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Der Plan Schon lange gab es keine Nachtwächter mehr, die in den Städten umhergingen und den Menschen die Zeit ansagten, als die Uhr auf dem Kaminsims im Wohnzimmer begann, die Stunde zu schlagen. Der Mann, der sich am Küchentisch über verstreute Papiere und ein Kontobuch beugte, hob den Kopf und zählte unbewusst mit. Zwölf Schläge. Diesmal kündigten sie nicht nur den Beginn einer neuen Stunde an, sondern den eines neuen Jahres. Wieder war ein Jahr vergangen. Die Jahre vergingen jetzt viel schneller als damals, als er noch ein junger Mann gewesen war. Er fühlte sich noch nicht alt. Immerhin war er erst 51. Doch lange Arbeitstage auf den Feldern ließen ihn spüren, dass er langsamer wurde, wenn er der manchmal starrsinnigen Erde seinen Lebensunterhalt abzuringen suchte. Er hatte nicht mehr den Elan der frühe10


ren Jahre. Der Wille war noch da, aber es war mehr Ausdauer als Energie, was seine Arbeit vorantrieb. Als der letzte Schlag der Mitternachtsstunde verklungen war, seufzte er ergeben. Er hielt den Kopf leicht geneigt. Von nun an würde jede Minute, die beim Ticken der Kaminuhr verstrich, den kostbaren Reichtum eines neuen Jahres schmälern. Hatte Lissy die Uhr gehört? Wusste sie, dass ein neues Jahr begonnen hat? Lauschte sie auf seine Schritte, die ihn an ihr Bett bringen würden? Seit ihrer Heirat war es für ihn zu einem Ritual geworden, am letzten Abend des Jahres aufzubleiben und die Konten zu prüfen. Zunächst hatte Lissy protestiert. Silvester sei eine Zeit des Frohsinns, des Feierns, hatte sie behauptet. Eine Zeit, in der man auf das vergangene Jahr zurückblickte und für das Gute, das einem widerfuhr, dankbar sei. So hatte Lissy argumentiert. Und es hatte immer Dinge gegeben, für die sie dankbar gewesen waren. Immer hatten sie dem neuen Jahr mit der Hoffnung entgegen gesehen, dass das Leben ein klein wenig leichter werde, dass durch die Gnade Gottes das Gute die Schwierigkeiten übertreffe. Duncan hatte auf Lissys Einwände erwidert, dass die Überprüfung der Bücher seine Art des Feierns 11


sei. Er hatte nicht erwartet, dass sie ihn verstehe. Doch als er jetzt den Stapel Rechnungen durchging und merkte, dass er es wieder geschafft hatte, eine nach der anderen zu bezahlen, wenn auch oft unter großen Schwierigkeiten, erfüllten ihn tiefe Dankbarkeit und tiefer Frieden. Sein Herz hob sich Gott entgegen und ihm wurde ganz festlich zumute, als er die Eintragungen in das abgenutzte Kontobuch der Farm vornahm. Da er Gottes Güte in der Vergangenheit erlebt hatte, sah er mit Zuversicht in die Zukunft, in das Jahr, das nun begann. Er heftete die Rechnungen mit einer Büroklammer zusammen und legte sie in den Metallkasten, der ihm als Geldschrank diente. Die örtliche Bank brauchte er nicht. Sein eigenes System funktionierte ausgezeichnet. Der abgegriffene Metallkasten, der im Laufe der Jahre seine dunkelrote Farbe verloren hatte, genügte ihm. Jede Abteilung war sorgfältig organisiert. Bezahlte Rechnungen hier, unbezahlte dort. Wechselgeld in der oberen linken Ecke, Geldscheine unten links. Das Kontobuch wurde leicht gebogen obenauf gelegt. Alles war da. Er wusste bereits beim ersten Hinsehen, wie es um seine Finanzen stand. Und heute? Heute Nacht waren alle Rechnungen 12


bezahlt, das Geld für den nächsten Monat in der linken Ecke des Metallkastens beiseite gelegt und vor ihm auf dem Tisch lagen noch immer ein kleiner Stapel Geldscheine und einige Münzen. Er lächelte, als er danach griff. Er würde ihn seinem kleinen Schatz einverleiben. Selbst Lissy, die alle seine Geheimnisse kannte, wusste nichts von dem untersten Fach des Metallkastens und dessen Inhalt. In den Jahren, die sie zusammen waren, hatte er heimlich gespart und allmählich einen hübschen Betrag zur Seite gelegt. Das heimliche Konto wuchs nicht so schnell, wie er es sich gewünscht hätte. Er hatte gehofft, bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag genügend gespart zu haben. Aber der war gekommen und vergangen und das Geld hatte nicht gereicht. Jetzt hoffte er auf den dreißigsten. Doch der Stapel Geldscheine wuchs nur sehr langsam. Wenn sich ihre Finanzen nicht verbesserten, würde er das Ziel wieder nicht erreichen. Sie hatten bereits ihren achtundzwanzigsten Hochzeitstag gefeiert, und es blieben ihm nur noch zwei Jahre. Im Laufe des letzten Jahres hatte er einmal geglaubt, einen größeren Betrag bei seiner Silvesterabrechnung zurücklegen zu können. Die Ernte war 13


