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Tom Wright
Warum Christ sein Sinn macht Aus dem Englischen von Rainer Behrens
johannis
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Inhalt Einleitung (Vier Echos, die zu vier Lebensaufgaben werden)
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Teil 1: Echos einer Stimme (Vier Sehnsüchte als Hinweis auf ... Gott?) 1. Die Welt ins Lot bringen (Sehnsucht nach Gerechtigkeit) 13 2. Die verborgene Quelle (Sehnsucht nach Spiritualität) 27 3. Füreinander geschaffen (Sehnsucht nach Beziehungen) 38 4. Die Schönheit der Erde (Sehnsucht nach dem Guten und Schönen) 48 Teil 2: In die Sonne schauen (Die Story von Gott und der Welt) 5. Gott 6. Israel 7. Jesus: Der Anbruch der Herrschaft Gottes 8. Jesus: Rettung und Erneuerung 9. Gottes Lebensatem 10. Vom Geist ergriffen leben
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Teil 3: Das Bild widerspiegeln (Als Christ in der Welt leben) 11. Gottesdienst/Anbetung 12. Gebet 13. Die Bibel: Das Buch, das Gott einhauchte 14. Die Story und der Auftrag 15. Glauben und Dazugehören 16. Die neue Schöpfung beginnt schon jetzt
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Anhang Christ sein – was sonst!? Warum der christliche Glaube sinnvoll ist Ein Leitfaden für Gesprächsgruppen von Rainer Behrens
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Teil 1: Echos einer Stimme 1. Die Welt ins Lot bringen Neulich hatte ich einen Traum, einen kraftvollen und interessanten Traum. Das Dumme ist nur, dass ich mich nicht erinnern kann, worum es ging. Als ich aufwachte, erinnerte ich mich für den Bruchteil einer Sekunde, gerade genug, um zu erahnen, wie außergewöhnlich und bedeutungsvoll der Traum war; aber dann war er weg. Damit hatte ich, um T. S. Eliot falsch zu zitieren, die Bedeutung, aber ich verpasste die Erfahrung. Mit unserer Leidenschaft für Gerechtigkeit ist es oft ähnlich. Wir träumen den Traum der Gerechtigkeit. Wir erahnen für einen Moment, wie eine vereinte Welt aussehen würde, eine ins Lot gebrachte Welt, eine Welt, in der die Dinge gut gehen, in der die Gesellschaften gut funktionieren, in der ich nicht nur wüsste, was ich tun soll, sondern in der ich es tatsächlich täte. Doch dann wachen wir wieder in der Realität auf. Was aber hören wir, wenn wir diesen Traum träumen? Es ist, als hörten wir vielleicht nicht gerade eine Stimme, aber das Echo einer Stimme: einer Stimme, die mit ruhiger, heilender Autorität spricht, die von Gerechtigkeit spricht, darüber, dass die Dinge ins Lot gebracht werden, über Frieden und Hoffnung und Wohlstand für alle. Die Stimme hinterlässt bleibende Echos in unseren Vorstellungen, in unserem Unterbewusstsein. Wir würden die Zeit gerne zurückdrehen und die Stimme noch einmal hören, aber da wir aufgewacht sind, können wir den Traum nicht mehr erreichen. Andere Leute sagen uns, es war nur eine Fantasie, und wir neigen beinahe dazu, ihnen zu glauben, auch wenn wir damit dazu verdammt sind, zynisch zu werden. 13
