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um ersten Mal seit dem Start bekam Rayford Steele Bedenken wegen ihres Passagiers. „Wir hätten sie nicht mitnehmen sollen, Smitty“, seufzte er. Er warf Abdullah, der am Steuerknüppel saß, einen verstohlenen Seitenblick zu. Der Jordanier schüttelte den Kopf. „Das war Ihre Entscheidung, Captain, so Leid es mir tut. Ich habe versucht, Ihnen klar zu machen, wie wichtig sie für Petra ist.“ Die Dunkelheit, die nur Neu-Babylon einhüllte, aber schon aus einer Entfernung von gut 100 Meilen sichtbar war, war anders als alles, was Rayford bisher in seinem Leben gesehen hatte. Als Abdullah mit der Gulfstream den Landeanflug auf Irak begann, war es 12 Uhr mittags Palastzeit. Gewöhnlich funkelten die prächtigen Gebäude der neuen Welthauptstadt in der hellen Mittagssonne. Jetzt erhob sich, so weit das Auge sehen konnte, von Neu-Babylons ausgedehnten Grenzen eine schwarze Säule in den wolkenlosen Himmel. Chang Wong war Rayfords Maulwurf im Inneren des Palastes. Im Vertrauen auf die Aussage des jungen Mannes, dass sie im Gegensatz zu allen anderen würden sehen und alles erkennen können, warf Rayford Abdullah einen weiteren Seitenblick zu, als dieser das Flugzeug aus der Helligkeit des wolkenlosen Tages in die Dunkelheit steuerte. Abdullah schaltete die Landescheinwerfer an. Rayford blinzelte. „Brauchen wir das ILS?“ „Das Instrumenten-Landesystem?“, fragte Abdullah. „Ich glaube nicht, Captain. Ich habe ziemlich gute Sicht.“ Angesichts der unheimlichen Dunkelheit, die in Neu-Babylon herrschte, musste Rayford unwillkürlich an den strahlenden Sonnenschein in Petra denken. Er spähte über die Schulter zurück zu der jungen Frau. Sicher hatte sie Angst. Doch sein prüfender Blick verriet ihm, dass dies nicht der Fall war. „Wir können immer noch umkehren“, schlug er vor. „Dein Vater schien über unseren Abflug nicht gerade begeistert gewesen zu sein.“
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„Er hat sich vermutlich um Sie Sorgen gemacht“, erwiderte Naomi Tiberias. „Dass ich klarkommen werde, weiß er.“ Der Humor und Witz der noch jungen Computerexpertin waren legendär. Im Umgang mit Erwachsenen wirkte sie anfangs schüchtern und zurückhaltend, doch wenn sie jemanden besser kannte, wurde sie ihm gegenüber offener. Sie hatte Abdullah geholfen, seine Computerkenntnisse zu erweitern, und seit in Neu-Babylon die Lichter ausgegangen waren, war sie praktisch unablässig mit Chang in Kontakt geblieben. „Warum ist es nur hier so dunkel?“, fragte Naomi. „Das ist so seltsam.“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte Rayford. „In der Prophezeiung heißt es, die Ereignisse würden nur ‚den Thron des Tieres‘ betreffen und über sein Reich würde sich Dunkelheit legen. Mehr wissen wir auch nicht.“ Bei jedem seiner Besuche in Petra hatte Rayford festgestellt, dass Naomis Verantwortungsbereich und ihr Einfluss unter den Israeliten gewachsen waren. Schon früh hatte sie sich als Technologiespezialistin zu erkennen gegeben und ihr Wissen an andere weitervermittelt. So war sie trotz ihres Alters langsam, aber sicher zur Leiterin des umfangreichen Computerzentrums in Petra avanciert – zur Lehrerin, die die Lehrer lehrte. Das Computerzentrum, das von Changs Vorgänger, dem verstorbenen David Hassid, geplant und eingerichtet worden war, ermöglichte es den Israeliten, die in Petra Zuflucht gesucht hatten, Tag für Tag mit den Menschen außerhalb der Felsenstadt in Kontakt zu bleiben. Mit Hilfe von Tausenden von Computern konnten die Mentoren über das Internet mit Tsion Ben-Judahs weltweiter Leserschar Verbindung aufnehmen. Naomi koordinierte den Kontakt zwischen Chang in NeuBabylon und den Mitgliedern der Tribulation Force auf der ganzen Welt. Dass sie zusammen mit den anderen nach Neu-Babylon kam, um Chang abzuholen, war dessen Idee gewesen. Rayford selbst war anfangs nicht damit einverstanden gewesen. Da der 7 500 Meilen weite Flug von San Diego nach Petra sehr anstrengend gewesen war, hatte Abdullah für die letzten 500 Meilen den Steuerknüppel übernommen. Der kampferprobte George Sebastian wäre im Grunde besser geeignet gewesen, aber Rayford fand, dass dieser in letzter Zeit sehr beansprucht worden war. In San Diego gab es genug für ihn zu tun und außerdem wollte Rayford Georges Kräfte für die „Schlacht