gut gewesen, und es hatte keine unerwarteten Ausgaben für einen Arzt, Medikamente oder Maschinenreparaturen gegeben. Doch dann hatte ein Missionar ihre Kirche besucht, und es war Ducan nur recht erschienen, dazu beizutragen, dass dieser Mann dorthin gelangte, wohin Gott ihn berief. Damals hatte er noch tiefer als gewöhnlich in die Tasche gegriffen, um den Mann zu unterstützen. Deshalb blieb in diesem Jahr wieder nur wenig übrig. Langsam hob er die Schublade heraus, setzte sie zur Seite und nahm den Umschlag mit den Geldscheinen und Münzen zur Hand. Auch das Zählen seines geheimen Schatzes gehörte zu seinem Ritual. Es war für ihn stets eine Zeit gehobener Stimmung und Sorge zugleich. Denn obwohl er froh darüber war, dass er so viel gespart hatte, fühlte er sich doch auch entmutigt, wenn er daran dachte, wie viel ihm noch fehlte. Begonnen hatte es auf ihrer Hochzeitsreise. Da war Lissy noch sehr jung gewesen. Jung, lebhaft und so schön. Schön war sie in seinen Augen immer noch, vielleicht sogar noch schöner. Ihre bezaubernde Lebhaftigkeit und Naivität waren einer stillen Heiterkeit und 14


Hingabe gewichen. Er liebte seine Lissy. Sie hatte Freud und Leid mit ihm geteilt. Und in den gemeinsamen Jahren hatte es beides zur Genüge gegeben. Sie hatte ihm geholfen, diese Jahre zu überstehen. Unter Tränen hatte sie das Wunder ihres erstgeborenen Kindes bestaunt. Sie hatte die Kinder gepflegt, wenn sie krank gewesen waren, sich am Grab ihres kleinen Sohnes an ihn geklammert und sie hatte gestrahlt, wenn einem ihrer fünf Kinder etwas gelungen war. Sie hatte seinen alternden Vater in ihren bereits überfüllten Haushalt aufgenommen, als er Witwer geworden und vom Kummer ganz benommen gewesen war. Und als Mutter von drei jungen Bräuten war sie strahlend schön. Die Jahre mit Lissy waren gute Jahre gewesen. Selbst Zeiten der Kämpfe und Rückschläge hatten sie enger zusammenwachsen lassen. Doch nie vergaß er ihre Hochzeitsreise. Sie waren durch die Straßen gelaufen und hatten sich Schaufenster angesehen. Mit den Augen einkaufen, nannte Lissy es. Sie waren an einem Schaufenster nach dem anderen vorbeigegangen, und oft war Lissy stehen geblieben, um mit Ahs und Ohs die Auslagen zu betrachten. Es schien ihr Spaß zu machen, all die Dinge zu sehen, die sie nicht besaß. Er 15


hatte ihr kleines Spiel nicht ganz verstehen können, denn seiner Ansicht nach hätte sie eher ein wenig traurig darüber sein müssen, dass sie nur einen einfachen Farmer geheiratet hatte und die Dinge, die ihre Bewunderung erregten, kaum jemals besitzen würde. Aber Lissy hatte nicht traurig ausgesehen, sondern begeistert und vom Leben erregt. Er hatte während ihres Bummels kein Verlangen in den glänzenden Augen entdecken können. „Hättest du den gern?“, hatte er sie gefragt, als sie gemeinsam einen glänzend emaillierten Küchenherd betrachtet hatten und sie wieder Oh und Ah gerufen hatte. Daraufhin hatte sie ihn erstaunt angesehen. „Warum?“, hatte sie unbefangen erwidert. „Wir haben doch schon einen.” Ja, sie besaßen einen Herd. Ein altes, abgenutztes, verrußtes Ding, das einmal seiner Großmutter gehört hatte. Aber so war Lissy. Nichts lag ihr ferner als Selbstsucht oder Begehrlichkeit. Und das war der Augenblick gewesen, in dem er einen Entschluss gefasst hatte. Eines Tages, sobald er es sich leisten konnte, würde er ihr etwas ganz Besonderes schenken. Etwas, 16


auf dessen Besitz sie stolz sein konnte. Etwas, das ihren Wert und seine tiefe Liebe zu ihr widerspiegelte. Damals hatte er geglaubt, es würde nur ein paar Jahre dauern, das notwendige Geld zusammenzusparen. Vielleicht fünf, wenn alles gut ginge, oder auch zehn. Dann würde er etwas Besonderes aussuchen, etwas, das Lissy schätzen würde. Aber dann war ein Kind nach dem anderen gekommen und ein paar harte Jahre waren gefolgt, in denen die Ernte karg ausgefallen war. Lissy hatte sich nie beklagt. Die Jahre waren vergangen und noch immer hatte sie nichts von ihm bekommen, was hübsch oder besonders war. Aber sie war damit zufrieden, an seiner Seite zu arbeiten, ihm ermunternd zuzunicken, ihn schweigend mit ihrer Stärke zu unterstützen, wenn die Last besonders schwer wurde, ohne von dem geheimen Schatz in dem Metallkasten eine Ahnung zu haben. Er riss sich von seinen Gedanken los, legte die kärglichen Ersparnisse des Jahres zu den anderen und tat alles in den Umschlag. Nicht in diesem Jahr. Es fehlte ihm noch eine ganze Menge. Doch wenn Gott ihnen zwei gute Jahre schenkte, würde er es vielleicht zum dreißigsten Hochzeitstag schaffen. 17


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