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1. Kapitel Drohend stürmte der Halbgott auf mich zu. Der Strahlenkranz auf seinem Haupt funkelte. Seine Stirn glich einer Gewitterfront und seine grünen Augen sprühten Blitze. Die Heldenbrust unter der knappen Tunika bebte. Ängstlich wich ich ein paar Schritte zurück, bis mein Rücken gegen einen Felsen stieß. „Nein, nein, nein!“ Mit einem Ruck zog Leander das Kostüm über den Kopf, knüllte es zu einem formlosen Stoffballen zusammen und schleuderte es auf den Bühnenboden. Eine Staubwolke stieg auf. Leander stand in gestreiften Boxershorts zwischen den Pappmaché-Felsen und starrte mich mit durchbohrendem Blick an. Ich biss mir auf die Lippen. Da hatte ich nächtelang genäht, gebügelt und plissiert, um ein prachtvolles Herkules-Kostüm in Weiß und Gold zu kreieren – komplett mit Strahlenkranz, Armreif und Schnürstiefeln – und jetzt passte es dem Maestro schon wieder nicht?! „Ist es zu groß?“, piepste ich. Welch unverzeihlicher Fauxpas, die Taillenweite des Meisters zu üppig einzuschätzen! Leander könnte ja glauben, ich hielte ihn für dick! Er legte den Handrücken gegen die Stirn und hob die Augen zum Himmel. Jetzt kam die Nummer „Verkanntes Genie“. Himmel, ich musste mit meinem Kostüm ja wirklich völlig daneben liegen!! „Mein Herkules“, hauchte Leander mit gebrochener Stimme, „ist eine Allegorie des Widerstands – der Rebellion gegen ein übermächtiges System – hast du das nicht verstanden?“ 5


„Doch“, wagte ich aufzumucken. „Gerade weil’s allegorisch sein soll, dachte ich, so ein klassisch-griechisches Kostüm macht sich nett … Ich meine, es ist so … äh … zeitlos …?“ „Was ist denn daran zeitlos?“, dröhnte Leander, jetzt in der Rolle „Engel mit dem Flammenschwert“, und klaubte den staubigen Lappen vom Boden auf. Aus seinen Augen schossen Blitze. „Wann hast du in den letzten 1.500 Jahren jemals jemanden mit so einem Gewand herumlaufen gesehen?“ „Selten“, musste ich zugeben. Ich verschwieg, dass ich nur 43 von diesen 1.500 Jahren miterlebt und daher in den restlichen 1.457 Jahren wenig Gelegenheit gehabt hatte, die Kostümierungen der Leute zu studieren. Eine solche Argumentation würde Leander kleinlich finden. „Na ja, und überhaupt …“ Er glättete das Kostüm und hielt es sich vor den Bauch. „Findest du wirklich, dass ich in so einem knappen, nabelfreien Faltenrock herumhüpfen sollte?“ Endlich! Diese Art von Fragen liebte ich, denn darauf wusste ich wenigstens die richtige Antwort. „Selbstverständlich! Du willst dem Publikum doch etwas bieten, und wenn ‚Herkules‘ im Programm steht, dann wollen die Leute doch einen Halbgott mit halb-, äh … göttlichem Körper sehen!“ Er sah an sich herab und wiegte sich in den Hüften. „Und du meinst, dass mein Körper … diesen Anforderungen gerecht wird?“ Ich nickte und spürte, wie meine Wangen heiß wurden. Verflixt! Rotwerden war etwas für verliebte Teenager, aber nicht für eine gestandene Frau und Mutter in den – ähem – besten Jahren. „Apollonia!“, gurrte er. Ich wurde noch röter. Normalerweise bevorzugte ich es, mit „Polly“ angesprochen 6


