Kapitel 2
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s war das Jahr 1960. Der Sommer in Kentucky war ausgesprochen feucht gewesen. Und auch an diesem Septemberabend goss es in Strömen. Sandra Stone stöhnte vor Schmerzen. Die Abstände zwischen den Wehen waren schon merklich kürzer geworden. Ihr Arzt hatte ihr ein großes Baby angekündigt, das irgendwann im Laufe dieser Nacht entbunden werden sollte. Es war erst 19.30 Uhr, aber draußen war es schon finster. Sturm und Regen rüttelten an den Fensterläden und der Kiesweg, der zu dem kleinen Ziegelhaus führte, hatte sich in einen beachtlichen Bach verwandelt. Einige Kilometer entfernt hatte sich eine Gruppe von Männern in der Dorfkneipe versammelt. Zum Teil suchten sie Schutz vor dem Regen, zum Teil hatten sie nichts Besseres zu tun. Unter ihnen war Sandra Stones Arzt. Am Nachmittag hatte Henry Stone, der werdende Vater, mit dem Arzt telefoniert und ihm mitgeteilt, dass die Wehen eingesetzt hätten. Der Arzt hatte mit ihm vereinbart, dass er sich wieder melden solle, wenn die Wehen regelmäßig in kurzen Abständen kamen. Er würde so lange hier beim Telefon warten. Doch kein Anruf kam. Der Arzt nahm inzwischen an, dass die Wehen vom Nachmittag nur falscher Alarm gewesen waren. Aber er blieb in der Kneipe und wartete weiter. Henry Stone warf den Telefonhörer gegen die Wand. »Hervorragend«, stöhnte er. Ratlos lief er zwischen dem Fenster, dem Telefon und seiner Frau hin und her. Es war ihr erstes Kind. Seine Frau stöhnte vor Schmerzen. Das Telefon war tot und die Straßen hatten sich mittlerweile vermutlich in Flüsse verwandelt. Blitze zuckten am Himmel und tauchten alles in ein gespenstisches Licht. Was sollte er nur tun? Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, Angst ergriff ihn.
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»Bitte, Henry, wir brauchen Hilfe!«, keuchte seine Frau zwischen zwei Wehen. »Das Telefon funktioniert nicht. Wahrscheinlich hat der Sturm die Leitung heruntergerissen.« »Dann fahre zu Phoebe. Das ist nicht so weit. Sie hat doch früher als Hebamme gearbeitet. Meine Mutter hat mit ihr entbunden. Vielleicht kann sie mir helfen.« »Sie ist doch viel zu alt. Wir brauchen einen richtigen Arzt«, widersprach Henry. »Wenn nur bald jemand …« Die nächste Wehe kam und Sandra schrie vor Schmerzen. Henry griff nach den Autoschlüsseln und rannte hinaus in den Regen. Er versuchte, den Weg zur Kneipe zu fahren, aber die Brücke war überflutet und er war gezwungen, umzudrehen. Der Weg zu Phoebe war befahrbar. Es widerstrebte ihm zutiefst, dieser alten Hebamme das Schicksal seiner Frau und seines Kindes anzuvertrauen, aber er hatte keine andere Wahl. Wie ein Wahnsinniger hämmerte er gegen die Haustür. Die alte Frau ließ vor Schreck ihr Kreuzworträtsel fallen. »Phoebe«, brüllte eine Männerstimme. »Ich bin zwar alt, aber ich bin noch nicht taub«, kam die Antwort von innen. Die weißhaarige Frau schlurfte zur Tür. Sie hielt eine flackernde Kerze in der Hand. Schon seit zwei Stunden war der Strom ausgefallen. »Was ist denn los? Sie hätten mich ja beinahe zu Tode erschreckt!« Atemlos erklärte Henry die Situation. Phoebe wurde schlagartig lebendig. Im Nu hatte sie ihre Tasche gepackt und saß neben Henry im Wagen. Henry raste zurück. Sandra war froh, als die beiden endlich kamen. Sie ging in der Wohnung auf und ab, sang zwischen den Wehen leise und jammerte laut, wenn wieder eine Welle von Schmerzen über sie hinwegrollte. »Wo sitzt der Schmerz?« Phoebe war jetzt nur noch Hebamme. »Ohh«, war alles, was Sandra sagen konnte. Statt einer Antwort presste sie beide Hände gegen ihre Hüfte. »Sie haben Senkwehen. Nun wird es nicht mehr lange dauern. Am besten legen Sie sich ins Bett.« Phoebe wollte Henry gerade erklären, wie er seine Frau unterstützen könnte, da stand er schon wieder an der Wohnungstür. »Ich hole den Arzt. Über die nördliche Straße müsste ich eigentlich durchkommen.« Er unterbrach sich, als er sah, wie wütend Phoebe über sein fehlendes Vertrauen in ihre Arbeit war. »Der Arzt sagt,
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es wird ein großes Baby. Ich muss ihn holen …« Den letzten Teil des Satzes verstand man nicht mehr, Henry war schon wieder draußen. Er beschloss, dass es egal war, was die Hebamme von ihm dachte. Es ging jetzt nur um seine Frau. Zuerst versuchte er, zum Wohnhaus des Arztes zu fahren. Der Kiesweg war vom Regen ausgewaschen. Die Rinnen waren so tief, dass er kaum lenken konnte. Als er die Kreuzung erreichte, die zum Haus des Arztes führte, versagten die Scheibenwischer vollständig. Um weiterfahren zu können, musste er seinen Kopf aus dem Seitenfenster halten, damit er etwas sah. Der Arzt war natürlich nicht zu Hause. Henry kämpfte sich durch den Regen weiter. Nun versuchte er, zur Kneipe zu fahren. Aber er kam nicht weit. Schon nach einigen hundert Metern war die Fahrt zu Ende. Sein Wagen war in tiefe LkwSpuren geraten. Nun saßen beide Achsen fest. Als er versuchte, sich wieder aus dieser Position herauszumanövrieren, grub sich der Wagen vollends ein. Henry fluchte und ging zu Fuß weiter. Einen Moment lang war er unentschlossen, ob er zu seiner Frau oder zum Arzt gehen sollte. Er entschied sich für den Arzt. Falls das Kind schon geboren war, konnte der es wenigstens noch untersuchen. Es war schon geboren. Matthew Ryan Stone war mit der Gänsefeder-Technik zur Welt gebracht worden. Über 40 Jahre lang hatte die Hebamme auf diese Weise Kinder entbunden. Phoebe hatte gewartet, bis der Kopf des Kindes sichtbar geworden war. Dann nahm sie einen langen Federkiel und füllte ihn mit fein geriebenem schwarzen Pfeffer. Als die nächste Wehe kam, pustete sie der jungen Frau den Pfeffer in die Nase. Sandra musste mehrmals heftig niesen … und Matthew Stone kam zur Welt. Und dann wurde überraschend ein zweites Köpfchen sichtbar. »Sie bekommen Zwillinge!«, rief die Hebamme. Der zweite Junge kam mit der nächsten Kontraktion, noch ehe Phoebe ihre Feder »nachladen« konnte. So kam es, dass Henry Stone die Federkiel-Entbindung seiner beiden Söhne am 6. September 1960 verpasste. Es war 21.35 Uhr, als Matthew Ryan und Mark Stone das Licht der Welt erblickten.
