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Einleitung ch nahm mein klingelndes Telefon bei der Chicago Tribune ab und wurde von der schluchzenden, sich überschlagenden Stimme eines panischen Vaters überfallen. Seine 19-jährige Tochter würde vermisst, stammelte er. Sie sei ein gutes Mädchen, mache nie irgendwelchen Ärger, nicht viel mehr als ein unschuldiges Kind – und jetzt war sie verschwunden. Die Polizei sei nicht sehr hilfreich. Ob ich nicht die Behörden auf ihr Verschwinden aufmerksam machen könne? Von seiner Verzweiflung bewegt, begann ich zu recherchieren. Doch als ich die Freunde seiner Tochter und die Polizei befragte, zeichnete sich ein ganz anderes Bild ab, als das, was er mir dargestellt hatte. Tragischerweise stellte sich heraus, dass das Mädchen drogenabhängig war, eine Kleinkriminelle, die Geliebte eines Gangmitglieds und eine Gelegenheitsprostituierte. Als einige Tage später ihre Leiche gefunden wurde, ergab die Obduktion, dass sie das Opfer einer Überdosis Heroin geworden war. Ich hatte nicht den Mut, dem Vater all die Details zu erzählen, die ich über das Mädchen herausgefunden hatte. Er glaubte wirklich, dass sie noch ein unschuldiges Kind gewesen sei – und da täuschte er sich gewaltig. Die Liebe zu seiner Tochter hatte ihn blind gemacht. Er hatte in ihr gesehen, was er sehen wollte, und die offensichtlichen Hinweise übersehen, die in eine ganz andere Richtung deuteten. Für diese Art von Wunschdenken konnte ich ihn kaum anklagen, schließlich bin ich selbst Familienvater. Für mich – damals überzeugter Atheist – war dies eine passende Analogie zur Denkweise der Christen. Aus meiner Perspektive betrachtet, machte ihr Glaube sie blind für die tatsächlichen Fakten über das Leben von Jesus. Sie

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sahen nur das in ihm, was sie sehen wollten. Dabei war er sicherlich nur eine Legende oder bestenfalls ein ungewöhnlicher, aber normal sterblicher Mensch gewesen. In ihrer naiven Beeindruckbarkeit glaubten diese Christen doch wirklich, er sei von den Toten auferstanden und dies sei ein Beweis dafür, dass er der Sohn Gottes war. Doch für mich gab es keinen Zweifel daran, dass sie da gewaltig schief lagen. Das mussten sie einfach! Als Reporter hatte ich eine Menge Toter gesehen – und keiner von denen war jemals wieder lebendig geworden! Die Christen konnten nette Geschichten über ein leeres Grab erfinden, aber sie konnten niemals die harte, absolute Endgültigkeit des Todes verändern. Dann geschah das Undenkbare – meine Frau kam zum Glauben. Ich erwartete das Schlimmste, doch in den folgenden Monaten erlebte ich erstaunliche Veränderungen in ihrem Charakter und ihren Werten. Als sie all diese (positiven!) Veränderungen Gott zuschrieb, fand ich, es sei an der Zeit, meine journalistischen Fähigkeiten und mein juristisches Wissen zu verwenden, um eine ernsthafte Untersuchung dieses Christentums anzustrengen. Vielleicht konnte ich sie aus den Fängen dieser Sekte befreien! Der Ausgangspunkt schien mir ganz klar zu sein: Die Auferstehung war eindeutig der Dreh- und Angelpunkt des christlichen Glaubens. Schließlich könnte jeder einfach die Behauptung aufstellen, er sei der Sohn Gottes. Doch wenn jemand diese Behauptung dadurch untermauerte, dass er ins Leben zurückkehrte, nachdem er offiziell für tot erklärt und begraben worden war – nun, das wäre schon eine überzeugende Absicherung. Selbst für einen Skeptiker wie mich. Als ich mit meiner Untersuchung begann, standen drei Fragen im Vordergrund: War Jesus nach seiner Kreuzigung wirklich tot? War sein Grab am Ostermorgen tatsächlich leer? Und begegnete er danach wirklich vielen 8

glaubwürdigen Menschen? Ich beschloss, diese drei Sachverhalte der Reihe nach abzuarbeiten und mit den medizinischen Beweisen für Jesu tatsächliches Ableben anzufangen. Wenn diese Fragen Sie auch schon einmal interessiert haben, dann folgen Sie mir doch auf den nächsten Seiten, während ich mich auf die Reise begebe, die schließlich meinen geistlichen Zynismus bis in die Grundfesten erschüttern sollte …

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Kapitel 1

Der medizinische Beweis War der Tod Jesu eine Täuschung und seine Auferstehung ein Trick?