zu werden, aber wenn Leander meinen vollen Namen benutzte, verlieh es der Situation etwas Außergewöhnliches. Er trat einen Schritt näher, nahm meine Hand und führte sie an seine Lippen. „Was täte ich nur ohne dich?“ Mein Gesicht glühte. Wahrscheinlich würde ich sofort einen Job als Warnleuchte vor einem Bahnübergang bekommen. Warum konnte Leander seine Gefühle nicht einfach auf normale Weise äußern? Immer musste es ganz großes Theater sein! Im Moment spielte er „König Oberon versöhnt sich mit Titania“ – aber obwohl ich das wusste, fühlte es sich an, als ob es ganz allein mir gelten würde! „Da kommt mir eine glänzende Idee“, verkündete er. Als Zeichen der Vertraulichkeit legte er seinen Arm um meine Schultern und raunte mir ins Ohr: „Zu Beginn des Stücks ist Herkules ein Mensch, der das korrupte System ungefragt akzeptiert, das durch die Götter repräsentiert wird. Als Halbgott ist er sogar selbst Teil des Systems. Doch dann beginnt er es infrage zu stellen, zu unterwandern, schließlich zu revolutionieren: Er mistet den Stall des Augias aus – ein Sinnbild für Korruption und Parteienfilz –, er tötet die Hydra mit ihren vielen Köpfen, die für die Bürokratie steht …“ Ich genoss die Umarmung und ließ ihn reden. Rebellion gegen irgendwelche Autoritäten, Unterwanderung diverser Systeme – das war ein Dauerthema bei Leander. In ihm lebte der Geist der 68er. Er würde selbst die Muppet-Show noch in ein politisches Lehrstück verwandeln. „… und je weiter er sich auf seinem Weg entwickelt“, beendete er seine Ausführungen, „desto weißer und ‚zeitloser‘ wird seine Kleidung. Verstehst du? Seine innere Verwandlung wird durch das Äußere symbolisiert! Erst trägt er einen grauen Anzug, dann einen weißen, dann kurze Hosen und diese goldenen Helden7


stiefel, und zuletzt steht er – gleichsam allegorisch verklärt – als Held der griechischen Mythologie in diesem Faltenrock da!“ Er hielt das gute Stück wie eine Trophäe vor sich. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Einerseits schmeichelte es mir, dass ihn mein Kostüm zu solch geistigen Höhenflügen inspirierte. Andererseits bedeutete das aber, dass Herkules mindestens fünf verschiedene Kostüme tragen würde – in jeder Szene ein anderes! Wann sollte ich die alle anfertigen? Schließlich hatte ich neben meiner Mitwirkung an der Theatergruppe „Fünf vor Zwölf“ auch noch einen klitzekleinen Hauptberuf, von dem ich mich und mein Kind ernähren musste und – „Wie spät ist es?“, platzte ich recht unromantisch heraus. „Es ist fünf vor zwölf, liebe Apollonia“, tremolierte Leander, ohne den Arm von meiner Schulter zu nehmen. „Aber durch Gestalten wie den unermüdlichen Herkules könnte die Menschheit das Ruder noch herumreißen, bevor die Globalisierung und –“ „Nein, ich meine, welche Uhrzeit?“, unterbrach ich ihn und tippte ungeduldig auf mein Handgelenk. Es war leer. Wo in aller Welt mochte ich bloß wieder meine Uhr gelassen haben?! „Ach so.“ Ernüchterung. Kälte. Leander nahm seinen Arm weg und wich einen Schritt zurück. Er presste die Lippen zusammen und spielte „Das böse Leben hat mir jeden Idealismus geraubt“. Der kostbare Moment zärtlicher Vertrautheit war futsch. Ich hätte mich ohrfeigen können. „Halb sieben – wieso? Musst du noch wohin?“ Sein Tonfall machte deutlich, dass er es für unverzeihlich hielt, andere Termine als die Treffen der Theatergruppe „Fünf vor Zwölf“ zu haben. 8


„Meine Schwester …“ Ich machte den schwachen Versuch, mir ein Lächeln abzuringen. „Sie kommt um sieben aus Florenz. Sie soll doch bei mir wohnen und –“ In diesem Augenblick kam Xaver aus der Kulisse auf die Bühne geschossen. „Mami, müssen wir nicht längst gehen?“ Er zupfte mich am Ärmel, ohne Leander zu beachten. „Komm, schau dir noch schnell an, was der Franz und ich gemacht haben! Er hat mir gezeigt, wie man mit der Zimmermannssäge arbeitet, und ich durfte alle Nägel einschlagen!“ „Also gut – dann bis Donnerstag!“ Ich winkte Leander über die Schulter zu, während Xaver mich eilig durch die verwinkelten Gänge in Richtung Werkstatt zog. „Zieh nicht so an meinem Ärmel, der leiert ja völlig aus!“, mahnte ich. „Oh, Polly, einen Moment!“ Carinas Garderobentür öffnete sich genau in dem Augenblick, in dem ich vorbeilief. Sie musste mir aufgelauert haben. „Dieses Kleid hier …“ Sie hielt mir das griechische Kostüm entgegen, das ich für sie genäht hatte. „Das Dekolleté ist zu klein?“, riet ich, während Xavers Versuch, mich weiterzuziehen, mich fast aus dem Gleichgewicht brachte. Eine zarte Röte stieg in ihre Wangen. Ich bewunderte sie. In ihr steckte wirklich eine große Schauspielerin! „Nun ja, diese griechischen Göttinnen waren doch alle recht … offenherzig“, hauchte sie. Genau wie Fräulein Carina Halbmüller, die vor 15 Jahren mal „Miss Dekolleté“ oder so was Ähnliches gewesen ist!, dachte ich und griff nach dem Kleid. „Ich verlängere den Ausschnitt bis zum Nabel und fixiere ihn mit einem goldenen Band unter dem Busen!“, 9