Einige Jahre gingen ins Land. Die beiden Jungen entwickelten sich prächtig und machten ihren Eltern viel Freude. Sie tobten bei jeder Gelegenheit draußen herum und kamen ständig mit kleinen Schürf-
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wunden nach Hause. Keinem fiel auf, dass Marks Körper sich allmählich veränderte. Es war Herbst und die beiden Brüder spielten immer noch auf der Straße, obwohl die Temperaturen schon merklich gesunken waren. Football war ihr Lieblingssport. Eines Abends waren sie gerade wieder auf dem Weg nach draußen. Sie hatten schon gegessen und wollten schnell noch ein bisschen zusammen trainieren. Plötzlich bekam Mark Nasenbluten. Aber es war kein gewöhnliches Nasenbluten, sondern das Blut strömte förmlich aus seiner Nase. Matt schrie vor Angst, Mark griff nach einem Handtuch. Sandra musste ganze 15 Minuten lang seine Nasenflügel zusammendrücken, bevor die Blutung aufhörte. Sie rief den Arzt an, der sie beruhigte. So etwas käme bei spielenden Kindern durchaus einmal vor. »Heute werdet ihr nicht mehr nach draußen gehen«, meinte sie streng, als das Nasenbluten endlich aufgehört hatte. Als sie ihre Söhne betrachtete, fielen ihr viele blaue Flecken auf, die an Marks Armen und Beinen zu sehen waren. »Außerdem spielt ihr zu wild.« Besorgt strich sie über die dicken Blutergüsse an Marks Armen. »Schaut euch das doch nur einmal an!« Die Jungs trotteten widerwillig in ihr Zimmer. Der Herbst verging und es wurde schnell Winter. Die Leidenschaft der Jungen für Football nahm noch zu, als die Dallas Cowboys und die Baltimore Colts sich darauf vorbereiteten, am Supercup 1971 teilzunehmen. An einem klaren, kalten Januartag waren die Brüder wieder draußen und spielten zusammen. Sie waren auf einem Footballfeld in der Nähe der Kneipe. Nach einer Stunde lehnte sich Mark gegen eine Eiche und atmete schwer. Er schlug vor, für heute aufzuhören. »Gehen wir!« Und mit ungewöhnlich langsamen Schritten trat er den Heimweg an. »Mutter sagte, es reicht, wenn wir um fünf zurück sind. Wir können doch noch spielen«, widersprach Matt. Aber Mark ging überhaupt nicht darauf ein. »Mir reicht es. Ich gehe.« »Du Langweiler!« Matt war enttäuscht. Mark war sein bester Spielkamerad. Allein wollte er auch nicht auf dem Platz zurückbleiben. Er warf mit dem Ball nach seinem Bruder und rannte hinter ihm her. Der Ball traf Mark am linken Ohr. »Aua, Mensch, ich hab dir doch gesagt, ich will nicht mehr spielen!« Mark holte sich den Ball und zielte auf Matts Magengrube. Matt fing ihn und warf nach Mark. In dem Moment stolperte Mark über eine Wurzel, verlor das Gleichgewicht und der Ball traf ihn am Kinn. Ohne sich noch abfangen zu können, stürzte er mit seinem ganzen
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Gewicht zur Erde. Sein Kopf schlug auf den steinigen Weg. Er schnappte einmal nach Luft und war dann ganz still. »Komm schon, du Baby!«, spottete Matt. Ihr ganzes Leben war ein spielerischer Wettkampf gewesen, sie hatten sich immer aneinander gemessen und gegenseitig herausgefordert. Mark antwortete nicht. Stattdessen zuckten seine Arme und Beine in rhythmischen Krämpfen. Matt bekam Angst. Als er sich über seinen Bruder beugte, waren dessen Augen weit aufgerissen. Die rechte Pupille war weit und starr. Matt rannte zur Kneipe. Durch seine Hilfeschreie wurde eine kleine Menschenmenge angezogen, die sich um den reglosen Jungen scharte. Er sah schrecklich aus, wie er da unter dem größten Baum in der ganzen Gegend lag. Der Arzt war schnell zur Stelle. Er konnte nichts mehr für Mark tun und wandte sich dem völlig verstörten Bruder zu. Matt schluchzte entsetzlich und ließ sich nicht beruhigen. Der Arzt brachte ihn nach Hause und spritzte ihm ein Beruhigungsmittel. Die folgenden Tage waren mit viel Betriebsamkeit ausgefüllt. Mark Stone wurde obduziert, damit man die Todesursache feststellen konnte. Das verlangte jedenfalls der Leichenbeschauer, da es sich um einen Todesfall unklarer Ursache als Folge einer »familiären Auseinandersetzung« handelte. Man stellte schließlich fest, dass Mark akute lymphatische Leukämie gehabt hatte. In seinem Knochenmark fand man eine abnorme Vermehrung weißer Blutkörperchen, die alle anderen Zellarten verdrängt hatten. Der Arzt erklärte der Familie, dass Mark fast keine Thrombozyten mehr gehabt hatte. Aus diesem Grund konnte sein Blut nicht mehr gerinnen, so dass auch ein normaler Sturz diese tödliche Blutung auslösen konnte. Als sein Kopf auf die Erde schlug, erlitt er eine Gehirnblutung. Dadurch nahm der Druck im Gehirn zu, was schließlich zu seinem Tod führte. Die Leukämie hatte ihm so wenige Thrombozyten gelassen, dass jede kleine Verletzung zu einer heftigen bis unstillbaren Blutung führen konnte. Matt war dabei, als der Arzt über die Krankheit seines Bruders sprach. Aber es waren für ihn nur leere Worte. Er verstand die Bedeutung nicht und konnte sie auch nicht akzeptieren. In seinem Denken setzte sich die Überzeugung fest, er habe seinen Bruder umgebracht. Er hatte seinen eigenen Bruder, seinen besten Freund, seinen engsten Vertrauten auf dem Gewissen. Seine Eltern ahnten nichts von diesen Gedanken. Sie hatten selbst mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Wie hatten sie die Hinweise auf die Krankheit ihres Kindes übersehen können? Sie hätten ihn behandeln
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lassen können, dann wäre er vielleicht jetzt noch am Leben gewesen. Alle drei wurden von Selbstvorwürfen gequält. Doch niemand in der Familie sprach darüber. Jeder zog sich in seinen eigenen Schmerz zurück und die Familie zerbrach von innen heraus.
