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Heidrun Hurst

Der weiße Rabe (nach dem älteren Futhark)

johannis


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PROLOG Es war an einem Freitag, dem Tag, den das Nordvolk der Liebesgöttin Freya gewidmet hatte. Eine strahlende Sonne ergoss sich über die Frühlingswiesen und ließ violette Farbtupfer aus blühendem Wiesenschaumkraut zwischen zartgrünem Gras aufleuchten. Ein schöner Anblick, doch Hakon Egilsson hatte an diesem Tag keine Augen für die Schönheit der Natur. Er starrte voller Bitterkeit auf das Mädchen, das festlich geschmückt mit anmutigen Schritten hinter ihrem Bruder herging. Der junge Mann, nur zwei Jahre älter als seine Schwester, trug ein Schwert auf seinen ausgebreiteten Händen. Die Brautgabe für ihren zukünftigen Ehemann. Hakon stand neben dem Bräutigam und im Mittelpunkt der bunten Hochzeitsgesellschaft. Er zwang sich zu einem Lächeln, denn auf keinen Fall sollte einer seiner Männer merken, wie sehr er unter dieser Situation litt. Er war der Jarl dieser Sippe, die an der Mündung des Nidflusses wohnte, der dort in einen großen Fjord überging, bevor er ins offene Meer floss. Hakon war berühmt dafür, dass ihm, dem großen Nordmann, niemand etwas anhaben konnte. Hier hatte er mit seinen Männern eine befestigte Siedlung gebaut, die ihresgleichen suchte, und jeden Sommer unternahm er mit ihnen Raubzüge, die noch nie erfolglos gewesen waren. Ganz im Gegenteil, sie kehrten jedes Mal mit reicher Beute zurück, die einigen ein angenehmes Leben ermöglichte und den Rest davor bewahrte, mitsamt ihren Familien den Hungertod zu sterben. Jeder fürchtete und bewunderte ihn, den großen Anführer und Sohn des alten Egil, der ebenfalls ein Jarl gewesen war. Es war keine Selbstverständlichkeit, dass dieser Titel vom Vater auf den Sohn überging. Allein die Besten hatten ihn verdient, doch die Männer des Nidflusses hatten ihm diese Ehre erwiesen. 5


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Nur Aldis ehrte ihn nicht. Dieses elende Weib!, schrie es in seinem Innern. Wie konnte sie es wagen, ihm so etwas anzutun? Er kochte vor Wut und musste seine ganze Willenskraft aufbringen, um nicht nach vorne zu stürzen und sie zwischen seinen Händen zu zerquetschen. Dabei war sie das begehrenswerteste Mädchen, das er kannte. Verstohlen betrachtete er sie. Er ließ seinen Blick über ihr goldenes Haar gleiten, das mit einem Blumenkranz geschmückt war und sich wie der perlende Vorhang eines Wasserfalls bis zu den Hüften ergoss, sah die sanften braunen Augen, den schlanken Hals, die wohlgeformte Figur. Trotzdem war es nicht ihre Schönheit, die ihn anzog – er kannte einige Mädchen im heiratsfähigen Alter, die er schöner nennen konnte. Es war ihre stolze, unnachgiebige Art. Und gerade sie verschmähte ihn. Vor nicht allzu langer Zeit war alles noch ganz anders gewesen. Damals hatte sie ihn heiraten wollen, den begehrtesten Junggesellen der ganzen Gegend. Er hatte sie geliebt und sich ihrer so sicher gefühlt, obwohl er nie treu war. Doch als sie dahinterkam, dass er sie betrog, hatte sich ihre Liebe in Hass verwandelt. Sie wandte sich von ihm ab und all seine Bemühungen, sie zurückzugewinnen, waren vergebens. Die Leute begannen hinter seinem Rücken zu tuscheln. Er sah, wie sie sich heimlich das Maul über ihn zerrissen. So etwas machte man nicht mit einem Jarl. Sein Stolz war verletzt und er nahm sich mit Gewalt, was vermeintlich ihm gehörte. Er wollte Aldis dadurch zwingen, ihn zu heiraten, doch das Biest hatte ihn ein weiteres Mal zum Narren gemacht. Der Bräutigam, der neben Hakon gewartet hatte, trat nun seiner Braut entgegen. Mit keinem anderen hätte Aldis ihn mehr treffen können als mit ihm – seinem jüngeren Bruder. Sven hatte sie einfach nicht verdient! Sven war nicht wie er, auch wenn sie sich äußerlich sehr ähnlich sahen. Sie waren beide hoch gewachsen, von kräftiger Statur, hatten dunkle Haare und graue Augen; aber Sven hatte ein ganz anderes Gemüt. Im Gegensatz zu Hakon wirkte er wie ein gutmütiger Trottel und würde Wachs in Aldis Händen sein. Er war ein Weichling, 6