schlug ich ihr vor, während Xaver mich unbarmherzig um die Ecke zerrte. „Du bist ein Engel!“, hörte ich sie noch säuseln, dann erreichten wir die Werkstatt. Ich glaube, ich war die einzige Frau, die jemals ihren Fuß in dieses Refugium männlicher Schöpferkraft setzte – das heißt, natürlich abgesehen von Sibylle, der Meerjungfrau aus Pappmaché. Aber die hatte eigentlich gar keine Füße, sondern einen Fischschwanz und lehnte schon seit Jahren in einem staubigen Winkel dieses Zauberreiches. Bretter in allen Größen, Stangen, Leisten, Rollen von Stoff, Schnur und Draht, Kisten und Schachteln mit allerlei Geräten stapelten sich im Dämmerlicht an den Wänden der Werkstatt. In der Mitte, im Lichtkegel einer Lampe, stand Franz, der Gebieter über all diese Herrlichkeiten, in seiner blauen Arbeitshose und feilte an einer Art riesigen Kiste herum. „Das ist der Thron des Zeus!“, verkündete Xaver und platzte fast vor Stolz. Jetzt erkannte ich, dass die Kiste Rücken- und Armlehnen besaß. Franz hörte zu feilen auf und grinste mein Kind an. „Natürlich kommen noch Verzierungen dran – über dem Kopf eine Wolke mit Blitzen und so ein griechisches Muster hier rundherum – in Gold und Weiß. Gell, Xaverl?“ Er wandte sich an mich. „Der Bub ist schon so geschickt mit dem Hammer und mit der Säge, der wird einmal ein tüchtiger Zimmermann!“ Ich verkniff mir die Bemerkung, dass ich für meinen Sohn eher eine akademische Laufbahn ins Auge gefasst hatte – als Professor für alte Sprachen zum Beispiel oder zumindest als Dozent für Literatur. Ich wollte jetzt keine Diskussionen, denn wir waren spät dran. „Danke, dass du ihn immer mithelfen lässt!“, lächelte ich Franz zu. „Es macht ihm so viel Spaß!“ Ich nahm 10


Xavers Hand. „Das sieht echt toll aus, was ihr da gebaut habt! Aber komm jetzt, sonst verpassen wir noch die Irene! Wiedersehen, Franz!“ „Zimmermann ist ein ehrenwerter Beruf!“, rief Franz mir nach. „Handwerk hat goldenen Boden, und Akademiker kochen auch nur mit Wasser!“ Es beschämte mich, dass er so genau wusste, was ich gerade gedacht hatte. War ich so leicht zu durchschauen? Ich besaß zwar einen Magistertitel in Theaterwissenschaften, aber mein Geld verdiente ich mir ohnehin mit dem goldenen Handwerk der Schneiderei! ✳ „Mami, wir parken im Hof!“, erinnerte mich Xaver, als ich dem Ausgang des Kellertheaters zustrebte. Ja richtig, wegen Irene waren wir heute mit dem Auto da! Ich schob sämtliche Gedanken an die Theatergruppe, die Kostüme, die verrückten Schauspieler und den freundlichen Tischler energisch beiseite und versuchte mich auf das zu konzentrieren, was ich als Nächstes zu tun hatte: meine Schwester abholen. Mit dem Auto. Ich machte kehrt und stürmte die Hintertreppe hinauf, die direkt in den Innenhof des Gebäudes führte. Da stand mein Wagen, ein VW-Käfer, der so alt war, dass er fast schon wieder wertvoll war. Ich schubste Xaver auf den Rücksitz, schnallte mich an und fuhr vorsichtig auf die Durchfahrt zu, die aus dem Hof auf die Straße führte. Ich fand die tunnelartige Öffnung ziemlich schmal (auch wenn Leander behauptete, er käme locker mit einem Sattelschlepper durch), und außerdem musste ich vor dem Haus erst noch den Gehsteig überqueren, bevor ich auf die Straße abbiegen konnte, daher fuhr ich sehr langsam. Der Motor heulte, die Kupplung begann zu stinken. 11


