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Kapitel 12

Mit den Augen des Glaubens „Dem einen gelingt alles und er verliert dabei doch alles. Einem anderen begegnet nichts als Ungemach und Enttäuschung, und doch gewinnt er mehr, als die ganze Erde wert ist.“249 William Law Zum ersten Mal erfuhr ich durch das Buch, das der Anthropologe Ashley Montagu über ihn schrieb, vom Elefantenmenschen. Später sah ich ein Theaterstück über sein Leben mit David Bowie in der Hauptrolle, und ich sah auch den Film von David Lynch, der ihn berühmt gemacht hat. Der Elefantenmensch ist kein Produkt der Fantasie, sondern eine wirkliche Person namens John Merrick, der im 19. Jahrhundert in England lebte und 1890 mit 27 Jahren starb. Ich kenne nichts, das den Zusammenprall der Werte der beiden Welten besser veranschaulicht und das ewige Geheimnis des Menschseins eindrucksvoller beleuchtet als die Geschichte dieses Menschen. Montagu muss es ganz ähnlich ergangen sein, denn er schreibt zu Beginn seines Buches: „Was macht einen Menschen aus? Ein Herzschlag im ewigen Puls der Zeit? Ein Schrei, der im Augenblick der Geburt beginnt und mit dem Tod endet? Eine kurze und beschwerliche Reise in einem ungastlichen Land, wo es weder wirkliche Freude noch echte Liebe gibt, weder Frieden noch Gewissheit, noch Hilfe im Leiden? Oder ist es vielleicht doch mehr? Ich glaube, dieses Buch enthält den Versuch einer Antwort auf solche Fragen.“250 Der Elefantenmensch schien Montagu zutiefst verwirrt zu haben. Legt man die Prinzipien des Behaviorismus zugrunde, so müsste man annehmen, dass die Behandlung, die John Merrick in seiner Kindheit widerfuhr, einen Erwachsenen mit den Charakterzügen eines getretenen Hundes hervorbringen würde. Dies war jedoch nicht der Fall. Merrick war vielleicht der hässlichste Mensch, der je auf der 205


Erde gelebt hat.Von frühester Kindheit an war er von einer Krankheit mit dem Namen Neurofibromatose befallen, die ihn nach und nach monsterhaft entstellte. Im Alter von vier Jahren wurde er von seiner Mutter ausgesetzt und in ein Arbeitshaus gegeben. Als er 14 Jahre alt war, wurde er von einem Schausteller entdeckt, der die Chance witterte, aus der schrecklichen Gestalt des Jungen Profit zu schlagen. Gegen ein geringes Entgelt konnten Schaulustige in eine Ausstellungsbox hineintreten und ein menschliches Wesen begaffen, das so entstellt war, dass es, in einem bestimmten Winkel betrachtet, an einen Elefanten mit vorstehendem Rüssel und herabhängenden, ledrigen Hautfalten erinnerte. Eines Tages kam Frederick Treves, ein Chirurg, der in einem Londoner Krankenhaus arbeitete, nach Feierabend am Jahrmarktgelände vorbei, und sein Blick fiel auf das Werbeschild einer der Buden, auf dem eine Mischung aus Elefant und Mensch abgebildet war. Er gab dem Eigentümer der Bude einen Schilling und dieser ließ ihn eintreten. In der Bude erblickte er eine Kreatur, die sich vor einem Bunsenbrenner zusammengekauert hatte und nur vom fahlen blauen Licht der Flamme beleuchtet war. Die bucklige Gestalt, die sich in eine Decke eingehüllt hatte, sah wie der Inbegriff von Elend und Einsamkeit aus. „Steh auf!“, befahl der Schausteller in barschem Ton, so als würde er mit einem Hund reden. Die Gestalt erhob sich und ließ die Decke fallen. Treves erblickte, wie er später sagte, „den wohl scheußlichsten Anblick, den ich je bei einem Menschen gesehen hatte“. Treves beschreibt eingehend die Entstellungen des Elefantenmenschens: Aus seiner Augenbraue ragte eine knöcherne Masse hervor, seine Haut war schwammig aufgetrieben und hatte eine rissige Oberfläche, die an Brokkoli erinnerte. Sie hing in verwucherten Lappen seinen Rücken herunter. Der Kopf war deformiert und hatte etwa den Umfang der Hüfte eines erwachsenen Mannes. Der Mund war eine formlose Öffnung, aus der Speichel herauslief. Die Nase bestand aus einem herabhängenden Klumpen. Auf der Brust befand sich eine große Hauttasche, ähnlich der Wamme einer Eidechse. Der rechte Arm war doppelt so dick wie bei einem normalen Menschen, die Finger waren nutzlose Stümpfe. Aus einer seiner Achseln wucherten Hautlappen von der Größe eines Paddels. Seine deformierten Beine trugen ihn nur, wenn er sich auf einen Stuhl stützte. Der Hautpilz auf seinen zahllosen Gewebewucherungen gab einen widerlichen Gestank ab. 206


