Leseprobe zu: Dee Henderson Amandas Geheimnis Kapitel 1 Nachdem Luke Granger im Einkaufszentrum für seine Schwester zum Geburtstag eine Vase aus Kristallglas, für sich einen Krimi für seinen freien Tag und ein paar andere Sachen, die er noch für den Haushalt brauchte, gekauft hatte, fehlten ihm immer noch zwei Dinge auf seiner Einkaufsliste, aber er hatte keine Lust mehr, ein weiteres Geschäft aufzusuchen. »Officer.« Er drehte sich um. Die Frau mit den beiden Einkaufstüten von Bergner und dem dreijährigen Mädchen an der Hand wirkte äußerst beunruhigt. »Drüben im Waschraum braucht eine Frau Hilfe. Sie bat mich, einen von den Sicherheitsleuten zu rufen.« Luke gehörte zur Stadtpolizei und war nicht im Dienst. Allerdings trug er nach dem Tag im Gericht noch seine Uniform; es war also gar nicht so abwegig, dass sich die Frau an ihn gewandt hatte. »Ist jemand bei ihr?« »Nein.« Er nickte und machte sich auf den Weg zu dem Gang mit den Telefonzellen und Toiletten. Ein Rollwagen mit Putzmitteln stand vor der Tür zum Versorgungsraum. Er zog ihn zu sich heran und versperrte damit den Eingang zur Damentoilette. »Ich bin Polizeibeamter und komme jetzt herein«, rief er, um die Frau vorzuwarnen. Der Vorraum mit vier Stühlen und einem Wickeltisch war leer. Vorsichtig betrat er den Toilettenraum. Da war die Frau: Anfang vierzig, mit aschfahlem Gesicht. Sie hing über dem Waschbecken und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er stellte seine Tüten ab und holte einen der gepolsterten Stühle mit geschwungener Lehne aus dem Waschraum. »Setzen Sie sich doch, Madam.«
Er stellte das Wasser ab, das über ihre Hände lief, und half ihr vorsichtig auf den Stuhl. Sie trug eine mittlerweile ziemlich ramponierte weiße, taillierte Bluse und eine schwarze Hose. Während er schnell seine Jacke auszog und sie ihr um die Schultern legte, fragte er sich, ob sie wohl einen sexuellen Übergriff erlebt hatte. Sie zitterte entsetzlich, vermutlich eine Schockreaktion. Er war sehr groß, mit breiten Schultern. Ihre schlanke Gestalt versank in der weiten Jacke. »Seine Augen waren karamellfarben, eiskalt.« Ein Schauer durchfuhr sie. »Also gut.« Er fuhr mit der Hand über ihren Bauch und suchte nach der Ursache für das Blut, mit dem das Waschbecken verschmiert war. Am rechten Oberschenkel war die Hose mit Blut getränkt, aber es war nicht aus einer Wunde durch den Stoff gedrungen. »Juwelier Bressman, im Lagerraum.« Er suchte ihren Blick festzuhalten. »Sie sind alle tot. Ich habe nachgesehen.« Er knöpfte ihr seine Jacke bis zum Hals zu. »Sie bleiben hier.« Sie nickte ruckartig. Er ließ sie im Waschraum zurück. Luke ging zum Juwelier Bressman hinüber. Ein Werbeplakat versprach für einen Preisnachlass von 30 Prozent auf Diamantanhänger. Dieses Angebot galt nur für die laufende Woche. Kein einziger Verkäufer war im Laden. Er umrundete die Theke und betrat ein kleines Büro, dann weiter den kleinen Flur entlang, der parallel zu den öffentlichen Toiletten verlief. Eine Tür schwang in der leichten Brise des an der Decke hängenden Ventilators sachte hin und her und im Radio, das auf einen Sender mit Countrymusic eingestellt war, begann gerade ein neues Lied. Kein weiteres Anzeichen von Leben. Er blickte hinein. Und nur weil er Polizist war, konnte er sich auf den Beinen halten. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, was er da vor sich sah. Sein Entsetzen war unbeschreiblich. Vier Verkäufer waren zusammengetrieben und als Gruppe erschossen worden. Ihr Blut war bis an die Regale gespritzt. Die Jüngste schien kaum die Highschool abgeschlossen zu