In winzigen Ruckbewegungen schoben wir uns vorsichtig aus dem Hof. „Achtung!“, quiekte Xaver plötzlich. Von links schoss ein Mann in mein Blickfeld, der mit langen Schritten den Gehsteig entlangging, ohne darauf zu achten, dass gerade ein Auto aus dem Haustor kam. Ich trat auf die Bremse und würgte den Motor ab. Da wir sowieso nur Schneckentempo draufgehabt hatten, blieb der Wagen sofort stehen, ohne den Mann zu berühren. Zu meinem Schrecken stürzte der Kerl aber trotzdem und fiel genau vor meiner Stoßstange zu Boden. „Du lieber Himmel!“ Ohne nachzudenken riss ich meine Tür auf. Aber da ich mitten in der Einfahrt stand, konnte ich sie nur einen Spalt weit öffnen, dann stieß ich mit dem Blech gegen die Hauswand. Rausfahren konnte ich auch nicht, denn vor mir wälzte sich der Mann stöhnend und jammernd auf dem Boden. Eingesperrt! „Fahr zurück in den Hof!“, schlug Xaver vor. Wie gut, wenn man ein praktisch denkendes Kind dabeihat! Ich ließ den Motor an und fuhr zurück, bis das Auto wieder im Hof stand und ich die Tür ungehindert öffnen konnte. Gemeinsam stürzten Xaver und ich hinaus, um dem Mann zu helfen. Eine ältere Dame kümmerte sich bereits um den Kerl. „Ich hab Sie doch nicht angefahren – oder?“, stammelte ich unsicher, während wir ihm halfen, sich aufzusetzen. „Oh – au!“, jammerte er und hielt sich das Knie. „Nein, er is’ von selber hing’fallen, das hab ich genau g’sehn!“, kam mir die ältere Dame zu Hilfe. „Sie war’n noch so ein Stück weg!“ Sie deutete mit den Händen einen Abstand von mindestens 20 Zentimetern an. „Ich bin so erschrocken, dass da plötzlich ein Auto aus dem Haus geschossen kommt“, presste der Mann 12


zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er war höchstens 30 und sah einigermaßen sportlich aus. Es wunderte mich, dass jemand wie er so schreckhaft sein konnte! „Gehen S’, sie is’ doch ganz langsam g’fahrn, net amal Schritttempo!“, tadelte die Frau. „Vielleicht haben S’ an Gelenkschaden, deswegen sind S’ hing’fallen? Oder ein Nervenleiden? Bei meiner Schwägerin hat sich die mulpite Ske- Skre-…“ Sie rang vergeblich nach dem Wort. „Multiple Sklerose?“, half ich aus. „Genau! Die hat sich so an’kündigt, dass’s plötzlich um’knickt is’!“ „Oh mein Gott!“ Der Mann erbleichte und umklammerte haltsuchend sein Knie. „Sie glauben doch nicht …?“ Ängstlich sah er mich an. „Sie sollten zu ei’m Arzt gehen“, dozierte die Dame. „Das is’ ja net normal, dass man so plötzlich umkippt – ein junger Mensch wie Sie!“ „Sie haben recht!“, ächzte er. „Ein Arzt … Notaufnahme …“ „Soll ich Sie ins Krankenhaus bringen?“, bot ich an. „Mami“, mahnte Xaver, „wir haben’s eilig!“ „Naja, aber wir können ihn doch nicht hier sitzen lassen!“, flüsterte ich ihm zu. Auch wenn ich den Typen vielleicht wirklich nicht überfahren hatte, fühlte ich mich doch irgendwie schuldig. „Ach nein … ich ruf mir ein Taxi“, stöhnte der Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er versuchte aufzustehen, knickte aber sofort wieder zusammen. „Soll ich die Rettung rufen?“, bot die Dame an. „Nichts da! Sie steigen jetzt in mein Auto ein!“, bestimmte ich. Durch das Hin und Her wurde es bloß immer später, und ich wusste doch ganz genau, dass ich mir schreckliche Vorwürfe machen würde, wenn ich 13


ihm jetzt nicht half. Wenn ich mich auf etwas verlassen konnte, dann auf meine Schuldgefühle! „Ich muss zum Bahnhof, da kann ich Sie unterwegs absetzen, das ist gar kein großer Umweg!“ „Danke – Sie sind ein Engel!“, seufzte der Mann erleichtert. Täuschte ich mich, oder verdrehte Xaver wirklich genervt die Augen?