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Aber die Stimme klingt nach, ruft uns, winkt uns zu, verlockt uns zu denken, es könnte so etwas wie Gerechtigkeit geben, die Welt könnte ins Lot gebracht werden, auch wenn wir empfinden, dass uns das zwischen den Fingern zerrinnt. Wir sind wie Motten, die versuchen, zum Mond zu fliegen.Wir alle wissen, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, aber wir können sie nie ganz erreichen. Du kannst das ganz einfach testen. Geh zu irgendeiner Schule oder Spielgruppe, in der die Kinder alt genug sind, um miteinander zu reden. Achte darauf, was sie sagen. Nach kurzer Zeit wird ein Kind zu einem anderen oder vielleicht zum Lehrer sagen: »Das ist nicht fair!« Man muss Kindern nicht beibringen, was Fairness oder Unfairness ist. Ein Gespür für Gerechtigkeit ist Teil dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Das Wissen darum steckt uns sozusagen in den Knochen. Du fällst vom Fahrrad und brichst dir das Bein. Du gehst ins Krankenhaus und sie »reparieren« es. Eine kurze Zeit humpelst du auf Krücken umher. Dann fängst du sehr behutsam wieder an, normal zu gehen. Schon bald hast du die ganze Sache vergessen. Alles ist wie immer. Es gibt so etwas wie das Ins-Lot-Bringen von Dingen, wie eine »Reparatur«, wie ein »Zurück-auf-die-Spur-Kommen«. Du kannst ein gebrochenes Bein »reparieren«, ein kaputtes Spielzeug, einen kaputten Fernseher. Warum können wir das Problem der Ungerechtigkeit nicht in den Griff bekommen? Es liegt nicht daran, dass wir es nicht versuchen. Wir haben Gerichte, Richter und Anwälte in rauen Mengen. Ich habe in einem Teil von London gelebt, in dem es so sehr um Gerechtigkeit geht, dass es schon wehtat – Leute, die Gesetze machen, Leute, die Gesetze durchsetzen, eine Polizeizentrale und im Umkreis von nur einer Meile so viele Anwälte, um ein Schlachtschiff zu bemannen (das allerdings wohl im Kreis fahren würde, da alle miteinander streiten). Andere Länder haben ähnliche schwergewichtige Institutionen, die dazu da sind, Gesetze zu erlassen und ihre Einhaltung durchzusetzen. Und dennoch haben wir das Gefühl, dass uns die Gerechtigkeit zwischen den Fingern zerrinnt. Manchmal widerfährt Menschen und Situationen Gerechtigkeit; häufig eben nicht. Unschuldige Menschen werden verurteilt, schuldige kommen davon. Die Tyrannen und diejenigen, die sich durch Bestechung freikaufen können, kommen ungeschoren davon 14
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– nicht immer, aber oft genug, sodass wir es bemerken und uns fragen, warum. Menschen verletzen andere Menschen auf unglaubliche Weise und machen sich lachend davon. Opfer erhalten nicht immer Schadenersatz. Manchmal verbringen sie den Rest ihres Lebens damit, mit Schmerzen, Verletzungen und Bitterkeit fertig zu werden. Dasselbe gilt für die Welt im Großen. Länder lassen ihre Armeen in andere Länder einmarschieren und kommen damit durch. Die Reichen nutzen die Macht ihres Geldes, um noch reicher zu werden, während die Armen immer ärmer werden, ohne etwas dagegen machen zu können. Die meisten von uns kratzen sich am Kopf, fragen sich, warum das wohl so ist, und gehen dann los, um ein Produkt zu kaufen, dessen Profit irgendeiner reichen Firma zugute kommt. Ich möchte nicht zu mutlos klingen. Es gibt so etwas wie Gerechtigkeit, und manchmal siegt sie. Brutale Tyranneien werden gestürzt. Die Apartheid wurde überwunden. Manchmal treten weise und kreative Führungspersönlichkeiten auf, und Menschen folgen ihnen auf dem Weg zu guten und gerechten Taten. Schwerkriminelle werden manchmal gefasst, vor Gericht gebracht, verurteilt und bestraft. Dinge, die in der Gesellschaft völlig schieflaufen, werden manchmal auf großartige Weise ins Lot gebracht. Neue Projekte geben den Armen Hoffnung. Diplomaten erreichen einen soliden und bleibenden Frieden. Aber gerade, wenn du denkst, du kannst dich in Sicherheit wiegen ... geht wieder alles schief. Obwohl wir ein paar Probleme der Welt zumindest zeitweise lösen können, wissen wir nur zu genau, dass es andere Probleme gibt, die wir nicht lösen können und deshalb auch nicht lösen werden. Kurz nach Weihnachten 2004 tötete ein Seebeben und eine Riesenwelle an einem einzigen Tag doppelt so viele Menschen wie amerikanische Soldaten im gesamten Vietnamkrieg fielen. Es gibt einfach Dinge in unserer Welt, auf unserem Planeten, die uns sagen lassen: »Das ist nicht in Ordnung!