Monate vergingen. Das Leben musste weitergehen. Henry Stone konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit. Eine drohende Rezession ließ den Kohlehandel aufblühen und er konnte in einem Jahr seine Lkw-Flotte verdoppeln. Aber die Beziehungen in der Familie mussten hinter der Arbeit zurückstehen. Anstatt wie früher abends Zeit mit seinem Sohn zu verbringen, drehte sich jetzt alles um Buchhaltung, Verkaufszahlen und Aufträge. Sandra Stone ging zu einem Psychiater. Medikamente halfen ihr, einigermaßen zur Ruhe zu kommen. Am Tag nahm sie Beruhigungstabletten, nachts Schlaftabletten. Auch Alkohol bot ihr eine Zeitlang willkommene Entspannung. Doch das Trinken gab sie bald wieder auf. Sie war in einer Baptistengemeinde aufgewachsen und wusste: »Es ist falsch zu versuchen, Probleme mit Alkohol zu lösen.« Die Psychopharmaka lösten jedoch keine Gewissensbisse aus. Es ging ihr psychisch schlecht und sie nahm Psychopharmaka. Das schien in Ordnung zu sein. Ihre Beziehung zu Henry verkümmerte immer mehr. Matt trug seine inneren Kämpfe für sich allein aus. Nach einiger Zeit fand er auch ein paar Spielkameraden, aber er ließ keinen von ihnen wirklich an sich heran. Im Laufe des Sommers begann er, sich wieder für Football zu interessieren. Sieben Monate lang hatte er nicht einmal das Wort »Football« aussprechen wollen. Doch nach und nach konnte er die Schuldgefühle über den Tod seines Bruders verdrängen. Dann kam sein Vater ums Leben. Ein Kohletransporter erfasste den Sportwagen, in dem Henry Stone saß. Er war sofort tot. Der Fahrer des Lkw blieb unversehrt. Dieser neue Schicksalsschlag förderte auch die alten Schuldgefühle wieder zu Tage. Zur Beerdigung des Vaters war Matt zum ersten Mal seit dem Tod seines Bruders wieder in einer Kirche. Die Trauergäste waren höflich und drückten ihr Mitgefühl über diesen neuerlichen Todesfall in der Familie Stone aus. Aber irgendwie erinnerten sie Matt alle an den Tod seines Bruders. »Du hast in deinen jungen Jahren schon so viel Schweres erleben müssen … wenn wir etwas für dich tun können, lass es uns bitte wis-
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sen.« Sie sagten das in der besten Absicht, aber in Matt riefen sie damit nur die alten Schuldgefühle wach, die er bis dahin halbwegs unter Kontrolle gehabt hatte. Bei der Beerdigung erfuhr er, dass seine Mutter die Absicht hatte, zu ihrer Schwester nach Virginia zu ziehen. »Die Veränderung wird uns beiden gut tun«, versuchte sie, ihren Sohn zu ermutigen. In Virginia lebte ihre jüngere Schwester Katherine Down, Matts Tante Kate. Matt zuckte nur mit den Schultern. Eigentlich war es ihm egal. Er hatte in den vergangenen Jahren so viel durchgemacht, war so oft in Selbstmitleid versunken, dass er jetzt gar nichts mehr fühlen konnte. Er war innerlich wie tot, seine Seele hatte alle Emotionen unterdrückt. Das Wichtigste für ihn war, irgendwie weiterzuleben, Mark zu vergessen und nicht nachzudenken. Schon in der folgenden Woche zogen Mutter und Sohn um. Ihr neues Zuhause war eine Kleinstadt an der Küste Virginias. Die Einheimischen nannten diese Gegend auch einfach nur »die Küste«. Da Henry gut versichert gewesen war, hinterließ er der Familie neben dem Geschäft auch ein ansehnliches Vermögen. Mit dem Geld aus den Versicherungen konnte Sandra ein Häuschen kaufen, das nur eine Querstraße vom Strand entfernt lag. Es war ein hübsches, weiß gestrichenes Holzhaus im typischen Neu-England-Stil. Sandras Schwager Tom arbeitete in der Verwaltung des Krankenhauses. Es war das einzige Krankenhaus an der Küste. Er verhalf ihr zu einer Anstellung und schon bald war Sandra sehr glücklich mit ihrem neuen Job im Sekretariat der Pflegeleitung. Für Matt verlief der Ortswechsel nicht so günstig. Es waren gerade Ferien und so lernte er keine anderen Jugendlichen kennen und hatte auch nichts zu tun. Er vergrub sich immer mehr in seine eigene Welt aus Schuld und Depression. Niemand außer den Downs schien das zu bemerken. Sie luden ihn immer wieder zu sich ein und Tom nahm ihn öfter mit zum Fischen. Kate und Tom waren acht Jahre zuvor an die Küste gezogen und hatten sich der mennonitischen Gemeinde am Ort angeschlossen. In den letzten Jahren war der Glaube an Jesus zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden. Es gab viel Freude in ihrem Leben. Sie verstanden sich gut und hatten eine Menge Freunde. Ihre Gemeinde war klein, aber lebendig. Der Pastor betonte die praktische Umsetzung des Glaubens und alle Mitglieder versuchten, so zu leben, wie es Gott gefällt und wie es in der Bibel beschrieben wird. Die Downs luden Matt immer wieder ein, zum Gottesdienst mitzukommen, aber er fand jedes Mal eine andere Ausrede. Er wollte
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nicht über das Thema sprechen und nichts mit den Christen zu tun haben. Sandra war in den vergangenen Jahren regelmäßig sonntags zur Kirche gegangen, aber es war für sie mehr Tradition und gesellschaftliche Verpflichtung als alles andere. Mit ihrem Herzen blieb sie unbeteiligt. Für das Engagement ihrer Schwester hatte sie kein Verständnis. Doch seit sie in Virgina wohnte, ging sie meist mit ihrer Schwester zur Gemeinde und fand es gar nicht so übel. Der Pastor war recht locker, was ihr gut gefiel. Der Ablauf des Gottesdienstes war ganz anders, als sie es gewohnt war. Nach einem Sonntagabendgottesdienst saßen Tom, Kate und Sandra noch zusammen. Die Downs hatten einen runden Küchentisch, an dem schon so manche gemütliche Runde stattgefunden hatte. Tom brachte an diesem Abend Sandra gegenüber zum ersten Mal das Thema zur Sprache, das ihn und Kate schon lange beschäftigte. »Ist dir aufgefallen, wie abwesend Matt in der letzten Zeit oft wirkt?« Sandra wollte sich zunächst nicht auf das Thema einlassen. »Er muss sich erst an den neuen Ort gewöhnen. Wenn die Schule wieder anfängt und er neue Freunde findet, wird sich das sicher ändern.« Tom und Kate schwiegen. Sie sahen besorgt aus. Plötzlich setzte Sandra ihre Kaffeetasse ab und es brach aus ihr heraus: »Ich weiß auch nicht, was ich tun soll. Er redet einfach nicht mit mir. Wenn ich nur wüsste, was in ihm vorgeht!« Doch dann tröstete sie sich selbst: »Wahrscheinlich muss er einfach mit dem Tod seines Vaters zurechtkommen. Dabei kann ihm niemand helfen. Er braucht wohl noch Zeit, um über diesen Verlust hinwegzukommen.« »Ich fürchte, es ist nicht ganz so einfach.« Tom war aufgestanden und sah durch das Küchenfenster auf das dunkle Meer. »In seinem Alter kann man durchaus auch schon Depressionen haben. Nach allem, was er durchgemacht hat, wäre das jedenfalls kein Wunder. Ach, ich wünschte, er käme mit zur Gemeinde!« »So, wenn er in eure Gemeinde ginge, wären alle Probleme gelöst, wie? Vielen Dank! Ich bin seine Mutter und ich werde diese Zeit schon mit ihm durchstehen. Er ist viel stärker, als ihr denkt.« Sandras Stimme zitterte. Tom kehrte zum Tisch zurück und goss allen noch Kaffee ein. »Entschuldige bitte, Sandra, ich will mich nicht einmischen, wenn du das nicht möchtest. Auch wenn wir uns Sorgen um Matt machen, heißt das noch lange nicht, dass wir dich für eine schlechte Mutter
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halten. Aber wir alle brauchen manchmal auch ein bisschen Hilfe von außen.« Tom schwieg, dann richtete er sich auf und sagte mit Bestimmtheit: »Nein, das stimmt nicht. Wir alle brauchen sehr viel Hilfe, um zurechtzukommen, mehr, als Menschen geben können. Wir brauchen einen Gott, der uns hilft. Jeder Mensch braucht einen Erlöser. Und ich glaube … nein, ich weiß, dass Gott Antworten hat für die Probleme der ganzen Menschheit, nicht nur für meine, deine und die von Matt!« »Amen!« Kate machte sich gerne ein bisschen über Tom lustig, wenn er so in Fahrt kam. Doch sie liebte seinen Eifer. Tom errötete. »War ich zu heftig? Tut mir Leid. Aber ich bin so überzeugt von dem, was ich sage.« »Schon gut«, beschwichtigte Sandra ihn. »Wenn du so sicher bist mit dem, was du sagst, dann lass es ruhig auch raus. Wir sind doch unter uns. Ich sehe die Dinge zwar ganz anders«, sie zögerte, »aber trotzdem tut es gut zu wissen, dass ihr euch Gedanken über ihn macht. Ich glaube, wenn es um ihn geht, fühle ich mich auch sehr schnell angegriffen.« Sandra seufzte und versuchte ein Lächeln: »Ich hoffe, es wird mit Matt alles gut werden.« Tom beugte sich über den Tisch und ergriff die Hände der Schwestern. »Wir sollten mehr tun, als zu hoffen.« Kate verstand, was Tom meinte. Die beiden beteten oft zusammen. Für Sandra war dies fremd. Doch sie zog ihre Hände nicht zurück. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie tiefen, tröstlichen Frieden.
