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Leseprobe zu: Martin Saunders Das Weihnachts-Tagebuch des David Street Dienstag, 16. Dezember Stell dir folgende Szene vor, wenn du magst. Es ist Montagmorgen und im Frühstückszimmer herrscht Betrieb wie nie zuvor. Sechs unserer sieben Gäste haben beschlossen, alle gleichzeitig zu essen, und meine Assistentin und ich schwirren durch den Raum und jonglieren mit Notizblöcken, Tellern und Toastständern. Die drei jungen Landwirte haben sich am großen Tisch breit gemacht und zeigen keinerlei Neigung, für irgendjemanden etwas zusammenzurücken. Die drei Doktoren, die ja nun intelligente Menschen sind, haben eine neue Nutzungsmöglichkeit für das große Büfett in der Ecke (das kurz, breit und tief ist und eine flache Oberfläche hat) entdeckt und sich auf Barhockern, die sie sich aus der Küche geborgt haben, an die drei nicht an die Wand grenzenden Seiten gesetzt. Jeder Sitzplatz, jede Fläche in diesem Zimmer ist belegt, aber irgendwie kommen wir zurecht. Dann höre ich den gellenden, herzhaften Gruß eines Mannes, der gerade von seinem Frühsport zurückkehrt, und schon haben wir ein Problem. »Hallo!«, zwitschert Hector. »Ich hoffe, für einen ist noch Platz!« Die drei rüpelhaft aussehenden Jugendlichen betrachten einen Moment lang ihre beturnschuhten Füße, die jeweils auf der anderen Seite des Tisches einen Stuhl einnehmen, und wenden sich dann wieder ihren Cornflakes zu. Die Intellektuellen machen verlegene Gesichter und zucken kollektiv die Achseln. Hector sieht einen Augenblick lang etwas pikiert aus, aber dann überkommt ihn eine Inspiration. »Na schön«, sagt er und schaut mich an. »Dann setze ich mich einfach in die Küche.« Nicht genug also, dass ich vierzehn Eier und ein halbes Schwein braten muss, ich muss es auch noch in der Gesellschaft eines Mannes tun, der eine Nervensäge ist, wie sie im Buche steht. Als Hector im Streets Ahead Guesthouse eintraf, mochte ich ihn zuerst sehr. Ich war sogar tief beeindruckt von ihm. Doch seit ich herausgefunden habe, wie er seinen Lebensunterhalt verdient – als Cheflieferant der wahren Sinnlosigkeit der Weihnacht –, kann ich ihn immer weniger leiden. Ist schon komisch, wie man, sobald man jemanden einmal auf dem Kieker hat, plötzlich ständig neue Dinge an ihm findet, die einen ärgern. Hector trägt zum Beispiel verrückte Krawatten. Anfangs fand ich das liebenswert, jetzt kann ich ihn kaum noch anschauen. Außerdem liest er den Daily Spectacle. Anfangs habe ich darin ein Zeichen für seinen hohen Intellekt gesehen, doch inzwischen habe ich es als hohlen Versuch durchschaut, intellektuell zu erscheinen. Ulkig, wie man seine Meinung über jemanden in so kurzer Zeit so drastisch ändern kann. »So«, sagt Hector und stützt sich mit den Ellbogen auf das Ende der Küchenarbeitsplatte. »Jetzt ist es nicht mehr lang. Ich liebe Weihnachten.« »Dann sind Sie im falschen Haus«, sage ich und wende den Speck. »Sie hätten bei dem Mann nebenan einkehren sollen.«


