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Angela Elwell Hunt

Jennifers Traum Roman

johannis


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dn-b.de abrufbar.

ISBN 978-3-501-01613-8 TELOS-Paperback 72 478 © 2009 by Johannis-Verlag, Abt. der St.-Johannis-Druckerei C. Schweickhardt GmbH, Lahr/Schwarzwald Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Doesn’t She Look Natural? © 2007 by Angela Elwell Hunt. All rights reserved. Published by arrangement with Browne & Miller Literary Associates, LLC Umschlag: Horst Klatt Gesamtherstellung: St.-Johannis-Druckerei C. Schweickhardt GmbH, Lahr/Schwarzwald Printed in Germany 17181/2009 www.johannis-verlag.de


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KAPITEL 1 Eine Frau in Trauer, so habe ich festgestellt, ist wie eine Crème Brulée: Zuerst ist sie in einem flüssigen Zustand, erträgt dann eine Phase sengender Hitze und entwickelt schließlich eine harte Kruste, ähnlich wie Schorf auf einer Wunde. Zum Zeitpunkt des Hausverkaufs bin ich über und über mit dieser Kruste bedeckt; deshalb bin ich wirklich über mich erstaunt, als die Maklerin mir einen Scheck zuschiebt und Tränen meinen Blick trüben. Ms Nichols scheint meine feuchten Augen nicht zu bemerken. »Das ist ja ein netter kleiner Gewinn, auch wenn es nur die Hälfte der Verkaufssumme ist«, sagt sie und fixiert den Scheck dabei so, als könne sie es kaum ertragen, ihn in meine Hände übergehen zu sehen. »Falls Sie an einem anderen Kaufobjekt Interesse haben ...« »Ich bin sicher, dass wir erst mal eine Zeit lang mieten werden.« Ich senke meinen Blick, damit sie in der Anspannung meines Gesichtes nicht den Rest der Geschichte lesen kann. Dieses Geld ist alles, was wir haben. Offensichtlich scheint die Maklerin die Heiserkeit in meiner Stimme nicht zu bemerken, denn sie plappert munter weiter. »Unsere Vertreter handeln auch mit Mietobjekten. Haben Sie Interesse? Ich habe zufällig gerade ein Gebäude innerhalb des Regierungsbezirkes ...« »Jedes Haus, das ich mir dort leisten könnte, wäre für mich und meine Jungs zu klein.« Ms Nichols runzelt die Stirn und wundert sich wahrscheinlich, dass eine Frau, die gerade 40 000 Dollar erhalten hat, so knauserig sein kann. Sie zuckt die Schultern. »Wir sind in den Gelben Seiten, falls Sie 5


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Ihre Meinung ändern. Stets zu Ihren Diensten.« Sie steht auf und streckt ihre Hand aus. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Mrs Graham.« Mein Gesicht verzieht sich zu einem angestrengten Lächeln. Habe ich eigentlich noch das Recht, »Mrs« genannt zu werden? Die Anrede passt zu mir ungefähr so wie mein Ehering, der mittlerweile zwei Nummern zu groß ist und in die Tiefe meiner Schublade mit Unterwäsche verbannt wurde. Durch den Stress sind meine Finger sehr abgemagert und mein Gesicht ist um Jahre gealtert. Meine Jungs haben das nicht bemerkt, meine Mutter dafür umso mehr. Bevor wir heute Nacht das Licht ausmachen, wird es sicher wieder einen Vortrag geben über »Warum du diesen Schurken nicht hättest heiraten sollen« oder »Was wird nur aus meinen armen Enkelsöhnen werden, die keinen Vater haben, der mit ihnen Ball spielt?« Ich kann der Wahrheit nicht länger ausweichen. Ich bin nicht nur geschieden, sondern auch obdachlos. Es war wirklich gut, dass ich mir diese Kruste zugelegt habe. Ich stehe auf und ergreife die ausgestreckte Hand der Maklerin. »Wenn die neuen Besitzer irgendwelche Fragen haben, können Sie mich unter der Adresse meiner Mutter erreichen. Wir werden dort sein, bis wir ein Haus zur Miete gefunden haben.« Ms Nichols lacht. »Hm, eigentlich unterstützen wir den Kontakt zu den Käufern nach dem Verkauf nicht. Wenn nächste Woche eines der Rohre platzt, wollen Sie doch nichts damit zu tun haben müssen. Weggehen und sich nicht mehr umdrehen – so ist es für alle das Beste.« Leichter gesagt als getan. Ich lächle der Frau steif zu und verlasse das Maklerbüro. Ich würde so gerne der Zukunft entgegengehen, ohne nach hinten zu schauen, aber es ist eben nicht leicht, 16 Ehejahre hinter sich zu lassen, ohne wenigstens einen verstohlenen Blick in den Rückspiegel zu werfen. 6