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der nie zu einem großen Führer taugen würde, und auch nicht zum Ehemann dieser eigenwilligen Frau. Trotzdem hatte sich Aldis für Sven entschieden und nicht für ihn! Das Hochzeitsritual begann. Svala, die Völva, war vom Langhaus ihres Bruders zur Nidsiedlung gekommen, um die Zeremonie zu leiten. Da die Eltern des Brautpaares nicht mehr lebten, traten Hakon und Thorleif, Aldis’ Bruder, als Zeugen auf. Sven übergab Thorleif das Brautgeld, ein kleines Kästchen mit Hacksilber, das dieser für Aldis entgegennahm. Nach der Hochzeit würde es ihr allein gehören. Dann wurde ein Eber vor das Brautpaar geführt. Hakon tötete das zornig quiekende Tier mit einem einzigen Schlag seiner Streitaxt, während die Völva mit dem Messer des Bräutigams dem Eber die Kehle durchtrennte. Blut spritzte auf und färbte das zarte Grün des Frühlingsgrases rot. Den Rest füllte Svala in eine Opferschale, dann nahm sie einen Tannenzweig und besprengte die gesamte Hochzeitsgesellschaft mit diesem Blut. In eintönigem Singsang rief sie Odin, Thor und Freya an und bat die Götter um Schutz und Fruchtbarkeit für die Brautleute. Sven und Aldis hielten sich etwas verschüchtert an den Händen und ließen alles geduldig über sich ergehen. »Sind sie nicht ein schönes Paar?«, hörte Hakon hinter sich eine weibliche Stimme seufzen. Ja, das sind sie in der Tat, dachte er missmutig. Aldis war nicht viel kleiner als Sven und ihr blondes Haar passte gut zu seinen dunklen Locken. Das Ende des Singsangs löste die Brautleute aus ihrer Erstarrung. Hakon trat nun vor und legte Sven das Schwert ihrer Ahnen in die ausgebreiteten Hände. Feierlich drehte er sich damit zu Aldis um. »Ich gebe dir dieses Schwert als Gabe für unseren ältesten Sohn. Bewahre es gut, damit du es eines Tages unversehrt an ihn weitergeben kannst«, er beugte sich leicht vor und legte Aldis die schwere Klinge in die Hände. »Das werde ich, Sven Egilsson«, erwiderte Aldis und überreichte ihm ihr Schwertgeschenk. Dann löste Sven einen silbernen Armreif aus einer Reihe von vier Ringen, die er am Oberarm trug, und hängte ihn über den Griff sei7


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nes Schwertes. »Mit diesem Ring gelobe ich dir Liebe und ewige Treue«, sagte er feierlich. Aldis nahm den Ring an, tat es ihm gleich und hängte ebenfalls einen Armreif, den sie getragen hatte, über den Schwertgriff. »Mit diesem Ring gelobe ich dir Gehorsam, Liebe und ewige Treue.« Sven nahm den Reif und schob ihn statt des anderen auf seinen Oberarm, zum Zeichen, dass er sie als Frau annahm. Lauter Jubel brach unter den Zuschauern aus und jeder drängte nach vorne, um das junge Ehepaar zu beglückwünschen. Aldis lächelte und als ihr Blick Hakons graue Augen traf, lag ein triumphierendes Leuchten darin. Sein voller Mund verwandelte sich für einen Moment zu einem schmalen Strich, bevor er sich eines besseren besann und wieder ein gleichgültiges Gesicht aufsetzte, um sich den Gratulanten anzuschließen. »Ich wünsche euch beiden Glück«, sagte er freundlich. »Ich danke dir, Bruder.« Sven strahlte und umarmte ihn herzlich. Er ahnte nicht das Geringste von dem, was in Hakon vorging, denn dieser hatte ihm selbst versichert, dass er Aldis ruhig haben könne, da sein Interesse für sie erloschen sei. Als das Brautpaar auf die Siedlung zuschritt, um die Hochzeit zu feiern, betrachtete Hakon noch einmal voller Wehmut Aldis’ Haar, von dem manche Strähnen flüchtig im Wind flatterten. Es war das letzte Mal, dass sie es lose und unverhüllt tragen würde. Odin schlage diese hochmütige Hexe!, dachte er erbittert. Eines Tages werde ich ihr heimzahlen, was sie mir angetan hat! Er tröstete sich mit diesem Gedanken und seine Schritte fielen ihm leichter. Sven hatte die ganze Siedlung zu dieser Hochzeitsfeier eingeladen und fast sein gesamtes Vermögen ausgegeben, um mit diesem Fest seiner jungen Frau die Ehre zu geben, die ihr gebührte. Da er noch kein eigenes Haus besaß, feierten sie in der Halle seines Bruders, so wie es die Sitte verlangte. Von Hakon, dem Besitzer der Halle und nächsten Verwandten des Bräutigams, wurden eine Menge Trinksprüche auf das junge Paar erwartet. Bier und Met würden in Strömen fließen; ein großer, gegrillter Ochse, mehrere Schafe und der geopferte Eber warteten darauf, verzehrt zu werden. Tief sog Hakon die 8


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salzige Brise, die vom Fjord herüberwehte, in seine Lungen. Er würde seine Rolle gut spielen, denn irgendwann würde der Tag kommen. Sein Tag, an dem er Rache nehmen konnte für all die Schmach, die ihm diese Frau zugefügt hatte.

