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Kapitel 1 San Francisco, April 1849

Diese Straße ist unpassierbar. Völlig unpassierbar.

Rachel Van Buren las die schief gemalten, stark verlaufenen, roten Buchstaben, die über das wackelige Schild verteilt waren, noch einmal. Noch während sie las, senkte sich der Stützpfosten des Schildes auch schon bedenklich nach vorne und gab den Blick frei auf eine endlose Schlammdecke, die sich, so weit das Auge reichte, dahinter erstreckte. Wo sind die Bäume, Herr? Hier sieht man nichts als Schlamm und mickrige Sträucher. Hinter ihr befand sich der Pazifik und vor ihr ein endloses Meer aus Schlamm und Matsch. Es gab weit und breit keinen einzigen trockenen Flecken, an dem sie die Koffer, die sie in jeder Hand trug, hätte abstellen können. „Was machen wir jetzt?“, fragte ihre Schwester und strich sich eine Strähne ihres goldblonden Haares aus dem Gesicht. „Das weiß ich nicht genau, Lissa.“ Rachel, ihre fünfzehnjährige Schwester und ihr vierzehnjähriger Bruder Michael waren nach ihrer zwei Monate dauernden Schiffsreise völlig erschöpft. Da ihr Vater Jacob Van Buren auf der Überfahrt unerwartet verstorben war, standen die drei Geschwister nun ohne Eltern da. Das Versprechen auf schnellen Reichtum war ihrem Vater als Lösung für seine finanziellen Nöte erschienen. Also hatte er das wenige Kapital, das sie besessen hatten, zusammengekratzt, hatte für seine Familie eine Überfahrt auf der Oregon gebucht und war hoffnungsvoll in Richtung Westen aufgebrochen. Doch die Hoffnungen waren bald der Trauer um seinen Tod gewichen. Die drei standen verlassen und allein ohne erwachsene 5


Begleitung, ohne nennenswerte finanzielle Mittel und ohne Zukunftsaussichten in einem fremden Land. „Auf das Schiff können wir nicht zurück“, stellte Michael fest. „Die Schiffsmannschaft hat alles stehen und liegen gelassen.“ Nicht nur die Mannschaft, erkannte Rachel, sondern auch ihre Mitreisenden. Sie hatte noch nie gesehen, dass sich so viele Männer so schnell bewegten. Die junge Frau warf einen kritischen Blick auf das jetzt leere Ruderboot, das an dem wackeligen Kai befestigt war, und kam zu dem Schluss, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als ihre großen Reisekoffer zurückzulassen, die wie kleine Särge, die zum Abtransport auf den Friedhof warteten, einsam auf dem Pier standen. Dichter Nebel kam vom Meer heran und zog mit schneller Geschwindigkeit die Hügel von San Francisco hinauf, die mit Zelten und notdürftig gezimmerten Hütten übersäht waren. Die Dämmerung legte sich immer drückender über den Hafen und wich schließlich den länger werdenden Schatten der Nacht. Nach und nach wurden in den in der Ferne zu sehenden Zeltbehausungen Laternen angezündet, die die Hügel in glitzernde Goldkörnchen verwandelten. Rachel verstärkte ihren Griff um die Lederkoffer. „Ich sage dir, was wir jetzt machen, Lissa.“ Sie holte tief Luft, um sich zu stählen. „Wir werden uns jetzt schmutzig machen. Wir werden uns jetzt sehr schmutzig machen.“ „Aber schau doch nur, wie steil es ist“, jammerte Lissa. Rachel betrachtete die starke Steigung, die sie würden überwinden müssen, um dorthin zu gelangen, wo sie den Marktplatz und das Zentrum der Stadt vermutete. Selbst wenn die Straße trocken und festgetreten wäre, wäre es ein anstrengender Anstieg. Aber im tiefen Morast und Schlamm? Fast unmöglich. Michael stieß einen lauten Schrei der Begeisterung aus, nahm Anlauf und rannte mitten in den dicksten Schlamm hinein. Er rutschte, schlingerte und bespritzte die Taschen, die er in beiden Händen trug, mit klebrigem Matsch. Seine Füße waren viel zu groß für seinen dürren, vierzehnjährigen Körper. Er landete auf 6