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Ich erreiche unseren Minibus und erhasche einen Blick von mir im Fenster an der Fahrerseite. An diesem Punkt würden einige Frauen sicher in Selbstmitleid schwelgen, aber mir ist weder nach Selbstmitleid noch nach Schwelgen zumute. Ich bin wütend auf meinen Ehemann, der uns zum Verkauf unseres Hauses gezwungen hat, und ich bin es leid, bei meiner Mutter zu wohnen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, ärgere ich mich auch über Gott. Warum hat er völlig normale, nette und harmlose Männer mit Hormonen ausgerüstet, die dann ein unstillbares Verlangen nach Sportwagen und jungen Dingern hervorrufen, wenn das erste graue Haar auftaucht? Ich begegne meinem Blick im Spiegel und halte mir selbst eine Standpauke, wie ich sie einem meiner Jungs halten würde, wenn »Schluss mit Lustig« ist: »Schau nach vorne, nicht nach hinten. Du wirst einen Platz zum Wohnen finden; du wirst einen anderen Job finden. Thomas wird seine Midlife-Crisis überstehen und wieder zur Vernunft kommen. Bis dahin bist du eben von Mutter abhängig.« Oh ja, ich bin wirklich weit gekommen: Aus der Stabschefin für einen geschätzten US-Senator ist eine Frau geworden, die mit ihrem eigenen Spiegelbild spricht. Ich beschließe, mich nicht unterkriegen zu lassen, schließe die Tür auf und werfe den Scheck über 40 000 Dollar hinten in meinen betagten Kleintransporter. ✼✼✼ Mein Jüngster, Bradley »Bugs« Graham, spielt »Stöckchen holen« mit unserem Jack Russell Terrier, als ich in die Einfahrt einbiege. Mein Sohn dreht den Kopf gerade lange genug, um den Transporter zu erkennen; sofort setzt er sich auf die Terrassentreppe, stützt die Ellenbogen auf seine in Blue Jeans steckenden Knie und ver7


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gräbt seine runden Wangen in den Händen. Er ist erst fünf Jahre alt und doch weiß er sehr wohl um die garantiert herzzerreißende Wirkung seiner Pose »Kleiner Junge – zu Tode betrübt«. Bugs bewegt sich zwar nicht, als ich den Motor abstelle und aussteige, ich erhasche trotzdem einen neugierigen Blick in meine Richtung. Als ich aber auf ihn zugehe, blickt er wieder unverwandt auf die Steine unter seinen Füßen. Skeeter springt unter einem Busch hervor und rennt zur Begrüßung auf mich zu, seinen roten Lieblingsball in der Schnauze. Ich ergreife den vor Speichel triefenden Ball, werfe ihn fort und sehe meinen Sohn an, während der Hund dem Ball hinterherfegt. »Na, Kleiner.« Meine Handtasche rutscht mir von der Schulter, als ich mich auf seine Höhe hinunterneige. »Bekommt deine Mama eine Umarmung?« Seine blauen Augen bewegen sich in Richtung des kupferroten Ponys, aber sonst rührt er sich nicht. »Stimmt irgendwas nicht?« Er nickt, so darauf bedacht, die Position seiner in den Händen ruhenden Wangen nicht zu verändern, dass seine Ellenbogen sich bei jeder Auf- und Abbewegung von den Knien abheben. Ich setze mich auf die Treppenstufe. Wir sitzen zusammen, zwei melancholische Seelen, die in die gähnende Leere des Himmels starren. Ein Vogelpärchen fliegt vorbei – möglicherweise Enten – und ich frage mich, ob sie wohl das ganze Leben miteinander verbringen werden. »Die ›Rothüte‹ sind da drinnen.« Die Stimme von Bugs lässt mich aufhorchen. »Die ›Rothüte‹?« »Du weißt schon, diese Damen. Sie benehmen sich alle ganz komisch.« Zuerst verstehe ich kein Wort, erinnere mich dann aber an den Grund für die vielen parkenden Autos in unserer Straße – meine 8


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Mutter spielt Gastgeberin für die Ortsgruppe »Fairfax« der »Red Hat Society«, eine Gruppe von Frauen über 50, die geschworen haben, in ihren besten Jahren so viel Spaß wie möglich zu haben. Ich habe zwar noch nie an einer Versammlung teilgenommen, aber habe meine Mutter schon ganz in Schale gesehen mit ihrem roten Hut und ihrer violetten Federboa. Und dabei hat sie mich damals als Teenager flippig genannt! Ich bin sicher, dass die »Hatters« nette Damen sind, aber jetzt bin ich einfach nicht in der Stimmung, einer Gruppe von weiblichen Personen zu begegnen, die sicher vor Neugier platzen zu erfahren, warum meine Kinder und ich bei meiner Mutter eingezogen sind. Skeeter spurtet los, um ein Eichhörnchen zu jagen, und ich lege meinen Arm um die schmalen Schultern meines Sohnes. »Sind die ›Red Hats‹ im Wohnzimmer?« Er nickt. »Dann gehen wir durch die Küche, o. k.?« Wie Einbrecher schleichen wir in die Garage und dann den schmalen Gang hinunter zwischen aufgetürmten Kartons und Mutters Buick. Als wir die Tür erreichen, die zur Küche führt, drehe ich mich um und lege meinen Zeigefinger auf meine Lippen. Die Augen von Bugs leuchten und ich bin so dankbar für diesen Beweis von Glück, dass meine Stimme etwas zittert. »Auf die Plätze, fertig ...« »Los!« Ich öffne die Tür und schlüpfe in die Küche. Bugs ist auf Zehenspitzen hinter mir. Der Esstisch, sichtbar rechts hinter der Küchentheke, trägt noch die Reste von Butterbroten, Keksen und eine Vielfalt von schon leicht eingetrockneten Salaten. Ich drehe mich zu Bugs um und bemerke, dass die Augen meines Mitverschwörers zu den leckeren Überresten gedriftet sind. »Hungrig?« 9


