Kapitel 2
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Ein neues Ziel (Philipper 1,12-30)
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or ein paar Jahren sah ich im Fernsehen ein Interview mit dem britischen Botschafter in Beirut, dessen Botschaft überfallen und geplündert worden war. Überall herrschte Chaos, aber er bewahrte die berühmte englische Haltung. Er war ganz eindeutig verwirrt und ziemlich zerzaust, aber er hatte sein Bestes getan, um sich für das Interview so gut es ging herzurichten, innerlich wie äußerlich. Er berichtete über die schwere Prüfung, die er gerade durchgemacht hatte: Alles, was auch nur einen geringen Wert gehabt hatte, war gestohlen und seine gesamte Familie war im Keller eingesperrt worden – und es bestand während der gesamten Zeit die Gefahr, dass ihnen die Terroristen etwas antun würden. Sie hatten nur sehr wenig zu essen und waren von der gesamten Versorgung abgeschnitten. Es gab weder Strom noch fließendes Wasser. Er schloss mit der Bemerkung: »Das Leben ist wirklich ziemlich unbequem.« Ganz ähnlich untertreibt auch Paulus sein Leiden, der sich in Ketten noch als »Gesandter« bezeichnet (vgl. Eph 6,20). Er nennt es: »wie es um mich steht« (Vers 12; Luther). In Wirklichkeit war er konfrontiert mit falschen Anschuldigungen und Gewalttätigkeiten. Er wurde gefoltert, überstand ein Mordkomplott und endete in der Gewalt eines Tyrannen. Auf dem Weg nach Rom erlitt er Schiffbruch und jetzt war er im Gefängnis – in völliger Ungewissheit darüber, ob er hingerichtet werden würde oder nicht (vgl. Apg 21-28). In seinem Brief an die Philipper deutet er seine Leiden lediglich zweimal lapidar
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mit »wie es um mich steht« oder einfach mit »das« (Verse 12 und 19) an. Und er untertreibt sein Leid nicht nur, sondern er freut sich sogar darüber, weil er erkennt, dass sich seine höchste Berufung im Leben erfüllt. Diese Berufung lässt sich in drei Worten zusammenfassen: »Verbreitung des Evangeliums« (Vers 12). Das griechische Wort für »Verbreitung« bedeutet »Voranbringen trotz Widrigkeiten und Gefahren, die den Weg des Reisenden versperren können«.7 Das war die Aufgabe, die Paulus bekommen hatte und die alle Christen haben. Im Folgenden erfahren wir, wie wir an diese Aufgabe herangehen können und was sie ganz praktisch bedeutet.
Gelegenheiten ergreifen Es hatte sich herumgesprochen, warum Paulus im Gefängnis war. Paulus sagt: »Denn im ganzen Prätorium und bei allen Übrigen ist offenbar geworden, dass ich um Christi willen im Gefängnis bin« (Vers 13). Das Prätorium bestand aus einer kaiserlichen Elitetruppe. Kaiser Augustus hatte 10 000 handverlesene Soldaten und Vitellius erhöhte die Anzahl dieser Sondertruppe auf 16000. Sie bekamen höheren Sold und erhielten beim Ausscheiden aus dem Dienst die römische Bürgerschaft und eine Menge Geld. An solche Männer war Paulus für acht Stunden täglich angekettet. Und zweifellos nutzte er diese Chance, um ihnen die Gute Nachricht von Jesus Christus weiterzugeben. Er sagte nicht: »Im Augenblick kann ich gar nichts tun, also warte ich, bis ich wieder draußen bin.« Er machte das Beste aus dieser Gelegenheit. Er sprach mit denen, mit denen er sprechen konnte, an andere schrieb er Briefe. Diese Briefe wurden, ohne dass er es wusste, ein Teil des Neuen Testamentes und veränderten dadurch den Lauf der Geschichte.