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TEIL 1 Norwegen Im Jahre 800 nach Christi Geburt Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf; erkennt ihr es denn nicht? Jesaja 43,19a

1. Elchjagd Sven Egilsson bückte sich, um die Spur im Schnee näher betrachten zu können. Sie hatten ohne Zweifel gefunden, was sie suchten. Die Abdrücke der großen, geteilten Hufe waren zwischen bereits verwischten Spuren deutlich erkennbar. »Das hast du gut gemacht«, lobte er Gráfeldur, seinen Hund, während er ihm das wolfsgraue Fell tätschelte. Gráfeldur hechelte freudig und bedachte ihn mit einem zwielichtigen Blick aus seinen Augen, von denen das eine blau, das andere braun war. Immer wenn Sven ihn anschaute, fand er, dass etwas Unheimliches in der Art lag, wie das Tier zurückblickte. Trotzdem war Gráfeldur der treueste und verständigste Hund, den er je hatte. Sven richtete sich auf und suchte mit den Augen die Gegend ab, um seinem Sohn ein Zeichen zu geben. Leif suchte mit Dimmi, einem zweiten Hund, an einer anderen Stelle des Waldes, doch sie waren immer wieder in Blickkontakt. Als Leif seinen Vater winken sah, eilte er, so schnell es der frostige Boden erlaubte, zu ihm. Der Winter hatte am SelbusjØen Einzug gehalten. Hier, an diesem großen See, der südöstlich von Hakons Siedlung lag, hatte Sven ein Haus gebaut und eine Familie gegründet. 11


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Er war dieses Jahr spät von der Wikingfahrt zurückgekehrt. Schwere Stürme hatten die Schiffe und ihre Mannschaft auf dem eisigen Meer herumgeworfen und sie hatten die Orientierung verloren. Eine Zeitlang glaubte Sven, dass er seine Frau und die Kinder niemals wiedersehen würde. Doch Hakon bewies, wie schon so oft, dass er ein guter Führer war; er hatte zur Siedlung an der Mündung des Nid zurückgefunden. Als Sven das Schiff verlassen und den Anteil seiner Beute erhalten hatte, war er sofort nach Hause geeilt. Eigentlich hätte er sich noch ein paar Tage ausruhen sollen, denn sein Körper war geschwächt und er musste vier qualvolle Tage mit dem voll bepackten Pferd durch die eisige Winterlandschaft laufen, bis er endlich den Palisadenzaun erblickte, der Haus und Hof umgab. Doch seine Frau war schwanger, als er fortgegangen war, und er lebte schon viel zu lange im Ungewissen darüber, ob Mutter und Kind wohlauf waren. Sven wusste nur zu gut, dass immer wieder Frauen bei der Geburt starben; was für ein herber Verlust wäre das für ihn gewesen, denn er liebte seine Frau. Zu Hause hatte er dann voller Freude den kleinen Jungen bewundert, den sie geboren hatte, und es machte ihn glücklich, dass beide bei bester Gesundheit waren. Doch war ein schlimmer Husten der Lohn für sein vorzeitiges Aufbrechen. Wie gern hätte er sich nun endlich am heimatlichen Feuer ein paar Tage Ruhe gegönnt, um die Freuden seiner Familie zu genießen, doch daraus wurde nichts. Sie hatten kein Fleisch mehr. Er musste schnellstmöglich dafür sorgen, dass die Vorratskammer wieder gefüllt wurde, denn ohne Fleisch konnten sie den Winter nicht überleben. Leif war zwar mit Geimund, dem Knecht, auf der Jagd gewesen, aber Geimund taugte nicht zur Jagd und Leif hatte nur ein paar Hasen erbeutet. Sven musste sich also noch einmal zusammenreißen und auf Elchjagd gehen. Ein einziges Tier deckte den Fleischbedarf der ganzen Familie für ein paar Monate. Auch der Rest war verwertbar. Aldis würde aus der Haut Kleidung und Schuhe herstellen und aus Knochen und Geweih konnte man Werkzeuge und Schmuckstücke anfertigen. 12


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»Hast du etwas gefunden, Vater?« Leif atmete heftig, als er Sven erreichte. Wangen, Kinn und Nase waren von der Kälte gerötet und bildeten einen starken Kontrast zu seiner sonst so hellen Gesichtshaut. Das eisige Wetter hatte glitzernde Eiskristalle auf seiner Pelzmütze entstehen lassen, welche ihm die langen, blonden Locken verklebten, die darunter zum Vorschein kamen. »Hier, siehst du?« Sven zeigte auf die Spur des Elches und den Kot, den er nicht weit entfernt davon entdeckt hatte. Gierig steckte Dimmi seine spitze Schnauze in die Schneespur und schnüffelte mit Gráfeldur eifrig an ihr entlang. Ihre Nasen durchpflügten den Schnee, als ob sich der Elch darunter verborgen hätte, während sich weiße, aufgeregte Atemwölkchen über ihren Köpfen sammelten, bevor sie im Nichts verschwanden. Sven ließ seinen Blick durch die Gegend schweifen. Vielleicht stand das Tier irgendwo zwischen den verschneiten Bäumen, deren schwarze, knorrige Körper wie Totengeister in der Wildnis aufragten. Oder es hatte sich hinter den dichten Nadeln der Tannen versteckt, um sie aus sicherer Entfernung zu beobachten. Doch Sven konnte nichts entdecken. Der Wald bot eine gute Tarnung. Da der Kot schon leicht überfroren war, konnte der Elch in der Zwischenzeit weit gewandert sein. »Trink etwas!« Sven hielt Leif den Wasserbeutel hin. »Du wirst es brauchen.« Leif nahm ein paar Schlucke und gab die Flasche seinem Vater zurück. In der Nähe saß ein großer Rabe auf einem Ast, legte den Kopf schief und beobachtete sie mit seinen klugen Augen. Ob das wohl einer von Odins Raben war? Hugin und Munin hießen die beiden, die Odin in die Welt hinaussandte, damit sie ihm berichteten, was dort vor sich ging. Die Hunde wurden immer ungeduldiger. Sie scharrten angriffslustig im Schnee und ihr forderndes Bellen hallte durch den Wald. Sven befahl ihnen sofort, damit aufzuhören. Dann nahm er selbst einen großen Schluck aus dem Beutel. »Bist du so weit?«, fragte er krächzend seinen Sohn. Das Wasser reizte ihn im Hals, er musste heftig husten und spuckte grünen Schleim in den Schnee. »Ja, Vater«, 13