Der Ekel wich schon bald fachlicher Neugier, und Dr. Treves vereinbarte, dass er John Merrick, der seinerzeit gerade 21 Jahre alt war, in seiner Klinik gründlich untersuchen lassen würde. Wegen seines deformierten Mundes gab Merrick nur unverständliche Laute von sich, sodass Treves ihn als verblödet einstufte. Nachdem er eine Reihe von Fotos gemacht und seinen Zustand genauestens dokumentiert hatte, versuchte er nochmals vergeblich, mit ihm zu kommunizieren. Dann gab er ihm seine Visitenkarte und brachte ihn zurück in den Gewahrsam des Schaustellers. Am nächsten Tag gab es eine Polizeirazzia auf dem Jahrmarktgelände, und Treves vermutete, dass er den Elefantenmenschen nie wiedersehen würde. Zwei weitere Jahre lebte John Merrick als Ausgestoßener, hauste wie ein Zirkustier und wurde sensationsgierigen Jahrmarktbesuchern vorgeführt, die bei seinem Anblick Schreie des Entsetzens ausstießen. Als die belgischen Behörden den Wanderzirkus schließlich endgültig auflösten, strichen die Budeninhaber Merricks Anteil am Erlös ein und verfrachteten ihn zurück nach London. Während der Reise wurde er von Mitreisenden misshandelt. Sie hoben seinen Mantel hoch, um seinen grotesk missgestalteten Körper zu begaffen. Auf einem Bahnhof in London wurde er schließlich von Polizisten gerettet und in einen unbenutzten Warteraum gebracht, wo er in einer Ecke zusammensackte und unverständliche Worte vor sich hinmurmelte. Es gab für ihn nur einen Hoffnungsschimmer: die Visitenkarte von Dr. Frederick Treves, die er seit zwei Jahren in der Tasche mit sich herumtrug. Die Polizei setzte sich sofort mit Treves in Verbindung, der auch kam. Er fand Merrick, der winselnd in einer Ecke des Warteraumes zusammengekauert dasaß. Er brachte ihn auf die Isolierstation seines Krankenhauses. Seit seiner Abreise aus Belgien hatte Merrick nichts mehr gegessen und so bestellte Treves ein Essenstablett aus der Kantine. Die Krankenschwester, die ihm das Essen bringen sollte, war jedoch auf einen solchen Anblick nicht vorbereitet. Sie ließ das Tablett schreiend zu Boden fallen und flüchtete aus dem Zimmer. Merrick, für den solche Reaktionen zum Alltag gehörten, nahm kaum Notiz davon. Mit der Zeit gewöhnte sich das Krankenhauspersonal jedoch an den ungewöhnlichen Patienten. Tägliche Bäder sorgten dafür, dass der Gestank verschwand. Mit ein wenig Übung gelang es Treves sogar, Merrick zu verstehen, und er stellte mit Erstaunen fest, dass dieser keineswegs debil, sondern im Gegenteil sogar sehr intelligent war. Er verschlang Bücher, hatte die Bibel und das Gebetbuch 207


der anglikanischen Kirche gelesen, und er kannte Jane Austen und Shakespeare sehr gut. Treves schreibt: „Die Leiden, die er erdulden musste, hatten in ihm einen besonders edlen Charakter hervorgebracht. Er war ein überaus freundlicher, feinsinniger und liebenswerter Mensch […], der von jedermann gemocht wurde und niemals ein böses Wort über irgendjemanden sprach. Niemals habe ich ihn klagen gehört. Ich habe es niemals erlebt, dass er sein trauriges Los oder die schreckliche Behandlung, die ihm von anderen widerfahren war, zum Anlass genommen hätte, um sich zu bemitleiden. Sein Lebensweg war in der Tat ein unsäglicher Schmerzensweg gewesen. Er hatte es nie einfach gehabt, doch immer, wenn die Nacht am dunkelsten und der Weg am steinigsten war, fand sich irgendwo eine freundliche Herberge, in der er neuen Mut schöpfen konnte.“251 Treves war zutiefst verblüfft, dass ein Mensch, der seiner Kindheit beraubt, ausgebeutet und wie ein wildes Tier behandelt worden war und der praktisch keinerlei angenehme Erinnerungen besaß, überhaupt seelisch überleben und sogar eine so positive Persönlichkeit ausbilden konnte. Zunächst hatte Merrick in aller Bescheidenheit angefragt, ob es wohl möglich wäre, ihn in einem Blindenasyl unterzubringen. Er hatte davon gelesen, dass es solche Orte gäbe, und sehnte sich danach, an einem Ort zu leben, wo er in Gesellschaft von Menschen war, die ihn nicht anstarren konnten. Nach und nach gelang es Treves und dem Krankenhauspersonal jedoch, sein Vertrauen zu gewinnen, und so wurde ein Zimmer unter dem Dach des Krankenhauses zur dauernden Bleibe des Elefantenmenschen. Treves fasste den Entschluss, Merrick angenehme Erfahrungen zu ermöglichen, etwas, das dieser nie zuvor gehabt hatte. Merrick besaß nichts außer einem Gehstock, einem langen, schwarzen Mantel, der seinen deformierten Körper verbarg, und einem Bild seiner wunderhübschen Mutter. Er sprach voller Bewunderung von Frauen, obwohl ihm jede Frau, der er bislang begegnet war, mit Abscheu begegnet war. Treves konnte eine Bekannte, eine junge und gut aussehende Witwe, dafür gewinnen, Merricks Zimmer mit einem Lächeln zu betreten, ihm einen guten Morgen zu wünschen und ihm dabei die Hand zu geben – mit anderen Worten: ihn wie einen ganz normalen Menschen zu behandeln. „Die Wirkung auf den armen Merrick war ganz anders, als ich es erwartet hatte“, berichtet Treves. „Nachdem er ihr die Hand 208


