72457

Page 1

Leseprobe zu: Brandilyn Collins Puppen weinen nicht

Kapitel 1 Es begann damit, dass ich in meinem Schlafzimmer stand und Wäsche zusammenfaltete. Im letzten Jahr habe ich eine Art sechsten Sinn entwickelt – ein Überbleibsel von meinen Zusammenstößen mit dem Tod. Ein Sinn, der mich den Kopf heben und mit den Augen suchen lässt, während meine Ohren auf das leiseste Geräusch achten. Ein Prickeln, das in meinem Nacken beginnt und dann die Arme und Wirbelsäule hinabläuft. Die Nervensignale sausen durch meinen Körper, fast noch bevor ich wahrnehme, was sie verursacht hat. Manchmal sind sie richtig, manchmal nur Überreaktionen auf etwas Überraschendes. Die Erfahrung hat mich gelehrt, in solchen Situationen auf Nummer Sicher zu gehen. Die fünf Morde, die es in ebenso vielen Monaten in unserer Gegend gegeben hatte, sie reichten mir. Da war was ... unten, im Erdgeschoss ... Meine Arme blieben über dem Bett stehen, das halb zusammengefaltete Hemd hing in der Luft. »Hallo!« Die männliche Stimme echote aus dem großen Wohnzimmer herauf. Ich kannte sie nicht. Sie klang bestimmt, war kehlig und knurrend, ein wenig wie Kies unter den Schuhsohlen. Warum hab ich die Türklingel nicht gehört? »Hallo!« Wieder die Stimme, ungeduldig. Meine Gedanken schossen zu Kelly, meiner vierzehnjährigen Tochter. Sie war da unten eingeschlafen, auf dem großen Sofa beim Kamin. Meine Tochter schutzlos allein, einem Fremden ausgeliefert, den ich nicht kannte ... Jetzt schnappte Kelly nach Luft, so laut, dass ich es hörte. Der Holzparkettboden und die Wandvertäfelung im Wohnzimmer lassen jedes Geräusch hallen. Die Angst in


Kellys Aufkeuchen löste eine Sperre in mir. Ich merkte, wie ich zu dem Nachttisch rannte, wo meine Handtasche lag. Meine Finger wühlten in der Tasche, hektisch suchend, dann fanden sie es, das kalte Metall meiner Pistole, halb Trost, halb Schrecken. Ich riss die Waffe heraus. Keine Zeit zum Nachdenken, meine Instinkte übernahmen das Kommando, gerade so, wie Chetterling es vorhergesagt hatte. Die Pistole in der Hand, Abzugfinger bereit, hastete ich lautlos den Flur entlang. Unter mir kam durch das Holzgeländer das Wohnzimmer in den Blick. An der Treppe hielt ich abrupt an, fast hätte ich die Pistole fallen lassen. Meine entsetzten Augen registrierten das Profil eines Mannes, den ich nicht kannte und der wie ein Kleiderschrank über Kelly gebeugt stand. Er war Anfang zwanzig, groß gewachsen – vielleicht 1,90 Meter –, sein Bizeps prall und mit dicken Adern. Breite Nase und Lippen eines Afroamerikaners, aber die Haut eher sandfarben. Hellbraunes Haar mit dicken Rastalocken. Kelly hatte sich halb aufgerichtet, auf den einen Ellbogen gestützt, der Mund offen, ihr Gesicht ein Bild des Schocks. Meine Beine gingen in die Stellung, die Chetterling mir beigebracht hatte. Füße auseinander und fest auf den Boden gepresst, beide Arme nach vorne gestreckt, über das Geländer, den Lauf der der Waffe auf den Kopf des Fremden gerichtet. »Stop!« Er drehte sich abrupt in meine Richtung, seine Augen wurden groß, er hob beide Arme bis in Schulterhöhe, die großen Finger breiteten sich. »Hallo. Augenblick, ich will nur zu Stephen.« Seine kultivierte Stimme überraschte mich so, dass ich die Waffe fast wieder senkte. So wie er aussah, hatte ich mehr eine Hip-Hop-Stimme erwartet. Pass auf, Annie, der steht direkt neben Kelly! Ich starrte den Mann an, mein Atem zitterte. Was war hier los? Ich hielt eine Pistole auf jemand gerichtet. Jemand, der auf Tuchfühlung neben meiner Tochter stand. »Gehen Sie von ihr weg.« Er machte einen Schritt zurück. Was, wenn das der Mann war, der diese fünf Frauen ermordet hatte? »Noch mehr.« »Könnten Sie vielleicht die Knarre weglegen?« Er schlurfte zwei weitere Schritte zurück. Viel weiter gehen konnte er nicht; noch drei Schritte und er würde mit dem Sessel vor dem Kamin zusammenstoßen. Links von ihm stand der große