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entgegnete Leif. Er teilte die Ungeduld der Hunde und konnte es kaum noch erwarten, bis die Jagd endlich begann. Prickelnd schoss die Aufregung durch seine Blutadern, die er bis in die Zehenspitzen fühlen konnte. Sven verschloss die Flasche sorgfältig und hängte sie sich über die Schulter. Er zögerte einen Augenblick. Die Hustenanfälle kamen in immer kürzeren Abständen; sie raubten ihm die Kraft und ließen seine Beine zittern. Reiß dich zusammen, sagte er sich, du hast schon Schlimmeres hinter dich gebracht. Leif stapfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Ist etwas nicht in Ordnung, Vater?« Unsicher sah er Sven an. »Nichts, mein Junge. Ich brauche nur eine kurze Verschnaufpause.« Der Husten schüttelte ihn von Neuem und ließ ihn pfeifend ausatmen. Als Sven wieder genügend Luft in seinen Lungen fühlte, gab er den Hunden das Kommando: »Sucht!« Lautlos lief er hinter den Tieren her. Leif klopfte schnell den pappigen Schnee von seinen Fellstiefeln und beeilte sich, seinen Vater einzuholen. Er wusste, dass die beiden Hunde nicht mehr anhalten würden, bis sie ihre Beute gefunden hatten. Gleichmäßig trabten Vater und Sohn nebeneinander her, um möglichst lange durchhalten zu können. Ein Elch hatte lange Beine und konnte weite Strecken zurücklegen. Man konnte ihn nur erlegen, wenn man ihn überraschte, doch die Natur schien auf ihrer Seite zu sein, denn der Schnee hatte sich wie eine Glocke über den Wald gelegt und verschluckte ihre Tritte. Auch die Hunde waren verstummt. Um so lauter wirkte das Gezänk zweier Elstern, die sich um einen alten Fleischbrocken stritten. Dann trat wieder Stille ein. Hier und dort schickte die Sonne ihre Strahlen durch die Bäume und ließ den Schnee unter ihren Füßen glitzern. Leif kam sich so unwirklich vor wie in einem Traum. Die Anstrengung des Laufens holte ihn jedoch bald wieder zurück in die Wirklichkeit, denn es ging stetig bergan. Etwa zwei Stunden später verkündete lautes Gebell, dass die Hunde den Elch gefunden hatten. Leise näherten sich die zwei Jäger der Stelle und duckten sich hinter ein Gebüsch, damit sie der große, braune Riese nicht be14


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merkte. Gráfeldur und Dimmi verbellten das Hinterteil eines mächtigen Bullen, dem die aufdringlichen Gesellen langsam zu viel wurden. Abrupt drehte er sich nach ihnen um und senkte bedrohlich sein mächtiges Geweih. Die beiden Hunde stellten nicht wirklich eine Bedrohung für ihn dar, doch ließen ihn die lästigen Quälgeister alles andere vergessen, und so bemerkte er die beiden Jäger im Hintergrund nicht, die den ungleichen Kampf beobachteten. Mit Vorder- und Hinterläufen versuchte er nun, die Hunde zu treten. Geschickt wichen sie den tückischen Tritten aus, doch plötzlich heulte Dimmi laut auf und rollte wie eine Kugel durch den Schnee; der Elch hatte einen Treffer gelandet und ihn in den Bauch getreten. Immer noch blieben die beiden Jäger in Deckung und beobachteten die Tiere. Leif nahm langsam seinen großen Eibenbogen von der Schulter. Er war fünfzehn, bald sechzehn Jahre alt und dies war der erste Elch, den er selbst erlegen sollte. Konzentriert steckte er einen Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen. Kraft und Geschick waren nötig, um die Sehne dieses Bogens weit genug nach hinten ziehen zu können, doch ein kleinerer Bogen hätte nicht genügend Durchschlagskraft, um ein solch großes Tier zu töten. Leif hatte es den ganzen Sommer hindurch geübt, trotzdem schmerzten seine Arme vor Anstrengung. Er begleitete seinen Vater seit dem zehnten Lebensjahr auf die Jagd und hatte schon kleineres Wild erlegt, aber ein Elchbulle war etwas ganz anderes. Leifs Herz klopfte wild, doch versuchte er, seine Aufregung, so gut es ging, zu verbergen. Die Ehre dieses Schusses wollte er nicht durch einen Anfall von Schwäche verderben. Tief sog er die klare Winterluft ein und wartete. Er musste die Brust des Tiers treffen, sonst stand ihnen die nächste Verfolgungsjagd bevor. Einmal hatte Vater versehentlich den Bauch eines Elchs getroffen und sie mussten ihn anschließend zwei Tage lang suchen, bis sie ihn endlich fanden. Er war einen langen, qualvollen Tod gestorben und sein Fleisch war so verdorben gewesen, dass sie es nicht mehr essen konnten. Leif wollte es heute unbedingt besser machen. 15