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des großen Tages Gottes, des Allmächtigen“ sparen, wie Dr. BenJudah sie nannte. Diese Schlacht würde in weniger als einem Jahr stattfinden. Mac McCullum und Albie, die in Al Basrah, knapp 200 Meilen südlich von Neu-Babylon, stationiert waren, standen ebenfalls bereit. Aber für sie hatte Rayford andere Aufgaben. Rayfords Schwiegersohn Buck Williams und seine Tochter Chloe hatten angeboten, bei der Rettung Changs aus der Höhle des Löwen zu helfen, aber Rayford war davon überzeugt, dass Buck schon bald in Israel von größerem Nutzen sein würde. Und was Chloe betraf – die Internationale Handelsgesellschaft brauchte dringend ihre Kompetenz und ihr Sachwissen. Außerdem musste sich jemand um den kleinen Kenny kümmern. „Pack alles zusammen, was du gebrauchen kannst, Chang“, hatte Rayford diesen ermuntert. „Smitty und ich werden dich in ein paar Tagen abholen.“ Chang hatte erwidert, diese Aufgabe sei zu umfangreich, um sie alleine bewältigen zu können. Wenn Naomi ihm helfen könnte, würden sie viel schneller aufbrechen können. „Es darf nichts zurückbleiben. Naomi könnte von großem Nutzen sein. Ich möchte den Palast von überall überwachen können.“ „Keine Sorge“, beruhigte Rayford ihn. „Du wirst sie schon bald persönlich kennen lernen.“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ „Ihr Vater gehört zu den Ältesten in Petra, weißt du.“ „Ach ja?“ „Sie sind die Einzigen, die von ihrer Familie noch übrig sind. Sein Beschützerinstinkt ist sehr stark ausgeprägt.“ „Wir haben beide viel zu erledigen.“ „Aha.“ „Ich meine es wirklich ernst, Captain Steele. Bitte bringen Sie sie mit. Es ist ja nicht so, als hätte ich sie nicht bereits auf dem Bildschirm gesehen.“ „Und, was hältst du von ihr?“ „Das habe ich Ihnen doch gesagt. Wir haben viel zu erledigen.“
Rayford spürte einen Ruck an seinem Copilotensitz. Naomi beugte sich vor. „Kann Mr. Smith denn genug sehen, um diesen Flieger zu landen?“
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„Das ist noch nicht sicher“, erwiderte Rayford. „Es sieht so aus, als hätte jemand unsere Fenster braun übermalt. Sieh mal zu, ob du unseren Jungen aufwecken kannst.“ Chang war sicher, dass die Landebahnen in Neu-Babylon frei waren, aber er konnte natürlich von dort aus nicht telefonieren, weil er befürchtete, jemand könnte ihn belauschen. Naomi holte einen kleinen, schmalen Computer aus einer Aluminiumhülle und tippte eifrig darauf herum. „Meiden Sie die Landebahnen 3 links und rechts“, erklärte sie. „Und er möchte wissen, für welche Landebahn Sie sich entscheiden, damit er dort auf uns warten kann.“ Rayford entgegnete mit einem Blick zu Abdullah: „Meint er das ernst, Naomi?“ Sie nickte. „Sag ihm, der Tower sei geschlossen und wir würden unsere Ankunft sowieso nicht melden. Von hier oben aus können wir nicht sehen, welche Landebahn es ist, darum wird er uns schon die Koordinaten geben müssen und –“ „Einen Augenblick“, unterbrach Naomi ihn und tippte wieder etwas ein. „Er hat alles durchgegeben, was Sie brauchen.“ Sie reichte Rayford den Laptop und deutete auf den Anhang der Mail. „Der Rechner ist stimmaktiviert. Sagen Sie nur, was Sie wissen möchten.“ „Die Maschine erkennt meine Stimme?“, fragte Rayford und starrte auf den Bildschirm. „Ja“, erwiderte der Computer. Naomi lachte. „E-Mail-Anhang bitte“, sagte Rayford. Ein ausführliches Raster mit einer Luftaufnahme des Flughafens von Neu-Babylon erschien auf dem Bildschirm. „Ich werde die Koordinaten für Sie eingeben, Smitty“, bot Rayford an. Er programmierte die Daten in das Flugsystem ein. „Dieses Teil macht alles für Sie, außer kochen, Captain Steele“, sagte Naomi stolz. „Haben Sie einen Infrarotanschluss?“ „Ich denke schon. Haben wir so was, Smitty?“ Abdullah deutete auf ein Licht am Instrumentenbord. „Hier“, erklärte Naomi. „Lassen Sie mich mal.“ Sie beugte sich über Rayfords Schulter und richtete die Rückseite des Laptops auf den Port aus. „Bereit zur Landung, Captain?“, fragte sie. „Roger.“ „Landeanflug eingeleitet“, sagte sie und drückte auf einen Knopf.