Am Strand, nur zwei Querstraßen entfernt, starrte ein junger Mann verzweifelt aufs Wasser. Oh Gott! … Könnte ich nur zur Ruhe kommen! … Könnte ich nur frei sein!
Am Küchentisch eröffnete Tom den kleinen Gebetskreis: »Vater, wir kommen zu dir als deine Kinder. Wir brauchen deine Hilfe …«
Matt schloss die Augen. Er versuchte mit aller Kraft, die Gedanken zum Schweigen zu bringen, die ihn Tag und Nacht quälten. Selbst-
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anklagen, Vorwürfe und Selbstverdammnis machten ihn fast wahnsinnig. Wenn ich doch frei sein könnte! … Ich würde alles darum geben, wenn dies ein Ende hätte!
In den folgenden Wochen verstand Sandra immer mehr von dem, was Tom gesagt und gebetet hatte. Es ging um mehr als um die sonntäglichen Besuche in einem christlichen »Verein«. Dieser allmächtige Gott interessierte sich für sie als Individuum. Jesus hatte Antworten auf die Fragen der gesamten Menschheit und er hatte Lösungen für die Probleme von Sandra Stone. Ihr wurde immer klarer, dass nicht nur ihr Sohn Hilfe brauchte; auch in ihrem Leben hatte sich viel Bitterkeit angesammelt. Nach und nach öffnete sie die verschiedenen Bereiche ihres Lebens für Gott. Sie litt immer mehr unter dem, was sie von Gott trennte. Und ihr wurde bewusst, dass sie die Vergebung brauchte, die Jesus durch seinen Tod am Kreuz ermöglicht hatte. Langsam verstand sie Gottes Wunsch, mit ihr in eine persönliche Beziehung zu treten. Je mehr sie Gott vertraute, desto intensiver wurden ihre Gebete für ihren Sohn. Auch er sollte diesen herrlichen Frieden finden! Doch Matt ging es immer schlechter. Selbstmitleid und Selbstanklage waren die einzigen Kategorien, in denen er noch denken konnte. Ihm fehlte die Kraft, morgens aufzustehen. Erst nachdem seine Mutter aus dem Haus war, kam er aus dem Bett. Allmählich konkretisierte sich in ihm ein Gedanke. Es gab doch eine Lösung: Er würde zu seinem Bruder gehen! Es war 9.30 Uhr, als die Tür hinter seiner Mutter ins Schloss fiel. Er quälte sich aus dem Bett. Angst erfüllte ihn, Angst, die wie ein Stein in seinem Magen lag, die ihn unfähig machte, in Ruhe nachzudenken und die sein ständiger Begleiter geworden war. Er betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken. Wie schmal er geworden war! Seit Wochen konnte er schon nicht mehr richtig essen. Er öffnete die linke Tür des Spiegelschrankes, um sein Rasierzeug zu nehmen. Da fiel sein Blick auf die kleine, braune Flasche. »Diazepam 10 mg« war darauf zu lesen. Das ist Mutters Valium! Der Gedanke traf ihn wie ein Blitz. »Unter der Einnahme von Diazepam ist es verboten, am Straßenverkehr teilzunehmen oder Maschinen zu bedienen.« War das nicht die Lösung seiner Probleme?! Würde er vielleicht schon bald zur Ruhe kommen? Mutter wird es ohne mich besser gehen. Ich vermisse dich, Mark! Ich vermisse dich so sehr! Ich
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will bei dir sein! In Matts Kopf rasten die Gedanken. Er wurde mehr gezogen, als dass er ging. Aber er war außer Stande zu analysieren, welche Kraft ihn in diese Richtung zog. Alles, was er denken konnte, war, dass er endlich Ruhe wollte, Freiheit von diesen quälenden Gedanken und Gefühlen. Er steckte die Flasche ein und schrieb eine kurze Notiz an seine Mutter. »Ohne mich wird alles einfacher sein. Ich habe meinen unschuldigen Bruder umgebracht. Warum sollte ich leben? Ich will es wieder gut machen. Ich gehe zu Mark.«
400 Kilometer südlich der Chesapeake-Bucht saß zur gleichen Zeit ein junger Arzt über den Akten seiner Patientinnen. Dr. Adam Richards war im zweiten Jahr seiner Facharztausbildung. Er studierte Gynäkologie an einer großen Universitätsklinik im Süden der Vereinigten Staaten. Voller Stolz dachte er daran, dass er jetzt schon selbstständig im Kreißsaal arbeiten konnte. Ein Lächeln huschte über sein jugendliches Gesicht, als er sich daran erinnerte, wie die Kollegen ihn erst vor zwei Wochen zum »Arzt des Jahres« gewählt hatten. Ich habe immer gewusst, dass meine harte Arbeit sich eines Tages auszahlen würde. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Akte, die vor ihm lag. Was sollte er heute tun? Er seufzte. Wieder musste er ein Baby abtreiben. Das war das Einzige, das ihn an der Gynäkologie störte. Die Frau war in der vergangenen Nacht eingeliefert worden. Sie war Mexikanerin, 19 Jahre alt, befand sich im zweiten Trimester ihrer Schwangerschaft und hatte Blutungen. Die Schwangerschaft sollte durch eine Abtreibung beendet werden. Zuoberst auf dem Aufnahmebogen stand die Bemerkung: »Patientin spricht kein Englisch«. Super, ärgerte sich Dr. Richards. Wieder ein Fall für den Tierarzt. Ich brauche also gar nicht erst zu versuchen, mit ihr zu reden. Er blätterte die restlichen Unterlagen durch und stellte fest, dass die Einwilligung zu dem Eingriff von der Patientin bereits unterschrieben worden war. Bei der Aufnahmeuntersuchung hatte ein Arzt, der sich erst im Praktikum befand, unglücklicherweise etwas anderes notiert, als die Frau in ihrem gebrochenen Englisch sagen wollte. Sie hatte versucht, ihrer Befürchtung Ausdruck zu verleihen, sie könne eine Fehlgeburt haben. Der junge Arzt notierte, dass die Frau ängstlich sei und eine Abtreibung wolle. Doch davon wusste Dr. Richards natürlich nichts.