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Er presst die Lippen aufeinander, während sein Blick auf einem Berg von Fleischbällchen verweilt. »Hör mal, Kumpel. Ich gebe dir Deckung, wenn du da reinschleichen und dir ein paar Leckereien holen willst.« Ich verstehe, warum er zögert. Mutters Freunde scheinen zu denken, dass der liebe Gott mich und meine Kinder nur aus einem Grund über dem Haus meiner Mutter abgeworfen hat: Damit eben dieselbe unbegrenzte Zeit mit ihren Enkelkindern genießen kann und damit auch die Damen in den Genuss von Umarmungen und Küssen kommen können. Bugs sucht Blickkontakt. »Ich werde schnell sein.« »Okay, Sportsfreund. Mach so schnell du kannst.« Und weg ist er mit quietschenden Turnschuhen, aber die lachenden Damen im Wohnzimmer scheinen diesen hörbaren Beweis unseres unerlaubten Eindringens nicht zu bemerken. Einen Augenblick später verschafft sich Mutters Stimme Gehör. »Sind Sie einverstanden, Ihrer wachsenden Reife mit Humor zu begegnen und Ihre Albernheit ernst zu nehmen?« Jemand antwortet mit einem Kichern. »Im Geist der Freundschaft und Schwesternschaft, wollen Sie gemeinsam mit Ihren Schwestern der ›Red Hat Society‹ frech voranschreiten, freundschaftlich verbunden durch die gemeinsame Erfahrung: ›Im Grunde haben wir alles schon mal gesehen.‹ und mit echter Begeisterung allem Neuen begegnen?« Eine gedämpfte Stimme bejaht. »Versprechen Sie, dass Sie lernen, wie man spuckt und dass Sie nicht davor zurückschrecken, sich auf den Bürgersteig zu setzen, wenn Sie müde sind?« »Ich schwöre!« »Schwören Sie, unter keinen Umständen jemals Nylonstrumpfhosen in zehenfreien Sandalen zu tragen?« »Ich schwöre!« 10


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»So legen Sie nun Ihre rechte Hand an Ihren Hut und sprechen Sie mir nach: Ich schwöre unbeschwert bei meinem Hut, mit all meinen Kräften den Geist der ›Red Hat Society‹ zu pflegen. Das schwöre ich im Geist unserer Vereinigung ...« Alarmiert, dass Bugs versehentlich die heiligen Initiationsriten verletzt haben könnte, werfe ich einen Blick über den Küchentresen. Die Hosentaschen meines Sohnes sind bis zum Bersten gefüllt – wahrscheinlich mit Fleischbällchen – und er bewegt sich auf einen Teller mit Schokoladenkeksen zu. »Bugs!«, flüstere ich so laut wie möglich. »Du solltest dich lieber beeilen!« Er greift nach einem Keks, beißt einmal ab und stopft den angenagten Rest in die Brusttasche seines T-Shirts. Er liebäugelt gerade mit roten M&Ms, als das gedämpfte Gemurmel im Wohnzimmer abrupt in ein aufgeregtes Geplapper umschlägt. Zischend befehle ich meinem Sohn: »Mach so schnell du kannst!« Wie der Held eines zweitklassigen Spielfilms will Bugs zu viel. Seine Finger sind keine Sekunde in die Kristallschüssel mit den süßen Köstlichkeiten eingetaucht, als das Blatt sich wendet und sich eine Flut von »Red Hatters« ins Esszimmer ergießt. In dem Tumult posaunt hörbar meine Mutter: »Bugs Graham! Du wirst dir deinen Appetit verderben ...!« Aber ihre Zurechtweisung geht in einer Welle von Komplimenten unter. »Was für ein süßes Kind!« »Lasst doch den Jungen essen, was er will.« »Oh, du kleiner Wonneproppen! Komm, gib mir ein Küsschen.« Ich gestikuliere wild, aber keine Chance, die Meute hält ihn gefangen. Während eine Dame ihn in die Wangen kneift, beugt sich eine andere herunter und schlingt ihre Arme um ihn. 11


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Mein kleiner Aal aber windet sich dermaßen, dass die letztere Dame nur sein Ohr erwischt, als sie versucht, ihn auf die Wange zu küssen. Zu spät wird mir klar, dass auch ich den Gästen meiner Mutter ausgeliefert bin. Ich setzte ein höfliches Lächeln auf und trete den Damen gegenüber, die mit offenen Armen und Begrüßungsschreien auf mich zurollen. »Na, wie geht es denn unserer lieben Jennifer?« »Dein kleiner Sohn ist einfach entzückend. Da ist doch auch noch eine Tochter, nicht wahr?« Ich strecke meine Hand nach Bugs aus, der dabei ist, sich einen Weg durch das Gewimmel zu bahnen. »Nein, es tut mir leid, ich habe noch einen anderen Sohn.« »Ich habe von deinen Schwierigkeiten gehört und alles hat mich natürlich sehr betroffen gemacht. Aber ich weiß, dass ›Queen Snippy‹ euch wirklich gerne bei sich hat.« Ich blicke verständnislos in die Runde. »Entschuldigung, von wem sprechen Sie?« »Ach so, na, das ist doch ›Ihre Königliche Hoheit‹. Deine Mutter.« Wie konnte ich das nur vergessen? Die »Hatters« verleihen einander königliche Titel und meine Mutter regiert diese Ortsgruppe mit roten Samthandschuhen. »Wir freuen uns natürlich sehr über die Gastfreundschaft der Königin«, sage ich und versuche mich dabei an so viele »Hatters« wie möglich zu wenden. »Aber wenn Sie uns bitte entschuldigen würden: Ich denke, dass meinem kleinen Jungen hier eine Audienz mit der königlichen Badewanne guttun würde.« Ich lächle und ziehe Bugs Richtung Flur, bemerke dabei aus den Augenwinkeln, dass Ihre Majestät in der Nähe der Haustür steht und lächelnd dem ganzen Treiben zusieht. Sie ist im Moment ganz die Gastgeberin und deshalb zweifle ich daran, dass ihre Gäste auch 12