dem Hinterteil, bevor er auch nur ein Drittel des Weges zurückgelegt hatte. „Es ist glitschig, Mädchen. Und tief.“ Er drehte sich zu ihnen herum und bedachte sie mit einem breiten Grinsen, das in dem immer fahler werdenden Licht kaum zu erkennen war. „Wenn ihr auf mich wartet, komme ich zurück und nehme euch Huckepack.“ „Was meinst du, Lissa?“, fragte Rachel mit hochgezogener Augenbraue. Lissa schob die Unterlippe vor. „Ich mache es, wenn du es machst.“ Rachel zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich glaube, ich versuche es lieber selbst.“ Ihre Schultern sackten bei diesem ersten Kontakt mit San Francisco ein wenig nach unten. Sie hatte für diesen besonderen Anlass ihr bestes Kleid angezogen, dessen Rock unter ihrem dreiviertellangen Mantel hervorblitzte. Rachel setzte einen Fuß in den matschigen, knöcheltiefen Schlamm, beschmierte sich unfreiwillig mit nasser, übelriechender Erde und stapfte den Hang hinauf. Vor Anstrengung keuchend und aufgrund des beißenden Windes zitternd, erklomm sie die Anhöhe. Dort blieb sie, als sie endlich oben angelangt war, in stummer Faszination neben ihren Geschwistern stehen. Aber Faszination war nicht das richtige Wort. Verwirrung kam der Sache schon näher. Ungläubigkeit. Schock. Licht strömte aus den Öffnungen der riesigen Zelte, die den großen Platz säumten und ihn wie kreuz und quer aufgehängte Wäschestücke auf einer Leine durchzogen. Schilder, die an den Zeltwänden befestigt waren, begrüßten sie in der inzwischen vertrauten roten Farbe, allerdings mit unbekannten Worten in einer Vielzahl von Sprachen. Auf den matschigen Straßen tummelten sich viele Menschen. Nein, nicht Menschen. Männer. Orientalische Männer mit langen, geflochtenen Zöpfen. Dunkelhäutige Männer mit bunten Sombreros. Männer mit so vielen Haaren im Gesicht, dass man beim besten Willen nicht erraten konnte, woher sie kamen. 7


Und es waren zahllose Stimmen zu hören. Brüllen. Lachen. Fluchen. In mehr Sprachen, als Rachel zählen konnte, und untermalt von lauten Banjos, Trompeten, Geigen und Gesang. Das war San Francisco? Das Golden Gate, das goldene Tor? Die Hauptader des Goldes? Oh Papa. Hast du wirklich gedacht, du würdest in diesem Chaos auf Gold stoßen? Rachel stellte einen Fuß vor den anderen und überquerte den Platz, bis sie vor einem Holzgebäude mit einer großen Veranda und einem Schild stehen blieb, auf dem in großen Lettern „Cityhotel“ stand. Ein großer, bulliger Mann taumelte gerade aus dem Türrahmen und verdunkelte mit seinem Körper den Lichtschein, der aus dem Inneren kam. Dann stolperte er auf die Straße, fiel zu Boden und blieb mit dem Gesicht nach unten liegen. „Oh, du meine Güte“, stieß Lissa mit einem Keuchen hervor. Der Mann blieb regungslos liegen. „Was ist, wenn er in diesem Matsch erstickt, bevor er aufstehen kann?“, flüsterte Michael besorgt. Rachel reichte Michael ihre Koffer und trat auf den Mann zu. „Sir? Geht es Ihnen gut?“ Keine Antwort. Sie blickte kurz zu ihren Geschwistern. „Vielleicht sollten wir ihm lieber helfen.“ Aber noch bevor sie das tun konnten, erhob sich der Mann mit einem lauten Brüllen auf alle viere. Sie stieß einen Schrei aus und sprang einen Satz zurück. Der Mann schob sich auf die Beine und stolperte an den drei Geschwistern vorüber, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. „Oh, du meine Güte“, rief Lissa erneut. Rachel strich mit den Händen über ihren Mantel. „Bleibt hier. Wenigstens so lange, bis ich sichergestellt habe, dass dies ein … äh … anständiges Hotel ist.“ Michael runzelte die Stirn. „Vielleicht sollte lieber ich hineingehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich gehe. Außerdem musst du hier bei Lissa bleiben und sie beschützen.“ 8