2. Kapitel Wir betteten den Patienten längs auf die Rückbank, sodass Xaver ausnahmsweise auf dem Beifahrersitz sitzen musste. Es gab eine kurze Diskussion deswegen („Mami, ich darf nicht vorne sitzen, ich bin doch noch nicht zwölf!“), aber angesichts unserer immer größer werdenden Verspätung gab Xaver schließlich nach. Während der Fahrt durch den abendlichen Stoßverkehr übte sich der junge Mann vom Rücksitz aus in höflicher Konversation. Er fragte mich nach der Theatergruppe und nach meinem richtigen Beruf, nach meinen Wohnverhältnissen und meinen Essensvorlieben und was ich am Bahnhof zu tun hatte. Mir fiel auf, dass seine Stimme gar nicht mehr schmerzverzerrt klang. Es schien ihm also schon sehr viel besser zu gehen! Nachdem wir längere Zeit die Simmeringer Hauptstraße entlanggestaut hatten, erreichten wir endlich das Krankenhaus Rudolfsstiftung. Da ich Fred, meinen ExMann, hier oft genug abgeliefert hatte, kannte ich mich aus. Ich parkte in der Auffahrt, besorgte mir einen Roll14


stuhl und zog meinen Patienten vorsichtig aus dem Auto. „Soll ich Ihnen noch mit den Formalitäten helfen?“, fragte ich, als ich ihn in die Eingangshalle schob. „Mami, er ist erwachsen!“ Xaver sprang vor Ungeduld auf und ab. „Er kann das allein!“ „Ja, ich schaffe das wirklich allein!“, versicherte der Mann hastig und blockierte die Räder. „Darf ich nur – darf ich mich für Ihre großherzigen Samariterdienste erkenntlich zeigen und Sie vielleicht einmal zum Essen einladen?“ „Vielen Dank, aber das haben wir gern gemacht!“, sagte Xaver schnell und zog mich schon wieder am Ärmel. „Wiedersehen, gute Besserung!“ Wenn ich vermeiden wollte, dass die Ärmel meines Pullovers mir demnächst bis zu den Knien reichten, musste ich Xaver wohl oder übel folgen. „Sag mal, spinnst du?“, fragte ich, als wir wieder im Auto saßen und Richtung Bahnhof stauten. „Du kannst doch nicht meine Verabredungen ablehnen!“ „Das war doch keine Verabredung“, murmelte er von hinten. „Höchstens Dankbarkeit. Außerdem ist der Kerl …“ Er sprach nicht weiter. „Außerdem ist der Kerl was?“ „Irgendwie komisch.“ „Wieso?“ „Naja ehrlich, Mami! Hast du nicht das Gefühl, dass er sich absichtlich vor unser Auto geworfen hat?“ „Warum sollte er so was tun?“ „Bestimmt ist das so ein Betrüger, der sich überfahren lässt und dann Schmerzensgeld kassiert, oder so.“ „Himmel, Xavi, du schaust zu viel fern! Er hat doch kein Wort in dieser Richtung gesagt – von Geld, meine ich!“ 15


„Ja, weil du schnell genug gebremst hast und weil eine andere Frau das auch noch gesehen hat!“ „Also gut, nehmen wir mal an, er hätte mich hereinlegen wollen. Da ich nun eine Zeugin hatte, die meine Unschuld beweisen kann – warum ist er nicht einfach aufgestanden und weitergegangen? Und warum wollte er mich sogar noch zum Essen einladen? Hm? Da siehst du, wie unlogisch deine Theorie ist.“ „Aber irgendwas war komisch an ihm!“, beharrte Xaver bockig. „Hast du nicht bemerkt, dass ihm plötzlich gar nichts mehr wehgetan hat, kaum dass er in unserem Auto gesessen ist?“ Das war mir allerdings auch aufgefallen. Aber was bedeutete das schon? „Ja und? Wahrscheinlich haben wir ihn eben schön bequem hingesetzt!“ „Und außerdem war der eh viel zu jung für dich!“, murmelte Xaver so leise, dass ich es kaum verstand. Das war gut, denn da konnte ich so tun, als ob ich es überhört hätte. Denn es war zwar eine Frechheit – aber leider stimmte es. „Soll ich die Tante Irene anrufen und ihr sagen, dass wir später kommen?“, wechselte er das Thema. „Gute Idee! Nimm dir das Handy aus der Handtasche.“ Er drückte auf den Knöpfen herum und schaltete das Ding ein. „Wo hast du denn ihre Nummer?“ „Irgendwo eingespeichert, denke ich.“ „Unter ‚I‘ ist sie nicht!“ „Vielleicht bei ‚H‘?“ „Hübinger, Alexander ... Hübinger, Paul ... Hübinger, Tanja“, las Xaver vor. „Sonst gibt es nichts mit ‚H‘!“ „Verflixt!“ Ich nagte an meiner Unterlippe. Wo hatte 16


