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Leseprobe zu: Elizabeth Musser Das Geheimnis des Bildes Roman

Prolog Hilton Head, South Carolina Ich bin nie eine große Tagebuchschreiberin gewesen. Ich erzähle diese Geschichte auch nicht einfach deswegen, weil das eine der »Hausaufgaben« in der Rehabilitation war. Ich erzähle sie, weil sie, ja, meine Geschichte ist. Und auch für den Fall, dass ich eines Tages selber ein rebellisches Kind habe, das mich hasst und mir vorwirft, es immer einfach gehabt zu haben im Leben. Auf den ersten Blick scheint es die Geschichte dreier kurzer Wochen in meinem Leben zu sein. Oder dreier langer Wochen, je nachdem, wie man es nimmt. In Wirklichkeit ist sie, wie alle Geschichten, viel komplizierter. Es ist eine Geschichte über meine Mutter und mich und über das Werden. Wo ich diese Geschichte schreibe, auch das ist wichtig. Ich bin im Strandhaus meiner Eltern, und während ich in meinen Laptop tippe, schaue ich durch das Fenster, das auf den Ozean geht, und sehe eine meiner Schwestern, Abbie, die mit ihrem Ältesten, Bobby, auf dem Schoß an dem Swimming-Pool sitzt und ihm laut aus dem Dr. SeussBuch Marvin K. Moony vorliest, das ich Bobby letzten Monat zu seinem dritten Geburtstag schenkte. Ich bin auf einen Monat hier, aber es ist nicht nur ein Urlaub. Ich habe meine Bücher von meinem Studium der Veterinärmedizin dabei, damit ich weiterlernen kann, und es passt so richtig dazu, dass neben mir eine Katze und ein Hund sitzen, die im Laufe der letzten zwei Jahre eine vorsichtige Freundschaft geschlossen haben. Ich wusste, dass es mir Ideen geben würde, hier am Familientisch zu sitzen und auf den Strand hinauszuschauen. Ich weiß noch gut, wie Mutter in jenem Sommer auch dort saß, mit ihrer Staffelei und Palette und dem grünen Tuch, das über dem Stuhl hing. Und die Skizzenblöcke. Klar, die Skizzenblöcke. Die Bilder sind noch unten. Und die Fahrräder. Ich liebe diese alten Fahrräder; auch sie sind wichtig in meiner Geschichte. Ich glaube, ich schreibe dies auch deshalb, weil ich will, dass Kinder, die das Handtuch werfen wollen, und Eltern, die es schon geworfen haben, erkennen, dass es noch nicht aller Tage Abend ist, wenn der Schmerz einen gepackt hält. Wenn ich an mein Leben und Mutters Leben denke, dann bin ich froh, dass wir nicht das Handtuch geworfen haben. Und wir hätten es hundert Mal tun können. Ich sehe, wie Abbie aufsteht und Bobbys Hand nimmt. Sie beginnen, den Strand entlangzuschlendern. Ich sehe sie förmlich vor mir, die ungleichen Fußspuren, das eine Paar so groß, das andere so klein. Am liebsten würde ich ihnen zurufen: »Viel Spaß!« Ach ja, und noch ein Grund, warum ich meine Geschichte erzähle: Ich habe gelernt, dass der Mensch, der einen da aus dem Spiegel anschaut, sich ändern kann. Es ist


wichtig, hin und wieder in den Spiegel zu schauen, nicht krampfhaft, einfach so, damit man nicht vergisst, wie das Bild aussieht. Ich kann in keinen Spiegel blicken, ohne an Megan zu denken. Und an den Mosaiktisch und die lange schottische Mauer mit den abbröckelnden Steinen und die vielen anderen bröckelnden und zerbrochenen Dinge im Leben. Und dann sage ich mir: Manchmal ist es grausam, wenn etwas zerbricht, manchmal ist es notwendig und manchmal ist es einfach Zufall. Und ich glaube, damit bin ich bereit, anzufangen.