gegeben hatte, beugte er seinen Kopf auf die Knie und schluchzte endlos lange, sodass ich schon dachte, er würde gar nicht mehr aufhören. […] Anschließend vertraute er mir an, dass dies die erste Frau gewesen sei, die ihn jemals angelächelt und ihm die Hand gegeben habe.Von diesem Augenblick an vollzog sich bei ihm eine allmähliche Veränderung. Er wurde von einem gejagten Tier zu einem Menschen.“252 Die junge Witwe sollte freilich nicht die einzige Frau bleiben, die seine Hand schüttelte. Als die Kunde vom Schicksal des Elefantenmenschen sich verbreitete, kamen berühmte Persönlichkeiten, Schauspielerinnen und sogar die Prinzessin von Wales, die schon bald zur Königin Alexandra gekrönt wurde, im Krankenhaus vorbei, um ihm einen Besuch abzustatten. Der Kaplan des Krankenhauses freundete sich mit ihm an und feierte das Abendmahl mit ihm. Treves machte es möglich, dass Merrick gelegentlich diskret in Privatlogen Londoner Theater geschmuggelt wurde, wo er seine ersten Bühnenstücke sehen konnte. Es gelang Treves auch, ein Gästehaus auf dem Land zu finden, und so konnte Merrick, weit abseits der neugierigen Augen von Schaulustigen, in einer ganz neuen Weise Bekanntschaft mit der Welt der Natur machen. Er hörte den Gesang der Vögel, scheuchte Kaninchen auf, schloss Freundschaft mit einem Hund und schaute den Forellen zu, die in einem Bach sprangen. Er pflückte wilde Blumen und brachte einzelne davon mit, um sie Treves zu zeigen. Jede neue Erfahrung erfüllte ihn mit kindlichem Staunen. „Ich genieße jede Stunde des Tages“, sagte er nur immer wieder. Mit der linken Hand, die einzige Hand, die er wirklich gebrauchen konnte, begann Merrick, Modelle von Gebäuden zu bauen, indem er sorgsam ausgewählte Stücke von buntem Papier und Pappe zusammenklebte. Die fertigen Modelle verschenkte er an Berühmtheiten, die ihn besuchten, oder an das Krankenhauspersonal. Von seinem Zimmer aus konnte er eine Ecke der St.-PhilipKirche sehen. Außerdem sah er den Neubau der Krankenhauskapelle, der hinter dem Krankenhaus entstand. Diese beiden Gebäude verwendete er als Vorbilder für ein eindrucksvolles Modell einer Kathedrale, wobei er Stein für Stein und Kachel für Kachel aus Pappe exakt nachbildete. Die neue Kirche, die vor seinem Fenster entstand, nannte er „ein Abbild der Gnade, die aus dem Schlamm zum Himmel fliegt“, und sein eigenes Modell „mein Abbild des Abbildes“.253 Nach vier glücklichen Jahren, den einzigen glücklichen Jahren, 209