ch las das Plakat im Wartezimmer des Arztes: »Lassen Sie die Gespräche verstummen. Lassen Sie das Lachen fliehen. Dies ist der Ort, an dem der Tod den Lebenden hilft.« Das war offensichtlich kein normaler Arzt. Ich befand mich im Büro von Dr. Robert Stein, einem der besten forensischen Pathologen der Welt, einem extravaganten medizinischen Detektiv, der mich ab und zu mit Geschichten über unerwartete Funde ergötzte, die er beim Sezieren von Leichen machte. Für ihn erzählten tote Menschen Geschichten, und zwar Geschichten, die den Lebenden oft Recht verschafften. Während seiner Tätigkeit als medizinischer Gutachter in Cook County/Illinois nahm Stein über 20 000 Autopsien vor, bei denen er sehr sorgfältig nach Hinweisen suchen musste, die auf die Todesursache des Opfers schließen ließen. Immer wieder halfen ihm sein scharfes Auge für Details, sein enzyklopädisches Wissen über die menschliche Anatomie und sein unheimlicher Spürsinn dabei, den gewaltsamen Tod des Opfers zu rekonstruieren. Manchmal wurden unschuldige Menschen auf Grund seiner Erkenntnisse rehabilitiert. Aber viel öfter war die Arbeit Steins der letzte »Nagel am Sarg« des Angeklagten. So etwa im Fall von John Wayne Gacy, der zum Tode verurteilt wurde, nachdem Stein mit dazu beigetragen hatte, ihn 38 grausamer Morde zu überführen. So entscheidend können medizinische Beweise also

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sein. Sie können bestimmen, ob ein Kind an Misshandlungen oder auf Grund eines Unfalls starb. Sie können offenbaren, ob ein Mensch eines natürlichen Todes starb oder von jemandem ermordet wurde, der Arsen in den Kaffee des Opfers geschüttet hat. Sie können das Alibi eines Verdächtigen bestätigen oder widerlegen, indem sie mit einer ungeheuer komplizierten Methode die genaue Todeszeit des Opfers festlegen. Und sogar im Fall einer Person, die vor 2 000 Jahren an einem römischen Kreuz den Tod fand, können medizinische Beweise einen wichtigen Beitrag leisten: Sie können das hartnäckigste Argument derer widerlegen, die behaupten, dass die Auferstehung Jesu – die wichtigste Rechtfertigung für seine Behauptung, Gott zu sein – nur ein ausgefeilter Trick war. Da Stein mir die Bedeutung von forensischen Schlüssen deutlich gemacht hatte, wusste ich, dass es Zeit war, einen medizinischen Fachmann aufzusuchen, der die historischen Fakten der Kreuzigung gründlich unter die Lupe genommen hatte und dem es gelungen war, die Wahrheit vom Mythos zu trennen.

Auferstehung oder Wiederbelebung? Der Gedanke, dass Jesus am Kreuz nicht wirklich gestorben ist, findet sich schon im Koran1, der im 7. Jahrhundert verfasst wurde. Moslems gehen davon aus, dass Jesus nach Indien floh. Bis heute findet sich an seinem vermeintlichen Grab in Srinagar (Kaschmir) ein Schrein.2 Im 19. Jahrhundert versuchten Karl Bahrdt, Karl Venturi und andere Wissenschaftler, die Auferstehung dadurch zu erklären, dass Jesus am Kreuz vor Erschöpfung in Ohnmacht fiel oder Drogen bekommen hatte, die ihn scheinbar sterben ließen. Später hatte ihn dann die kühle, feuchte Luft im Grab wieder belebt.3 Anhänger der Verschwörungstheorie untermauerten diese Hypothese, indem sie darauf hinwiesen, dass man 12