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nur im Entferntesten ahnen, wie anstrengend diese letzten Tage für sie waren ... für uns alle. Mutter liebt mich und meine Kinder, aber sie ist es einfach nicht gewöhnt, wenn zwei Jungs und ein quicklebendiger Terrier ihr ständig zwischen den Füßen herumlaufen. Und so dankbar ich auch für ihre Unterstützung bin ... ich möchte nicht, dass sie ihre kleine Rente für uns ausgibt. Und genauso wenig möchte ich, dass sie hauptberuflich Babysitter ist. »Wenn die Damen mich bitte entschuldigen würden ...« Ich nehme Bugs fester an die Hand und schiebe ihn aus der Küche. Skeeter, der durch die Hundeklappe hereingekommen ist, tänzelt an der Seite meines Sohnes. Sobald wir im Flur für uns sind, grinst Bugs mich an: »Man hat uns erwischt!« »Und wessen Schuld war das? Du hättest nicht von allen Sachen auf dem Tisch etwas nehmen müssen.« Ich seufze, als ein noch funktionierender Teil meines Gehirns eine notwendige mütterliche Ermahnung aussendet. »Du solltest vor dem Abendbrot nicht so viele Süßigkeiten essen. Du verdirbst dir deinen Appetit.« »Nein, tue ich gar nicht.« »Doch, das tust du. Und außerdem musst du dringend baden.« »Kann ich das nicht nach dem Abendessen machen?« Ich lehne mich gegen die Wand und schließe meine Augen. Es wäre so einfach nachzugeben – sieht so aus, als wäre das die Sache, die ich zurzeit am besten mache: den Männern in meinem Leben nachgeben. Ich sehe auf ihn hinunter. »In Ordnung, aber du musst dir deine Hände waschen, bevor du die Snacks isst. Und nach dem Abendessen geht es ohne Widerrede sofort ab in die Wanne. Klar?« »Alles klar.« 13


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Bugs und Skeeter traben los und biegen in das erste Zimmer rechts ein – Mutters Nähzimmer, das zum Schlafzimmer von Bugs und Clay umfunktioniert wurde. Da es sonst ruhig ist, muss Clay entweder im Park sein und spielen oder er ist mit dem Rad unterwegs. Mit 13 Jahren ist er klug genug, rechtzeitig das Weite zu suchen, wenn er einen roten Hut erblickt. Ich nehme meine Handtasche und schleppe mich in Mutters Gästezimmer. Weder die geblümte, mit Spitze umsäumte Tagesdecke noch die selbst geklöppelten Wandbildchen sind nach meinem Geschmack. Mutter meinte, ich könne einige von meinen Bildern aufhängen, aber solange ich unsere Sachen nicht auspacke, kann ich noch glauben, dass diese ganze Situation nur vorübergehend ist. Ich sinke auf die Bettkante und streife meine Schuhe von den Füßen, dann ziehe ich meine Handtasche zu mir her. Der Scheck der Maklerin steckt in meiner Geldbörse, ich nehme ihn heraus und starre auf die eingetragene Summe: 40 000 Dollar. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie fühle ich mich wie in einer albernen Spielshow. Wenn ich wählen könnte zwischen einem Wagen der Luxusklasse, der Anzahlung auf ein Haus in der Stadt oder der Möglichkeit, ein ganzes Jahr in einer schönen Wohnanlage zu leben – was würde ich wohl wählen? Alles sind ansehnliche Preise, aber keiner gibt mir eine Garantie. Ein glucksendes Lachen klingt durch den Flur und dringt unter meiner Tür her ins Zimmer; eine der roten Damen bewegt sich kichernd auf die Gästetoilette im Flur zu. Ich schließe meine Augen und versuche das Geräusch zu ignorieren, lasse mich dann seitlich auf mein Kissen fallen. Eigentlich bräuchte ich jetzt eine Stunde Entspannung bei einem schönen Bad, wage aber nicht, das Badezimmer in Beschlag zu nehmen, bis die letzte rot behütete Dame das Feld geräumt hat. Lange baden und danach eine Nacht durchschlafen – das wäre genau das Rich14


