, in ihren Häusern zu bleiben. Alle Massentransportmittel sind fürs Erste außer Betrieb. Flugzeuge sind gezwungen, den nächst gelegenen Flughafen anzufliegen. Obwohl die Todesfälle auf der ganzen Welt aufgetreten zu sein scheinen, reagieren die Regierungen vieler Länder auf die große Katastrophe, als sei sie ein Angriff auf ihre nationale Souveränität. Sie haben ihr Militär in Alarmbereitschaft versetzt und die Überflugrechte ihres Landes allein auf ihre bewaffneten Truppen beschränkt. Auch die NATO ist in Alarmbereitschaft versetzt worden. Niemand weiß, was geschehen ist, aber wir müssen uns unwillkürlich fragen: Sind all die Jahre des Krieges gegen den Terrorismus nun auf die zivilisierte Welt zurückgefallen? Vielleicht ist dieser Angriff das Ergebnis einer jahrzehntelangen Verschwörung. Oder vielleicht ist es die Antwort des Islam auf Israels Wiederaufbau seines Jerusalemer Tempels an der Stelle, an der ihre Moschee einst stand. Wenn diese Katastrophe die Folge eines terroristischen Aktes ist, sind die Schuldigen weiter gegangen als die Zerstörung von ein paar Gebäuden oder die Ermordung der Bewohner von ein paar Städten, und wir befinden uns in einem Weltkrieg.“ Der Kommentator brach ab, weil er seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. „In diesem Augenblick wachen überall an der Ostküste Amerikas und Kanadas Männer und Frauen auf und finden geliebte Menschen tot vor. Es ist so schwer zu begreifen, so schwer vorstellbar. In den Zeitzonen des Westens, wo der Morgen noch nicht angebrochen ist, schlafen viele noch tief und fest und wissen nichts von der Katastrophe, die über unseren Planeten gekommen ist. Bei einigen wird es noch Stunden dauern, bis sie aufwachen und ihre Lieben tot neben sich im Bett liegen sehen.“




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