Glascouchtisch, rechts das Sofa, auf dem Kelly lag. Jeden Augenblick konnte der Kerl sie packen und als lebenden Schutzschild vor sich halten. Was würde ich dann machen? Chetterling, das hier haben wir nie geübt! »Hören Sie her.« Seine Stimme wurde halb beleidigt, halb arrogant. »Ich wollte sie nur gerade wegen Stephen fragen, Sie können das Ding ruhig weglegen.« Meine Eingeweide zitterten, meine Hände nicht. Als ich sprach, klang in meiner Stimme der Zynismus eines Streifenpolizisten, der einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt hat. »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich Sie reingelassen hätte.« »Die Tür war nicht abgeschlossen.« Nicht abgeschlossen. Aber doch auch nicht offen! Meine Zähne bissen sich zusammen. »Machen Sie das öfter, einfach so in anderer Leute Häuser reingehen?« Er zuckte die Achseln. Die Wut schoss mir den Rücken hoch. Wie konnte er es wagen, so nonchalant zu tun? »Da haben Sie sich das falsche Haus ausgesucht!« »Hab’s gemerkt.« Die Andeutung eines Grinsens ging über seine Lippen. »Ist Stephen da?« Kelly lag immer noch auf dem Sofa. Er konnte sie schneller packen, als ich bis Eins zählen konnte. Gott, hilf mir! Wie bring ich sie in Sicherheit? »Kelly.« Ich hielt die Augen auf den Fremden geheftet. »Steh auf, jetzt! Lauf in mein Büro und schließ die Tür hinter dir ab!« Meine Tochter blinzelte, als versuche sie, aus einem Albtraum aufzuwachen. Dann rappelte sie sich hoch und kam auf die Füße. Ich hielt den Lauf der Chief Special weiter auf den Kopf des Fremden gerichtet, den Finger dicht am Abzug; mit diesem Revolvertyp konnte man sofort schießen, ohne den Hahn zu spannen. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Kelly von dem Mann zurückwich, sich umdrehte und dann auf mein Arbeitszimmer zu rannte, bis sie unter dem Treppenabsatz, auf dem ich stand, verschwand. Ihre nackten Füße klatschten auf den Holzfußboden. Dann knallte die Tür meines Büros, und ich hörte, wie das Schloss ging. Erleichterung. Meine Tochter war in Sicherheit. Ich wusste, dass sie gleich die Polizei anrufen würde. Wer das hinter sich hatte, was wir erlebt hatten, fackelte nicht lange.


»Schön.« Ich zwang meine Stimme, kräftig zu klingen. »Wer sind Sie?« Er schoss einen ungeduldigen Blick zur Decke hoch. »Tun Sie die Kanone jetzt weg, oder nicht?« »Ich habe Sie was gefragt!« Er sah mich kalt an. »Blake.« Blake? Der Kerl konnte mir viel erzählen. »Blake? Und wie weiter?« »Smith, okay? S-m-i-t-h.« Seine Großspurigkeit nervte mich. Dies war nicht jemand, der klein beigab, wenn er einen Polizisten sah. Ich spürte, wie der Schweiß mir auf die Stirn trat. Hoffentlich sah er es nicht. »Was wollen Sie von meinem Sohn?« Seine Arme senkten sich, bis seine Hände, Finger noch ausgebreitet, vor seiner Brust schwebten. »Ich muss ihn sprechen.« »Sprechen? Wegen was?« »Geschäftlich.« Geschäftlich? »Und was für ein Geschäft soll das sein?« Er schob seine Zunge unter die oberen Schneidezähne, dann zog er sie mit einem saugenden Geräusch wieder zurück. »Sie sind sicher seine Mutter? Die berühmte Gerichtszeichnerin?« Wie er die Worte aussprach. Wie einen Schlag mit dem Handrücken. Wenn er nahe genug gewesen wäre, er hätte sich auf mich gestürzt und mir die Pistole aus der Hand gerissen. Meine Handteller wurden klamm. Ich packte die Waffe noch fester. Blake beäugte mich heftig, dann ließ er langsam seine linke Hand sinken und zeigte mit dem rechten Zeigefinger in meine Richtung. »Sie können Stephen was von mir ausrichten.« Die Wut blähte meine Lunge auf, dass meine Brust platzen wollte. Der wollte mir Vorschriften machen? Nachdem er in mein Haus eingedrungen war? Neben meiner schlafenden, unschuldigen Tochter gestanden hatte? Meine Finger begannen zu zittern. »Verlassen Sie mein Haus!« »Okay, ich geh ja schon.« Er drehte mir den Rücken zu, als ob er meine Pistole vergessen hatte, und schlenderte um die hintere Ecke des Couchtischs herum wie ein Löwe, der gerade


aus dem Mittagsschlaf aufgewacht ist. Fast erwartete ich, dass er gähnen würde. Er umrundete auch das Sofa, genauso langsam. Dann sah er mich noch einmal an. »Sagen Sie Ihrem Sohn, dass Blake ihn sucht, hören Sie? Er weiß schon, warum. Und sagen Sie ihm noch was.« Seine Augen wurden zu Schlitzen, nein zu Messerklingen. »Vor mir kann er sich nicht verstecken.« Er drehte sich höhnisch grinsend auf dem Absatz um und ging – wie ein Wolf von dem Reh, für das er gerade zu satt ist. Ich stand wie angewurzelt da, die Waffe weiter auf ihn gerichtet. Er trat auf die Eingangsveranda und knallte die Haustür hinter sich zu.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.