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tige. Denn morgen muss ich wieder aufstehen, mich anziehen und auf die Suche nach Arbeit machen. Nicht das erste Mal. Eine neue Anstellung zu finden wäre wesentlich einfacher, wenn ich nicht mit diesem überaus geselligen Mann verheiratet gewesen wäre, der überall Freunde zu haben scheint. Thomas, Rechtsberater des anderen Senators von Virginia, ist bei fast allen auf dem Kapitol bekannt und beliebt. Seine Ex-Frau einzustellen scheint ungefähr so attraktiv zu sein wie die Einführung einer neuen Colasorte, die gar keiner braucht oder haben will. Während ich unterwegs bin und Vorstellungsgespräche ertrage, bleiben die Jungs und Skeeter bei Mutter. Obwohl sie ausdrücklich darauf besteht, dass es ihr nichts ausmacht, diesen Sommer auf die beiden aufzupassen, habe ich starke Zweifel, dass es ihr wirklich Freude macht. Clay ist in einem schwierigen Alter und Bugs’ theatralische Einlagen würden selbst die Geduld eines Ackergauls aufs Äußerste strapazieren. Mutter liebt meine kleinen Jungs, aber sie hat sich nicht mehr den ganzen Tag um Kinder gekümmert, seitdem ich vor 20 Jahren ausgezogen bin. Wenn ich so darüber nachdenke ... Ich bin auch nicht mehr ausschließlich zu Hause geblieben, seit ich nach der Geburt von Bugs in Mutterschutz war. Anlässlich der Ironie bei der ganzen Sache verziehe ich mein Gesicht zu einer Grimasse: Wenn ich nicht so wählerisch bei der Auswahl potenzieller Nannys gewesen wäre, wäre meine Familie jetzt vielleicht noch vollständig. Während mein Körper langsam in eine dumpfe Taubheit fällt, wirbeln die Gedanken weiter in meinem Kopf herum. Wenn ich 50 bin, sind meine Jungs 16 und 24. Alt genug, um ein mögliches Trauma, das sie vielleicht durch ihren Vater und mich erlitten haben, überwunden zu haben. Alt genug, so hoffe ich, um uns unsere Fehler vergeben zu können. 15


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Vielleicht werde ich ja dann in der Lage sein, mir einen roten Hut aufzusetzen und meine Albernheit ernst zu nehmen.

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KAPITEL 2 Ein plötzlicher Lärm lässt mich aufschrecken. Eigentlich hatte ich gar nicht einschlafen wollen und jetzt hört es sich so an, als sei während meines 20-minütigen Nickerchens der Dritte Weltkrieg ausgebrochen. Skeeter bellt, Clay und Bugs schreien sich an und Mutter singt in voller Lautstärke »Peace in the Valley«, vermutlich als Ausdruck einer Wunschvorstellung ... Die Jungs müssen riesigen Hunger haben. Ich zwinge meine Beine über die Bettkante und kneife die Augen so lange zusammen, bis ich den Raum klar sehen kann. Dann tappe ich barfuß in die Küche. Mutter steht an der übervollen Tiefkühltruhe und blickt hinein, während Clay an der Küchentheke Kräcker mit Erdnussbutter und Käse isst. Skeeter sitzt Clay zu Füßen und hofft auf herabfallende Krümel. Bugs stöbert im geöffneten Küchenschrank nach Töpfen und Pfannen. »Wie wär’s mit Spaghetti?« Er zieht einen riesigen Topf zu sich heran. »Du hast welche in deiner Speisekammer, Oma. Ich habe sie gesehen.« Mutter schüttelt ihren Kopf. »Keine Sauce.« »Und was ist mit Nudeln mit Butter?« Meine Mutter verzieht ihr Gesicht. »Hat euch das dieses schreckliche Kindermädchen immer gekocht?« Nicht das Kindermädchen – sondern ich. Ich trete ganz in die Küche ein, bevor Bugs meine kulinarischen Unzulänglichkeiten ans Licht bringen kann. »Warum lassen wir uns nicht was bringen?« Ich bewege mich auf den Schrank zu, in dem Mutter die Gelben 17


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Seiten liegen hat. »Vielleicht Chinesisch oder Italienisch. Ich hätte nichts gegen einen Salat mit Hähnchenfleisch.« »Unsinn.« Mutter schließt die Gefriertruhe und öffnet die Tür des Kühlschranks. »Warum etwas bestellen, wenn wir das Essen direkt vor unserer Nase haben?« Weil es einfacher ist, würde ich am liebsten sagen, aber Mutter ist in einer Zeit aufgewachsen, in der es das Wort »einfach« nicht gab und als Frauen jeden Abend ein 3-Gänge-Menü kochten. Sie kritisiert mich nicht oft vor den Jungs, aber manchmal kann ich ihre Kritik wie ein Paar stechende Augen fühlen, die sich in meinen Nacken bohren. Mütter sollten bei ihren Kindern zu Hause bleiben. Mütter sollten für ihre Kinder Abendessen kochen. Mütter sollten kontrollieren, was die Kinder fernsehen und ihre Söhne zum Lesen anhalten ... »Ich bestelle Pizza«, eröffne ich und beende damit die Diskussion. »Ich weiß, du hast nach deinem Treffen auch keine große Lust zu kochen. Pizza ist schnell und einfach.« »Keine Oliven«, grummelt Clay vom Ende der Theke. »Ich hasse Oliven.« »Gebongt.« Ich antworte, als ob ich das zum ersten Mal gehört hätte. Ich drehe mich zum Telefon an der Wand um und wähle die Nummer, nur ein bisschen verlegen, dass ich sie schon auswendig kenne. Ich kann nicht sehen, ob Mutter ihren Kopf schüttelt, aber meine innere Antenne registriert negative Wellen der Ablehnung. »Wie oft hatten wir denn schon Pizza?«, fragt sie und die Aufgeräumtheit in ihrer Stimme klingt etwas künstlich. »Letzte Woche waren es dreimal, oder?« »Viermal«, beeilt sich Clay, den Feind mit Munition zu unterstützen. »Mittwoch, Freitag, Samstag und heute, Und dabei habe ich die Tage nicht mitgezählt, an denen wir Reste gegessen haben.« »Pizza ist gut für euch.« Ich verschränke einen Arm vor meiner Brust und warte, dass jemand abnimmt. 18