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„Landebahnwahl?“, fragte der Computer. Naomi blickte Rayford an, der wiederum zu Abdullah hinübersah. „Erkennt das Ding sogar meinen Akzent?“, fragte der Jordanier. „Ja“, erwiderte der Computer. „Landebahnen 3 links und 3 rechts sind belegt. Wählen Sie Landebahn 11 oder 16.“ „11“, entschied Abdullah. „Links oder rechts?“, fragte der Computer nach. „Links“, erwiderte Abdullah. „Warum auch nicht?“ Abdullah schaltete den linken Autopiloten ein und nahm die Hände vom Steuerknüppel. „Danke“, sagte er. „Gern geschehen“, erwiderte der Computer. Sechs Minuten später setzte die Gulfstream auf der Landebahn auf.
Um kurz nach ein Uhr morgens fuhr Buck in San Diego im Bett hoch. Chloe rührte sich auch. „Schlaf weiter, Liebling“, forderte sie ihn auf. „Du hast jetzt drei Nächte Wache gehalten. Nicht heute Nacht.“ Er hob die Hand und wollte etwas einwenden. „Du brauchst deinen Schlaf, Buck.“ „Ich dachte, ich hätte etwas gehört.“ Das kleine Funksprechgerät auf seinem Nachttisch meldete sich. Sebastians Spezialcode. Buck schnappte sich das Gerät. „Ja, George?“ „Die Bewegungsmelder“, flüsterte Sebastian. Jetzt fuhr auch Chloe hoch. „Ich werde mich mit dem Periskop mal umsehen“, schlug Buck vor. „Vorsichtig“, warnte Sebastian. „Schieb es nicht höher und dreh es auch nicht.“ „Verstanden. Hat sonst noch jemand was gemerkt?“ „Nein.“ „Also gut. Dann wollen wir mal.“ Chloe war bereits aus dem Bett gesprungen und zog sich ein Sweatshirt über. Sie schloss einen Schrank auf, holte zwei Maschinengewehre heraus und warf Buck eines davon zu, während er zu dem Periskop neben Kennys kleiner Kammer marschierte. Er lehnte die Waffe gegen die Wand, steckte das Funkgerät in die Tasche seines Schlafanzugs und sah durch das Periskop. Während sich seine Augen
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an die Dunkelheit gewöhnten, hörte er, dass Chloe die Tür zu Kennys Zimmer öffnete und wieder schloss. Mit seinen fast vier Jahren schlief Kenny jetzt länger, aber nicht mehr so tief wie früher. „Ist er wach?“, fragte Buck, ohne den Blick von dem Periskop zu lösen. „Schläft tief und fest“, erwiderte Chloe. Sie legte Buck einen Pullover über die Schultern. „Wie du es eigentlich auch tun solltest.“ „Ich wünschte, es wäre so“, seufzte Buck. „Das glaub ich dir gern.“ Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. „Was siehst du?“ „Nichts. George sagt, ich solle das Fernrohr nicht drehen. Im Augenblick ist es auf Bodenhöhe nach Westen ausgerichtet. Ich würde es gern sechs Zentimeter höherschieben, damit ich einen besseren Überblick bekomme.“ „Er hat Recht, Schatz“, wandte sie ein. „Du weißt, dass es immer quietscht, wenn es bewegt wird. Jeder, der da draußen ist, könnte es hören.“ „Ich glaube nicht, dass jemand da ist“, erwiderte Buck. Er wandte sich ab und rieb sich die Augen. Sie seufzte. „Möchtest du einen Stuhl?“ Er nickte und kehrte zum Periskop zurück. „Könnte natürlich ein Tier gewesen sein. Vielleicht der Wind.“ Chloe schob einen Stuhl gegen seine Knie und drückte ihn darauf. „Darum solltest du mich einfach –“ „Oh nein“, stöhnte er. „Was ist?