Jesus am Kreuz Flüssigkeit eingeflößt hatte (vgl. Markus 15,36) und dass Pilatus darüber erstaunt war, wie schnell Jesus starb (vgl. Markus 15,44). Deswegen kommen sie zu dem Schluss, dass das Wiederauftauchen Jesu keine wundersame Auferstehung, sondern vielmehr eine zufällige Wiederbelebung war. Und das Grab war folglich leer, weil Jesus weiterlebte. Auch wenn seriöse Wissenschaftler diese so genannte »Ohnmachtstheorie« wiederholt ablehnten, taucht sie immer wieder in der Literatur auf. 1929 verarbeitete D. H. Lawrence dieses Thema in einer Kurzgeschichte, in der er mutmaßte, dass Jesus nach Ägypten geflohen sei und sich dort in die Priesterin Isis verliebt hatte.4 Hugh Schonfields stellte in seinem 1965 erschienenen Bestseller The Passover Plot die Behauptung auf, dass nur die Tatsache, dass ein römischer Soldat unerwarteterweise Jesus sein Schwert in die Seite stieß, Jesu komplizierten Plan zunichte machte, das Kreuz lebend zu verlassen. An anderer Stelle gesteht Schonfield aber zu: »Wir behaupten nicht […], dass [dieses Buch] die tatsächlichen Geschehnisse darstellt.«5 Die Ohnmachtstheorie taucht erneut 1972 in Donovan Joyces Buch The Jesus Scroll auf, das »eine noch unglaublichere Kette unwahrscheinlicher Ereignisse enthält als das Buch Schonfields«, schreibt Auferstehungsexperte Gary Habermas.6 Das 1982 erschienene Buch Holy Blood, Holy Grail fügt noch die Wendung hinzu, dass Pilatus bestochen wurde, damit er gestattete, dass Jesus noch lebend vom Kreuz genommen wurde. Aber auch hier bekennen die Autoren: »Wir konnten – und können – die Genauigkeit unserer Schlussfolgerung nicht beweisen.«7 1992 erregte die wenig bekannte australische Akademikerin Barbara Thiering Aufsehen, als sie in ihrem Buch Jesus and the Riddle of the Dead Sea Scrolls die Ohnmachtstheorie neu belebte. Dieses Buch wurde mit großem Tamtam von einem anerkannten Verleger vorgestellt und dann von Luke Timothy Johnson, einem Wissenschaftler 13


der Emory-Universität, verächtlich abgetan als »der reine Unsinn, das Produkt fiebriger Fantasie statt sorgfältiger Analyse«8. Diese Ohnmachtstheorie blüht immer wieder auf. Ich höre sie jedes Mal, wenn ich mit Menschen, die geistlich auf der Suche sind, über die Auferstehung diskutiere. Aber was passierte wirklich am Kreuz? Woran ist Jesus wirklich gestorben? Besteht die Möglichkeit, dass er diese Tortur irgendwie überleben konnte? Ich hoffte, dass medizinische Beweise mir dabei helfen konnten, eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Deshalb flog ich nach Südkalifornien und klopfte an die Tür eines berühmten Arztes, der sich ausführlich mit den historischen, archäologischen und medizinischen Daten des Todes von Jesus von Nazareth beschäftigt hatte – obwohl nie eine Autopsie stattgefunden hatte, da die Leiche auf mysteriöse Weise verschwunden war.

Ein Interview mit Alexander Metherell Die feudale Einrichtung passte überhaupt nicht zu unserem Gesprächsthema. Wir saßen an einem milden Frühlingsabend im Wohnzimmer von Metherells komfortablem kalifornischen Haus, vom Meer wehte eine frische Brise durch die Fenster und wir sprachen über ein Thema von unvorstellbarer Grausamkeit: über eine Folter, die so barbarisch ist, dass sie das Bewusstsein raubt, und eine Form der Todesstrafe, die ein erbärmliches Zeugnis dafür abgibt, wie unmenschlich sich Menschen gegenüber anderen Menschen verhalten können. Ich hatte Metherell aufgesucht, weil ich gehört hatte, dass er medizinisch und wissenschaftlich in der Lage wäre, die Kreuzigung zu erklären. Aber man hatte mir auch gesagt, dass er das Thema genauso leidenschaftslos wie exakt diskutierte. Das war für mich entscheidend, weil ich die Fakten für sich sprechen lassen wollte. 14

Wie man es von einem Mediziner (Universität von Miami) und einem Doktor des Ingenieurwesens (Universität von Bristol/England) erwartet, spricht Metherell mit wissenschaftlicher Präzision. Er gehört zum Vorstand des American Board of Radiology und war Berater des National Heart, Lung and Blood Institute des Gesundheitsministeriums von Maryland. Metherell forschte und lehrte früher an der Universität von Kalifornien. Er ist Herausgeber von fünf wissenschaftlichen Büchern und schrieb für wissenschaftliche Zeitschriften von Aerospace Medicine bis Scientific American. Seine beeindruckende Analyse über Muskelkontraktionen wurde in The Physiologist and Biophysics Journal veröffentlicht. Auch sein Äußeres entspricht dem Bild, das man sich gemeinhin von einer distinguierten medizinischen Autorität macht: eine beeindruckende Gestalt mit silberfarbenem Haar und höflichem, fast schon formalem Auftreten. Um ehrlich zu sein, fragte ich mich manchmal, was in Metherell vorging. Er sprach mit wissenschaftlicher Zurückhaltung, langsam und methodisch, und gab keinen Hinweis darauf, dass es ihn innerlich bewegte, als er die ziemlich unangenehmen Details der Hinrichtung Jesu beschrieb. Was immer in ihm vorging, was immer es ihn kostete, als Christ über das grausame Schicksal Jesu zu sprechen – er konnte es hinter der Maske der Professionalität verbergen, die er sich in Jahren wissenschaftlicher Arbeit angeeignet hatte. Er versorgte mich einfach mit den harten Fakten – und genau deswegen war ich schließlich durch das halbe Land gereist.