«, auch wenn es niemanden gibt, dem man die Schuld geben kann. Eine tektonische Platte muss halt machen, was tektonische Platten machen. Das Seebeben wurde nicht von irgendeinem bösartigen globalen Kapitalisten verursacht, von einem verspäteten Marxisten oder von einem Fundamentalisten mit einer Bombe. Es passierte einfach. Und in diesem Ereignis sehen wir eine Welt voller Schmerzen, eine aus den Fugen geratene Welt, eine Welt, in der Dinge wie die kleinen Ungerechtigkeiten auf 15
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dem Spielplatz und in den Gerichtssälen passieren, und die zu ändern wir gleichermaßen machtlos zu sein scheinen. Die Beispiele, die unsere Lage am besten aufdecken, sind diejenigen vor unserer eigenen Haustür. Ich habe hohe moralische Ansprüche. Ich habe über sie nachgedacht. Ich habe über sie gepredigt. Ich habe sogar Bücher über sie geschrieben. Und dennoch breche ich sie. Die Linie zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, zwischen Dingen, die in Ordnung sind, und Dingen, die nicht in Ordnung sind, kann nicht zwischen »uns« und »den anderen« gezogen werden. Sie teilt das Herz jedes Einzelnen von uns. Die antiken Philosophen, nicht zuletzt Aristoteles, verstanden das als Fehler im System, als Rätsel auf mehreren Ebenen. Wir alle wissen, was wir tun sollen (bis auf ein paar Einzelheiten vielleicht), aber wir alle schaffen es, es zumindest zeitweise nicht zu tun. Ist das nicht seltsam? Wie kann es sein, dass wir alle einerseits nicht nur das Gefühl teilen, dass es so etwas wie Gerechtigkeit gibt, sondern dass wir sie sogar leidenschaftlich wollen, dass wir uns sogar zutiefst danach sehnen, dass die Dinge ins Lot gebracht werden, dass wir ein bedrängendes, an uns nagendes und uns manchmal anbrüllendes Gefühl dafür haben, dass die Dinge aus den Fugen geraten sind – und dass wir andererseits nach Jahrtausenden menschlicher Kämpfe und Suche und Liebe und Sehnsucht und Hass und Hoffnung und Getue und Philosophieren immer noch nicht fähig zu sein scheinen, der Gerechtigkeit viel näher zu kommen, als es den Menschen in den ältesten Zivilisationen gelang, die wir kennen? *** Die letzten Jahre waren Zeuge von außerordentlichen Beispielen menschlicher Taten, die unser Gefühl für Gerechtigkeit empörten. Es wird manchmal so getan, als wären die letzten 50 Jahre eine Zeit des moralischen Verfalls gewesen. Tatsächlich aber gehören diese Jahre zu den moralisch sensibelsten, ja sogar moralistischsten Zeiten der gesamten überlieferten Geschichte. Die Menschen sorgen sich, und zwar leidenschaftlich, um die Stellen, an denen die Welt ins Lot gebracht werden muss. Mächtige Generale schickten Millionen in die Schützengräben des Er16