“ Er legte den Finger an die Lippen und zog sein Funkgerät aus der Tasche. „George“, flüsterte er. „Sechs, sieben, acht, neun. Neun bewaffnete Soldaten der Weltgemeinschaft unmittelbar im Westen.“ „Was tun sie?“ „Nicht viel. Sie lungern rum. Sie wirken gelangweilt. Vielleicht hat im Vorbeifahren irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregt.“ „Irgendwelche Fahrzeuge?“ „Kann ich nicht sehen. Ich müsste das Rohr ausfahren und drehen.“ „Das geht nicht. Sind da noch mehr Soldaten?“ „Kann ich von hier aus nicht erkennen. Es kommen keine mehr dazu. Jetzt kann ich nur noch drei sehen.“ „Achte auf Motorengeräusche.“
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Buck schwieg eine Weile. Dann: „Ja, ich kann einen Motor hören. Und jetzt noch einen.“ „Ich höre sie auch“, bestätigte George. „Ich glaube, sie fahren weg. Kann ich rüberkommen?“ „Sag ihm, er soll lieber nicht kommen“, flüsterte Chloe.
Die Flughafenangestellten, die Rayford durch das Cockpitfenster in der unheimlichen gelbbraunen Landschaft erkennen konnte, schienen entsetzliche Schmerzen zu erleiden. Chang hatte ihm gesagt, die Leute würden sich winden und stöhnen, aber der landende Jet hatte sie offensichtlich in Panik versetzt. Sie mussten davon ausgehen, dass das Flugzeug abstürzen würde, wie es auf den Landebahnen 3 links und rechts augenscheinlich bereits mit anderen Maschinen geschehen war. Es war, als hätten die Menschen den Versuch aufgegeben, etwas sehen zu wollen. Jeder, der sich in der Nähe der Gulfstream IX befand, war in die Dunkelheit getaumelt, um dem Jet zu entkommen, und jetzt kauerten sie in kleinen Gruppen hier und dort am Boden. „Das muss Chang sein“, sagte Rayford. Er deutete auf einen schlanken Asiaten, der auf sie zueilte und sie wild gestikulierend aufforderte, die Tür zu öffnen. „Lass mich das machen, Naomi“, erwiderte Abdullah. Er löste seinen Gurt und stieg über ihre Beine hinweg. Nachdem er die Tür geöffnet und die Trittleiter heruntergelassen hatte, sah Rayford, wie Chang sich an eine kleine Gruppe von Männern und Frauen in dunklen Arbeitsoveralls wandte, die tastend hinter ihm herkamen. „Bleibt weg!“, rief er. „Gefahr! Heiße Motoren! Und außerdem tritt Öl aus!“ Sie wandten sich um und zerstreuten sich in alle Richtungen. „Wie ist sie heruntergekommen?“, rief jemand. „Das ist ein Wunder“, bemerkte ein anderer. „Habt ihr auch an Schuhe mit Gummisohlen gedacht?“, fragte Chang, als er ihnen aus dem Flugzeug half. „Ich finde es auch schön, dich zu sehen, Chang“, begrüßte Abdullah ihn grinsend. Chang bedeutete ihm zu schweigen. „Die Leute hier sind blind“, flüsterte er. „Aber nicht taub.“ „Chang“, begann Rayford, doch der junge Mann war gerade dabei, sich mit Naomi bekannt zu machen. „Also gut, ihr zwei, ihr könnt
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euch später kennen lernen. Jetzt wollen wir erst mal erledigen, was wir zu tun haben, und dann hier verschwinden.“