ich nur die Nummer? Die Ampel vor mir zeigte übrigens seit mindestens einer Viertelstunde Rot. „Weißt du was? Ruf den Opa an. Der soll dir die Nummer sagen. Nimm dir was zu schreiben – im Handschuhfach muss ein Kugelschreiber sein!“ Es dauerte eine ganze Weile, bis Xaver meinen Vater erreicht hatte und Irenes ellenlange italienische Handynummer erfuhr. „Sie hebt nicht ab“, verkündete er schließlich. „Da ist irgendein italienisches Tonband dran!“ „Mist!“ Mittlerweile war es halb acht vorbei. „Naja, vielleicht wartet sie ja am Bahnsteig!“ Wir durchsuchten den gesamten Bahnhof einschließlich aller Cafeterias und Imbissstände, aber meine Schwester war nicht da. Zwischendurch riefen wir immer wieder ihre Nummer an, aber auch das blieb ohne Erfolg. „Was machen wir jetzt?“ Ich zog die Schultern hoch. „Vielleicht ist sie gar nicht gekommen?“, überlegte er. „Dann hätte sie mich doch angerufen!“ „Du hast aber dein Handy ausgeschaltet!“, erinnerte mich Xaver. „Ach ja – im Kellertheater unten ist kein Empfang, da stell ich es immer ab“, erinnerte ich mich. „Aber sie hätte doch auf die Mailbox sprechen können.“ „Weiß sie denn, wo wir wohnen?“ „Ja, natürlich.“ „Vielleicht ist sie mit dem Taxi gefahren.“ Das war ein kluger Gedanke, typisch Xaver. „So wird’s sein! Wir waren nicht da, um sie abzuholen, und am Telefon hat sie uns auch nicht erreicht, also hat sie sich ein Taxi genommen. Hoffentlich hast du recht!“

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✳ Auf dem Heimweg schwiegen wir beide. Ich dachte darüber nach, dass Xaver sich in letzter Zeit manchmal schon fast pubertär gebärdete, obwohl es dafür eigentlich noch ein bisschen früh war. Dieses genervte Augenverdrehen, das hatte er früher nicht gemacht! Und wie er die Einladung meines Unfallopfers abgelehnt hatte – das war ja geradezu unverschämt gewesen! Andererseits musste ich eingestehen, dass er meistens recht hatte. Ich war einfach zu spontan, vielleicht sogar ein kleines bisschen unorganisiert. Und ich ließ mich leicht hinreißen – ich konnte einfach nicht Nein sagen, wenn jemand Hilfe brauchte oder mich um einen Gefallen bat. Tja, wenn ich es recht bedachte, war ein genervtes Augenverdrehen manchmal vielleicht angemessen … ✳ In unserer Wohnung war es dunkel. Wir waren erst vor einer Woche eingezogen und die Umzugskartons standen noch unausgepackt in den Zimmern herum. „Au!“ Ich stieß mir das Schienbein an der Kiste mit den Taschenbüchern. Wir wussten beide noch nicht auswendig, auf welcher Seite der Eingangstür sich der Lichtschalter befand. Xaver hielt die Tür auf, damit der Lichtschein vom Treppenhaus hereinfallen konnte und ich den Schalter suchen konnte. Endlich wurde es hell. „Hier ist sie nicht“, stellte Xaver fest. „Wie denn auch? Sie hat ja keinen Schlüssel!“, fiel mir plötzlich ein. Wie dumm von mir, dass ich das nicht bedacht hatte! „Vielleicht ist sie inzwischen zum Opa gefahren!“, überlegte Xaver. 18