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sten Weltkrieges, während sie selbst hinter der Front oder zu Hause im Luxus lebten. Liest man die Dichter, die sich mitten in diesem Krieg wiederfanden, erahnt man hinter ihrer schmerzenden Verwirrung einen schwelenden Zorn über den Schwachsinn, ja die Ungerechtigkeit der ganzen Sache. Warum musste das passieren? Wie können wir das in Ordnung bringen? Eine explosive Mischung von Ideologien schickte Millionen in den Tod der Gaskammern. Versatzstücke religiöser Vorurteile, pervertierte Philosophien, Angst vor Menschen, die »anders« sind, wirtschaftliche Engpässe und der Bedarf nach Sündenböcken wurden von einem brillanten Demagogen zusammengerührt, der den Menschen sagte, was zumindest einige hören wollten, und er forderte menschliche Opfer als Preis für den »Fortschritt«. Man muss nur Hitler und den Holocaust erwähnen, und sofort steht die Frage im Raum: Wie konnte das passieren? Wo ist die Gerechtigkeit? Wie können wir sie erreichen? Wie können wir die Dinge ins Lot bringen? Und insbesondere: Wie können wir verhindern, dass so etwas wieder passiert? Aber scheinbar können wir es nicht. Niemand hinderte die Türken daran, Millionen von Armeniern in den Jahren 1915–1917 zu töten (tatsächlich verwies Hitler darauf, als er seine Kumpane ermutigte, die Juden zu töten). Niemand hinderte die Tutsis und Hutus in Ruanda, sich 1994 in großer Zahl gegenseitig zu töten. Die Welt sagte nach dem Holocaust der Nazis: »Nie wieder!«, aber es passierte wieder, und wir entdecken mit Schrecken, dass wir nichts tun konnten, um es zu verhindern. Und dann war da die Apartheid. Einer sehr großen Bevölkerungsgruppe wurde unglaubliches Unrecht zugefügt. Die Sache lief eine lange Zeit. Andere Länder hatten natürlich ähnliche Dinge getan, waren aber schlicht effektiver in der Unterdrückung der Opposition. Man denke an die »Reservate« für »Native Americans«. Ich erinnere mich an den Schock, als ich einen alten »Cowboy und Indianer«-Film sah und erkannte, dass ich in jungen Jahren wie die meisten meiner Zeitgenossen unhinterfragt die Annahme teilte, Cowboys seien grundsätzlich gut, Indianer grundsätzlich schlecht. Die Welt ist aufgewacht angesichts der Realität rassistischer Vorurteile; diese abzuschaffen gleicht jedoch dem Versuch, Luft aus einem Luftballon zu quetschen. Man drückt an einer Stelle, und der Ballon beult 17
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sich an einer anderen Stelle aus. Die Welt einigte sich im Blick auf die Apartheid und sagte: »Das lassen wir nicht zu«, aber zumindest ein Teil der moralischen Energie stammte von dem, was die Psychologen »Projektion« nennen, der einfache Weg, auf dem wir jemand anderes für etwas verdammen, das wir selbst tun. Das ist sehr praktisch, und es gibt uns ein tiefes, wenn auch unberechtigtes Gefühl moralischer Befriedigung: Jemanden auf der anderen Seite der Welt zurechtzuweisen, während wir gleichzeitig die Probleme vor der eigenen Haustür ignorieren. Und nun stehen die neuen globalen Bösartigkeiten vor unseren Augen: ungezügelter, gefühlloser, verantwortungsloser Materialismus und Kapitalismus auf der einen Seite; rasender, gedankenloser, religiöser Fundamentalismus auf der anderen. Ein berühmtes Buch fasste es in den Titel: »Djihad gegen McWorld«. (Ob es so etwas wie fürsorglichen Kapitalismus oder rücksichtsvollen Fundamentalismus gibt, ist an dieser Stelle nicht die Frage). Das bringt uns dahin zurück, wo wir vor ein paar Minuten waren. Man braucht keinen Doktortitel in Makroökonomie, um zu verstehen, dass irgendetwas massiv schiefläuft, wenn die Reichen jede Minute reicher und die Armen ärmer werden. Gleichzeitig wollen wir alle ein glückliches und sicheres Privatleben. Dr. Johnson, der gewandte Rhetoriker des 18. Jahrhunderts, bemerkte einmal, das Ziel aller menschlichen Bemühungen sei es, »in den eigenen vier Wänden glücklich zu sein«. Aber in der westlichen Welt und auch in vielen anderen Teilen