haben. Sie hatte perfektes Make-up aufgelegt und ihre Fingernägel in einem hellen Rosa lackiert. Eine Frau im Alter seiner Mutter hatte einen Kopfschuss abbekommen. Der Geschäftsführer und ein dritter Verkäufer, beides Männer mittleren Alters, waren vor einem Ständer mit Geschenkkästchen gestorben. Das Blut hatte bisher kaum Fliegen angelockt: Es waren vielleicht zehn, höchstens zwanzig Minuten vergangen. Die Tatsache, dass dieses Verbrechen in seiner Stadt, in seinem Bezirk verübt worden war und dass er als stellvertretender Polizeichef es nicht hatte verhindern können, ließ einen unbeschreiblichen Zorn in ihm hochsteigen. Luke nahm sein Funkgerät vom Gürtel. »55-14.« »10-2.« Trotz der kurzen Antwort erkannte er die Stimme der Frau in der Zentrale. »Janice, hier gibt es einen mehrfachen 187 im Ellerton Einkaufszentrum, Juwelier Bressman.« Im Geist ging er die Liste der diensthabenden Beamten durch. »Ich brauche Connor, Marsh, Mayfield und St. James. Richten Sie ihnen aus, es kommt auf jede Minute an.« »Jawohl, Sir. Wird sofort erledigt.« »Halten Sie eine besondere Frequenz für diesen Fall frei.« »Vier.« Er wechselte seine Funkfrequenz. »Rettungsdienste?«, fragte Janice. »Schicken Sie die Spurensicherung zum Tatort und verständigen Sie den Leichenbeschauer. Es gilt Code orange. Ich werde vierzig Polizeibeamte brauchen. Nehmen Sie so viele wie möglich aus dem Haus und rufen Sie auch die Männer in den Dienst zurück. Den Rest besorgen Sie sich vom Westford Distrikt. Marsh wird die Aufgabenverteilung vor Ort übernehmen. Wo steckt Paul Riker im Augenblick?« »Auf seinem Terminkalender steht eine Pressekonferenz mit Journalisten.« »Jemand soll ihn benachrichtigen. Ich brauche ihn am Tatort.« »Jawohl, Sir.« »Noch Fragen?« »Ich komme klar, Sir.« »Gut. Ich bin über Frequenz vier zu erreichen.«
Von hinten näherten sich Schritte und er drehte sich um. Zwei vom Einkaufszentrum angestellte Sicherheitsbeamte kamen herbeigeeilt. »Bleiben Sie draußen.« Luke ließ die Tür offen stehen und durchquerte den Verkaufsraum. »Es hat eine Schießerei gegeben. Wie viele Sicherheitskräfte sind hier im Einkaufszentrum im Dienst?« »Vier.« »Also gut. Sie beide schließen jetzt diesen Laden. Parker, sobald die Tür abgeschlossen ist, beziehen Sie am Nebeneingang zu diesem Geschäft Stellung. Niemand außer unseren Leuten hier aus Brentwood oder Westford setzt einen Fuß in diesen Laden, sonst sind Sie morgen arbeitslos. Verstanden?« »Jawohl, Sir.« »Richards, Sie holen Ihre Kollegen und stellen mir eine Liste mit den Kennzeichen von allen Autos zusammen, die auf diesem Parkplatz abgestellt sind. Nehmen Sie diesen Ausgang und fangen Sie auf dieser Seite damit an.« Die Männer blieben reglos stehen. »Machen Sie sich an die Arbeit.« Jetzt kam Bewegung in sie. In aller Eile zogen sie das Rollo an der Ladentür und das Rollgitter herunter, um den Eingang zu sichern. An der hinteren Wand hingen gerahmte Fotos der Mitarbeiter. Luke nahm das sechste von der Wand ab. Auf diesem Foto sah seine Zeugin besser aus. Kelly Brown. Hinter diesem Namen vermutete man keine vierzigjährige Frau. Ihre Frisur hatte sich auch verändert – die Haare waren einige Zentimeter länger und in ein etwas dunkleres Kastanienbraun getönt. Aber die blauen Augen waren dieselben. Mit dem Foto in der Hand überprüfte er die Auslagen. Schmuck schien nicht gestohlen worden zu sein. Ein mehrfacher Mord und der Schmuck war noch vollständig da? Wie hoch war wohl der Wert des augenblicklichen Bestandes? Einhunderttausend? Mehr? Sind Sie für eine bestimmte Schmuckart zuständig, Kelly Brown? Ringe, Uhren, die Halsketten, die mich ein Jahresgehalt kosten würden? Sie tragen heute gar keinen Schmuck, nicht einmal einen Ring. Das hat mich erstaunt. Auch an der Kasse schien sich niemand zu schaffen gemacht zu haben.