die er in seinem Leben gekannt hatte, starb Merrick im Schlaf. Sein riesiger, schwerer Kopf war im Schlaf auf dem Kissen nach hinten gerutscht. Dabei brach seine Halswirbelsäule und er erstickte. Das Krankenhaus fertigte Gipsabdrücke seines Körpers an, um seine seltene Erkrankung zu dokumentieren. Einige davon können noch heute in einem Londoner Museum besichtigt werden, ebenso wie das Modell der Kathedrale, jenes „Abbilds der Gnade, die aus dem Schlamm zum Himmel fliegt“. Wie könnte man das Leben von John Merrick wohl treffender in wenigen Worten zusammenfassen? Ich habe die bekannte Geschichte des Elefantenmenschen an dieser Stelle erzählt, weil ich der Meinung bin, dass sie uns – Christen wie Materialisten gleichermaßen – mit einer Reihe von sehr kritischen Fragen konfrontiert. Wenn man davon ausgeht, dass die sichtbare Welt die einzige Wirklichkeit ist, dann stellt sich unweigerlich die Frage, ob ein Leben wie das des Elefantenmenschens überhaupt lebenswert ist. Friedrich Nietzsche warf dem Christentum vor, es würde immer auf Seiten derer stehen, die schwach und lebensuntüchtig seien. Eine Religion des Mitleids, so meinte er, widerspräche den Prinzipien der Evolution mit ihren natürlichen Mechanismen von Selektion und Auslese. In Nietzsches eindimensionaler Welt war kein Platz für den Elefantenmenschen; er war wertlos und hatte keinerlei Daseinsberechtigung. Warum sollte man ein solches Monstrum würdigen? Besser wäre es, einen solchen Defekt im Genpool schnellstmöglich zu eliminieren. Das Naziregime führte Nietzsches Gedanken zu ihrer logischen Konsequenz, indem es Menschen mit geistigen oder schweren körperlichen Behinderungen systematisch ausrottete.254 Die eiskalte Logik der Philosophie Nietzsches ist auch heute noch nicht aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verschwunden. Anfang 2003 veröffentlichte das New York Times Magazine einen Artikel von Harriet McBryde Johnson, einer Anwältin, die an einer degenerativen Muskelerkrankung leidet.255 Sie kann kaum aufrecht sitzen, macht unkoordinierte Bewegungen, kann sich nur mit größter Mühe Essen zum Mund führen und ist zur Fortbewegung auf einen batteriegetriebenen Rollstuhl angewiesen. In ihrem Beitrag berichtet sie über ihre Begegnung mit Peter Singer, dem bekannten Ethikprofessor von der Princeton-Universität, der bei vielen als der einflussreichste Philosoph unserer Zeit gilt. 210


Johnson trat alsVertreterin einer Interessengruppe für Behinderte mit dem Namen Not Dead Yet („Noch nicht tot“) in einer öffentlichen Debatte gegen Professor Singer an, der die Forderung erhebt, Eltern sollten das Recht haben, ihre behinderten Kinder zu töten, um dann gesunden Nachwuchs zu bekommen, der größere Aussichten hat, ein glückliches Leben zu führen. Bevor sie sich auf die Konfrontation einließ, musste sie immer wieder darüber nachdenken, in welch einer verrückten Zeit wir leben, in der „ich gezwungen bin, mein eigenes Recht auf Leben zu verteidigen“. Als Atheist sieht Singer die Situation von der Warte der Naturgesetze und einer utilitaristischen Philosophie aus, der es um die Nützlichkeit eines Menschen bzw. einer Sache geht. Johnson, die ebenfalls Atheistin ist, ringt um Argumente, um ihr Recht auf Leben zu verteidigen, ein Leben, das Singer als „minderwertig“ abqualifiziert. Johnsons Artikel – im Grunde die ganze Geschichte ihres Lebens – ist ein leidenschaftliches, geistreiches und sehr überzeugendes Plädoyer für das Lebensrecht der Schwachen und gegen das Faustrecht der Stärkeren. An einer Stelle stellt sie sich die Frage: „Bin ich am Ende doch gläubig geworden?“ Für uns Christen stellen Menschen wie Harriet Johnson oder der Elefantenmensch eine Herausforderung ganz anderer Art dar. Ihre Existenzberechtigung als Menschen, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, steht für uns nicht zur Debatte. Dennoch stellt sich die Frage, ob wir diejenigen, die sich in der Welt der Stärksten nicht durchzusetzen können, so sehen können, wie Gott sie sieht. „Gib uns die Augen eines Schwachen, um die wertlosen Dinge wertschätzen zu können“, betete der Philosoph Sören Kierkegaard, „denn dies ist Not in einer Welt, die Wissen und Können so hoch bewertet.“256 In gewisser Weise hatte Nietzsche Recht: Die Anhänger Jesu Christi sind in der Tat dazu aufgerufen, das erbarmungslose Prinzip des evolutionären Überlebenskampfes zu hinterfragen. Der Elefantenmensch ist ein Extrembeispiel für den tiefen Graben, der sich von jeher zwischen Gewinnern und Verlierern auftut. Schon immer standen den Schönen Möglichkeiten offen, die den Hässlichen verwehrt blieben; schon immer haben die Starken über die Schwachen geherrscht; schon immer hat eine kleine Zahl von Reichen auf Kosten der Armen gelebt. Das Reich Gottes tritt diesen Miss-Ständen entgegen. Als biologische Wesen sind wir Teil des Ökosystems dieses Planeten, einer Welt, in der Tiere ihr prachtvolles Äußeres zur Schau 211