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Für ihn war es ein klarer Fall. Er stellte die Instrumente zusammen, die er für eine Abtreibung mittels Salzlösung brauchte. Er hatte diesen Eingriff schon so oft machen müssen, dass er ihn alleine durchführen konnte, ohne dass ein älterer Arzt anwesend sein musste. Am besten, ich mache die unangenehme Arbeit zuerst und gehe erst danach in den Kreißsaal. Er brachte seine Instrumente in das Zimmer der Patientin und stellte sich vor. Da sie ohnehin kein Englisch sprach, verzichtete er darauf, in einem persönlichen Gespräch die Krankheitsgeschichte der Patientin zu erfragen, und begann direkt damit, den Eingriff vorzubereiten. Es gelang ihm, die Frau ein wenig zu beruhigen, dann desinfizierte er ihren Unterbauch mit »Betaisodona«. Die junge Frau ging davon aus, dass der Arzt gekommen war, um ihr und ihrem Baby zu helfen. Langsam spritzte Dr. Richards das Lokalanästhetikum in das Unterhautbindegewebe, um diesen Bereich der Bauchdecke zu betäuben. Dann griff er nach der langen Nadel und führte sie durch die Bauchwand direkt in die Gebärmutter. Er zog etwas Fruchtwasser ab und prüfte die korrekte Lage der Spritze. In diesem Fall war er bei weitem nicht so vorsichtig wie bei einer normalen Fruchtwasseruntersuchung. Würde er jetzt aus Versehen mit der Nadel das Baby verletzen, würde das am endgültigen Resultat des Eingriffs wenig ändern. Der Fötus würde am nächsten Morgen ohnehin tot sein. Nun zog er einen Teil des Fruchtwassers ab und ersetzte ihn durch konzentrierte Salzlösung. Die Salzlösung wirkte sofort auf den männlichen Fötus. Sein Körper krampfte sich zusammen, als das Fruchtwasser entfernt wurde und stattdessen Salzwasser kam. Aus den Zellen des kindlichen Körpers wurde Flüssigkeit entzogen, um die hochkonzentrierte Umgebungsflüssigkeit zu verdünnen. Es bildeten sich Blasen auf seiner Haut wie bei einem Verbrennungsopfer. Er schluckte die salzige Flüssigkeit und damit veränderte sich sein ganzer Elektrolythaushalt. Seine Lungenbläschen platzten, als er die Salzlösung aufnahm. Er begann, sich heftig zu wehren, und seine Mutter spürte seine Angst und seine Schmerzen. Dies war anders als seine sonstigen, normalen Bewegungen. Ihre Angst nahm zu. Normalerweise würden frühestens zwölf Stunden nach diesem Eingriff die Wehen einsetzen und ein totes Baby würde spontan geboren werden. Das war die übliche Abtreibungsmethode für fortgeschrittene Schwangerschaften. Doch in diesem Fall war die Patientin in die Klinik gekommen, weil sie bereits vorzeitige Wehen gehabt hatte. Diese Wehen verstärkten sich nun durch Richards Behandlung
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und begannen, das Kind auszutreiben, bevor das Salzwasser seine tödliche Wirkung beenden konnte. Von all dem wusste Dr. Richards nichts. Er brachte seinen Eingriff zu Ende. Die Frau weinte heftig, während er seine Instrumente wieder zusammensammelte. Nun musste er den Stationsarzt fragen, was er als Nächstes tun sollte. Soll sich die Krankenschwester mit dieser Frau beschäftigen. Wer so labil ist, dem kann ich auch nicht helfen. Schließlich bin ich kein Psychiater. So ließ er die stöhnende Frau zurück und verließ schnell den Raum. Er notierte in der Akte, was er getan hatte, und machte sich auf die Suche nach dem älteren Arzt.
Sandra war auf dem Weg zur Arbeit. Sie fuhr auf der Autobahn Richtung Norden. Plötzlich wurde ihr heiß. Sie drehte das Fenster herunter. Was war denn das? Es war eigentlich ein recht kühler Morgen. »BETE!« Plötzlich schoss dieser Gedanke durch ihren Kopf, fast als hätte sie die Aufforderung wirklich gehört. Ihr war heiß und kalt gleichzeitig. Sie musste beten, sofort! Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, als sie auf die Standspur wechselte und anhielt. Dieser Gedanke war von außen gekommen, das hatte sie deutlich gespürt. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Sie verspürte diesen starken Drang und gab ihm nach. Sandra betete.
Matt beschloss, noch ein bisschen am Strand zu bleiben, bevor er »es« tun würde. Er hatte sich überlegt, dass er die Pillen nehmen und dann so weit wie möglich hinausschwimmen wollte. Kein Mensch war heute am Strand. Alles war völlig verlassen, nur ein paar alte Ruderboote deuteten darauf hin, dass hier früher einmal mehr Betrieb gewesen war. Matt ging in nördlicher Richtung am Wasser entlang. Vor einigen Wochen hatte Onkel Tom ihm diese Stelle gezeigt. Hier konnte man prima angeln. Damals hatte Tom ihm erzählt, Jesus biete ihm seine Freundschaft an. Matt hatte höflich genickt, aber alles vermieden, was zu einem Gespräch über dieses Thema hätte führen können. Als er jetzt daran dachte, dass bald alles vorbei sein würde, spürte er, wie die Verkrampfung in seinem Magen nachließ. Bald würde die Angst vorbei sein. Er wollte noch ein letztes Mal den Strand ge-
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nießen. Doch dazu fehlte ihm die innere Ruhe. Es drängte ihn zur Eile. Das Boot, auf dessen Planken er sich setzte, war schon zur Hälfte im Sand begraben. Er holte die braune Flasche aus seiner Jackentasche. Vor Erleichterung begann er, leise zu weinen. Bald ist diese Qual vorüber.
Dr. Richards kam gerade von seinem Mittagessen zurück. Eine Pharmafirma hatte über Medikamente gegen Menstruationsbeschwerden berichtet und hatte dazu ein kaltes Büfett angerichtet. Die Menstruationsbeschwerden interessierten ihn wesentlich weniger als die Delikatessen des Büfetts. Wieder auf der Station angekommen, sah er eine aufgeregte Krankenschwester aus Zimmer 324 kommen, wo er vor der Pause die Salzinjektion gemacht hatte. Die Krankenschwester rief nach dem Stationsvorsteher, er solle sofort den Alarm auslösen. Das Neugeborenen-Reanimationsteam werde gebraucht. »Schnell!« Die Schwester war ganz panisch. »Einen Moment mal«, Richards stotterte fast vor Überraschung und Wut über dieses eigenmächtige Verhalten der Pflegekraft. »Vor weniger als zwei Stunden bekam diese Patientin eine Injektion, um das Kind abzutreiben. Nun holen Sie doch nicht das Reanimationsteam! Das ist eine Abtreibung, keine Geburt!« »Die Patientin sagt aber etwas ganz anderes!« Während der Stationsleiter den Alarm auslöste, stürzten die Schwester und Dr. Richards gemeinsam in das Zimmer 324. Dr. Richards stockte der Atem bei dem Anblick, der sich ihm bot. Die Patientin schrie ununterbrochen in kaum verständlichem Englisch: »Mein Baby! Rettet mein Baby! Mein Baby! Mein Baby! Mein Baby!« Zwischen den Beinen der jungen Frau lag das Kind, die Nabelschnur war noch nicht durchtrennt. Der kleine Junge versuchte mit aller Gewalt zu atmen. Er ruderte heftig mit seinen Armen und Beinen, als ob er immer noch in dem Fruchtwasser wäre, das ihn bis eben umgeben hatte. Richards verstand erst jetzt, dass es der Frau um das Leben ihres Kindes ging. Sie wollte das Kind! Nun handelte er routiniert und so schnell er konnte. Mit einem Ballonsauger holte er die Flüssigkeit aus Mund und Nase des Kindes. Er durchtrennte die Nabelschnur und hielt das Baby an den Beinen kopfüber hoch, damit die restliche Flüssigkeit aus der Lunge fließen konnte. Über der Tür schrillte immer noch der Alarm, der das Reanimationsteam forderte. Sie hatten
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sich sofort auf den Weg gemacht und keine drei Minuten nach Auslösung des Alarms waren sie zur Stelle. Richards hielt das Baby gerade an den Beinchen hoch, als die Neonatologin ins Zimmer stürmte. »Was ist hier los, Adam?« Sie hatten früher schon eine Zeitlang in der gleichen Abteilung gearbeitet, bevor die Kollegin dann zur Reanimation gegangen war. »Abtreibung durch Salzinjektion. Etwa 23. Schwangerschaftswoche. Jetzt will die Mutter, dass wir das Kind retten.« Allmählich verlor er seine professionelle Sachlichkeit. Seine Lippen zitterten, als er fortfuhr: »Ich weiß auch nicht genau, wie das passieren konnte … Vor ein paar Stunden habe ich die Injektion gemacht … Das Kind sollte eigentlich erst morgen abgehen.« Die Neonatologin schob einen Schlauch in die Luftröhre und gab dem winzigen Jungen ein paar Atemzüge durch den Beatmungsbeutel. Dann schloss sie einen Monitor an, der die Herzfunktion zeigte. Das Herz schlug nur achtzig Mal pro Minute, was für ein Neugeborenes viel zu wenig war. »Spritzen Sie Atropin in die Luftröhre!« Mehrere andere junge Kinderärzte waren inzwischen eingetroffen, um zu helfen und zu lernen. Ein Gynäkologe war gekommen, um der Mutter beizustehen und die Entbindung der Plazenta zu überwachen. Richards’ Anwesenheit war nun nicht mehr nötig. Er verzog sich und ging den Flur entlang. Überall war er jetzt lieber als in Zimmer 324. Das Kind hatte nur ein paar kurze, schmerzhafte Stunden zu leben. Das Salzwasser war genau so tödlich, wie es sein sollte. Aber in diesem tragischen Fall trat der Tod unter den entsetzten Blicken der Neonatologen ein, begleitet vom Weinen der Mutter.