Luke blickte auf, als die ersten Polizeibeamten, die er angefordert hatte, eintrafen. Connor führte sie an, zusammen mit seinem Partner Marsh. Connor war ein Meter sechsundachtzig und trug schwarze Jeans und ein schwarzes Sweatshirt, eine Kluft, die er im Außendienst bevorzugte. Marsh mit seinen ein Meter neunzig sah aus, als hätte er einen Kater, als hätte er zu viel getrunken. Tiefe Ringe lagen unter seinen Augen, ein sichtbarer Hinweis auf die vielen Überstunden der letzten Tage. Luke hielt große Stücke auf diese beiden; für ihn gehörten sie zu den besten Beamten in der Mordkommission. Doch an einer öffentlichen Belobigung war beiden nicht gelegen, aus Angst, sie könnten eines Tages befördert werden. »Was haben wir hier, Boss?« Luke deutete zum hinteren Flur. »Ich überlasse Ihnen den Tatort, Connor. Marsh, Sie werden den Beamten ihre Aufgaben zuweisen. Ich muss mich um eine Zeugin kümmern. Ich brauche Namen und Adressen der Opfer, und zwar schnell, denn das scheint mir kein Raubüberfall zu sein. Es ist noch keine Stunde vergangen. Also machen Sie allen Feuer unterm Hintern.« »Mach ich.« »Der Funkverkehr läuft über Kanal 4. Sobald Riker eintrifft, geben Sie mir Bescheid. Die Presse könnte ein Problem darstellen.« Das Einkaufszentrum zu räumen war unmöglich. Er konnte es auch nicht von einem Einsatzkommando nach dem Täter durchsuchen lassen, denn das würde vermutlich eine Panikreaktion auslösen und zu Verletzungen der Leute führen. Der Schütze hatte den Laden betreten, die Angestellten in den hinteren Lagerraum getrieben und sie dort erschossen. Der Tatort ließ darauf schließen, dass der Schütze verschwinden konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Da die Tat vor mindestens fünfzehn Minuten begangen worden war, ging er davon aus, dass der Täter bereits fort war. Für den Augenblick würden sie sich von innen, vom Tatort, nach außen vorarbeiten und versuchen, das Problem, vor dem sie standen, nicht noch unnötig zu verkomplizieren. Die Besucher des Einkaufszentrums wurden allmählich aufmerksam. Sie verlangsamten ihren Schritt, blieben stehen, tuschelten miteinander. Luke bahnte sich den Weg durch die Menge und bog in den Gang mit den Toiletten ein. Der Wagen mit den Putzmitteln
stand noch an der Stelle, wo er ihn hingestellt hatte. Luke umrundete ihn und betrat die Damentoilette. Der Stuhl stand mitten im Waschraum, aber die Frau war fort. Nur seine Jacke lag zusammengefaltet auf dem Stuhl. ÂťMadam? Kelly Brown?ÂŤ Er durchsuchte die Toilettenkabinen. Niemand da. Sie war fort. Trotz ihres Schocks und ihrer Angst war sie verschwunden.