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»Pizza hat von allen Lebensmittelgruppen etwas: Eiweiß, Stärke, Milch, Fett – sogar Vitamine, wenn wir eine Pizza mit Ananas nehmen.« Bugs rümpft die Nase. »Ich hasse alles mit Ananas.« Ich streiche Bugs von meiner Liste von Verbündeten. Ein Mann mit starkem Akzent – indisch oder so – meldet sich. Ich bestelle zwei große Pizzas, eine mit Salami und eine HawaiiPizza. »Übrigens, haben Sie auch Salate?« »Ja.« »Zwei Salate, bitte. Mit Hähnchen.« »Geht nicht.« »Was soll das heißen: Geht nicht? Kein Hähnchen oder kein Salat oder wollen Sie meine Bestellung nicht annehmen?« »Salat wird nicht geliefert. Den müssen Sie hier essen.« Ich seufze einmal tief. »O. k., dann also zwei große Pizzas. Geliefert, bitte. So schnell wie möglich.« Ich rattere Mutters Adresse herunter und höre zu, wie der Mann sie wiederholt. Nachdem sie endlich stimmt, sagt er mir, dass unser Abendessen 30 Dollar kostet und in einer Stunde geliefert wird. Na prima. Meine Jungs werden bis zur Ankunft der Pizzas jeden einzelnen Kräcker aus der Speisekammer verschlungen haben. Als ich auflege, ist der Gesichtsausdruck von Mutter weicher geworden. »Komm, ich mache dir ein schönes Glas Eistee. Und ihr Jungen, nehmt eure Snacks und geht fernsehen. Eure Mutti soll sich ein bisschen ausruhen, einverstanden?« Ich sinke auf einen Barhocker und lege meinen Kopf in meine Hände. Mutter füllt ein Glas mit Eistee. »Wie lief denn die Arbeitssuche heute?« »Einige Büros im Regierungsbezirk haben Interesse gezeigt, aber sobald sie herausfinden, dass ich mit Thomas verheiratet war ...« 19


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Ich zucke mit den Schultern. »Niemand will eine Stabschefin, die sich wahrscheinlich mit einem Top-Berater von Senator Barron anlegen wird. Ich glaube, bis das Gerede über unsere Scheidung abgeklungen ist, werde ich dort keine Stelle finden.« Mutter antwortet nicht, aber die Art, wie sie ihre Lippen zusammenpresst, spricht Bände. Sie ist im Moment wirklich nicht gut auf Thomas zu sprechen. Ich bezweifle, dass sie ihn je mochte. Aber jetzt kann ich es mir nicht leisten, auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen – ich brauche Arbeit. Doch wenn auch Tausende von Leuten im oder am Kapitol arbeiten, ist der öffentliche Dienst trotzdem wie das sprichwörtliche Goldfischglas. Die Neuigkeiten, die man sich morgens bei der ersten Tasse Kaffee erzählt, sind gewöhnlich bis 17 Uhr Allgemeingut geworden. Sogar wenn ich wie durch ein Wunder eine Stelle in einem Büro finden würde, das nur selten mit Senator Barrons Mitarbeitern zu tun hat, bezweifle ich, dass ich je den Gerüchten und fragenden Blicken entfliehen kann. Ich könnte es mir deshalb gut vorstellen, Washington für eine Weile zu verlassen, aber der Nordosten von Virginia ist jetzt seit Jahren meine Heimat. Wenn ich Präsidentin wäre, würde ich die folgende Proklamation abgeben: Männer, die auf ihr Recht auf eine Midlife-Crisis bestehen, müssen ihre Koffer packen und wegziehen, bis die Laune wieder vorbei ist. Ich bin sicher, es ließe sich ein geeigneter Platz zum Abkühlen finden. Der Mars zum Beispiel. »Es liegt an deinen Haaren«, sagt Mutter und gießt Tee in zwei Gläser mit Eiswürfeln. »Du hast einfach keine richtige Frisur. Du solltest dein Haar hochstecken. Mach dir doch mal einen French Twist. Du musst bei Bewerbungsgesprächen professioneller aussehen.« Ich verdrehe die Augen in Richtung Esszimmerfenster und versuche, die Bemerkung zu ignorieren. Sicher meint es Mutter gut und sie will mir nur helfen, aber in meinen Ohren klingt es sehr nach Kritik. 20