der Welt zerreißen sich die Familien selbst. Die freundliche Kunst, freundlich zu sein – Güte, Vergebung, Sensibilität, Rücksicht, Großzügigkeit, Demut und die altmodische Liebe – ist außer Mode gekommen. Ironischerweise pocht jeder auf seinem »Recht«, und dieses Pochen ist so gellend, dass es eines der grundlegenden »Rechte« zerstört, wenn man es so nennen kann: Das »Recht«, oder zumindest die Sehnsucht und Hoffnung, einen friedlichen, stabilen und liebevollen Ort zu haben, an dem man leben, sein, lernen und aufblühen kann. Und wieder fragen wir uns: Warum ist das so? Muss das so sein? Können die Dinge in Ordnung gebracht werden, und wenn ja, wie? Kann die Welt gerettet werden? Können wir gerettet werden? Und wieder einmal ertappen wir uns bei der Frage: Ist es nicht seltsam, dass die Dinge so liegen, wie sie liegen? Ist es nicht seltsam, dass wir alle wollen, dass die Dinge ins Lot gebracht werden, aber dass wir es nicht zu 18
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schaffen scheinen? Und ist es nicht die seltsamste Sache von allen, dass ich selbst weiß, was ich tun soll, es aber oft nicht tue? *** Es gibt drei grundlegende Wege, auf denen wir die Ahnung vom Echo einer Stimme, vom Ruf nach Gerechtigkeit, vom Traum einer ins Lot gebrachten Welt (und von uns allen in ihr) erklären können. Es steht uns frei zu sagen, dass es sich tatsächlich nur um einen Traum handelt, eine Projektion kindlicher Fantasien, und dass wir uns daran gewöhnen sollten, in der Welt zu leben, so wie sie nun einmal ist. Auf diesem Weg finden wir Machiavelli und Nietzsche, die Welt der nackten Macht und des Greifens nach dem, was du kriegen kannst, die Welt, in der die einzige Sünde diejenige ist, sich erwischen zu lassen. Es steht uns ebenso frei zu sagen, dass es in dem Traum um eine ganz andere Welt geht, eine Welt, in die wir eigentlich gehören, in der alles wirklich ins Lot gebracht sein wird, eine Welt, in die wir uns gegenwärtig nur in unseren Träumen flüchten können, und in die eines Tages tatsächlich zu entkommen wir nur hoffen können – eine Welt, die aber nur wenig Einfluss auf die gegenwärtige Welt hat, außer dass Menschen in dieser Welt manchmal von jener träumen. Damit überlässt man diese Welt den skrupellosen Tyrannen, aber man tröstet sich mit dem Gedanken, dass die Dinge irgendwo, irgendwann besser sein werden, wenn wir schon nicht viel im Hier und Jetzt tun können. Es steht uns aber auch frei zu sagen, dass der Grund, warum wir diese Träume haben, der Grund, warum wir das Gefühl einer Erinnerung an das Echo einer Stimme haben, darin besteht, dass es jemanden gibt, der zu uns redet, uns ins Ohr flüstert, jemand, der sehr um diese gegenwärtige Welt und um uns selbst besorgt ist, der uns und die Welt mit einer Absicht geschaffen hat, einer Absicht, die Gerechtigkeit beinhaltet, einer Absicht, die beinhaltet, dass die Dinge und wir selbst ins Lot gebracht werden – die also letztlich die Rettung der Welt beinhaltet. Drei der großen religiösen Traditionen haben diesen letzten Weg gewählt, und sie sind miteinander verwandt, was wenig überraschend ist; sie sind sozusagen Cousins zweiten Grades. Das Judentum spricht von einem Gott, der die Welt geschaffen hat und ihr die Leidenschaft für Gerechtigkeit 19