„Soll ich mich anziehen?“, fragte Buck, als er Sebastian im Overall entdeckte. „Nein. Den habe ich immer an, wenn ich Wache schiebe. Lass mich mal sehen.“ Er spähte durch das Periskop. „Nichts. Soll ich es ausfahren und drehen, Buck?“ „Nur keine Scheu.“ „Alles klar. Falscher Alarm.“ Chloe schnaubte. „Das sagt ihr nur, um mich zu beruhigen. Mindestens neun Soldaten der Weltgemeinschaft waren dort draußen und vermutlich waren es sogar noch mehr. Sie kommen bestimmt zurück.“ „Hey“, wandte Sebastian ein. „Wir sollten das Beste annehmen und nicht das Schlimmste.“ „Vielleicht tue ich das ja?“, widersprach sie. „Priscilla und Beth Ann haben weitergeschlafen?“ Er nickte. „Vielleicht erzähle ich Priss lieber gar nichts davon, darum wäre ich euch dankbar, wenn –“ „Wenn ich es auch nicht tun würde? Das ist vernünftig, George. Die kleine Frau lieber nur nicht beunruhigen. Sie braucht ja nicht zu merken, dass es Zeit ist weiterzuziehen“, spottete Chloe. „Weiterziehen?“, fragte Buck. „Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“ „Dann sitzen wir also einfach hier herum und warten, bis sie uns finden, was sie vielleicht sogar schon getan haben?“ „Chloe, hör mir zu“, beruhigte Buck sie. „Du hättest dir diese Jungs vielleicht einfach mal ansehen sollen. Sie waren nicht einmal misstrauisch. Vermutlich haben sie nur darüber gesprochen, dass das hier früher einmal eine Militärbasis gewesen ist. Sie wirkten überhaupt nicht angespannt, haben sich nicht einmal richtig umgesehen. Sie haben die Ventile entdeckt und sie überprüft, das war alles.“ Chloe schüttelte den Kopf und sank auf einen Stuhl. „Ich hasse es, so zu leben.“ „Ich auch“, seufzte Sebastian. „Aber welche Möglichkeiten haben wir? Die Weltgemeinschaft hat gestern in den Überresten von Los Angeles eine Enklave von Menschen gefunden, die das Zeichen nicht trugen. Sie haben mehr als zwei Dutzend hingerichtet.“
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Chloe schnappte nach Luft. „Gläubige?“ „Ich glaube nicht. Normalerweise sagen sie es, wenn es sich um Judahiten handelt. Ich hatte den Eindruck, dass es eher ein Schlupfwinkel von irgendwelchen Milizgruppen gewesen ist. Etwas in der Art.“ „Das sind die Menschen, die wir erreichen wollen“, sagte Chloe. „Und wir sitzen hier herum und können unser Gesicht nicht auf der Straße zeigen, ziehen Kinder groß, die fast nie die Sonne sehen. Gibt es nicht irgendeinen Ort mitten im Nichts, wo die Weltgemeinschaft uns nicht aufstöbern kann?“ „Die beste Alternative wäre natürlich Petra“, bemerkte Buck. „Sie wissen, wer da ist, können aber nichts dagegen unternehmen.“ „Dieser Gedanke gefällt mir immer besser. Aber wie auch immer, was werden wir wegen dem unternehmen, was gerade passiert ist?“ Buck und Sebastian sahen sich an. „Kommt schon, Jungs“, sagte Chloe. „Du denkst, Priscilla hätte nicht gemerkt, dass du weg bist, und würde nicht fragen, wo du gewesen bist?“ „Sie weiß, dass ich Wache habe.“ „Aber hierher kommst du nur, wenn etwas los ist.“ „Ich hoffe, dass sie weitergeschlafen hat.“ Chloe erhob sich und setzte sich auf Bucks Schoß. „Seht mal, ich will wirklich nicht mit euch streiten … Buck, sag es ihm.“ „Chloe Steele Williams will wirklich nicht mit uns streiten“, verkündete er. „Okay“, murmelte Sebastian. „Sie hätte mich durchaus täuschen können.