»Ja, ich habe die ganzen Geschenke gesehen, die er sich hat liefern lassen. Clevere Art, seine Weihnachtseinkäufe zu erledigen – ich wünschte, ich wäre auf die Idee gekommen. Vielleicht könnte ich ihn fragen, ob ich seinen Computer benutzen darf!« Ich nicke schweigend, während vor meinem geistigen Auge das leicht beunruhigende Bild eines hausgemachten Rentiers über die Bühne zieht. Hector fährt fort: »Ich bin immer noch nicht zum Einkaufen gekommen. Ich weiß, ich habe es zu lange hinausgeschoben. Sie haben das wahrscheinlich schon vor Monaten hinter sich gebracht, oder, Mr. Street?« Das ist ein wunder Punkt und mir fällt ein Würstchen herunter. »Nein, leider nicht. Ein Geschenk muss ich noch besorgen.« Bianca, die weiß, dass sie die Einzige ist, der ich jemals ein Geschenk kaufe, schnaubt verächtlich und geht hinaus, um Orangensaft nachzuschenken. Sobald sie aus dem Raum hinaus ist, habe ich freie Bahn und erkläre Hector – mit angestautem Gift im Tonfall: »Sie will eins von diesen Videospieldingern«, zische ich ihm zu. »Einen Nagatoshi Gamemaster. Aber ich kann nirgendwo einen finden. Jetzt muss ich ihr also irgendetwas kaufen, was zweite Wahl ist. Wäre ja nicht so schlimm, wenn wir nicht in einer Welt lebten, in der die Leute sich beklagen, wenn sie ›das falsche Geschenk‹ bekommen. Das wird sie auch tun, wenn ich nicht auftreiben kann, was sie sich gewünscht hat. Manche Leute würden vielleicht sagen, das ist ihr Problem, aber ich nicht. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie in einer Welt aufgewachsen ist, wo jeder immer das Neueste vom Neuen haben muss. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie in einer Umgebung aufgewachsen ist, in der nur noch zählt, wie viel Geld man hat und wie viel Zeug man sich davon gekauft hat.« Inzwischen schreie ich beinahe. »Wissen Sie, jeder rennt jedes Jahr hin und kauft sich einen Weihnachtsbaum und schmückt ihn mit glänzenden Kugeln und Lametta. Aber keiner hat die leiseste Ahnung, wieso er das alles macht. Hector, wissen Sie, warum die Leute immer einen Weihnachtsbaum haben müssen? Wissen Sie, was er darstellen soll, was man davon hat oder warum die Leute das schon immer so gemacht haben? Ich weiß es nämlich nicht.« Hector schüttelt den Kopf und wünscht sich, er hätte nie davon angefangen. Ich fahre in meiner Tirade fort. »Nein. Aber das hält Ihre Firma nicht davon ab, diese geschmacklosen Karten mit Bildern von Bäumen voller glänzender Kugeln und Lametta massenhaft auf den Markt zu werfen. Und Sie schreiben Gedichte hinein, bei denen den Leuten ein bisschen warm und weich ums Herz wird, sodass sie kein ganz so schlechtes Gewissen mehr dabei haben, für einen einzigen Tag in schändlichem Maß Geld zum Fenster hinauszuschmeißen, solange sie nur etwas für Weihnachten übrig haben. Und wenn sie wie ich für Weihnachten nichts übrig haben, wenn sie zu dieser schweigenden Minderheit von Leuten gehören, für die dies die schlimmste Zeit des Jahres ist, tja, dann müssen sie es eben einfach schlucken wie einen dicken, klebrigen Klumpen Früchtebrot.« Nervös beginnt Hector, die ersten Worte einer Entgegnung zu formulieren, doch er wird vom Klappern des Briefschlitzes unterbrochen. Ich gehe nachschauen und finde eine einzige persönlich eingeworfene Sendung, adressiert mit silberner Tinte.


Es ist eine Karte, was ungewöhnlich ist, und mehr noch, es ist eine hiesige Karte, was schon beinahe ein Wunder ist. Ironischerweise prangt auf der Vorderseite ein Bild von einem Weihnachtsbaum, komplett mit Lametta und glänzenden Kugeln. Ich klappe sie auf, um zu sehen, ob innen die Handschrift von H. Malone zu finden ist, doch dabei fällt ein kleines Blatt Papier zu Boden, das ich zuerst für einen Scheck halte (wofür bestenfalls eine Wahrscheinlichkeit von eins zu einer Million spräche). Ich hebe es auf, drehe es um und lese:

St. Mark’s Kirche auf dem Hügel Mark, Polly, Jimmy und Ruth laden hiermit David und Bianca herzlich ein zu unseren Weihnachtsfeiern am Heiligabend um 23.30 Uhr und am 1. Weihnachtstag um 10.00 Uhr in der St. Mark’s Kirche, St. Mark’s Hill Und plötzlich purzelt in meinem Kopf lautstark ein gigantischer Penny von der Größe eines gewaltigen Felsbrockens zu Boden. Dann spielt der Rauchmelder im Flur verrückt, Bianca stürmt in die Küche, um das Frühstück zu retten, und ich schließe mich für den Rest des Vormittags im Badezimmer ein.


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