Der Schlamm tropfte von ihrem Rock und ihrer langen, gerüschten Unterwäsche, die bis über ihre Schienbeine reichte, als sie zu der großen Veranda hinaufstieg. Rachel konnte nicht sagen, was sie im Inneren des Hotels erwarten würde. Rauch vernebelte ihr den Blick durch die offene Tür. Sie rückte die Ärmel ihres Mantels gerade und stampfte mit den Füßen auf, um den klebrigen Matsch loszuwerden. Dann betrat sie das „Cityhotel“. Nichts hätte sie auf das vorbereiten können, was sie hier erwartete. Dicker Rauch brannte augenblicklich in ihren Augen, Flüche gellten in ihren Ohren und üble Gerüche überwältigten ihre Nase. Rachel zögerte und versuchte, sich an diese Umgebung zu gewöhnen, während sie ihren Blick fragend durch den Raum schweifen ließ. Sie musste jedoch die Augen stark zusammenkneifen, um durch den Dunst, der fast genauso dicht war wie der Nebel draußen, etwas erkennen zu können. Sie stand in einem riesigen Raum, der gleichzeitig Bar, Spielsalon und Schlafquartier war. An drei Wänden waren vierstöckige Betten aufgestellt, auf denen Männer lagen. Einige lasen im Kerzenschein, andere lagen oder schliefen einfach nur auf ihren Betten und wieder andere hatten sich über den Matratzenrand gebeugt und schauten den Kartenspielern an den verschiedenen Tischen zu. An der Seite befanden sich ein Ankleidetisch und ein Spiegel. Ein Mann benutzte gerade eine Haarbürste, die mit einer Kette am Spiegelhaken befestigt war, während ein anderer eine Zahnbürste ausspülte und sie an den nächsten Mann weitergab, der in der Reihe hinter ihm wartete. Über die vierte Wand erstreckte sich eine lange Bar, an der unzählige Gäste lehnten, die sich bereits in einem fragwürdigen Zustand befanden. Über der Bar hing ein großer, verzierter Spiegel mit Goldrand, der die Szenerie vor ihr doppelt so groß erscheinen ließ. Eine kalkweiße, lebensgroße Statue, die eine nackte Frau darstellte, veranlasste Rachel, ihren Blick rasch abzuwenden. 9