Wie betet man, wenn man nicht weiß, wofür man beten soll? Sandra bat den Heiligen Geist, ihr zu helfen. Und dann floss das Gebet über ihre Lippen. Nach einigen Minuten spürte sie, wie die unbekannte Not von ihrer Seele wich und der tiefe Friede wieder einzog. Ihr Vater würde sich jetzt um diese Situation kümmern und das Schicksal wenden. Sie wusste es. In der geistlichen Welt hatte sich etwas verändert, während sie betete. Tom und Kate könnten ihr bestimmt noch besser erklären, was sie heute erlebt hatte. Sie freute sich schon darauf, es ihnen zu erzählen. Sandra startete den Wagen wieder und wollte weiterfahren, als ihr auffiel, dass sie die Unterlagen vergessen hatte, die sie heute bei der Arbeit brauchte. Wie ärgerlich! Aber es half nichts, sie musste noch einmal zurück und die Papiere holen.
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Auf dieser Strecke war nie viel Verkehr, aber heute Morgen war es besonders ruhig. Sie brauchte nur fünf Minuten bis zu ihrem Haus. Während sie in die betonierte Einfahrt fuhr, überlegte sie: Ob Matt schon aufgestanden ist? Vielleicht kann ich ihn dazu bringen, den Rasen zu mähen. Das würde ihm bestimmt gut tun. Sie ließ den Motor laufen und nahm immer zwei Stufen auf einmal. Die Haustür war offen. Seltsam, ich schließe doch immer ab! Auf dem Küchentisch sah sie die Unterlagen, die sie vergessen hatte. Matt wird bestimmt den Rasen mähen, wenn ich ihn darum bitte. Aber er ist in letzter Zeit oft sehr abwesend, vielleicht hat er keine Lust dazu … Sie war schon wieder auf dem Weg nach draußen, zögerte jedoch an der Treppe und kehrte dann doch wieder um, als sie das hohe Gras sah. Ich werde ihn einfach fragen. Er kann nicht mehr, als Nein sagen. Und ein bisschen Ablenkung wird ihm sicher nichts schaden. »Matt?« Keine Antwort. »Matt!« Alles blieb ruhig. Seit dem Tod seines Bruders war Sandra mit Matt immer sehr vorsichtig gewesen. Sie war nie laut geworden, auch wenn sie ihn zurechtweisen musste. Er sollte vor jedem weiteren Schmerz geschützt werden, das war ihr Anliegen. Und entsprechend sanft war ihr Umgang mit ihm. Doch jetzt war sie in Zeitdruck, sie sollte schon längst an ihrem Arbeitsplatz sein. Als sie die letzten Stufen der Treppe erreicht hatte, sah sie, dass die Tür zu Matts Zimmer offen war. »Matt, ich würde es schön finden, wenn du heute den Rasen mähen würdest. Meinst du, du könntest das schaffen?« Nichts. Nicht einmal das unwillige Brummen eines schläfrigen Teenagers. Sandra seufzte und ging zu seiner Tür. »Matt?« Sie ging in sein Zimmer. Das Bett war zerwühlt, die Kleider vom Vortag lagen überall herum. Auf dem Kissen lag ein sauber zusammengefaltetes Blatt Papier. Sie überflog den kurzen Brief und verstand seine Bedeutung sofort. »Nein, oh nein! Oh Gott … nein! Bitte lass es nicht zu. Oh Herr, bitte nicht!« Sie rannte durch alle Räume des Hauses und suchte ihren Sohn. Nichts. »Matt, mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn!!!« Die Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie aus dem Haus rannte und in die Garage schaute. Nichts. Wo war er bloß? Sie lief zurück
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ins Haus, blieb an der obersten Stufe hängen und stürzte. Ihr Knöchel! Weinend richtete sie sich wieder auf. Sie konnte nicht mehr auftreten. Tom! Sie musste Tom erreichen. Sie stützte sich auf die Möbel und humpelte auf einem Bein zum Telefon. Ihre Finger zitterten, als sie die Nummer ihres Schwagers wählte. »Bitte, seid da!« Es klingelte vier Mal, was ihr wie eine halbe Ewigkeit schien. Endlich, beim fünften Ton dann die vertraute Stimme. »Tom!« »Sandra?« »Du musst mir helfen. Matt ist weg. Er hat einen Brief geschrieben. Er will zu Mark gehen!« »Sandra, bleib ganz ruhig. Weißt du, wo er ist?« »Nein! Tom, du musst mir helfen! Du musst ihn finden!« »Bin schon unterwegs. Ich sage nur noch schnell Kate Bescheid, damit sie die Gemeinde zum Gebet mobilisieren kann.«
Matt saß ganz still da und schaute aufs Wasser. Er hatte sich sein Leben und seinen Tod anders vorgestellt. Aber zum ersten Mal seit Wochen war er etwas ruhiger. Bald würde alles vorbei sein. Er hatte keine Kraft mehr, die er dieser Angst, der Schuld und der Verzweiflung entgegenhalten konnte. Nur noch Ruhe, Frieden, Stille. Mehr wollte er nicht. Mehr erwartete er nicht, mehr konnte er sich nicht vorstellen. Er hatte die Pillen in seine linke Hand geschüttet. Es waren genau elf Stück. Sie waren groß, weiß, hatten eine raue Oberfläche. Ob er sich noch ein bisschen Wasser holen sollte? Nein, er wollte nirgendwo mehr hingehen. Vielleicht waren es zu wenige? Aber die Kombination aus Tabletten und Schwimmen würde sicher funktionieren. Er hatte überall versagt. Dieses eine Mal wollte er es richtig machen, bis zum Ende durchführen. Er hob die linke Hand zum Mund. Da kam ein Schwarm Delfine. Sie spielten direkt vor ihm im Wasser. Für einen Moment ließ er die Hand wieder sinken und sah den Tieren zu. Aber irgendetwas drängte ihn, trieb sein Handeln voran und duldete keine Ablenkung. Ein auffallend großer Delfin tauchte aus dem Wasser. Er wirbelte hoch in die Luft und verschwand wieder in den Wellen, um gleich darauf einen zweiten Sprung zu vollführen. Matt ließ sich ein letztes Mal kurz von diesem Schauspiel ablenken. So große Delfine gab es an dieser Küste nur selten.