“ Chloe schüttelte den Kopf. „George, bitte. Du weißt, wie froh wir sind, dass du Teil der ,Tribulation Force‘ bist. Dein Talent ist von unschätzbarem Wert für uns und mehr als einmal hast du uns vor einer Katastrophe bewahrt. Aber alle, die hier leben, haben es verdient zu erfahren, was ihr heute Nacht gesehen habt. Das den Leuten zu verschweigen, so zu tun, als sei es nie geschehen, wird nichts an der Tatsache ändern, dass wir beinahe entdeckt worden wären.“ „Aber wir wurden nicht entdeckt, Chloe“, wandte Sebastian ein. „Warum sollen wir die anderen in Aufregung versetzen?“ „Wir sind doch bereits aufgescheucht worden! Ich bin den ganzen Tag mit diesen Frauen und Kindern zusammen. Selbst ohne die Schnüffler von der Weltgemeinschaft, die mitten in der Nacht direkt über unsere Köpfe hinwegtrampeln, leben wir wie die Präriehunde. Die Kinder kommen nur dann an die frische Luft, wenn sie zufällig
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aufwachen, bevor die Sonne aufgeht, und jemand sie nach draußen bringt. Ihr Jungs müsst euch wegschleichen und 30 Meilen fahren, um zu euren Flugzeugen zu kommen, und das in der Hoffnung, dass ihr nicht verfolgt werdet. Ich sage nur, dass wir, wenn wir uns selbst verteidigen müssen, das Recht haben, darauf vorbereitet zu sein.“
Rayford nahm sich vor, Tsion danach zu fragen. Was war an dieser Dunkelheit so Besonderes, dass die Opfer Schmerzen litten? Er hatte von Katastrophenszenarien gehört – Zugunfällen, Erdbeben, Schlachten –, bei denen die Helfer noch jahrelang nach der Katastrophe von den Schreien und dem Stöhnen der Verletzten verfolgt wurden. Während er zusammen mit Abdullah und den beiden jungen Leuten über die Landebahn schlich, betrachtete er die sich vor Schmerzen windenden Menschen. Offensichtlich wären diese lieber tot, als so zu leiden. Und einige waren bereits gestorben. Die Trümmer von zwei abgestürzten Flugzeugen blockierten zwei Landebahnen. Sie schwelten noch und viele verkohlte Leichen saßen noch auf ihren Sitzen. Während er sich von den Toten zu den Leidenden bewegte, wurde Rayford von seinen Gefühlen überwältigt. Das Jammern und Klagen der Menschen drang ihm wie ein scharfes Messer ins Herz. Er verlangsamte seine Schritte, wollte so gern helfen. Aber was konnte er tun? „Oh! Bitte!“ Das war der Schrei einer Frau mittleren Alters. „Bitte, helft mir doch! Helft mir!“ Rayford blieb stehen und starrte sie an. Sie lag auf der Seite auf dem Asphalt in der Nähe des Terminals. Andere wollten sie zum Schweigen bringen. Ein Mann rief: „Wir sind alle genauso orientierungslos und blind, Frau! Wir brauchen genauso Hilfe wie du!“ „Ich habe Hunger!“, jammerte sie. „Hat jemand was zu essen?“ „Wir haben alle Hunger! Halt den Mund!“ „Ich möchte sterben.“ „Ich auch!“ „Wo ist der Potentat? Er wird uns retten!“ „Wann hast du den Potentaten das letzte Mal gesehen? Er hat seine eigenen Sorgen.“ Rayford konnte sich nicht von der Szene lösen. Er hob den Blick, aber auch er konnte nur etwa sechs Meter weit sehen. Er hatte die anderen verloren.