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Dimmi schien sich erholt zu haben, denn beide Hunde umrundeten den Elch nun und versuchten, ihn wieder von hinten anzugreifen. Blitzschnell drehte sich der Bulle, um sein Hinterteil zu schützen. »Jetzt!« Leif visierte die Brust an und ließ den Pfeil davonschnellen. Der Elch stieß einen verwunderten Laut aus, als er tief in die Lunge eindrang. Pfeifend entwich die Luft aus seinem Maul, dann knickten die Vorderbeine weg. Eine Weile verharrte er in dieser Stellung, bis das gnädige Ende kam und er langsam in sich zusammenbrach. Leif jubelte, warf den Bogen ins Gebüsch und eilte auf seine Beute zu. Als er das gefallene Tier fast erreicht hatte, prallte er erschrocken zurück. Urplötzlich war der Elch wieder aufgesprungen und stand nun Auge in Auge vor ihm. Leif konnte seine wütenden, blutunterlaufenen Augen sehen, die breite, überhängende Oberlippe, und den großen Hautsack, der von seiner Kehle herabhing. Ganz langsam und vorsichtig machte er einen Schritt auf Leif zu. Sein mächtiger Kopf mit dem breiten Schaufelgeweih senkte sich bedrohlich. Leif fühlte Angst in sich aufsteigen und trotz der Kälte brach ihm der Schweiß aus. Wie angewurzelt stand er da und konnte nur weiter in die Augen des Tiers starren. Er wird dich auf sein Geweih nehmen, wenn du dich nicht endlich bewegst, dachte er voller Panik – doch seine Beine versagten ihm den Dienst. Blutiger Schaum drang dem Tier aus der großen Nase und hinterließ rote Flecken im Schnee. Leif roch den intensiven Wildgeruch. Sein Kopf riet ihm ein weiteres Mal wegzulaufen, aber seine Beine bewegten sich immer noch nicht. Sven stand etwas abseits und beobachtete röchelnd seinen Sohn. Er würde erst eingreifen, wenn es nicht mehr anders ging. Diese Begegnung würde Leif einiges über die Jagd lehren und seinen Mut auf die Probe stellen. Genau so plötzlich, wie der große Bulle aufgestanden war, drehte er nun den Kopf zur Seite, nahm seine ganze Kraft zusammen und lief davon. Fassungslos schaute Leif dem flüchtenden Tier hinterher. Er hatte versagt, war zu voreilig gewesen und hätte diese Dummheit fast mit dem Leben bezahlt! Da fühlte er Vaters Hand auf der Schulter. »Warte ein Weilchen. Bald wird der Todeskampf vorbei sein«, sagte er 16


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sanft. Leif nickte. Er holte tief Luft und verbarg seine zitternden Hände. Die Angst, die seinen Körper gefangen gehalten hatte, war immer noch spürbar. Nur zögernd wich die Anspannung aus ihm. Der Elch setzte seine Flucht fort, doch mit der verletzten Lunge würde er nicht weit kommen. Gemeinsam folgten sie der Blutspur. Die beiden Hunde waren schon längst auf und davon und man hörte ihr entferntes Bellen im Wald. Kurz darauf fanden sie ihn. Das Tier lag auf der Seite, umringt von den aufgeregten Hunden. Noch im Tod schienen die Beine weiterlaufen zu wollen, doch dann lag der Elch reglos da. »Eine gute Jagd«, Sven klopfte Leif anerkennend auf die Schulter. »Noch ein klein wenig verbesserungswürdig, aber du wirst es lernen.« Leif lächelte säuerlich. Sogar in solch einem Moment fand sein Vater noch lobende Worte für ihn! »Na ja, vielleicht warte ich das nächste Mal ein Weilchen und überzeuge mich erst davon, dass das Tier wirklich tot ist, bevor ich losstürme.« »Das ist eine gute Idee«, meinte Sven und lächelte ebenfalls. Leif war ein guter Junge. Kurz nachdem er Aldis geheiratet hatte, war sie schwanger geworden, und im darauf folgenden Winter gebar sie ihm Leif, seinen ältesten Sohn. Er sah ihr sehr ähnlich, hatte die gleichen sanften, braunen Augen und sein Haar war ebenso golden wie ihres, wenn auch lockig wie sein eigenes. Ich werde langsam alt, dachte Sven, dabei hatte er noch keine vierzig Winter erlebt. Doch seit er Leif zum letzten Mal gesehen hatte war ein Mann aus ihm geworden. Er war nicht mehr der dünne Junge, den er bis jetzt gekannt hatte. Seine Hüften waren schmal und seine Schultern breit geworden, und obwohl sein Gesicht noch die weichen Züge der Kindheit trug, war er groß gewachsen. Seine Muskeln verrieten, dass er kräftig war, und seine Stimme hatte einen tieferen Ton angenommen. Aldis hatte Sven noch sechs weitere Kinder geboren, doch nur drei waren ihnen geblieben: Ihre Tochter Solveig, die zehn Jahre alt war und der kleine Floki, keine drei Monate alt. Sven hoffte, dass der 17