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eingestiftet hat, weil es seine eigene Leidenschaft ist. Das Christentum spricht von demselben Gott, der diese Leidenschaft, diese Passion im Leben und Wirken Jesu Christi in Szene gesetzt hat (»Passionsspiele« im mehrfachen Sinne sind ja tatsächlich ein Charakteristikum des Christentums). Der Islam greift einige jüdische und einige christliche Storys und Gedanken auf und erzeugt eine neue Synthese, in der das Ideal in der Offenbarung des Willens Gottes im Koran besteht, ein Ideal, das die Welt ins Lot bringen würde, wenn ihm nur gehorcht werden würde. Es gibt viele Unterschiede zwischen diesen drei Traditionen, aber an diesem Punkt herrscht im Gegenüber zu anderen Philosophien und Religionen Übereinstimmung: Der Grund, warum wir denken, eine Stimme gehört zu haben, ist ein einfacher: Wir haben sie tatsächlich gehört. Es war kein Traum. Es gibt Wege, wieder mit der Stimme in Kontakt zu kommen und das umzusetzen, was sie sagt. Im realen Leben. In unserem realen Leben. *** Dieses Buch wurde geschrieben, um eine dieser Traditionen zu erklären und zu empfehlen, die christliche. Es geht hier um das reale Leben, weil Christen glauben, dass die Stimme, die wir zu hören meinten, in Jesus von Nazareth Mensch wurde und als einer von uns lebte und starb. Es geht hier um Gerechtigkeit, weil Christen nicht nur die jüdische Leidenschaft für Gerechtigkeit in ihrem Erbe haben, sondern weil sie behaupten, dass Jesus diese Leidenschaft verkörperte und dass das, was er tat und was mit ihm passierte, den Plan des Schöpfers zur Rettung der Welt in Gang setzte, den Plan, sie wieder in Ordnung zu bringen, sie ins Lot zu bringen. Deshalb geht es hier um uns, um uns alle, weil wir alle in diese Sache verwickelt sind. Wie wir sahen, ist eine Leidenschaft für Gerechtigkeit, oder zumindest das Gefühl, dass die Dinge in Ordnung gebracht werden müssen, schlicht und einfach Teil dessen, was es heißt, Mensch zu sein und in dieser Welt zu leben. Man kann es wie folgt sehen. Die alten Griechen erzählten eine Geschichte über zwei Philosophen. Der eine kam jeden Morgen aus seinem Haus und lachte lauthals. Die Welt war ein so komischer Ort, dass er sich das Lachen nicht verkneifen konnte. Der andere brach jeden Morgen in Tränen aus. Die Welt war so voller Schmerz und Tragik, dass er die Tränen nicht unterdrücken konnte. In gewissem Sinne haben beide Recht. Komödie und 20
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Tragödie reden beide von Dingen, die aus den Fugen sind; im einen Fall einfach in unangebrachter und damit komischer Rede, im anderen Fall durch die Rede von Dingen, die nicht so sind, wie sie sein sollten, und von Menschen, die daran zerbrechen. Lachen und Weinen sind ein guter Gradmesser des Menschseins. Krokodile sehen aus, als würden sie weinen, aber sie sind nicht traurig. Man kann einen Computer so programmieren, dass er etwas Lustiges sagt, aber er wird den Witz niemals verstehen. Als die ersten Christen die Story von Jesus erzählten – und sie taten das auf zahlreichen Wegen, um zahlreiche Aspekte zu betonen –, sagten sie nie ausdrücklich, dass er lachte, und nur einmal, dass er in Tränen ausbrach. Dennoch deuten die Geschichten, die sie über ihn erzählten, ständig das Lachen und Weinen in einem nicht unbedeutendem Ausmaß an. Er ging ständig auf Partys, bei denen es viel zu essen und zu trinken und zu feiern gab. Er übertrieb ungeheuer, um eines ganz deutlich zu machen: Schaut euch das an, sagte er: Ihr versucht, den Splitter aus dem Auge eures Freundes zu entfernen, habt aber einen riesigen Balken im eigenen Auge! Er gab seinen Nachfolgern, insbesondere den wichtigen, lustige Spitznamen (»Petrus« heißt soviel wie »Rocky«, Jakobus und Johannes nannte er »Donnersöhne«). Wo