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Kate setzte die Gebetskette in Gang. Dies war eine Einrichtung, die sich im Laufe der Zeit entwickelt hatte, ohne dass jemand dies geplant oder Regeln dafür formuliert hätte. Sie rief die erste Person an und teilte ihr kurz das Wichtigste mit: »Matt, der Sohn meiner Schwester Sandra ist in Not. Er hat Depressionen. Es gibt Hinweise darauf, dass er sich im Augenblick überlegt, ob und wie er sich das Leben nehmen soll. Wir brauchen die Gebete der Gemeinde. Bitte gib diese Information an die anderen weiter.« Wenn es um Fürbitte ging, wurde nicht viel geredet, es ging nicht darum, sich vertrauliche Details zu erzählen. Nur die wichtigsten Eckdaten wurden weitergegeben, so dass die Leute wussten, wofür gebetet wurde. Nach wenigen Minuten war die ganze Gemeinde informiert und jeder begann zu beten. Einige spürten eine solche Dringlichkeit im Gebet, wie sie sie lange nicht erlebt hatten. Eine ältere Frau erzählte später, wie sich eine so schwere Last auf sie legte, dass sie vor ihrem Bett auf die Knie ging. Sie verharrte weinend und betend dort. Erst nach zwei Stunden ließ dieser Druck nach und sie spürte, wie der Friede zu ihr zurückkehrte. Als sie sich erhob, war sie von einer tiefen Freude erfüllt, die aus dem Wissen entsprang, dass Gott sie gehört hatte. Unterdessen raste Tom, so schnell er konnte, zu Sandras Haus. Er betete während der Fahrt um Weisheit und Führung. Er brauchte Gottes Hilfe, um Matt zu finden. Es waren keine zehn Minuten vergangen, da stand er schon bei Sandra in der Küche und starrte auf den Brief, den Matt zurückgelassen hatte. »Wie kommt er dazu zu behaupten, er hätte Mark umgebracht?« Sandra schilderte ihm kurz die Umstände, unter denen ihr Sohn gestorben war. Sie weinte immer noch. »Ich wusste nicht, dass er sich dafür verantwortlich fühlt. Wir wussten doch alle, dass er Leukämie hatte. Ich hatte ja keine Ahnung, was in Matt vorging. Wahrscheinlich war er damals noch zu jung, um sich unter Leukämie etwas vorstellen zu können.« »Was denkst du, wohin er gegangen sein könnte?« »Vielleicht ist er am Wasser. Da war er in letzter Zeit oft.« »Das könnte gut sein. Ich war erst vor ein paar Tagen mit ihm abends am Wasser spazieren.« Tom organisierte die weiteren Maßnahmen. Sandra sollte am Telefon bleiben. Kate würde zu ihr kommen. Er wollte Matt am Strand suchen.
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Tom rannte zum Meer. Der nächste Zugang war nur 100 Meter vom Häuschen der Stones entfernt. Als er am Strand angekommen war, wandte er sich nach Süden. Der Sand war weich und machte das Gehen schwer. Tom keuchte schon bald, Sand füllte seine Schuhe, doch er merkte nichts. Er lief weiter, so schnell er konnte. Und er betete. Toms Gebete waren nicht formal. Oft hatten sie keinen Anfang und kein Ende. Während des Tages hatte er immer wieder Grund, ein »Danke« an Gott zu richten oder ihn um Hilfe zu bitten. Seine Verbindung zum Vater war immer da, bei allem, was er tat. So auch jetzt. Wer Tom beobachtete, sah einen Mann, der am Strand entlang rannte und dabei suchend in alle Richtungen blickte. Doch gleichzeitig schrie er innerlich zu Gott um Hilfe. »Wo ist Matt? Zeig mir, wo ich ihn finde! Führe mich zu ihm, Heiliger Geist! Vater, bitte sei ihm nahe. Halte ihn zurück! … Welche Richtung soll ich nehmen, Herr?« Er blieb stehen, zögerte, als ob er in sich hineinhören würde, machte dann kehrt und wandte sich nordwärts. Er kam jetzt zu dem Abschnitt der Küste, an dem er neulich abends mit Matt gewesen war. Für Tom war es ganz natürlich, so von Gott geführt zu werden. Er hatte sich dies schon früher gewünscht und in den letzten Jahren immer mehr darauf geachtet, seine inneren Augen und Ohren offen zu halten. Er empfand einen Impuls, nach Norden zu gehen, dessen Art ihm vertraut war. Es war die leise Stimme, die er als die Stimme des Heiligen Geistes in seinem Inneren kennen und unterscheiden gelernt hatte. Besonders, wenn er Gott ausdrücklich um Leitung bat, konnte er sich darauf verlassen, dass er Gottes Antwort richtig wahrnehmen konnte. In seinem Geist spürte er auch eine große Dringlichkeit, die ihn zur Eile antrieb. Einige Minuten später erblickte er die Gestalt des Jungen. Matt saß auf den Brettern eines verrotteten Ruderboots, das schon zur Hälfte vom Sand begraben war. Tom sah, wie er die Hand zum Mund führte und dann wieder sinken ließ. Der Junge starrte regungslos aufs Wasser. Es waren immer noch einige hundert Meter zwischen Tom und dem Jungen. Tom wurde langsamer. Er wollte den Jungen nicht erschrecken. Als er näher kam, konnte er sehen, warum der Junge so still aufs Meer sah: Mehr als 30 Delfine spielten direkt vor ihm im Wasser. »Hallo, Matt!« Tom versuchte, einen belanglosen Tonfall anzunehmen. Matt reagierte nicht. Er schob nur eine Hand in die Jackentasche. Doch Tom hatte die kleine Tablettenflasche noch gesehen, die Matt verbergen wollte. Das Etikett war ihm vertraut. Er hatte mehrfach mit
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Sandra darüber geredet, dass die Hilfe, die das Valium ihr versprach, nur eine Lüge war. Vorsichtig setzte Tom sich zu Matt auf die morschen Planken. Gemeinsam sahen sie den Delfinen zu. Einige besonders große Exemplare sprangen so schön in die Luft, dass es wie dressiert aussah. Sie überschlugen sich und tauchten kopfüber wieder in die Wellen ein. Fast schienen die Tiere bewusst an dieser Stelle zu spielen, um den beiden Zuschauern eine besondere Freude zu machen. Nach einigen Minuten drehte die ganze Truppe ab und verschwand in Richtung auf das offene Meer. Die beiden jungen Männer konnten ihnen noch lange nachsehen, bis sie hinter der Insel der Chesapeake-Bucht verschwanden. Erst als die Tiere nicht mehr zu sehen waren, begann Tom zu sprechen. »Ich habe den Brief gelesen, den du deiner Mutter heute Morgen geschrieben hast.« »Wie kommt das? Mutter ist doch bis abends auf der Arbeit.« »Sie hatte etwas vergessen und musste noch einmal zurück zum Haus. Dabei fand sie deinen Brief und rief mich an. Nun macht sie sich große Sorgen um dich.« »Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie wird froh sein, wenn sie ihre Ruhe hat. Ich habe ihr doch schon genug Schmerz zugefügt.« »Sie macht sich wirklich Sorgen. Sie liebt dich, Matt.« Tom zögerte. »Der Verlust deines Vaters und der Umzug waren auch für sie belastende Erfahrungen. Ich weiß ganz sicher, wie sehr sie sich wünscht, besser mit dir reden zu können.« Matt konnte sich kaum auf die Worte seines Onkels konzentrieren. Da war wieder diese Angst in ihm. Am liebsten wäre er weggerannt. Er durfte diese Gelegenheit nicht verpassen, sich nicht ablenken lassen, so kurz vor der Lösung seiner Probleme. »Bitte lass mich allein. Ich will nachdenken, meine Ruhe haben.« Tom spürte, dass hier eine Auseinandersetzung in der unsichtbaren Welt stattfand. Hier waren Kräfte am Werk, die seinen Neffen zerstören wollten. Tom schwieg. Im Stillen betete er und befahl den Mächten des Todes im Namen Jesu zu weichen. Während des Gebets entspannte sich der Junge ein wenig. Matt lehnte sich zurück und atmete tief durch. Was war nur heute mit ihm los? Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Tom bat Gott, ihm die richtigen Worte zu geben. »Ich weiß, dass du dich danach sehnst, frei zu sein. Du glaubst, dass du am Tod deines Bruders schuld bist.« Tom zögerte wieder. Er dachte daran, dass jetzt die Gemeinde für sie betete. Plötzlich spürte