Im gesamten restlichen Raum verteilt standen Tische mit grünem Stoffbezug, um die sich Männer drängten, die immer wieder Goldnuggets auf den Tisch warfen, ihre Wetteinsätze verkündeten und Kautabak ausspuckten. An einigen Tischen gab es Stühle und ehrbar aussehende Herren, die die Spieler vor die Wahl zwischen „Rot“ und „Schwarz“ stellten. Hinter einem solchen Stuhl stand eine dunkelhaarige Schönheit. Ihr weiter, schimmernder Rock und ihr glitzerndes Tuch, das in allen Farben glänzte, lagen eng um ihre voluminösen Kurven. Sie beugte sich gerade vor und flüsterte einem der Spieler etwas ins Ohr. Dabei enthüllte sie großzügig ihre Brust, da ihr Mieder einen ausgesprochen weiten Ausschnitt besaß. Schockiert hielt Rachel inne. Doch ihr Entsetzen wurde noch größer, als sie das Gesicht der Frau genauer betrachtete. Eine Zigarette! Zwischen den rotbemalten, sinnlichen Lippen der Frau steckte eine Zigarette. Rachel zog den Kragen ihres Mantels enger um sich. Sie hatte noch nie in ihrem ganzen Leben gesehen, dass eine Frau rauchte. Sie wusste nicht einmal, dass es überhaupt welche gab, die dies taten. Aber niemand schien sich darüber aufzuregen. Im Gegenteil, die Männer am Tisch sahen genauso gediegen aus wie die Männer, die sie von zu Hause in New Jersey kannte, und alle benahmen sich so, als wäre hier alles in bester Ordnung. Ein lauter Jubelruf auf der anderen Seite des Raumes lenkte Rachels Aufmerksamkeit dorthin. Eine Mauer aus Männerrücken in blauen Flanellhemden umgab das Objekt des Interesses, was auch immer es war. Wie von einem unsichtbaren Band angezogen, bewegte sich Rachel zu dem Kreis und schlängelte sich durch die dicht gedrängt stehenden Körper, bis sie sehen konnte, was hier geschah. „Wie viel ist in dem Beutel, Junge?“ „Zehntausend.“ „Und du willst alles auf eine Karte setzen?“ „Ja, Sir.“ 10


Der Kartengeber, der ein elegantes, dunkles Jackett und eine dazu passende Weste trug, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog an seiner Zigarre. „Warum?“ „Ich war auf dem Heimweg, Sir, und da dachte ich mir: ‚Das könnte meine letzte Gelegenheit zu einem schönen Kartenspiel sein.‘ Wenn ich jetzt alles setze, fahre ich nicht nur mit vollen Taschen nach Hause, sondern als richtig reicher Mann.“ Rachel hielt den Atem an. Der Kartengeber würde diesen Einsatz doch sicher nicht annehmen. Das Gesicht des Jungen war noch völlig bartlos. Man sollte ihm den Zutritt zu einer solchen Spielhölle verwehren. Zumindest sollte man ihm das Glücksspiel verbieten. Und dann auch noch zehntausend – auf eine einzige Karte! „Du hast ziemlich lange gegraben, um soviel Gold zusammenzubekommen?“ „Fast ein ganzes Jahr.“ Nun war kein Ton mehr aus dieser Ecke des Raumes zu vernehmen. Nein. Bitte sag nein. Der Kartengeber sah nicht aus wie ein harter Mann, obwohl er schon etwas älter war – Rachel schätzte ihn auf dreißig bis fünfunddreißig. Trotzdem war er sauber, ordentlich gekämmt und rasiert. Er würde dem Jungen doch ganz sicher sagen, er solle sein Geld nehmen und nach Hause gehen. Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einem verwegenen Grinsen und er klatschte in die Hände. „Zehntausend sind gesetzt.“ Das Gebrüll der Umstehenden war ohrenbetäubend und erstickte Rachels entsetzten Protestschrei. Dann folgte Schweigen. Völliges, spannungsgeladenes Schweigen. Der Kartengeber drehte eine Karo-Dame um, dann eine Kreuz-Fünf. Der Junge stellte seinen schweren Lederbeutel auf die Dame. „Dame?“, fragte der Kartengeber. „Dame“, bestätigte der Junge. Der Kartengeber legte den Kartenstapel mit der Bildseite nach unten auf den Tisch. Dann drehte er langsam – sehr lang11


sam – eine Karte nach der anderen um. Pik-Acht. Kreuz-Zehn. Karo-Sechs. So ging es immer weiter, bis schließlich eine Herz-Fünf aufgedeckt wurde. Der Kartengeber nahm keine weitere Karte mehr, sondern legte seine Hand auf den Tisch, hob den Kopf und schaute den Jungen mit seinen blauen Augen an. Was passiert hier? Was hat das zu bedeuten? Rachel schaute von einem Mann zum anderen, aber alle starrten wie gebannt auf die Karte. Der Junge sank auf seinen Stuhl zurück und war kreidebleich im Gesicht. Der Kartengeber nahm den Beutel, öffnete ihn, holte eine Handvoll Goldstaub heraus und ließ ihn vor dem Jungen auf den Tisch rieseln. „Das sollte dir genügen, um entweder nach Hause zu fahren oder hier noch einmal von vorne anzufangen. Deine Getränke gehen heute aufs Haus.“