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Abdullah kam wieder zurück. „Ich wollte Sie nicht mit Namen ansprechen, Captain, aber Sie müssen kommen.“ „Mein Freund, ich kann nicht.“ „Wollen Sie zum Flugzeug zurückgehen?“ „Ja.“ „Dann werden wir uns dort treffen.“ Abdullah entfernte sich wieder, aber ihre leise Unterhaltung hatte die Schreie zum Verstummen gebracht. Jemand rief: „Wer ist da?“ Ein anderer: „Wo geht er hin?“ „Wer hat ein Flugzeug?“ „Können Sie sehen?“ „Was können Sie sehen?“ Erneut war die Stimme der Frau zu hören: „O Gott, rette mich. ,Und ob ich schon wanderte –‘“ „Halt den Mund da drüben!“ „Gott ist groß und herrlich. Ich preise ihn mit Lobgesang –“ „Dass ich nicht lache! Wenn du nicht für Licht sorgen kannst, halt den Mund!“ „Gott! O Gott, rette mich!“ Rayford kniete nieder und legte der Frau die Hand auf die Schulter. Mit einem Aufschrei entwand sie sich ihm. „Warten Sie!“, sagte er und griff erneut nach ihr. „Oh! Der Schmerz!“ „Ich wollte Ihnen nicht wehtun“, entschuldigte er sich leise. „Wer sind Sie?“, stöhnte sie. Er entdeckte die Zahl 6, die für die Vereinigten Europäischen Staaten stand, auf ihrer Stirn. „Ein Engel?“ „Nein.“ „Ich habe darum gebetet, dass er mir einen Engel sendet.“ „Sie haben gebetet?“ „Versprechen Sie, es niemandem zu erzählen. Ich flehe Sie an.“ „Sie haben zu Gott gebetet?“ „Ja!“ „Aber Sie tragen Carpathias Zeichen.“ „Ich verachte dieses Zeichen! Ich kenne die Wahrheit. Ich habe sie immer gekannt. Ich wollte nur einfach nichts damit zu tun haben.“ „Gott hat Sie geliebt.“ „Ich weiß, aber jetzt ist es zu spät.“ „Warum haben Sie ihn nicht um Vergebung gebeten und sein Geschenk angenommen? Er wollte Sie retten.“
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Sie schluchzte. „Wie können Sie hier sein und so etwas sagen?“ „Ich bin nicht von hier.“ „Sie sind mein Engel!“ „Nein, aber ich gehöre zu den Gläubigen.“ „Und Sie können sehen?“ „Genug, um klarzukommen.“ „Oh, bringen Sie mich dahin, wo es etwas zu essen gibt. Bringen Sie mich in den Terminal zu den Snackautomaten. Bitte!“ Rayford versuchte ihr aufzuhelfen, aber sie fuhr zurück. Ihr Körper schien in Flammen zu stehen. „Bitte, fassen Sie mich nicht an!“ „Es tut mir Leid.“ „Sie können mich am Ärmel halten. Sehen Sie den Terminal?“ „Nur schemenhaft“, erwiderte er. „Ich kann Sie dorthin bringen.“ „Bitte, Sir.“ Sie rappelte sich auf und nahm seinen Jackenärmel vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. „Langsam, bitte.“ Mit kleinen Schritten trippelte sie hinter Rayford her. „Wie weit ist es?“, fragte sie. „Keine hundert Meter.“ „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, schluchzte sie. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Ich werde Ihnen etwas holen“, schlug er vor. „Was möchten Sie?“ „Irgendetwas“, erwiderte sie. „Ein Sandwich, einen Schokoriegel, Wasser – irgendetwas.“ „Warten Sie hier bitte.“ Sie lachte erbittert auf. „Sir, ich sehe nur Dunkelheit. Ich könnte nirgendwohin gehen.“ „Ich bin sofort wieder da. Ich werde Sie schon finden.“ „Ich habe gebetet, Gott möge meine Seele retten. Und wenn er das tut, werde ich sehen können.“ Rayford wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sie hatte selbst gesagt, dass es zu spät war. „Am Anfang …“, sagte sie. „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt. Der Herr ist mein Hirte. O Gott …“ Rayford rannte zum Terminal, bahnte sich den Weg zwischen den schmerzgepeinigten Menschen hindurch. Am liebsten hätte er ihnen allen geholfen, aber er wusste, dass dies nicht möglich war. Ein Mann lag quer vor der automatischen Tür und rührte sich nicht. Rayford stellte sich vor den elektrischen Impulsgeber und die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter. Doch der Mann blockierte sie. „Bitte bewegen Sie sich von der Tür weg“, forderte Rayford ihn auf.