Die Folter vor der Kreuzigung Zuerst wollte ich von Metherell eine Beschreibung der Ereignisse hören, die zu Jesu Tod führten. Nach etwas 15


Smalltalk stellte ich meinen Eistee ab, setzte mich in meinem Stuhl auf und fragte ihn direkt: »Könnten Sie mir beschreiben, was mit Jesus passierte?« Er räusperte sich. »Es begann nach dem letzten Abendmahl«, sagte er. »Jesus ging mit seinen Jüngern zum Ölberg, und zwar in den Garten Getsemani. Und dort, falls Sie sich erinnern, betete er die ganze Nacht. In dieser Nacht wartete er auf das, was am folgenden Tag geschehen würde. Da er wusste, dass Schweres auf ihn zukam, war es natürlich, dass er großem psychischen Stress ausgesetzt war.« Ich hob meine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Genau hier eröffnet sich Skeptikern ein breites Angriffsfeld. Die Evangelien berichten uns, dass er anfing, Blut zu schwitzen. Ist diese Beschreibung nicht einfach das Produkt übersteigerter Fantasie? Stellt das nicht die Genauigkeit der Evangelienschreiber in Frage?« Metherell schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht«, antwortete er. »Das ist ein bekanntes medizinisches Phänomen namens Hämhidrose. Das tritt nicht sehr häufig auf, hängt aber mit extremem psychischen Stress zusammen. Starke Angstzustände können dazu führen, dass chemische Stoffe freigesetzt werden, die die Kapillaren in den Schweißdrüsen aufbrechen. Als Folge davon treten in diesen Drüsen minimale Blutungen auf. Der Schweiß tritt dann mit Blut vermischt aus. Es geht hier nicht um große Mengen von Blut, sondern um eine winzige Menge.« Auch wenn mich das etwas bremste, hakte ich nach: »Hatte das noch weitere Auswirkungen auf den Körper?« »Die Folge davon war, dass die Haut extrem brüchig wurde. Als Jesus am nächsten Tag von den römischen Soldaten gegeißelt wurde, war seine Haut sehr, sehr empfindlich.« Ich versuchte, mich gegen die grausamen Bilder zu wappnen, die gleich meinen Verstand überfluten würden. Als Journalist hatte ich viele Leichen gesehen – Opfer von 16

Autounfällen, Bränden und Bandenkriegen, aber es war besonders schrecklich, wenn man hörte, wie jemand mit voller Absicht von Menschen gequält wurde, die ihn möglichst stark leiden lassen wollten. »Erzählen Sie mir, wie eine solche Geißelung aussah«, sagte ich. Metherell blickte mir direkt in die Augen. »Römische Geißelungen galten als besonders brutal. Normalerweise bestanden sie aus 39 Schlägen, aber meistens waren es viel mehr. Das hing ganz von der Laune des Soldaten ab. Der Soldat verwendete eine Peitsche aus Lederriemen, in die Metallkugeln eingeflochten waren. Wenn die Peitsche die Haut traf, verursachten diese Metallkugeln blaue Flecken oder Blutergüsse, die bei den nächsten Schlägen aufbrachen. Außerdem waren in die Peitsche scharfe Knochenstückchen eingeflochten, die das Fleisch aufrissen. Der Rücken konnte dabei so zerfetzt werden, dass die Wirbelsäule durch die tiefen Schnitte teilweise freigelegt war. Die Schläge liefen von den Schultern über den ganzen Rücken, das Gesäß und die Rückseite der Beine. Es war schrecklich.« Metherell hielt inne. »Bitte fahren Sie fort«, sagte ich. »Ein Arzt, der sich mit römischen Geißelungen beschäftigt hat, meinte einmal: ›Im fortgesetzten Verlauf der Geißelung wurden die Fleischwunden so tief, dass sie die tieferen Skelettmuskeln erreichten und sich Streifen von zuckendem, blutendem Fleisch lösten.‹ Eusebius, ein Historiker des dritten Jahrhunderts, beschrieb eine Geißelung folgendermaßen: ›Die Adern des Opfers lagen bloß und die Muskeln, Sehnen und Eingeweide lagen offen da.‹ Wir wissen, dass viele Menschen bereits durch diese Behandlung starben, noch bevor sie ans Kreuz geschlagen wurden. Doch zumindest litt das Opfer unermessliche Schmerzen und fiel in einen hypovolämischen Schockzustand.« Metherell hatte einen medizinischen Fachbegriff ver17