„Und warum haben die beiden dann nicht angerufen?“ „Ruf du ihn an!“ „Auf keinen Fall! Wenn ich ihn frage, ob Irene bei ihm ist, und sie ist nicht da, dann macht er sich doch furchtbare Sorgen!“ „Auch wieder wahr.“ Xaver hockte sich auf eine Kiste und dachte nach. Anscheinend war er mit seinem Latein am Ende. An unserer Tür klopfte es. Verwundert machte ich auf und stand meinem Nachbarn gegenüber. Der hat mir gerade noch gefehlt! Obwohl ich erst einige Tage hier wohnte, war ich diesem Nachbarn schon mehrmals begegnet. Am Tag unseres Einzuges hatte er sich beschwert, dass die Möbelpacker zu viel Krach machten, und danach, dass wir das Treppenhaus verdreckt hätten. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich am nächsten Tag ein Ei von mir auszuborgen und mir am übernächsten Tag von seinem Rheumatismus vorzujammern. „Was gibt es denn, Herr Fuhrknecht?“, fragte ich so höflich wie möglich. „Brauchen Sie vielleicht Milch? Oder Zucker?“ Hauptsache, er geht schnell wieder! „Das soll wohl witzig sein, wie?“, grantelte er. „Wo waren Sie denn so lange, junge Frau?“ Mir blieb die Spucke weg. Nicht nur, dass er mich völlig unpassend mit „junge Frau“ ansprach – schlimmer noch: Bildete er sich etwa ein, meine Ausgehzeiten kontrollieren zu dürfen?! „Ich finde es sehr schade, wenn junge Menschen so unzuverlässig sind!“, bemerkte er strafend. In dem dunklen Gang war mittlerweile das automatische DreiMinuten-Licht ausgegangen. Er drehte sich um und rief: „Kommen S’ nur, Fräul’n Irene, das Fräul’n Schwester ist endlich da!“ 19


„Hä?“ Ich streckte den Kopf in den Flur hinaus und lugte um die Ecke. Tatsächlich, in dem erleuchteten Viereck von Herrn Fuhrknechts Eingangstür erschien eine schlanke Gestalt und bewegte sich auf uns zu. „Hi, Polly!“ „Irene! Da bist du ja!“ Ich drängte Herrn Fuhrknecht beiseite und fiel meiner kleinen Schwester um den Hals. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht!“ Sie schob mich ein wenig von sich. „Wieso ihr? Du warst doch diejenige, die nicht am Bahnhof war!“ „Tut mir leid. Der Stoßverkehr, weißt du? Ein furchtbarer Stau! Aber warum hast du nicht angerufen?“ „Der Akku war leer.“ Sie lächelte, und ich entspannte mich. Wenigstens war es nicht nur meine Schuld, dass wir uns verpasst hatten. „Tja, so was muss man eben einkalkulieren!“, dozierte Herr Fuhrknecht und schüttelte den Kopf. „Stau, so so!“ Ich ignorierte seinen nörgelnden Tonfall. „Es ist ja alles gut ausgegangen. Danke, dass Sie meine Schwester inzwischen beherbergt haben!“ „Jaja, sicher! Dass ich auch noch andere Sachen zu tun habe, daran denken Sie natürlich nicht!“ Er wandte sich um und schlurfte zu seiner Wohnung zurück. Dabei murmelte er noch etwas, das sich wie „total gedankenlos, diese Jugend!“ anhörte. Ich hatte bisher nicht den Eindruck gehabt, dass er irgendetwas Nennenswertes oder gar Dringendes zu tun hätte – meiner Ansicht nach verbrachte er den Großteil des Tages am Türspion, um die Bewohner des Hauses im Auge zu behalten. „Mein Gepäck, schnell!“, flüsterte Irene. Ich winkte Xaver zu, und zu dritt stürzten wir an Herrn Fuhrknecht vorbei in seine Wohnung, um Irenes 20


Sachen herauszutragen. Wir waren fertig, noch bevor Herr Fuhrknecht seine Tür erreicht hatte. „Vielen Dank für den Kaffee! Mille gracie!“ Irene lächelte dem Nachbarn zuckersüß zu und deutete einen Knicks an. Herr Fuhrknecht verschwand grußlos in seiner Wohnung und schlug die Tür zu. Ich hätte jedoch schwören können, dass ich ihn gleich darauf am Türspion hörte.