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»Meine Haare sind in Ordnung«, erwidere ich matt. »Ja, deine Haare an sich sind auch immer in Ordnung gewesen«, antwortet sie und bemerkt überhaupt nicht, dass es hier wirklich nicht um meine Haare geht. »Vielleicht könntest du mit Schaumfestiger mehr Volumen reinkriegen. Wenn du willst, kann ich die Baronin Barbara Bee fragen, ob sie etwas empfehlen kann.« Es ist mir bewusst, dass ich jetzt besser das Thema wechseln sollte, aber ich kann einfach nicht widerstehen. »Wen willst du fragen?« »Die Baronin – eine von unserem Club ist Friseurin, hast du das nicht gewusst? Barbs hatte jahrelang ihren eigenen Salon.« Mutter stellt die beiden Gläser mit Eistee auf den Tisch und ich beschließe, das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu lenken. »Ich bin zuversichtlich, dass ich etwas finden werde. Es wird aber eben eine Weile dauern. Und bis es so weit ist, habe ich zumindest den Erlös vom Haus, um die laufenden Kosten zu decken.« Ich nehme einen Schluck Tee und muss an mich halten, ihn nicht sofort wieder auszuspucken, so zuckersüß ist er. »Du weißt, dass der Herr für dich sorgt. Das hat er immer getan und er wird es auch in Zukunft tun.« Typisch Mutter, wieder eine ihrer nutzlosen Binsenweisheiten. Ich stehe auf und gehe um die Küchentheke herum. Dabei drehe ich ihr den Rücken zu, sodass sie den Frust auf meinem Gesicht nicht sehen kann. Ich liebe sie und ich liebe den Herrn, aber manchmal denke ich, meine Mutter würde sogar die Hölle selbst mit einer ordentlichen Portion von Gemeinplätzen und einer Handvoll von evangelistischen Traktaten herausfordern. Sie war nie geschieden und sie war mit einem Mann verheiratet, der sein Herz der Familie und seinen Körper dem Militär widmete. Diese Frau hat keine Ahnung, was ich alles durchmache. Ich gehe zur Spüle, verdünne meinen Eistee heimlich mit etwas Wasser und zwinge mich dann zu einem Lächeln. 21


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»Wenigstens haben die Jungs jetzt Sommerferien und ich muss mir nicht den Kopf über eine neue Schule zerbrechen.« »Du weißt doch, dass ich jederzeit auf die Jungs aufpasse, wenn du mich brauchst«, höre ich Mutter sagen. Aber als ich mich zu ihr umdrehe, sehe ich an ihrem angespannten Gesichtsausdruck, dass diese Aufgabe für sie auch nicht leicht ist. Sie presst die Lippen noch etwas stärker zusammen, als Clay mit den Kräckern durch die Küche sprintet. Bugs und Skeeter haben die Verfolgung aufgenommen und da die Tüte eingerissen ist, rieseln bei jedem Schritt kleine orangefarbene Krümel zu Boden. Ganz offensichtlich ist es Bugs und Skeeter wichtiger, Clay zu fangen, als hinter ihm die Kräckerreste zu beseitigen. Ich stoppe meinen Ältesten, als er das zweite Mal durch das Esszimmer galoppiert. »Schon bemerkt?« Ich zeige auf den orangefarbenen Streifen auf dem Boden. »Wenn du mal genau hingucken würdest, dann würdest du durch die ganze Küche, das Esszimmer und wahrscheinlich auch durch das Wohnzimmer eine Spur finden. Ich schlage vor, du machst dich mit Handfeger und Schaufel an die Arbeit.« Clay verzieht sein Gesicht. »Aber Mutti! Bugs versucht immer ...« »Bugs kann die Schaufel halten, während du fegst. Ihr sollt beide aufräumen.« Während die Jungs maulen und Skeeter Krümel vom Boden aufleckt, gehe ich zur Küchentheke und lege meine Hand auf den Arm meiner Mutter. »Du hast mehr als genug für uns getan, Mutter. Ich weiß, dass die Jungs anstrengend sind, deshalb ...« »Nichts da. Es macht mir Freude, auf meine Enkel aufzupassen, und ich werde das machen, bis ... nun, bis die Schule wieder anfängt.« Ich gebe ihr einen freundschaftlichen Klaps auf den Arm und spüre dabei zum ersten Mal, wie dünn und faltig ihre Haut sich anfühlt. 22


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»Du hast dein Kind erzogen und basta. Ich werde nicht von dir verlangen, dass du meine Kinder aufziehst. Wenn du ein Treffen hast oder mit deinen Freunden zu Mittag essen möchtest ... Sag mir einfach Bescheid, wir kommen dann auch ohne dich klar. Wir wollen dich wirklich nicht in Beschlag nehmen.« Ihr Mund öffnet sich, um zu protestieren, aber ich schüttle meinen Kopf. »Das wär’s für heute. Ich bin viel zu erschöpft, um mit dir zu streiten.« ✼✼✼ Nach dem Abendessen bleiben alle vor dem Fernseher, während ich in das Zimmer der Jungs gehe und mich an Mutters Nähtisch setze. Seitdem die Nähmaschine vorübergehend in den Schrank befördert wurde, dient der Tisch als Ablage für meinen Papierkram – das Scheidungsurteil, Rechnungen, Immobilienverträge und ein Dutzend Adresspostkarten, auf denen nur noch unsere neue Anschrift eingetragen werden muss. Meine To-do-Liste liegt neben den Rechnungen, voll gekritzelt mit Erinnerungen an die Zahnarzttermine der Jungs, an notwendige Vorbereitungen für das kommende Schuljahr und eine Liste von Fragen, die ich bei der Suche nach einem Haus zur Miete und einer neuen Schule beachten muss. Bugs soll diesen Herbst zum ersten Mal in den Kindergarten gehen und es macht mich richtig krank, dass ich noch keine Ahnung habe, wo er diesen wichtigen Entwicklungsschritt machen wird. Vermutlich kann ich es schon schaffen, aus diesem Tag etwas ganz Besonderes zu machen, egal, wo wir dann wohnen. Aber trotzdem kann ich als Mutter einen dicken Kloß schlechten Gewissens im Hals nicht ignorieren, wenn ich an unsere unsichere Zukunft denke. Sobald sich meine Gedanken jedoch Thomas zuwenden, ver23