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Viele Christen sehnen sich danach, freigestellt zu werden, damit sie anderen Menschen die Gute Nachricht weitergeben können. Sie fühlen sich in ihrem Beruf eingesperrt oder zu Hause »an den Herd gekettet«. Sie freuen sich auf die Zeit, wenn sie nicht mehr jeden Morgen zur Arbeit müssen oder wenn die Kinder flügge sind, damit sie dann endlich wirklich Jesus dienen können. Aber die Zeit dazu ist nicht »irgendwann, wenn …«, sondern jetzt: Die Chancen sind da vorhanden, wo wir gerade sind. Wenn wir in unserem Job Seite an Seite mit Nichtchristen arbeiten, dann ist das die Chance für das Evangelium. Wenn wir Kinder erziehen und versorgen, dann ist das eine riesige Chance, sie mit Jesus bekannt zu machen und ihnen das Leben mit ihm schmackhaft zu machen. Paulus nahm seine Aufgabe wahr, wo immer er sich gerade aufhielt, und das hatte ungeheure Auswirkungen. Es hörten nicht nur viele Menschen direkt von Paulus etwas über Jesus Christus, sondern auch von anderen Christen – nicht nur die Leiter, sondern »die meisten der Brüder sind durch meine Gefangenschaft zuversichtlich geworden im Glauben an den Herrn und
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wagen umso kühner, das Wort Gottes furchtlos zu sagen« (Vers 14). Und das ist die Aufgabe, zu der alle Christen aufgerufen sind. Sie sahen seinen Zustand und erkannten, dass sie viel weniger zu befürchten hatten als er. Dasselbe gilt für uns, wenn wir durch die Geschichten von Menschen angespornt werden, die den Glauben in Ländern verbreiten, in denen Christen verfolgt werden. Vor einer Weile nahm ich an einer Konferenz teil, auf der ein chinesischer Christ namens Pastor Chang sprach. Er war ein gebildeter christlicher Leiter, der 18 Jahre im Arbeitslager verbrachte, weil er die Gute Nachricht verbreitet hatte. Im Gefängnis musste er die Latrine reinigen. Sie war so tief, dass er hineinsteigen musste, um sie zu entleeren, und weil es entsprechend roch, machten die Mitgefangenen und die Wachen einen großen Bogen um den Ort. Pastor Chang sagte: »Ich genoss die Einsamkeit … Ich konnte zu unserem Herrn beten, so laut ich wollte, ich konnte laut Bibelverse zitieren und die Psalmen aufsagen und aus vollem Halse Choräle schmettern.« Er berichtete, er habe eine »wunderbare Gemeinschaft mit unserem Herrn erlebt … Wahrscheinlich hat niemand sonst solche Freude erlebt … die Klärgrube wurde mein privater Garten.« Ich glaube, alle, die ihn sprechen hörten, bekamen ganz neuen Mut, das Wort Gottes mutiger weiterzugeben! Wir hier im Westen haben am allerwenigsten zu befürchten, aber augenscheinlich die größte Angst, die Gute Nachricht von Jesus Christus weiterzugeben. Unsere Ängste beziehen sich auf Unbeliebtheit oder gesellschaftliche Isolation, aber andere Christen sind mit Folter, Haft und Tod konfrontiert. Es ist an der Zeit, dass die Kirchen im Westen ihre Freiheit endlich nutzen und wieder ihren Auftrag wahrnehmen, das Evangelium weiterzusagen! Wo wir auch sein mögen, die Chancen, das Evangelium zu verbreiten, sind enorm.