stellen, um einen Partner zu finden, Konkurrenten zu verdrängen, die ihnen ihre Nahrung streitig machen, und die Kranken und Lahmen zurückzulassen, die der Herde zur Last fallen. Doch als Menschen sind wir dazu bestimmt, über die biologischen Instinkte hinauszuwachsen und hinter die äußere Erscheinung zu blicken, um im anderen das Abbild Gottes zu erkennen. Wir sind dazu bestimmt, den Schwachen und Unattraktiven mit Wertschätzung zu begegnen, nicht mit Verachtung.257 Schließlich hat sich Gottes Sohn höchstpersönlich an ihre Seite gestellt. Jesus war der erste Weltherrscher, der ein Reich geschaffen hat, in dem Versager zu Helden werden. Er predigte zu Menschen, die mit Epen über reiche Patriarchen, mächtige Könige und starke Helden aufgewachsen waren. Wie erstaunt müssen sie gewesen sein, als er stattdessen immer wieder jenen besondere Ehre einräumte, die vor der sichtbaren Welt keinen besonderen Wert besitzen: Arme und Sanftmütige, Verfolgte und Trauernde, sozial Ausgestoßene, Hungrige und Durstige. In seinen Geschichten waren es immer wieder „die Falschen“, die zu Helden wurden: nicht der verantwortungsbewusste Sohn, der zu Hause blieb, sondern der verlorene Sohn; nicht der ehrenwerte Jude, sondern der Samariter; nicht der Reiche, sondern der arme Lazarus; nicht der Pharisäer, sondern der Zöllner. Der bekannte britische Prediger Charles Spurgeon, ein Zeitgenosse von John Merrick, drückte es folgendermaßen aus: „Seine Herrlichkeit zeigt sich darin, dass er seine Herrlichkeit beiseite legte, und die Herrlichkeit der Gemeinde zeigt sich darin, dass sie es sich zur Ehre gereichen lässt, die Ausgestoßenen um sich zu sammeln.“258 Ganz in diesem Sinne äußert sich auch Paulus, als er die typische Anhängerschaft des Reiches Gottes charakterisiert: „Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme.“ Den Weisen, den Einflussreichen, denen aus gutem Hause, bietet die äußere Welt viel zu viele Möglichkeiten; sie ist ihr Milieu. „Sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten, damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott.“259 Die wenigen Notizen, die John Merrick hinterlassen hat, zeigen, dass er sein Zuhause in einem Glauben fand, der den Ausgestoßenen Würde gibt. Gott selbst sagte zum Propheten Samuel: „Gott 212


sieht […] nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“260 Jeder, der dem Elefantenmenschen begegnete, war zutiefst davon berührt, wie in einer derart entstellten Gestalt ein so zartes und reines Herz wohnen konnte. Unsere heutige Welt ist eine Welt der Bilder, des Vordergründigen und Äußerlichen. Wo immer wir hinschauen, fesselt etwas unsere Augen – Plakate, Fernsehbilder, Internetseiten und nun sogar die Displays auf Mobiltelefonen. (Viele Menschen, die zum ersten Mal in die USA reisen, sind erstaunt darüber, wie vielen übergewichtigen und unattraktiven Personen man hier auf der Straße begegnet. Die Amerikaner, die man im Fernsehen zu sehen bekommt, sind immer gut aussehend, haben eine Topfigur, reine Haut, schicke Frisuren und makellose Zähne.) So kommt es, dass wir unser Urteil, wie nie zuvor, auf Äußerlichkeiten gründen. Behinderte Menschen berichten immer wieder darüber, dass andere ihnen mit Scham, Unfreundlichkeit, Abscheu, mitunter sogar Wut entgegenkommen. Sie erleben in abgeschwächter Form, womit der Elefantenmensch ohne Unterlass konfrontiert war. Ein Buch mit dem Titel The Body Project zeigt auf, wie sehr unsere Zeit auf den Körper und auf Äußerlichkeiten fixiert ist, indem es Tagebuchaufzeichnungen von Mädchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit denen von heutigen Mädchen vergleicht. Eine typische Eintragung aus dem Jahre 1890 lautete wie folgt: „Ich nahm mir vor, nachzudenken, bevor ich etwas sage, ernsthafter zu arbeiten, in Gesprächen und Handlungen Selbstkontrolle zu üben, meine Gedanken nicht umherwandern zu lassen, ehrbar zu sein und anderen mehr Aufmerksamkeit zu widmen als mir selbst.“ Eine Altersgenossin aus dem Jahre 1990 schrieb dagegen: „Ich will versuchen, so gut wie irgend möglich, an mir zu arbeiten … Ich werde abnehmen und mir neue Kontaktlinsen besorgen. Eine neue Frisur, gutes Make-up, Kleidung und Accessoires habe ich ja schon.“261 Unsere Gesellschaft propagiert vor allem jugendliches Aussehen – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass unsere Zeitgenossen zutiefst darüber verunsichert sind, ob sie an ein Leben nach dem Tod glauben können. Jung zu sein, ist angesichts einer ungewissen Zukunft die einzige Sicherheit. So kommt es auch, dass alles, was die Illusion der ewigen Jugend nährt, Hochkonjunktur hat, von Vitaminpräparaten über Diäten bis hin zu Hometrainern. Jedes 213