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wandeln sich meine Schuldgefühle schnell in Verbitterung. Es stimmt, ich habe das Sorgerecht gefordert und auch bekommen, aber selbst mit den Unterhaltszahlungen von Thomas ist diese Regelung nicht wirklich fair. Im Spätsommer, wenn ich auf Jobsuche bin und mich um den Schulbeginn der Jungs kümmern muss, werden mein Ex-Mann und seine Freundin die fünfwöchige Sommerpause vom Kongress genießen. Sicher wird er die Bahamas oder ein noch exotischeres Reiseziel ansteuern ... Ich schiebe diese Gedanken beiseite, weil ich mich noch ganz verrückt mache, wenn ich so auf einen Mann fixiert bleibe, der ganz offensichtlich vorübergehend den Verstand verloren hat. Was geschehen ist, ist geschehen. Thomas ist mit unserem Kindermädchen durchgebrannt; er hat sich von mir scheiden lassen. Jetzt muss ich einen Schritt nach dem andern machen. Was in meiner Macht steht, werde ich für die Jungs tun. Ich bete und erinnere mich daran, das Atmen nicht zu vergessen. Tag für Tag spiele ich die Superfrau, eine Rolle, die ich mir nicht gewünscht habe und die mir überhaupt nicht liegt. Aber wenn deine Welt aus den Fugen gerät, machst du eben, was du tun musst, damit alles wieder ins Lot kommt. Ich öffne die Rechnungen, welche die Post in ihrer unendlichen Weisheit zu mir anstatt zu meinem Ex geschickt hat. Ich muss eine Überweisung machen, stecke dann aber die Zahlungsforderung für Thomas’ Lebensversicherung in den Umschlag zurück. Er kann für seine Versicherung selber bezahlen. Solange er nicht mehr bei uns ist, kann er machen, was er will. Um 21 Uhr schlüpfe ich leise ins Wohnzimmer und finde Bugs und Skeeter vor, die auf dem Fußboden eingeschlafen sind. Clay sitzt im Fernsehsessel und starrt gebannt auf den Bildschirm, Mutter schnarcht leise auf dem Sofa. Ich raufe Clay durchs Haar. »Alles klar?« Er nickt, ohne seinen Kopf zu drehen. 24


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»Mutti?« »Hmm?« »Ich will dieses ›Madden‹-Computerspiel wirklich gerne haben, für meinen Nintendo DS.« Ich hole tief Luft. »Ist es teuer?« »Ja ... ziemlich teuer.« »Hast du dein Taschengeld gespart?« Sein dünner Kehlkopf bewegt sich beim Schlucken ruckartig auf und ab. »Es reicht nicht.« »Wenn du genug hast, kannst du dir das Spiel kaufen, o. k.? So, jetzt muss ich Bugs ins Bett bringen.« Ich beuge mich herunter und hebe meinen Jüngsten in meinen Armen hoch, wie so oft erstaunt, dass dieses schlaksige männliche Wesen einmal Teil meines Körpers war ... Er wacht auf, als ich ihn durch den Flur trage und will sofort runter. Zögernd setze ich ihn auf den Fliesen ab. »Habe ich geschlafen?«, fragt er und nimmt meine Hand. »Ja.« »Ich bin gar nicht müde.« »Na, vielleicht bist du doch ein kleines bisschen müde, oder?« »Ist Clay noch auf?« »Nicht mehr lange.« Wir erreichen das vorher von mir aufgedeckte Bett. Bugs hopst auf das saubere Laken und räkelt sich dann unter der Bettdecke. »Soll ich heute Abend beten, Mama?« »Das wäre schön.« Bugs presst die Handflächen zusammen und schließt die Augen so fest, dass seine goldfarbenen Wimpern fast verschwunden sind. »Lieber Jesus, danke für Oma und Mama und Clay und Skeeter 25


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und Bubba Bagels. Danke für Papa, auch wenn er nicht mehr bei uns wohnt. Danke fürs Fernsehen und für Pizza und Videospiele. Vergib mir meine Sünden. Amen.« Trotz allem muss ich wie durch ein Wunder lächeln, als er es sich unter der dicken Bettdecke bequem macht. »Wer ist denn Bubba Bagels?« In seinem linken Grübchen blitzt es. »Der Hund von Jesse. Er ist riesig.« »Und wer ist Jesse?« »Er wohnt nebenan ... glaube ich. Vielleicht besucht er auch seine Oma, so wie wir.« »Ist dieser enorme Hund denn auch freundlich?« »Ganz freundlich. Ich weiß doch, dass ich nicht mit fremden Hunden sprechen soll.« »Genau, mein Großer.« Ich drücke meinem Sohn einen Kuss auf die Wange und streiche die Bettdecke glatt. »Dann bis morgen.« »Wird morgen ein guter Tag?« Ich schließe meine Augen und wünsche mir, er hätte das nicht gefragt. Diese Frage hat Thomas immer gestellt, wenn er die Kinder ins Bett brachte. »Ja, ganz bestimmt.« Die Wörter klingen gepresst, meine Stimme ist angespannt. »Ein toller Tag.« In diesen drei kleinen Wörtern steckt mehr Hoffnung als in meinem ganzen Herzen.

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