er auch hinkam: Die Leute waren aufgeregt, weil sie glaubten, dass Gott sich in Bewegung gesetzt hatte, dass eine neue Rettungsaktion in der Luft lag, dass die Dinge ins Lot gebracht werden würden. Menschen in einer solchen Stimmung sind wie Freunde, die sich zu Beginn eines Urlaubs wieder treffen. Sie neigen dazu, viel zu lachen. Eine gute Zeit liegt vor ihnen. Die Feier hat begonnen. Ebenso traf Jesus aber auch überall, wo er hinkam, eine endlose Menge von Menschen, in deren Leben die Dinge ernsthaft schiefgelaufen waren. Kranke Menschen, traurige Menschen, zweifelnde Menschen, verzweifelte Menschen, Menschen, die ihre Unsicherheiten hinter arrogantem Gehabe verbargen, Menschen, die die Religion benutzten, um sich vor der harten Realität abzuschirmen. Und obwohl Jesus viele Menschen heilte, war er nicht wie jemand, der einfach einen Zauberstab schwingt. Er teilte den Schmerz. Er war von der Ansicht eines Leprakranken und vom Gedanken an alles, was er durchgemacht hatte, tief traurig bewegt. Er weinte am Grab eines engen Freundes. Gegen Ende der Story litt er selbst Qualen, erst Seelenqualen, dann die körperlichen Todesqualen. Es ging dabei nicht darum, dass Jesus die Welt auslachte oder der Welt 21
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etwas vorweinte. Er feierte mit der neuen Welt, deren Geburt begonnen hatte, der Welt, in der alles Gute und Schöne über das Böse und Schlimme triumphieren würde. Er litt mit der Welt in ihrem gegenwärtigen Zustand, der Welt der Gewalt und Ungerechtigkeit und Tragik, die er und die Menschen, die er traf, so gut kannten. Von Anfang an, vor 2000 Jahren, haben die Nachfolger Jesu immer behauptet, dass er die Tränen der Welt zu seinen eigenen gemacht hatte, dass er sie den ganzen Weg bis zu seinem brutalen und ungerechten Tod getragen hatte, um Gottes Rettungsaktion auszuführen; und dass er die Freude der Welt genommen und zu einer neuen Geburt geführt hatte, als er von den Toten auferstand und dadurch Gottes neue Schöpfung ins Rollen brachte. Diese doppelte Behauptung ist eine recht anmaßende, und ich werde nicht einmal versuchen, sie zu erklären, bis wir zum zweiten Teil dieses Buches kommen. Aber die Behauptung betont, dass der christliche Glaube die Leidenschaft für Gerechtigkeit gutheißt, die jeder Mensch kennt, die Sehnsucht zu erleben, dass die Dinge ins Lot gebracht werden. Außerdem wird behauptet, dass Gott selbst – in Jesus – diese Leidenschaft geteilt und sie verwirklicht hat, sodass am Ende alle Tränen getrocknet und die Welt mit Gerechtigkeit und Freude erfüllt werden. *** »Na ja«, höre ich jemand sagen, »die Nachfolger Jesu sind bis jetzt auch nicht sehr weit gekommen, oder? Was ist mit den Kreuzzügen? Was mit der spanischen Inquisition? Die Kirche hat doch selbst mehr als einen kleinen Anteil an den Ungerechtigkeiten in der Welt? Was ist mit den Leuten, die Bomben in Abtreibungskliniken werfen? Was ist mit den Fundamentalisten, die denken, Armageddon stehe vor der Tür, sodass es egal ist, wenn die Welt in der Zwischenzeit zugrunde gerichtet wird? Sind Christen nicht Teil des Problems anstatt Teil der Lösung?« Ja und Nein. Ja: Seit sehr frühen Zeiten hat es immer einige Menschen gegeben, die im Namen Jesu schreckliche Dinge taten. Es gab auch Christen, die schreckliche Dinge in dem Wissen getan haben, dass es sich um schreckliche Dinge handelte, ohne dafür die Unterstützung Jesu in Anspruch zu nehmen. Man kann sich vor diesem Aspekt nicht verbergen, wie unangenehm das auch sein mag. 22