Anzeichen des Älterwerdens konfrontiert uns dagegen mit der Realität unserer Vergänglichkeit, und so gibt es immer neue Mittel gegen Haarausfall, gegen Impotenz und gegen Falten, kosmetische Operationen und verschiedenste andere Mittel, um das Alter zu vertuschen. Ein Blick auf einen durchschnittlichen Zeitschriftenstand macht deutlich, welchen Werten unsere Zeit huldigt. Egal, ob wir einen Blick in die Cosmopolitan, Shape und Swimsuit oder in pornografisch angehauchte Titel wie FHM oder Maxim schauen: Alles dreht sich um die äußere Erscheinung. Zeitschriften wie Fortune, Money, Travel, Leisure und zahllose weitere verkünden die Vorzüge von Wohlstand und Erfolg. Auf der Auslage, die uns zu Impulskäufen einladen soll, erkennen wir auf einen Blick, was in unserer Gesellschaft zählt: üppige Brüste bei Frauen, muskulöse Oberkörper bei Männern, Ernährung und Kleidung, sportliche Autos und aktuelle Unterhaltungselektronik. Ich will keinen Hehl daraus machen, dass auch ich einige dieser Zeitschriften lese, die meine Interessen abdecken. Ich suche nach Ernährungstipps, Reiseideen und Zeitschriften, die mich über die Entwicklung im Bereich der Computertechnik auf dem Laufenden halten. Ich betreibe einige Sportarten und trainiere eisern dreimal pro Woche. Ich befinde mich in einem Spannungsfeld: Einerseits versuche ich, das Gute zu genießen, das auf dieser Erde im Übermaß zu finden ist, andererseits will ich nicht aus den Augen verlieren, dass es auf dieser Welt ebenso viel Ungerechtigkeit und Benachteiligung gibt. Wie kann ich die Leistungen eines Spitzenathleten wie Lance Armstrong ebenso anerkennen wie die eines John Merrick? Die Lösung, die ich für mich gefunden habe, besteht darin, dass ich mich selbst als „amphibisches Lebewesen“ begreife, das in zwei verschiedenen Lebensräumen gleichermaßen zu Hause ist: in der geistlichen Welt ebenso wie in der Welt der Äußerlichkeiten. In der einen Welt atme ich ein und aus, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen. In der anderen dagegen muss ich mir immer wieder vor Augen halten, worum es im Leben wirklich geht. Ich brauche mich nicht sonderlich anzustrengen, um ein betörend attraktives Musterexemplar der Gattung Mensch oder den neuen Sportwagen meines Nachbarn zu bewundern. Dagegen muss ich immer wieder eine ganz bewusste Anstrengung machen, um den Obdachlosen an der Straßenecke mit seinem handgemalten Schild und der Mundharmonika oder die allein erziehende Mutter mit 214


dem behinderten Kind ein paar Häuser weiter nicht aus den Augen zu verlieren. Diejenigen, die lediglich an die sichtbare Welt glauben, kennen nur eine Teststrecke, auf der sie ihren Wert erkämpfen müssen, und so huldigen sie der Schönheit, dem beruflichen Erfolg, dem materiellen Wohlstand und der überragenden Begabung – wir sehen es jeden Tag am Zeitungsstand.Wer sich nach den Maßstäben unserer Zeit hervortut, wird reichlich belohnt und gefeiert. Wenn ich jedoch davon überzeugt bin, dass es neben der sichtbaren Welt noch eine andere gibt, dann werde ich zwangsläufig mit anderen Maßstäben messen. Die Leistungen eines Spitzenathleten, die ebenmäßigen Gesichtszüge eines Fotomodells, das Talent eines Hochbegabten – all das werde ich mit Respekt und Dankbarkeit annehmen, als ein Geschenk Gottes an uns. Schließlich ist Gott der Ursprung und Erhalter aller guten und vollkommenen Gaben auf dieser Erde. Zugleich bete ich jedoch, dass meine Augen auch für jene andere Art von Schönheit geöffnet werden, die sich unter der Oberfläche verbirgt und die zum Beispiel in der Reinheit des Herzens eines Elefantenmenschen zutage tritt. Schließlich sind es ja oft gerade diejenigen, denen jeglicher Erfolg in der sichtbaren Welt verwehrt bleibt, die im Reich Gottes ganz oben stehen. Allzu oft überstrahlt jedoch der Glanz der sichtbaren Welt den der jenseitigen. Drei Jahrhunderte nach Christus, als die Kirche sich bereits im ganzen Römischen Reich ausgebreitet hatte, klagte Bischof Johannes Chrysostomus: „Wir bestaunen den Reichtum ebenso wie sie [die Nichtchristen], ja sogar noch mehr. Wir haben dieselbe Angst vor dem Tod, dieselbe Abscheu gegen die Armut, dieselbe Ungeduld in Krankheit. Wir sind ebenso auf Ruhm und Einfluss bedacht […]. Wie also sollten sie zum Glauben finden?“262 Ich muss mir immer wieder ganz bewusst den Rat des Apostels Paulus vor Augen halten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren: „Richtet euren Sinn auf das Himmlische und nicht auf das Irdische!“263 Dies sagte er im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass unsere Sinne unweigerlich immer wieder mit irdischen Dingen angefüllt sind. Als Erdlinge kommen wir einfach nicht um diese Wirklichkeit herum; sie ist unser Lebensraum, und wir absorbieren die Werte der Kultur, in der wir leben, ebenso, wie wir die Luft atmen, die uns umgibt. Es gibt hier freilich auch gewisse Ausnahmen, wenn die Wahrheit einfach zu offensichtlich durchscheint.Wenn ich die Titelseiten der meisten Zeitschriften betrachte, dann stelle ich fest, dass die Werte, 215