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Kleine den harten Winter, der ihnen bevorstand, überlebte. Die eintretende Dämmerung riss ihn aus seinen Gedanken. »Komm, wir müssen uns beeilen, es wird bald dunkel werden.« Hustend machte er sich an die Arbeit und Leif konnte den Schleim in Svens Brust rumpeln hören. Den ganzen Tag hustete Vater nun schon fast ununterbrochen. Er begann, sich langsam Sorgen zu machen. Es wird Zeit, dass er nach Hause kommt, dachte er und runzelte die Stirn. »Wenn wir uns ranhalten, könnten wir morgen Abend wieder zu Hause sein. Ein warmes Feuer und Mutters Pflege werden dir guttun.« Sven lachte. »Oh ja, mein Sohn, das denke ich auch. Es ist viel zu lange her, dass ich meine Tage am warmen Feuer unter einem schützenden Dach zugebracht und etwas Anständiges zu Essen bekommen habe.« »Freust du dich, wieder zu Hause zu sein?« »Ich freue mich immer, euch zu sehen.« Sven schnitt die Kehle des Elchs auf und ließ das Blut ablaufen. »Warum gehst du dann jedes Jahr fort?« Gemeinsam banden sie dem schweren Tier Stricke um die Fesseln, zogen es damit auf den Rücken und befestigten die Beine an vier umstehenden Bäumen, während Sven unter der Last ächzend antwortete: »Weil ich meinem Bruder verpflichtet bin, Junge. Nimm dein Messer und schneide ihm den Bauch auf.« Leif schnitt vorsichtig durch die Bauchdecke, um die Gedärme nicht zu verletzen. »Du bist ihm verpflichtet?« »Nun, Hakon ist der Jarl und wir sind Mitglieder seiner großen Sippe. Jede Familie, die zur Sippe gehört, ist verpflichtet, zumindest einen Mann als Krieger zur Verfügung zu stellen.« Leif horchte auf, ließ aber die Augen nicht von seiner Arbeit. »Nur einen Mann?« »Wenn der Mann erwachsene Söhne hat, sind auch sie ihm verpflichtet.« »Und was ist mit mir? Bin ich nicht schon längst erwachsen?« Sven schnaufte und machte sich daran, den Elch auszuweiden. »Eines Tages wirst auch du auf Hakons Schiffen über das Meer segeln.« 18


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Leif blickte auf. Der Elch war vergessen. »Wann wird das sein Vater?« »Ich – ich weiß es nicht. Im Moment braucht dich deine Mutter noch. Wenn ich weg bin, muss jemand da sein, der ihr bei der Bewirtschaftung des Hofs hilft, gerade jetzt, wo sie noch einmal ein Kind bekommen hat.« Also hatte Bera, die alte Magd, doch recht gehabt. Sie hatte ihm schon vor langer Zeit erzählt, dass er eigentlich zu Hakon gehen müsse, um wie alle heranwachsenden Söhne als Krieger ausgebildet zu werden. Seine Mutter würde das nur immer wieder verhindern. Er kannte seinen Onkel nicht einmal, hatte ihn noch nie gesehen! »Eine Schande ist das, pah«, hatte sie gesagt und auf den Boden gespuckt. »So wird nie ein richtiger Mann aus dir.« Schweigend zogen sie dem Elch das Fell ab und zerteilten ihn. Sven machte ein verschlossenes Gesicht und Leif wagte nicht mehr, weiterzufragen. Aber in seinem Innern kochte es. Mutter brauchte ihn – das war nichts weiter als eine billige Ausrede! Die Veränderung seines Körpers war ihm nicht entgangen. Er war groß und stark geworden und spürte den Drang in sich, fortzugehen und Abenteuer zu erleben. Andere Jungen in seinem Alter hatten sicher schon längst den heimatlichen Hof verlassen und waren Krieger geworden. Krieger wie sein Vater, der jedes Jahr mit fetter Beute nach Hause kam, während er sich wie ein Arbeitssklave in seinem eigenen Elternhaus fühlte. Warum wollte Mutter nicht, dass er ging? Er verstand sie nicht. Es war schon dunkel, als sie ein Feuer machten und frisches Elchfleisch auf Stöcke spießten, um es zu braten. Den Rest legten sie in den Schnee und deckten es damit zu. Gráfeldur und Dimmi bekamen ihren Anteil der Beute und taten sich an Eingeweiden und Luftröhre des Tieres gütlich. Nachdem sie ein Lager mit einem schützenden Dach aus Kiefernzweigen errichtet hatten, war es Zeit zu schlafen. Satt legten sich die Hunde in den Schnee, rollten sich zu einer Kugel zusammen und steckten ihre spitzen Schnauzen tief unter den Schwanz. Dimmis schwarzes Fell war gut in der weißen 19