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Der Mann war entweder tot oder er schlief. Rayford drückte stärker, aber die Tür ließ sich kaum bewegen. Schließlich warf er sich mit aller Kraft dagegen. Langsam wurde der Mann von der Tür fortgeschoben. Rayford hörte sein Stöhnen. Im Inneren fand Rayford die Verkaufsautomaten, doch als er in die Tasche griff, um ein paar Münzen herauszuholen, musste er feststellen, dass die Automaten zerstört worden waren. Einige Leute hatten sich bis hierhin vorgetastet, die Automaten mit Gewalt aufgebrochen und den gesamten Inhalt herausgeholt. Rayford suchte nach irgendetwas, das sie vielleicht übersehen hatten. Doch er fand nur leere Flaschen, Dosen und Verpackungen. „Wer ist da?“, fragte jemand. „Wo gehen Sie hin? Können Sie sehen? Ist irgendwo Licht? Was ist passiert? Werden wir alle sterben? Wo ist der Potentat?“ Rayford eilte wieder nach draußen. „Wo gehen Sie hin?“, rief jemand. „Nehmen Sie mich mit!“ Er fand die Frau auf dem Bauch liegend, ihr Gesicht in den Armen vergraben. Sie wurde von Schluchzern geschüttelt. Ihr Anblick zerriss ihm das Herz. „Ich bin wieder da“, sagte er leise. „Doch es gibt nichts zu essen. Es tut mir Leid.“ „O Gott, o Gott und Jesus, hilf mir!“ „Madam“, sagte er und griff nach ihr. Sie schrie auf, als er sie berührte, aber er drehte ihr Gesicht zu sich herum, sodass er ihre leeren, blinden, verängstigten Augen sehen konnte. „Ich ahnte es schon, bevor alle verschwunden sind“, schluchzte sie. „Und dann wusste ich es ganz genau. Bei jeder Plage und jedem Gericht drohte ich Gott mit der Faust. Er hat versucht, mich zu erreichen, doch ich habe mein eigenes Leben geführt. Ich wollte mich niemandem unterordnen. Aber vor der Dunkelheit habe ich immer Angst gehabt und Hunger ist mein schlimmster Albtraum. Ich habe meine Meinung geändert, möchte alles zurücknehmen …“ „Aber das geht nicht.“ „Es geht nicht! Es geht nicht! Ich habe zu lange gewartet!“ Rayford kannte die Prophezeiung. Menschen, die Gott zu oft zurückgewiesen hatten, würden nicht mehr zu ihm kommen können, selbst wenn sie es wollten. Gott hatte ihre Herzen verhärtet. Aber diese Prophezeiung zu kennen bedeutete nicht, dass Rayford sie verstand. Und ganz bestimmt bedeutete es nicht, dass sie ihm gefallen musste. Sie stimmte nicht mit dem Bild des Gottes, den er kannte,
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überein. Der Gott, den er kannte, war liebevoll und gnädig und suchte nach Möglichkeiten, wie er jeden im Himmel willkommen heißen konnte. Er würde niemanden vor verschlossenen Toren stehen lassen. Rayford erhob sich und spürte, wie das Blut aus seinem Kopf strömte. Und in diesem Augenblick vernahm er ein Rauschen aus den Lautsprechern. „Hier spricht euer Potentat!“, ertönte wenig später Carpathias Stimme. „Seid guten Mutes. Habt keine Angst. Eure Qual ist bald vorüber. Folgt dem Klang meiner Stimme zum nächsten Lautsprecherturm. Essen und Getränke werden dorthin gebracht werden. Dort werdet ihr auch weitere Anweisungen bekommen.“
„Lasst uns eine Abmachung treffen“, sagte Chloe. „Ich werde den Rest der Wache übernehmen, und ihr erklärt euch bereit, morgen früh allen anderen von unserem Besuch heute Nacht zu erzählen.“ Buck blickte George an, der auf ihn deutete. „Du trägst hier die Verantwortung, wenn dein Schwiegervater fort ist, Kumpel.“ „Nur, weil ich länger dabei bin. Ich beuge mich deinen militärischen Kenntnissen.“ „Das ist keine Schlacht, Mann. Hier geht es um Öffentlichkeitsarbeit. Aber wenn du meinen Rat hören willst: Ich würde sagen, tu, was du willst, aber tue es richtig. Sag ihnen: ‚Es ist nur fair, dass wir euch darüber informieren, dass wir in der Nacht Soldaten der Weltgemeinschaft hier gesehen haben, aber nach unserer Einschätzung müssen wir uns keine Sorgen machen.‘“ „Ist das fair, Chloe?“, fragte Buck. Sie nickte. „Ich würde lieber beten und die Munition austeilen, aber ja. Behandelt alle wie Erwachsene, dann werden sie ihr Bestes geben.“ „Wenn du wirklich Wache hältst, Chloe“, sagte Sebastian, „dann gehe ich jetzt nach Hause und stelle mein Funkgerät ab.“ „Abgemacht.“
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