die sie vermitteln, sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: Nettoeinkommen, Figur, Muskelkraft, Schönheit, Besitz – all dies sind vergängliche Dinge. Ich habe schon an einer stattlichen Zahl von Beerdigungen teilgenommen. Dabei habe ich nicht ein einziges Mal erlebt, dass Angehörige oder Freunde sich in ihren Gedenkansprachen lobend über das dicke Bankkonto des Verstorbenen, über seine gute Figur oder über seine Stereoanlage ausgelassen hätten. Es ist vielmehr von Eigenschaften wie Güte, Großzügigkeit und der Liebe zur Familie die Rede – wenn dabei auch zuweilen ein bisschen Schönfärberei betrieben wird. Insgesamt bekommt man den Eindruck, dass am Ende nur Qualitäten wie diese wirklich zählen. Wenn es nur nach uns selbst geht, neigen wir Menschen häufig dazu, unser Urteil auf der Grundlage von Äußerlichkeiten zu fällen: Aussehen, Hautfarbe, Einkommen. Jesus kam in unsere Welt – er ist „vom Himmel herabgekommen“264 –, um ein Reich zu gründen, das auf bleibenden Werten gegründet ist. Die Dinge, die wir immer erst dann zu betonen pflegen, wenn es schon zu spät ist – gewöhnlich auf Beerdigungen –, sind bei Jesus der Ausgangspunkt. Aus dem Blickwinkel der sichtbaren Welt betrachtet, ist das Lebensmodell Jesu vollkommen sinnlos. Wir haben gelernt, hoch hinaus zu streben, uns gegen andere durchzusetzen, auf die Einhaltung von Regeln der Fairness zu pochen, uns zu schützen, auf Nummer sicher zu gehen, uns eine solide Basis zu schaffen – lauter reflexhafte Grundhaltungen des Menschseins, die der Bergpredigt völlig widersprechen. Das Reich des Himmels entwirft nach den Maßstäben Jesu ein vollkommen neues Modell des Lebens in dieser Welt – ein Modell, das beide Wirklichkeiten berücksichtigt. Seine Worte klingen in unseren Ohren überaus fremdartig, weil unsere Perspektive eben durch die 60 oder 70 Jahre geprägt ist, die wir auf diesem Planeten aus Bäumen, Erde und Steinen leben. Jesus brachte uns eine neue Denkweise, indem er unseren Blick auf die Ewigkeit erweiterte, die unsichtbare Realitäten einschließt, die unseren menschlichen Sinnen verborgen bleiben. Er kam, um eine neue Art des Zusammenlebens zu eröffnen, das sich auf Werte gründet, die in dieser unsichtbaren Welt verankert sind – eben „wie im Himmel, so auf Erden“. So gesehen verordnet uns das himmlische Reich einen Lebensstil, der die Dinge fördert, die wirklich Bedeutung und auf Dauer Bestand haben. 216