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Die Gute Nachricht hat Priorität Einige von denen, die das Evangelium predigten, nutzten die Inhaftierung von Paulus, um ihre persönlichen Anliegen voranzutreiben. Ihre Motive waren Neid, Rivalität und egoistischer Ehrgeiz (Verse 15-17). Es ist sehr wichtig, dass Menschen die Botschaft des Evangeliums unverfälscht hören. Diese Botschaft steht nicht zur Debatte; wir haben nicht die Freiheit, sie zu verfälschen. Aus diesem Grund schreibt Paulus: »Wer euch ein anderes Evangelium verkündigt, als ihr angenommen habt, der sei verflucht« (Gal 1,9). Auch auf die Methoden, mit Hilfe derer man predigt, kommt es an: Die Inquisition beispielsweise war keine legitime Methode, die Gute Nachricht von Jesus Christus zu verkünden. Der Zweck heiligt keineswegs die Mittel. Paulus spricht hier nicht über die Botschaft oder die Methode, sondern über die Motive des Predigers (Vers 18). Diese, so sagt er, sind zweitrangig. Natürlich wünscht sich Paulus, dass unsere Motive rein sind. Noch wichtiger allerdings als die Motive des Predigers ist die Tatsache, dass die Gute Nachricht überhaupt unverfälscht verkündigt wird. Ihm ist es lieber, dass Christus aus den falschen Motiven, als dass er gar nicht verkündet wird. Manchmal schrecken Menschen davor zurück, das Richtige zu tun, weil sie sich Gedanken um ihre Motive machen. Sie sagen: »Ich kann nicht Christ werden, weil meine Motive nicht richtig wären.« Ihnen würde Paulus antworten, dass es besser ist, das Richtige zu tun, selbst wenn die Motive nicht eindeutig oder sogar falsch sind. Genauso wenig sollten wir mit anderen Menschen, die das Evangelium verkünden, zu streng sein. Manche tun es vielleicht für Geld oder um sich selbst zu profilieren. Statt sie nur zu kritisieren, sollten wir uns gemein-
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sam mit Paulus darüber freuen, dass Christus überhaupt verkündet wird.
Das Evangelium als Sinn des Lebens Paulus schreibt weiterhin, dass er sich auch nicht im Entferntesten über den Tod Sorgen macht – solange Jesus alle Ehre bekommt. In vielerlei Hinsicht betrachtet er den Tod als »Gewinn« (Vers 21). Er schreibt: »Ich sehne mich danach, aufzubrechen und bei Christus zu sein […]« (Vers 23). Schon viele Christen haben ganz ähnlich empfunden. Mozart beschrieb den Tod als »den Schlüssel, der die Tür zu unserem wahren Glück aufschließt«. Henry Venn (1725-1797) war einer der Begründer der einflussreichen christlichen Laienbewegung, die als Clapham-Sekte bekannt wurde. Als die Ärzte ihm sagten, er hätte noch etwa zwei Wochen zu leben, löste diese Nachricht in ihm eine solche Freude aus, dass er noch drei Monate länger lebte! Ich habe kürzlich die letzten Briefe von Helmuth James Graf Moltke gelesen, die er kurz vor seinem Tod an seine Frau und die Kinder schrieb. Er war der Leiter des Kreisauer Kreises, einer Widerstandsgruppe gegen das Naziregime während des Zweiten Weltkrieges. Im Januar 1944 wurde er verhaftet, weil er einen Freund vor dessen unmittelbar bevorstehender Verhaftung gewarnt hatte. Im darauf folgenden Jahr verurteilte ihn der Volksgerichtshof zum Tode. Das Urteil wurde am 23. Januar 1945 vollstreckt. Moltke, der damals 37 Jahre alt war, schrieb in seinen letzten Briefen, dass er überwältigt sei von
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den »Zeichen der Gegenwart und Allmacht Gottes«. Kurz vor seinem Tod wurde er schwer misshandelt. Danach schrieb er: »Aus meiner heutigen Erfahrung weiß ich, dass Gott auch diese Schläge wie nichts erscheinen lassen kann, selbst wenn es in meinem Körper keinen einzigen heilen Knochen mehr gibt, selbst wenn sie mich hängen.« Genau wie Paulus konnte er sagen: »Denn für mich ist Christus das Leben, und Sterben Gewinn« (Vers 21). Paul Negrut, der rumänische Pastor, den ich im ersten Kapitel erwähnt habe, berichtet über seine Erlebnisse während der Verfolgung: »Die stärkste Waffe, die die Welt hat, ist einen zum Tode zu verurteilen. Nachdem sie einen getötet haben, gibt es nichts mehr, was sie einem noch antun können. Das war die Lektion, die ich immer wieder von der rumänischen Geheimpolizei gelernt habe.