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er einen tiefen Schmerz um Matt. Es war, als ließe Gott ihn die Verzweiflung fühlen, die Matts Seele quälte. Und gleichzeitig erfüllte ihn eine tiefe, göttliche Liebe zu dem jungen Mann. Tom schämte sich der Tränen nicht, die jetzt über seine Wangen liefen. Seine Stimme war bewegt. »Ich würde alles darum geben, wenn ich diesen Schmerz von dir nehmen könnte.« Matt reagierte nicht. Tom wandte seinen Blick vom Wasser ab und schaute den jungen Mann an. »Erinnerst du dich daran, wie Mark starb?« »Ich war doch dabei. Wegen mir ist er hingefallen. Ich wollte, dass er noch draußen bleibt und weiterspielt.« »Die Ärzte sagen, er hatte Leukämie. Für ihn war jeder Sturz lebensgefährlich.« Matts Reaktion kam schnell. Tausend Mal hatte er in Gedanken schon darüber nachgedacht. »Wegen mir ist er hingefallen! Ich habe mit dem Football direkt auf ihn gezielt. Ich war wütend auf ihn. Ich habe ihn umgebracht. Wenn ich das nicht getan hätte, hätte man gemerkt, dass er krank war, er wäre behandelt worden und würde heute noch leben.« Matt war aufgesprungen. Er zitterte am ganzen Körper. Zum ersten Mal brach aus ihm heraus, was ihn schon so lange quälte. Tom stützte seinen Kopf in die Hände und studierte den Sand auf seinen Schuhspitzen. Er betete um Weisheit. Plötzlich richtete er sich auf. Jetzt wusste er, was er zu sagen hatte. »Gut. Nehmen wir an, du hast Recht. Du hast deinen Bruder umgebracht. Du hast es getan. Du bist schuld. Was ist die angemessene Strafe für jemanden wie dich?« Mit dieser Reaktion hatte Matt nicht gerechnet. Für einen Moment schwieg er überrascht. Dann ließ er sich darauf ein. »Ich verdiene den Tod«, sagte er leise, aber bestimmt. »Das stimmt. So sagt es die Bibel. Auge um Auge.« Matt runzelte die Stirn. Worauf wollte Tom hinaus? Tom fuhr fort: »Aber du musst trotzdem nicht sterben.« Toms Stimme war belegt, als er sagte: »Ob du den Tod deines Bruders verschuldet hast oder nicht, du weißt, dass du auf jeden Fall in vielen Situationen Gott gegenüber falsch gehandelt hast. Das haben alle Menschen. Aber jemand anderer hat an deiner Stelle die Strafe abgebüßt. Verstehst du? Das hat Jesus getan. Darum geht es! Er hat den Preis für deine und für meine Schuld bezahlt. Du kannst frei sein, Matt! Du kannst frei sein von jeder Schuld, weil er die Strafe auf sich genommen hat.« Matt zitterte noch stärker. Dann brach er in tiefes Schluchzen aus. Wie viel Schmerz, wie viel Leid hatte sich in ihm aufgestaut. Er konnte nicht mehr an sich halten und weinte laut in den Armen seines Onkels. Tom hielt ihn fest, bis er sich wieder beruhigt hatte.
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»Es wird alles gut werden. Hab keine Angst, bald wird das alles vorbei sein und du wirst wieder frei sein.« Matt konnte nicht aufhören zu zittern. Tom ließ ihm Zeit, hielt ihn in seinen Armen und wartete geduldig, bis Matt sich ein wenig beruhigt hatte. Gott hatte Tom mit Liebe für Matt gefüllt. Dieser spürte das und kam langsam zur Ruhe. Nach einigen Minuten brach Tom das Schweigen: »Wollen wir zurückgehen? Deine Mutter wird überglücklich sein zu sehen, dass es dir besser geht.« Schweigend gingen sie nebeneinander her, nahe am Wasser, wo die Wellen den Sand befeuchteten und ihn zu einem festen Untergrund machten. Jeder hing seinen Gedanken nach. Tom dankte Gott und Matt wunderte sich darüber, dass sein Onkel ihn so offensichtlich mochte. Er wusste gar nicht, warum.
Dr. Richards seufzte tief, als er sich noch einmal die Ereignisse in Zimmer 324 vergegenwärtigte. Zwei Wochen waren seither vergangen. Das tragische Missverständnis hätte ihn fast seine Stellung gekostet. Glücklicherweise klagte die Patientin nicht gegen ihn. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie erfahren hatte, wie es zum Tod ihres Kindes gekommen war. Man hatte ihr versichert, dass die Ärzte alles getan hätten, um ihren Jungen zu retten. Er warf die medizinische Zeitschrift, auf die er gestarrt hatte, in die Ecke des ungemütlichen kleinen Bereitschaftsraumes. Abtreibungen sollten nur von Ärzten gemacht werden, die technisch geübt sind und die beurteilen können, wann der richtige Zeitpunkt für die richtige Methode ist. Das Ergebnis muss problemlos und unauffällig eintreten … ohne diesen Alptraum, den wir vor zwei Wochen hier hatten! Ich werde es ihnen zeigen. Jetzt, wo ich weiß, wie das aussieht, wenn man unprofessionell arbeitet. Sein alter Kampfgeist, der ihn schon so weit gebracht hatte, erwachte wieder … Fehler macht jeder mal, aber Profis machen jeden Fehler nur einmal. In ihm verfestigte sich der Gedanke: Nie wieder soll mich jemand so sehen wie bei dieser Mexikanerin. Ich werde so lange üben, bis ich die Technik perfekt beherrsche. Ich werde nicht meiner Angst und Abneigung folgen, ich werde mich diesem Problem stellen … Ich werde die Abtreibungsmedizin auf eine neue Ebene der Perfektion führen! »Flucht nach vorn«, das war schon immer sein Motto gewesen. Dr. Adam Richards legte sich auf die schmale Liege und streckte sich aus. Er hatte eine wichtige Entscheidung getroffen. Mit dieser
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Überlegung entspannte er sich. Endlich, nach zwei qualvollen Wochen, fühlte er sich etwas besser. Ruhig schlief er ein.
In den folgenden Tagen konnte Matt immer mehr genießen, dass sein Onkel ihn annahm und gern hatte. Das half ihm zu verstehen, wie Gott ihn schätzen und lieben konnte. Er lernte eine Liebe kennen, die keinen Grund braucht, die bedingungslos ist und die man nur annehmen muss, ohne sie selbst verdienen zu können. Auf diesem Weg lernte Matt, sich selbst zu vergeben. Zwei Wochen nach diesem entscheidenden Morgen am Strand traf Matt die Entscheidung, Jesu Vergebung anzunehmen. In einem Gottesdienst in der kleinen Mennonitengemeinde machte er seinen Entschluss öffentlich und bekannte sich zum Glauben an Jesus als Sohn Gottes und Herrn und Erlöser seines Lebens. An diesem Tag wich die Last der Schuld und Selbstanklage von ihm. Zum ersten Mal seit dem Tod seines Bruders war er wieder froh und unbeschwert. Welch ein großes Geschenk war das für ihn! Er war Gott sehr dankbar dafür. In den folgenden Monaten wuchs er immer mehr in diese Beziehung zu Gott hinein. Die Verletzungen seiner Seele heilten und Gott bereitete ihn darauf vor, die Herausforderungen seines späteren Lebens bestehen zu können. Nach dem Abitur studierte er Medizin an der Universität von Virginia. Sein Interesse an diesem Fach war entstanden, während er ehrenamtlich in dem Krankenhaus half, in dem auch seine Mutter und sein Onkel arbeiteten. Seine Fachrichtung stand von Anfang an fest: Er wollte Chirurg werden. Für seine Facharztausbildung kehrte er in seinen Heimatstaat Kentucky zurück und arbeitete an der Universitätsklinik von Fairfax.
Sandra Stone stand auf der Veranda ihres Häuschens an der Chesapeake-Bucht. Heute flog ihr Sohn von Chicago zurück nach Fairfax. Sein letztes Ausbildungsjahr würde nun beginnen. Wie so oft in den vergangenen Jahren, seit sie hier wohnte, betete sie für Matt. Da sah sie einen Delfin. Elegant sprang er aus dem Wasser und tauchte wieder in die Wellen ein. Seit dem Selbstmordversuch ihres Sohnes war es das erste Mal, dass sich wieder ein Delfin in dieser Bucht sehen ließ.
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