 Johnnie Parker hielt die Luft an, als ein leises Raunen durch die Menge ging. Der junge Rattlesnake war bei den Goldgräbern ziemlich beliebt, aber Geschäft war Geschäft. Die Fünf wurde als Erste aufgedeckt und der Gewinner bekam alles. Er zog sorgfältig den Lederbeutel zu und ließ dann seinen Blick über die anderen Goldgräber wandern. Aber die Aufmerksamkeit der Männer galt überhaupt nicht Rattlesnake. „Geben Sie ihm sein Geld zurück“, schimpfte die Frau. Johnnie war schon halb von seinem Stuhl aufgestanden, als ihm bewusst wurde, dass es mindestens ein Jahr her war, seit er das letzte Mal vor einer Dame aufgestanden war. Und sie war eine Dame. Sie stand mit Mantel, Rock und Sonnenhut zwischen all diesen schäbigen Goldgräbern. Völlig mit Schlamm bespritzt und so verdammt hübsch, dass es ihm fast den Atem verschlug. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Selbst Rattlesnake schien vergessen zu haben, dass er soeben sein gesamtes Vermögen 12


verloren hatte. Und die Dame? Die Aufmerksamkeit der Dame war voll und ganz auf Johnnie gerichtet. Und sie war alles andere als entzückt. „Geben Sie es ihm zurück“, wiederholte sie. „Ich habe es fair und ehrlich gewonnen.“ „Er ist fast noch ein Kind.“ „Ich möchte wetten, dass er älter ist als Sie.“ Sie versteifte sich sichtlich. „Ich glaube, für heute Abend wurde genug gewettet.“ Die Frau zog ihren Handschuh aus, einen Finger nach dem anderen, und hatte wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung, wie lange es her war, seit diese Männer einer Frau bei einer so einfachen Geste zugeschaut hatten. „Wo ist der Hotelbesitzer?“ Er zog an seiner Zigarre. „Das bin ich.“ Er verbeugte sich leicht vor ihr. „Johnnie Parker. Zu Ihren Diensten.“ Sie schürzte die Lippen. „Sagen Sie mir, Mr Parker, luchsen Sie eigentlich immer Kindern ihr schwerverdientes Vermögen ab?“ Er kniff die Augen zusammen. „Ich habe niemandem etwas abgeluchst. Ich führe hier ein sauberes, ehrliches Haus.“ „Wirklich? Ich wusste nicht, dass es so etwas wie eine ehrliche Spielhölle überhaupt gibt.“ „Dann wissen Sie es jetzt.“ Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern. Die junge Frau war von durchschnittlichem Wuchs, und obwohl ihr rostbrauner Mantel ihre Figur verbarg, vermutete er, dass sie nicht viel Fleisch auf den Rippen hatte. Ihr herzförmiges Gesicht hatte hohe Backenknochen, weich aussehende Lippen und dunkle Brauen, die sich über kaffeebraunen Augen leicht bogen. Augen, die vor Missbilligung gefährlich funkelten. „Kann ich etwas für Sie tun?“, erkundigte er sich, während er seine Zigarre ausdrückte. Sie schlug mit dem Handschuh auf ihre Hand. „Auf dem Schild da draußen steht ‚Cityhotel‘.“ „Ja, das steht auf dem Schild.“ 13