„Also schätzen wir von nun an niemanden mehr nur nach menschlichen Maßstäben ein“,265 schrieb Paulus den Korinthern. Schließlich schreibt er, Gott habe denen, die Jesus nachfolgen, nunmehr die Botschaft der Versöhnung mit Gott anvertraut, und fügt noch einen bemerkenswerten Satz hinzu: „Gott ist es, der durch uns mahnt.“266 Ich schaudere bei der Vorstellung, dass Gott tatsächlich eine so ungeheuerliche Aufgabe einer Gattung anvertraut, die bekannter maßen dazu neigt, ganz klar zu trennen zwischen schön und hässlich, reich und arm, hell- und dunkelhäutig, männlich und weiblich, stark und schwach. Wenn wir diesen Auftrag Gottes wirklich ernst nehmen wollen, dann bedeutet dies, dass wir lernen müssen, unsere Maßstäbe buchstäblich auf den Kopf zu stellen und die Welt mit den Augen Jesu zu betrachten. Anstatt uns vorzugsweise mit solchen Menschen abzugeben, die unserem Ego schmeicheln, suchen wir nun unsererseits Menschen, die wir aufbauen können; anstatt mich mit wichtigen Leuten abzugeben, die mir nützen können, suche ich nun nach Menschen, denen ich nützen kann; statt den Starken suche ich nunmehr die Schwachen; statt der Gesunden die Kranken. Ist dies nicht die Art und Weise, wie Gott die Welt mit sich selbst versöhnt? Hat Jesus nicht betont, dass er gerade nicht für die Gerechten gekommen ist, sondern für die Sünder, und dass er nicht für die Gesunden gekommen ist, sondern für die Kranken? Dies ist der entscheidende Schritt, um die Spannung auszuräumen, die zwischen den gegensätzlichen Werten der beiden Welten herrscht. Wir investieren Gottes Gaben in der sichtbaren Welt am besten, indem wir sie im Dienst für andere weggeben, die weniger haben als wir. Dabei lernen wir, wie Henri Nouwen von seiner Erfahrung in einem Slum in Südamerika berichtet, „in jedem Menschen, der uns begegnet, die Stimme, das Gesicht und die Gegenwart des Herrn zu erkennen“.267 Wir merken, dass Gott durch diese Menschen ebenso zu uns spricht, wie er durch uns zu ihnen spricht. Dr. Frederick Treves entdeckte, dass hinter dem schrecklich entstellten Äußeren des Elefantenmenschen ein Schatz verborgen war. Hier seine abschließenden Worte über den Patienten, der ihm zum Freund wurde: „Als Vertreter der Gattung Mensch war Merrick widerlich und abstoßend, sein Geist jedoch, hätte man ihn sehen können, wäre zweifellos eine Heldenfigur, mit strahlendem Blick, ebenmäßigen Zügen und von edler Gestalt.“268 Jean Vanier, der Gründer der Arche-Gemeinschaft, die Heime 217


für geistig Behinderte betreibt, berichtet, dass man ihn oft für verrückt hält. Der hoch gebildete Sohn eines ehemaligen Generalgouver neurs von Kanada sammelt qualifizierte Mitarbeiter um sich (Henri Nouwen war einer von ihnen), um Menschen zu dienen und mit ihnen zusammenzuleben, deren IQ im niedrigen zweistelligen Bereich rangiert. Denjenigen, die den Sinn und Zweck seiner Entscheidung hinterfragen, hält er entgegen, dass er lieber der Torheit des Evangeliums folgt als dem Wahnsinn des Wertesystems dieser Welt. Ferner betont Vanier immer wieder, dass diejenigen, die der entstellten und gebrochenen Kreatur dienen, selbst ebenso viel empfangen wie diejenigen, denen sie helfen. Selbst Menschen mit allerschwersten Behinderungen reagieren instinktiv auf Zuwendung und Liebe, und so bringen sie in ihren Helfern Qualitäten hervor, die wichtiger sind als alles andere: Barmherzigkeit, Großzügigkeit, Demut und Liebe. Auf diese Weise geben sie paradoxerweise ebenso viel, wie sie empfangen.269 In Indien hatte ich die Gelegenheit, mit Leprakranken zusammen Gottesdienst zu feiern, die körperlich so entstellt sind, dass sie beim Betrachter ähnliche Reaktionen auslösen, wie John Mer rick es tat. Die bedeutendsten Fortschritte in der Behandlung Leprakranker gehen auf das Konto von Missionsärzten, die allein dazu bereit waren, sich solchen Patienten auszusetzen, um diese gefürchtete Erkrankung zu studieren. Infolgedessen gibt es in den meisten Leprazentren sehr dynamische christliche Gemeinden. In Myanmar, dem früheren Burma, habe ich Heime für AIDSWaisen besucht, in denen freiwillige christliche Helfer versuchen, den Kindern die elterliche Liebe zu ersetzen, die ihnen durch die Krankheit geraubt wurde. In Jean Vaniers Zentrum in Toronto habe ich gesehen, wie ein hoch gebildeter Priester jeden Tag hingebungsvoll einen Mann mittleren Alters pflegt, der so stark geistig behindert ist, dass er nicht in der Lage ist, auch nur ein Wort zu sprechen. Die vielleicht ergreifendsten Gottesdienste habe ich in staatlichen Gefängnissen in Chile und Peru erlebt. Die Niedrigen, Elenden, Ausgestoßenen und Unterdrückten sind es, unter denen das Reich Gottes am nachhaltigsten Wurzeln schlägt. Jesse Jackson erzählte einmal von einem Besuch in einer Universität im Süden von Mississippi. Als er mit dem Universitätspräsidenten zusammen über den Campus ging, fiel sein Blick auf einen fast zwei Meter großen Studenten, der ein kleines, zwergwüchsiges Mädchen an der Hand hielt, das kaum halb so groß war wie er. Der Anblick weckte seine Neugier und er blieb stehen. Der junge 218


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