815734

Page 1

Emilys Geschichte Ich kam am 21. Dezember 1945 in England an, nachdem ich eine schier unendliche elftägige Überfahrt hinter mich gebracht hatte. Das Schiff, ein ehemaliger Truppentransporter, gehörte zu einem Konvoi, der Hilfsgüter nach England brachte. Meine Kajüte war nicht größer als ein Schrank und die Dusche funktionierte nicht. Fünf endlose Tage hatte ich unter der Seekrankheit gelitten und in meinem elenden Zustand hatte ich häufig geträumt, ich befände mich in einem schrecklichen metallenen Gefängnis und weder der Sturm noch die Reise würden je enden. Und meine Schuldgefühle über die Art, wie ich mein Elternhaus verlassen hatte, verschlimmerten diesen Zustand nur noch mehr. Der Hilfskonvoi transportierte alles Mögliche, von Glühbirnen bis hin zu Schuhen. Deshalb war unser Schiff inklusive der leeren Passagierskajüten auch vollbeladen mit allem, was man für das tägliche Leben so braucht. In der Kajüte neben meiner lagerten Bananen. Das weiß ich, weil die Früchte am vierten Tag der Reise überreif wurden und der Geruch meine Übelkeit nur noch steigerte. Am siebten Tag schließlich bekam ich langsam das Gefühl, überleben zu können. Ich war schwach wie ein Kätzchen, weil ich nicht viel gegessen und das wenige nicht lange bei mir behalten hatte. Als ich dann endlich aus meiner Kabine wieder auftauchte, standen der Kapitän und der Küchenchef gerade im Gang vor meiner Nachbarkabine, entsetzt über den Anblick von 400 Pfund verdorbener Bananen. An diesem Abend zwang ich mich endlich, das Abendessen zu mir zu nehmen, was mir nicht leicht fiel. Leider servierte uns der Koch zum Nachtisch eine große Portion Bananencremekuchen, dessen Anblick allein bei mir erneut Übelkeit verursachte. Nachdem ich mich dann schließlich von meiner Seekrankheit erholt hatte, zog ich mir zu allem Übel eine schlimme Erkältung zu, vor der kaum ein Passagier an Bord verschont blieb. Sie setzte sich in meinen Lungen fest und zehrte die wenige Kraft auf, über die ich noch verfügte. Kein Wunder also, dass ich bei meiner Ankunft in England noch immer damit zu kämpfen hatte. An dem Morgen, an dem wir England erreichten, stellte ich mich mit den anderen Passagieren an Deck, um unser Einlaufen in Portsmouth zu beobachten. Niemand sagte ein Wort, als uns die Schlepper durch den Hafenmund an einer langen Reihe von Kais entlang zogen. In vollkommenem Schweigen standen wir an Deck, nur das Husten und Niesen von denen, die ihre Erkältung noch nicht überwunden hatten, störte die Stille. Mein Husten klang übel, aber niemand achtete auf mich. Wir waren zu sehr in den Anblick des im Schnee versunkenen Englands vertieft. Ein kalter Wind pfiff uns um die Ohren. Es war sehr neblig und düster und ich konnte nur verschwommene Silhouetten erkennen. Das Hafengebiet war ein Trümmerhaufen. Die Deutschen hatten ganze Arbeit geleistet. Doch an den Docks lagen trotzdem Schiffe vertäut, vorwiegend Kriegsschiffe, die sich in einem schrecklichem Zustand befanden. Ihre Seiten, die Kanonen und die großen Schornsteine waren schwarz von Ruß und viele ihrer Decks waren durch Explosionen beschädigt. An zahlreichen Stellen hatte man die Schäden mit großen Metallplatten ausgebessert, doch da die Arbeiten in großer Hast vorgenommen worden waren, hatte man sich nicht die Zeit genommen, den Stahl anzustreichen. Man hatte ihn nur angeschweißt, bevor die Schiffe wieder auf See geschickt wurden. Diese Schiffe sahen regelrecht erschöpft aus, als ob sie es kaum