wendet, den ich nicht kannte. »Was bedeutet ›hypovolämisch‹?«, fragte ich. »›Hypo‹ bedeutet ›niedrig‹, ›vol‹ ist die Abkürzung von Volumen und ›ämisch‹ bedeutet ›Blut‹. Ein hypovolämischer Schock bezeichnet die Folgen von hohem Blutverlust«, erklärte er. »Dabei passieren vier Dinge. Erstens rast das Herz, weil es versucht, Blut zu pumpen, das nicht vorhanden ist. Zweitens fällt der Blutdruck, was Ohnmacht oder Kollaps zur Folge hat. Drittens arbeiten die Nieren nicht mehr, um ihr vorhandenes Volumen zu erhalten. Und viertens wird die Person sehr durstig, weil der Körper sich nach Flüssigkeit sehnt, um den Blutverlust auszugleichen.« »Finden Sie dafür Beweise in den Evangelienberichten?« »Ja, ganz eindeutig«, erwiderte er. »Jesus befand sich in einem hypovolämischen Schockzustand, als er auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte am Calvarienberg unter dem Querbalken des Kreuzes stolperte. Schließlich kollabierte er, und der römische Soldat befahl Simon, das Kreuz für Jesus zu tragen. An anderer Stelle lesen wir, dass Jesus sagte, dass er Durst hatte, woraufhin ihm ein mit Essig getränkter Schwamm gereicht wurde. Wegen der verheerenden Folgen dieser Geißelung kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass sich Jesus schon in einem ernsten, wenn nicht sogar kritischen Zustand befand, bevor die Nägel in seine Hände und Füße geschlagen wurden.«

Der Todeskampf am Kreuz Obwohl schon die Beschreibung der Geißelung scheußlich war, wusste ich doch, dass mir noch eine noch schrecklichere Schilderung bevorstand, denn die Historiker sind sich darin einig, dass Jesus die Geißelung überlebte und ans Kreuz genagelt wurde. 18

In den Vereinigten Staaten, in denen es auch heute noch die Todesstrafe gibt, werden Verbrecher festgegurtet, bevor ihnen Gift injiziert wird. Oder sie werden zu einem hölzernen Stuhl geleitet, auf dem sie Stromschlägen ausgesetzt werden. Alles ist kontrolliert. Der Tod kommt schnell und vorhersagbar. Medizinische Gutachter bescheinigen gewissenhaft den Tod des Opfers. Aus nächster Nähe beobachten Zeugen alles von Anfang bis zum Ende. Aber wie sicher war der Tod bei dieser grausamen, langsamen und ziemlich ungenauen Form der Todesstrafe, der Kreuzigung? Die meisten Menschen wissen nicht genau, wie der Tod am Kreuz aussieht. Und ohne einen ausgebildeten Mediziner, der offiziell den Tod Jesu bestätigen konnte, bleibt die Frage, ob Jesus gefoltert und blutend, aber dennoch lebend entkommen konnte. Ich näherte mich diesen Themen langsam. »Was geschah, als er an der Hinrichtungsstätte ankam?«, fragte ich. »Er wurde auf den Boden gelegt, musste seine Arme ausstrecken und wurde dann mit den Händen an den Querbalken des Kreuzes genagelt. Diesen Kreuzbalken nannte man ›patibulum‹. Er war getrennt von dem zweiten, vertikalen Balken, der dauerhaft im Boden verankert war.« Ich hatte Probleme, mir das vorzustellen. Ich brauchte mehr Details. »Genagelt mit was?«, fragte ich langsam und zögerlich. »Und wo festgenagelt?« »Die Römer verwendeten Nägel, die 10 bis 15 Zentimeter lang waren und eine scharfe Spitze hatten. Sie wurden durch die Handgelenke getrieben.« Dabei zeigte er auf einen Punkt etwa einen Zentimeter unterhalb der Handfläche seiner linken Hand. »Einen Augenblick«, unterbrach ich ihn. »Ich dachte, die Nägel durchbohrten seine Handflächen. So sieht man es immer auf den Bildern. Das ist schon so etwas wie ein Standardsymbol für die Kreuzigung.« »Durch die Handgelenke«, wiederholte Metherell. »Das war eine stabile Stelle, die die Hand fixierte. Wenn 19


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