« Immer wieder hatten sie Negrut gedroht, ihn zu töten. »Wie reagiert man darauf? Wenn sie uns mit dem Tod drohen, ist dies ihre größte Bedrohung und ihre stärkste Macht. Unser größter Sieg ist es zu sterben. Immer wenn sie zu mir sagten: ›Wir werden dich töten‹, sagte ich: ›Ich kann es kaum erwarten. Das wird mein größter Sieg. Denn dann werdet ihr mich für immer verlieren und ich werde für immer zu Hause sein. Ich habe dann mein Ziel erreicht – ich kann es kaum erwarten.‹« Obwohl sich der Apostel Paulus nicht vor dem Tod fürchtete, wünschte er sich dennoch, für andere Menschen weiterzuleben. Er wusste, jede Verlängerung seines Lebens bedeutete »fruchtbare Arbeit« (Vers 22). Er wusste, dass es um der Sache der Philipper willen nötig war: »Im Vertrauen darauf weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen ausharren werde, um euch im Glauben zu
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fördern und zu erfreuen, damit ihr euch in Christus Jesus umso mehr meiner rühmen könnt, wenn ich wieder zu euch komme« (Verse 25-26). Der ganze Sinn und Zweck seines Lebens war Christus. Er schreibt: »Denn für mich ist Christus das Leben« (Vers 21). Das steht im Gegensatz zu allem, was uns moderne Menschen so antreibt. Manche sind getrieben vom Verlangen nach Geld und der scheinbaren Sicherheit, die es bietet. Andere werden getrieben von der Sehnsucht und dem Verlangen, geliebt zu werden, oder von der Suche nach sexueller Befriedigung. Wieder andere sind vom Hunger nach Erfolg getrieben, nach Berühmtheit und Bedeutung. Madonna beispielsweise hat einmal gesagt: »Ich werde erst glücklich sein, wenn ich so berühmt bin wie Gott.«8 Aber es gibt Menschen, denen klar geworden ist, dass sie nur in Jesus Christus einen Sinn und Zweck für ihr Leben finden können. Der Golfspieler Bernhard Langer sagte in einem Fernsehinterview: »Bei unserem Lebensstil (besonders bei dem von uns Sportlern) geht es nur um Geld und darum, wer du bist und wen du kennst und was du hast, und das alles ist einfach nicht das Wichtigste. Ich glaube, dass Menschen, die das alles haben, irgendwann merken,
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dass selbst wenn sie all diese Ziele, die sie erreichen wollten, erreicht haben, und wenn sie all die Millionen Mark haben, die sie haben wollten, und all die Sportwagen und all die Orte auf der Welt, die sie bereisen wollten – ihnen trotzdem noch etwas in ihrem Leben fehlt. Und ich denke, das ist Jesus Christus.« Paulus’ Lebensziel war es, Christus zu kennen und andere mit ihm bekannt zu machen. Dabei brauchte er Hilfe, die er durch Gebet und den Heiligen Geist erhielt (Vers 19) – Gott handelt durch beides. Es sind weder die Gebete noch der Geist allein, die für sich selbst wirken und dadurch unsere Gebete überflüssig machen, sondern es ist eine Kombination, bei der beide zusammenwirken.
Das Evangelium – ein Lebensstil Es reicht nicht aus, nur über das Evangelium zu reden, wir müssen es auch leben. Paulus schreibt: »Wandelt nur würdig des Evangeliums Christi, damit […] ihr in einem Geist steht und einmütig mit uns kämpft für den Glauben des Evangeliums« (Vers 27; Luther). Paulus verwendet hier einen Vergleich. Er spielt auf die römische Staatsbürgerschaft der Einwohner an. Philippi war eine römische Kolonie und die Philipper waren folglich Bürger des Römischen Reiches. Sie sprachen lateinisch, kleideten sich römisch und richteten sich nach römischen Sitten; ihre Beamten hatten römische Titel und hielten an den aus Rom überlieferten Formen und Gesetzen fest. Sie waren unheimlich stolz auf ihre Privilegien, die Privilegien Roms. Die Bürger von Philippi wollten wahrscheinlich ein Leben führen, das Roms würdig war. Aber jetzt ist ihr wahres Bürgerrecht das des Himmels und ihre christliche Kolonie ist auf der Erde. Sie sollen ein Leben füh-