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Landschaft zu erkennen, während der graue Gráfeldur fast mit seiner Unterlage verschmolz. »Ruhe du dich zuerst aus Vater, ich übernehme die erste Wache«, sagte Leif fürsorglich. »Du bist krank.« Sven widersprach nicht. Seine Schwäche schien zuzunehmen und er fühlte sich fiebrig. Er kroch unter das Dach aus Kiefernzweigen, legte sich so nahe wie möglich ans Feuer, um dessen Wärme zu spüren, deckte sich mit seinem Mantel aus Bärenfell zu und war sofort eingeschlafen. Besorgt betrachtete Leif seinen Vater, während er sich neben ihn ans Feuer hockte, um den Schneehügel, der das Fleisch verbarg, im Auge zu haben. Svens sonst so gut aussehendes Gesicht wirkte eingefallen und tiefe Schatten hatten sich um seine Augen gelegt.

2. Schneesturm Ein kalter Windhauch strich Leif über die Wangen, als er erwachte. Seine Beine waren taub vor Kälte. Schlaftrunken bewegte er die steifen Glieder, damit das Leben wieder in sie zurückkehrte. Vater schlief immer noch und lag mit bleichem Gesicht auf seinem Lager. Die Hunde hatten sich zu ihm gelegt, um ihn zu wärmen. Eine Schneeschicht bedeckte das schützende Dach über ihnen. Es musste gegen Morgen geschneit haben. Müde legte Leif frisches Holz auf das glimmende Feuer, damit es sein Vater wärmer hätte. Es war eine lange Nacht gewesen. Mehrmals konnte er das unheimliche Heulen eines Wolfsrudels hören. Die Tiere waren so nah an das Lager herangekommen, dass er ihre bernsteinfarbenen Augen in der Dunkelheit aufleuchten sah. Der Geruch des frischen Blutes hatte sie angezogen und Hoffnung auf leichte Beute geweckt. Ihre Gegenwart spannte seine Nerven bis aufs Äußerste. Er hatte mehr Holz auf das Feuer gelegt und nach seinem Jagdmesser gegriffen, um notfalls das Fleisch verteidigen zu können – obwohl die Aussicht auf Erfolg gering war. Ein Einzelner konnte es nicht mit einem ganzen Wolfsrudel aufnehmen und Vater war ihm keine Hilfe, höchstens die Hunde, die 20


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den unerwarteten Besuch wütend anbellten. Trotzdem hätte er es versucht, denn Fleisch war kostbar und man starb allzu leicht den Hungertod in diesem rauen, kalten Land. Doch heute Nacht hatte die Anwesenheit der Menschen und bellenden Hunde genügt, um die Wölfe wieder zu vertreiben; das kräftig brennende Feuer tat ein Übriges. Während der ganzen Zeit hatte sich Vater unruhig auf seinem Lager hin und her gewälzt, war aber trotz des Lärms nicht ein einziges Mal wach geworden. So hatte Leif beschlossen, Vaters Wache auch noch zu übernehmen, aber dann waren ihm wohl doch die Augen zugefallen. »Steh auf, Vater, es ist schon Morgen.« Leif schüttelte ihn sacht. Sven öffnete die Augen. Obwohl es ein wolkenverhangener Tag war, traf ihn die Helligkeit wie ein Blitz und stach sein Hirn mit feurigen Nadeln. Schnell schloss er die Augen wieder. »Es wird bald schneien«, meinte Leif mit einem besorgten Blick nach oben. Er kannte die Vorboten des schlechten Wetters. Der Wind begann schon aufzufrischen, jagte die grauen Wolken wie Schafe über den Himmel und ballte sie zu einer bleiernen Masse zusammen. »Wir sollten uns beeilen!« Schwerfällig raffte Sven sich auf. Das Fieber war schlimmer geworden. Seine Glieder schmerzten und er sehnte sich eine Schlafbank am warmen Feuer herbei, auf der er sich endlich niederlassen konnte. Doch er durfte seinen Sohn jetzt nicht im Stich lassen! Sie aßen den Rest der Brotfladen, die ihnen Aldis mitgegeben hatte, und ließen sich dabei vom Feuer wärmen. Dann machten sie sich daran, einen Schlitten zu bauen, auf dem sie das Fleisch transportieren konnten. Schweigend fällten sie zwei junge Bäume, entrindeten die schlanken Stämme und legten sie als Kufen in den Schnee. Darauf bauten sie ein Gestell, das sie mit Stricken zusammenbanden. Den Boden des Schlittens legten sie mit Ästen und Fichtenzweigen aus, die sie fest miteinander verschnürten. Darauf sollte schließlich das Elchfleisch gelegt werden. Leif grub das Fleisch, das die Hunde nicht aus den Augen gelassen hatten, aus dem Schneehügel aus und belud den Schlitten. Zuunterst kam die Haut des Elches, damit sie sein Fleisch darin eingeschlagen konnten. Auch das Geweih nahmen sie 21