geschafft hätten, nach den Auseinandersetzungen nach Hause zu humpeln. Ich ging die Gangway hinunter. Ein bitterkalter Wind schlug mir entgegen, dabei wehte mir ein gefrorener Nieselregen, zu fein, um Schnee genannt zu werden, wie grober Sand ins Gesicht. Ich verrenkte mir den Hals und hoffte verzweifelt, Grant möge plötzlich auftauchen, mich in seine starken Arme nehmen und mir sagen, dass alles in Ordnung wäre. Aber er war nicht da. Irgendwie gelangte ich zum Bahnhof, dankbar, dass der Niederschlag meine Tränen verdeckte. Der Beamte am Fahrkartenschalter war sehr freundlich, aber ich hatte eine unglaubliche Mühe, ihn zu verstehen. Ich wusste, wir sprachen dieselbe Sprache, aber seine Aussprache war so seltsam, dass ich kaum etwas verstehen konnte. „Was ist denn los, Liebes?“ Ich wandte mich um und stand vor einer stämmigen Frau, deren rotes Gesicht mich anstrahlte. „Ich möchte eine Fahrkarte kaufen.“ Da ich nicht riskieren wollte, nicht verstanden zu werden, reichte ich ihr eine Karte, auf der Grants Adresse stand. „Avonfield-on-Thames“, las sie und lächelte. „Oh, das ist ein hübscher Ort, wie ich gehört habe. Oxfordshire, nicht?“ „Ich - ich weiß es nicht ...“ „Ja, das ist es. Netter Ort. Oder war es zumindest. Die Kriegsjahre haben vermutlich ein wenig an der Politur gekratzt, nehme ich an.“ Sie war eine stämmige Frau, fast dreißig Zentimeter kleiner als ich und sehr dick. Sie trug einen schwarzen Lackhut mit hellblauen Federn, die immer auf und ab wippten, wenn sie mit dem Mann am Schalter sprach. „Dieser Herr kann Ihnen nur eine Fahrkarte bis London verkaufen, Liebes. Wenn Sie dort ankommen, müssen Sie durch die Stadt zur Paddington Station fahren und von dort Ihre Reise fortsetzen.“ „Verzeihung, und wie komme ich dahin?“

„Mit einem Taxi, Liebes.“ Sie wandte sich zu dem Beamten am Schalter um und sagte: „Gib ihr das Ticket, Bert. Ich werde sie in den Zug setzen.“ „So, das wär’s.“ Geräuschvoll füllte er das Formular aus und stempelte es ab. „Das macht sieben Pfund und sechs Pence.“ Ich holte meinen Geldbeutel heraus und hatte keine Ahnung, was ich dem Mann geben sollte, bis die Frau den gewünschten Betrag herausholte. Sie nahm die Fahrkarte entgegen, nahm eine meiner Taschen in die Hand und führte mich durch die Menge. „Bahnsteig sieben. Sie haben Glück, Liebes. Heutzutage fahren die Züge wieder fast pünktlich. Als kleine Entschädigung für das Wetter.“ Sie schnalzte mitfühlend mit der Zunge, als ich von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt wurde. „Sie müssen diese Erkältung im Auge behalten, Liebes. Das ist das Wetter. Passen Sie nur auf. Der härteste Winter seit Jahren und es wird noch schlimmer werden. Kommen Sie gerade aus den Kolonien?“ „Nein, ich bin Amerikanerin.“ Aus irgendeinem Grunde fand die Frau das sehr lustig. „Oh, ich freue mich, dass ich Sie heute getroffen habe. Es tut doch gut, einen Grund zum Lachen zu haben.“ Sie stellte meinen Koffer ab und reichte mir die Fahrkarte. „So, da sind Sie, Liebes. Bahnsteig sieben. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Avonfield. Und fröhliche Weihnachten.“


Ich dankte ihr so gut es ging und fühlte mich sehr einsam, als die Frau sich umdrehte und davonging. Es war, als hätte ich gerade eine Freundin gewonnen und sofort wieder verloren. Die Zugfahrt war fast genauso schlimm wie die Überfahrt, denn die Waggons waren schrecklich überfüllt. Soldaten und Seeleute drängten sich auf jedem Zentimeter. Sie rauchten, spielten Karten und unterhielten sich. Die Luft war von dem Rauch so dick, dass ich sie mit einem Messer hätte durchschneiden können. Da sich keines der Fenster sich öffnen ließ und waren wir schon wenige Meilen außerhalb des Bahnhofs so eingenebelt, dass ich nichts mehr sehen konnte. Ein paar Seeleute waren sehr kontaktfreudig und versuchten, ein Gespräch mit mir zu beginnen, aber das gaben sie schnell wieder auf. Schließlich saß ich eingequetscht auf der harten Holzbank und war so traurig wie noch nie in meinem Leben. Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Zumindest linderte das meinen Husten und bewahrte mich vor der Belästigung der jungen Männer. Doch sobald ich die Augen geschlossen hatte, überfielen mich die Fragen. Was tat ich eigentlich? In welche Situation hatte ich mich gebracht? Schlimmer noch, was würde Grant sagen, wenn er mich sah? Auf keine der Fragen hatte ich eine Antwort. Während ich dort in dem Zug saß, ließ ich noch einmal alle Ereignisse, die mich dorthin gebracht hatten, Revue passieren.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.