„Wo ist dann der Empfangstresen?“ Erneut ging ein Raunen durch die Menge. „Ehrlich gesagt, Miss, habe ich bis jetzt noch keinen Empfangstresen gebraucht, um ein paar Matratzen zu vermieten.“ Sie sah ihn groß an. „Sie haben keine Zimmer?“ Er warf seine Rockschöße zurück und steckte die Hände in seine Hosentaschen. „Nein, das könnte ich nicht behaupten.“ „Ach, du meine Güte, ein Hotel ohne Zimmer.“ Sie zog ihren Handschuh über ihre Handfläche und schlug ihn dann wieder auf ihre Hand. Diese einfache Bewegung faszinierte jeden Mann im Raum. „Ich habe ein Zimmer, Miss“, bot jemand an. „Sie könnten mich heiraten und zu mir ziehen.“ Johnnie warf Harry sogleich einen finsteren Blick zu, aber die Worte auf seinen Lippen erstarben, als die Dame bei Harrys Antrag feuerrot anlief. „Nun … ich … ich … oh … Danke, aber ich wollte wirklich nur ein Zimmer mieten.“ Daraufhin wurde sie mit mindestens hundert Angeboten bestürmt. Rachel hob die Hand, um die Männer zum Schweigen aufzufordern. „Ein Hotelzimmer.“ Sie wandte sich wieder an ihn. „Gibt es in der Stadt ein Hotel, das Zimmer vermietet?“ „Tut mir leid, aber die Hotels in San Francisco vermieten nur Matratzen, keine Zimmer.“ „Wären Sie dann bitte so freundlich und würden mir sagen, wo ich eine Frau finden kann, bei der ich heute Nacht bleiben könnte?“ Er rieb sich das Kinn. „Tut mir leid, aber alle ehrbaren Frauen sind bei ihren Männern oben in den Goldgräberlagern.“ „Sie wollen damit doch bestimmt nicht sagen, dass es in dieser Stadt keine einzige Frau gibt, die zur Kirche geht?“ „Was er sagt, ist wahr, Miss“, bestätigte Harry. „Sie sind der erste Sonnenhut, den wir Männer seit Ewigkeiten hier zu Gesicht bekommen.“ Sie runzelte die Stirn. „Sonnenhut?“ 14


„So nennen die Männer die ehrbaren Frauen“, klärte Johnnie sie auf. „Die, äh, anderen Frauen machen sich keine großen Gedanken um ihre Haut und tragen deshalb keine Sonnenhüte.“ Rachel zögerte. „Ich verstehe. Nun denn … Wo finde ich die Kirche?“ „Wir haben keine.“ „Sie haben keine Kirche?“ „Leider nicht. Nicht so eine Kirche, wie Sie meinen. Die Sonntagsgottesdienste finden im alten Schulhaus statt.“ Die junge Frau betrachtete die Matratzen an den Wänden und runzelte die Stirn. „Was ist mit deiner Hütte, Johnnie?“, rief jemand. Der übrige Raum gab lautstarke, zustimmende Bemerkungen von sich, und bevor er wusste, wie ihm geschah, zeigten seine eigenen Gäste ihr den Weg zu seiner Privatwohnung hinter dem Hotel. Er hätte sich jedoch keine Sorgen zu machen brauchen. Schon nach den ersten Schritten blieb sie entschieden stehen. „Auf keinen Fall.“ Die Männer hielten inne und sahen sie erwartungsvoll an. „Das könnte ich nicht. Ich … könnte das einfach nicht.“ „Klar können Sie. Oder, Johnnie?“ Er machte zwei lässige Schritte auf sie zu. „Wenn ich es mir recht überlege, Miss …?“ „Van Buren. Rachel Van Buren.“ „… Van Buren, wäre es mir eine Ehre, Ihnen meine Hütte zu überlassen, bis Sie eine andere Unterkunftsmöglichkeit finden.“ Sie warf einen Blick zur Tür und dann wieder zu ihm. „Aber was ist mit Ihrer Familie?“ Er lächelte. „Ich habe keine Familie, Miss.“ „Oh, aber wo wollen Sie dann wohnen?“ „Ich bin zurzeit dabei, mir eine neue Hütte zu bauen. Sie ist noch nicht ganz fertig, aber schon so weit, dass ich darin schlafen kann.“ 15