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mit; einen kleinen Teil aber weihten sie, zum Dank für die gute Jagd, den Göttern. Sven hatte sich währenddessen ausgeruht. Auch wenn sein Vater nichts sagte, konnte Leif sehen, dass er sehr krank war. Husten und Fieber nagten hartnäckig an ihm und der Bau des Schlittens hatte seine ganze Kraft beansprucht. Er muss so schnell wie möglich nach Hause, dachte er nicht zum ersten Mal und beeilte sich. Leif sollte Recht behalten, denn als sie sich auf den Heimweg machten, begann es zu schneien. Ein kurzes Stück zogen und schoben sie den Schlitten über den schmalen, fast ebenen Einschnitt des Berges, der ihnen als Nachtlager gedient hatte. Die Hunde sprangen voller Freude um sie herum. Dann ging die Ebene in eine leichte Senke über und Sven sprang hinten auf, während Leif sich der Vorderseite des Schlittens widmete. Gemächlich glitt der Schlitten eine Zeitlang den Berg hinunter, doch dann wurde der Hang steiler. Sie nahmen immer mehr Fahrt auf und schossen geradezu über den Schnee. Sven nahm seine ganze Kraft zusammen, lenkte den Schlitten geschickt zwischen den Bäumen hindurch und an Felszacken vorbei, die sich immer wieder vor ihnen auftürmten. Im Laufe der Zeit wurde der Schneefall stärker, während der Wind die Baumwipfel krümmte. Eiskristalle peitschten ihnen schmerzhaft ins Gesicht und bald wurde es so düster, dass sie kaum noch die Hand vor den Augen sehen konnten. Verzweifelt hielt sich Sven am Schlitten fest. Seine Kräfte begannen bedrohlich zu schwinden und er konnte sich nicht mehr dagegen wehren. Das schlechte Wetter tat ein Übriges. »Wir müssen anhalten«, brüllte er gegen den heulenden Sturm an. »Es hat keinen Zweck weiterzufahren.« Erleichtert sah er, wie Leif ihm ein Zeichen gab, dass er verstand. Die Ruhepause würde ihm neue Kraft geben, hoffte er. Bei der nächsten Mulde stoppten sie den Schlitten und zogen ihn nah an eine Felswand, die ihnen etwas Schutz vor dem Sturm bot. So schnell es ging, luden sie das Fleisch ab, um an die Unterlage aus Fichtenzweigen heranzukommen. Sie kippten den Schlitten zur Seite, während der Sturm, der ihre Ge22


17149 Der weiße Rabe

14.04.2009

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sichter zu Eis gefrieren ließ, brüllend um sie herum tobte. Dann krochen sie in die Lücke, die sie zwischen Schlitten und Fels gelassen hatten und machten die Zweige über ihren Köpfen fest. Dieses Dach würde den wirbelnden Schnee abhalten. Gráfeldur und Dimmi schlüpften winselnd zu ihnen in die künstliche Höhle, um Schutz bei ihnen zu suchen. So wärmten sich Mensch und Tier gegenseitig. Odin allein wusste, ob sie am nächsten Tag noch leben würden. Ihr Leben lag allein in der Hand der Götter. Irgendwann in der Nacht legte sich das beängstigende Geheul des Schneesturms. Ein neuer Morgen zog freundlich herauf, der Leif durch die Stille weckte, die ihn umgab. Verwundert stellte er fest, dass er trotz des heulenden Sturms eingeschlafen war. Der Schnee auf den Fichtenzweigen hatte während der Nacht ein schützendes Dach über ihnen gebildet und dafür gesorgt, dass sie nicht erfroren waren. Er schob die Zweige fort und genoss den schönen Anblick, der sich ihm bot. Der verschneite Wald lag da, als käme er aus einer anderen Welt. Eine strahlende Wintersonne schien vom Himmel und brach sich in Millionen kleiner Eiskristalle. Die Luft war so klar, dass er das Gefühl hatte, alles überdeutlich sehen zu können. Außer ein paar umgestürzten Bäumen schien nichts die Idylle zu trüben. Erst jetzt konnte Leif sehen, dass ihr Nachtquartier auf einer Lichtung lag, die auf ihrer Seite an eine Felswand grenzte und etwa hundert Schritte weiter ins Tal abfiel. »Vater, wach auf!« Leif bückte sich, gab Sven einen leichten Stoß und erschrak. Svens schmales Gesicht war schneeweiß, der Bart voller Eisklümpchen. Er sah aus wie tot! »Vater, Vater!« Angstvoll schüttelte Leif den steifen Körper. Da hustete Sven und Leif atmete erleichtert auf. »Komm, steh auf«, versuchte er ihn zu ermuntern, »es ist ein herrlicher Tag. Der Rest des Weges wird nicht mehr so anstrengend sein.« Doch Sven gab keine Antwort. »Vater, was ist? Rede doch mit mir!« Sven hustete erneut und antwortete krächzend: »Ich kann nicht mehr Junge. Ich kann keinen Schritt mehr gehen.« 23


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