Kapitel 1 Wo ist des Frühlings Lied, wo ist es hin? Lass es! Auch du hast deine Melodie – Im Rosenschein des Abschied-Abendlichts, mit Wolkenblumen über kahlem Feld … wenn große Lämmer blöken laut am Bach … John Keats, An den Herbst

Atlanta, Georgia Juni 2001 Von irgendwo im Nebel meines Unterbewusstseins klingelte es. Es wollte nicht aufhören. Ohne die Augen zu öffnen, fuhr ich mit der Hand über den Nachttisch, bis ich das Telefon fand. »Ja … was ist?« »Ellie Bartholomew! Bist du noch im Bett? Du wolltest doch ins Krankenhaus, Mutter besuchen!« »Mach’s halblang, Abbie«, murmelte ich. Um ein Haar schimpfte ich meine Schwester aus, dass sie mich mitten in der Nacht weckte, dann merkte ich, dass die Sonne hell schien und mein Wecker 9.27 Uhr anzeigte. »Bin erst nach zwei ins Bett gekommen. Du weißt ja, wie das ist im Jeremy’s.« »Das Jeremy’s ist nicht ganz mein Restaurant.« Abbie machte eine Pause. Ich schwieg verbissen. »Also, sei so gut und komm nicht zu spät. Ich zähl auf dich. Vater auch. Ich würde ja selber kommen, wenn ich könnte …« »Ich weiß, ich weiß. Bobby hat Fieber und du willst ihn nicht alleine lassen. Hast du mir alles gestern Abend schon gesagt.« Ich war, das schnurlose Telefon in der einen Hand, schon aufgestanden und in die Küche gegangen. Ich schaute in den Kühlschrank und holte eine Dose Cola heraus. Ich öffnete sie und nahm einen langen Schluck. »Vergiss nicht die Skizzenblöcke.« »Liegen neben mir«, knurrte ich. In Wirklichkeit hätte ich sie ohne Abbies Erinnerung glatt vergessen. »Ruf mich am Nachmittag an und sag mir, wie’s aussieht, ja?« »Werd’s versuchen. Kommt drauf an, wann ich wieder zu Hause bin. Um vier muss ich arbeiten.«


»Okay, Ellie.« Abbie seufzte. »Danke.« Abbie war 28 und wohnte mit ihrem Mann, Bill, und dem einjährigen Bobby in Grant Park. Ich sah sie vor mir, wie sie am Telefon stand, den Jungen im Arm, und mit der einen Hand seine Stirn befühlte. Ich sah die Sorgenfalten auf ihrem ebenmäßigen Gesicht. Sorgen um Mutter, um Bobby, um das Baby, das sie in sich trug. Abbies zweite Schwangerschaft war schlimm. Sie konnte nichts im Magen behalten und hatte bis zum sechsten Monat zwei Pfund Gewicht verloren. Sie sah wie ein Gerippe mit einem Fußball im Bauch aus. Ich wünschte mir plötzlich, nicht so ruppig gesprochen zu haben. Meine andere Schwester, Nan, war 25 und das blühende Leben, mit kurzem braunen Haar. Sie wohnte in Chattanooga, etwa eineinhalb Stunden von Atlanta. Ihr Mann, Stockton, hatte gerade sein Jurastudium an der University of Virginia beendet und arbeitete in einer recht bekannten Firma. Nan, die die sechste Klasse an einer Mädchenschule unterrichtete, wusste erst seit kurzem, dass sie schwanger war. Überraschung. Eigentlich hatte sie erst Kinder haben wollen, wenn sie mindestens 30 war. Und dann also ich. Ellie. 20 Jahre und noch ohne Mann. Ich spritzte mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht, fuhr mir mit den Händen durch mein verheddertes Haar und zog eine Jeans an. Meine Katze, Hindsight, schmiegte sich miauend an meine Beine. »Sei ruhig«, sagte ich. »Du weißt genau, dass ich das Krankenhaus so heiß und innig liebe wie eine Hinrichtung.« Ich ging zurück an den Kühlschrank, holte eine angebrochene Dose Katzenfutter heraus und löffelte den Inhalt in Hindsights Napf. Der Nebel in meinem Kopf lichtete sich. Ich suchte in der Schublade nach einem gescheiten T-Shirt. Abbie hatte es nicht laut gesagt, aber ihre unausgesprochene Ermahnung klang mir in den Ohren. Und um Gottes Willen, bring Mutter nicht in Verlegenheit, zieh dir was Anständiges an. Keine Bange, Abbie, erwiderte ich stumm. Ich werde eine brave Tochter sein. Ich mach dir keine Schande und werde niemand enttäuschen ...


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