Ein Strahlen trat auf ihr Gesicht. „Dann könnte ich ja vielleicht dort wohnen?“ „Nein.“ „Ich bestehe darauf.“ „Und ich habe nein gesagt. Sie ist noch nicht fertig und wäre unpassend.“ Sie runzelte die Stirn. Er versuchte es noch einmal. „Ich würde hundertprozentig gehenkt werden, wenn ich Ihnen etwas anderes gäbe als das Beste. Und meine Hütte ist der beste Platz in der ganzen Stadt.“ Alle nickten zustimmend. „Sir, Sie verstehen das doch sicher. Ich kann unmöglich bei einem unverheirateten Mann … Nein, tut mir leid. Wenn Sie mich nicht in Ihrer anderen Hütte schlafen lassen, bin ich leider gezwungen, mir etwas anderes zu suchen.“ Harry trat einen Schritt vor. „Wo ist Ihr Mann?“ Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. „Mein Vater starb bei unserer Fahrt um das Kap Horn an Cholera.“ „Das tut mir wirklich sehr leid, Madam. Sind Sie verheiratet?“ „Ähm, nein, leider nicht.“ Lautes Stimmengewirr setzte ein. Rachel trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Harry kratzte sich am Bart. „Dann sollten Sie wirklich hier bleiben. Es gibt in der ganzen Stadt keinen Mann, dem Sie mehr trauen können, als Johnnie Parker hier. Das heißt natürlich, außer, Sie wollen mich vielleicht doch heiraten?“ Sie schluckte und sah wieder zu Johnnie hinüber, um bei ihm irgendwie eine Bestätigung dafür zu finden, dass Harry die Wahrheit sprach. Doch er schwieg nur. „Es gibt einfach keinen anderen Platz für einen Sonnenhut“, fuhr Harry fort. „Nein, Miss. Entweder Sie heiraten oder Sie wohnen in Johnnies Hütte.“ Die Männer gaben ihm lautstark recht. 16


Rachel spielte nervös mit den Knöpfen ihres Mantels. „Ich verstehe. Nun, also, dann vielleicht für heute Nacht.“ Große, braune Augen schauten ihn an. „Sind Sie sicher, dass es … schicklich ist?“ Johnnie verbeugte sich. „Absolut. Hier entlang bitte.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich muss vorher meine Familie holen.“ Er blieb abrupt stehen. „Familie?“ „Ja, meinen Bruder und meine Schwester. Sie sind …“ Sie deutete zur Tür. Als die Männer zur Seite traten, um ihr einen Durchgang frei zu machen, entdeckte er einen schlaksigen Jungen und ein hübsches Mädchen, die müde und verloren in der Eingangstüre standen. „Nun ja, sie sind hier. Kommt, Lissa, Michael. Ich glaube, ich habe ein Zimmer für uns gefunden.“ Aber Michael hörte sie nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der nackten Statue. Zum Glück konnte Rachel aufgrund der der Männer nicht sehen, was ihren Bruder so faszinierte. „Michael?“ Der Junge fuhr zusammen, lief feuerrot an und stolperte dann beinahe über seine eigenen Füße, weil er es so eilig hatte, an die Seite seiner Schwester zu kommen. „Michael, Lissa. Das ist Mr Parker. Er ist der Hotelbesitzer und hat eine … äh … Hütte, die uns für heute Nacht genügen dürfte, bis wir eine andere Unterkunft finden.“ Die Jugendlichen nickten höflich. Zwei Koffer tauchten in Harrys kräftigen Händen auf. „Die Koffer nehme ich, Harry.“ Johnnie drehte sich zu seinen Gästen herum. „Lasst euch nicht länger stören. Die Getränke gehen heute Abend aufs Haus.“ Aber die normalerweise lärmende Gruppe von Goldgräbern rührte sich nicht vom Fleck. Sie grölten nicht vor Begeisterung. Stattdessen standen sie ernst und aufmerksam da, während Johnnie die Sonnenhutfrau und ihre Familie in sein Privatquartier führte, das sich hinter der Küche befand.

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