3. Kapitel „Du hast ja ulkige Nachbarn“, bemerkte Irene, als wir endlich allein in meiner Wohnung waren. Äh, in unserer Wohnung. „Warte nur, bis du Tante Dodo kennenlernst!“, rief Xaver. Aber ich hatte nicht die Absicht, diesen kostbaren Moment mit Smalltalk über die Nachbarschaft zu verschwenden. Das war der Augenblick, dem ich entgegengefiebert hatte und vor dem ich mich wohl auch etwas gefürchtet hatte: Meine Schwester war da! Meine fremde Schwester, die ich kaum kannte… Ab jetzt würden wir alles an Schwesternschaft nachholen, was wir so viele Jahre versäumt hatten. „Es ist so schön, dass du da bist!“, sagte ich und umarmte sie. Sie erwiderte die Umarmung kurz und lächelte etwas schief. War es ihr etwa unangenehm, umarmt zu werden? Schnell ließ ich sie wieder los. Ich wusste so wenig von ihr! „Komm, ich zeige dir dein Zimmer“, sagte ich hastig. 21


✳ Später saßen wir dann bei Instant-Kaffee und einem Panettone, den Irene mitgebracht hatte, im Wohnzimmer zwischen Kisten und Koffern beisammen. Xaver hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen, und ich vertraute darauf, dass er zur richtigen Zeit schlafen gehen würde. Nun waren wir Schwestern allein. Vorsichtig tasteten wir uns aneinander heran. In den letzten Jahren hatten wir einander kaum gesehen. Irene hatte ihr Leben in Florenz gehabt, und ich hatte meines hier in Wien. Mein Lebenswandel als alleinerziehende Mutter ließ es nicht zu, dass ich allzu häufig nach Italien fuhr. Und früher, vor meiner Ehe mit Fred, als ich die Reise zu Papa und Irene noch häufiger unternommen hatte, war sie noch ein kleines Mädchen gewesen. Es war fast das erste Mal, dass wir einander als erwachsene Frauen gegenübersaßen. „Wie geht’s dem Papa?“, fragte sie. „Oh, er fragt täglich nach dir. Er kann es gar nicht erwarten, seine kleine Prinzessin wiederzuhaben!“ Irene verzog das Gesicht. „Wie alt muss ich denn werden, bis er begreift, dass meine ‚piccola-principessa‘-Zeit vorbei ist?“, seufzte sie. „Oh“, entfuhr es mir. „Was, oh?“ „Oh – äh ...“, stotterte ich. „Ich ... ich habe dich immer um diese ‚piccola-principessa‘-Sache beneidet“, gab ich zu. Sie lachte. „Ach was, das ist doch nur Kinderkram, das hat nichts zu bedeuten!“ Oh doch – es bedeutet, dass du Papas kleiner Liebling bist und nicht ich, dachte ich gekränkt. Ich merkte, wie mich ein paar Tränen im Hals würgten. Diese Sache ging 22


mir näher, als ich zugegeben hätte. Und außerdem fühlte ich mich von Irene zurückgewiesen; sie hätte spüren können, dass mir das wichtig war, und es nicht einfach mit einer lapidaren Bemerkung übergehen sollen! Ich wandte mich ab und kramte in meiner Handtasche nach der Zimtdose. Ah, da war sie ja! Mit geübtem Griff stäubte ich eine Prise in meinen Fertigkaffee. „Was machst du da?“, fragte Irene. „Wie bitte?“ „Was gibst du da in deinen Kaffee?“ „Ach so – nur ein bisschen Zimt. Magst du auch?“ Ich schob meine Kränkung beiseite und hielt ihr die Dose hin. „Zimt? Uh – nein, danke!“ Sie grinste. „Macht man das so in Wien?“ Ich überlegte. „Nein … das hab ich, glaube ich, in Griechenland gelernt. Papa hat mich nach Athen mitgenommen, als ich sechzehn war. Aber ich mag den Geschmack von Zimt überhaupt gern. Mama hat mir früher immer welchen auf den Grießbrei gestreut, als ich noch ganz klein war.“ Irene erstarrte. „Mama.“ Ich schluckte. Es war natürlich klar gewesen, dass die Rede früher oder später auf Mama kommen musste. Aber jetzt hatte ich das Thema versehentlich angeschnitten, ohne sicher zu sein, dass ich dafür schon bereit war. Na, egal. Einmal musste es ja sein. „Erzählst du mir von ihr?“, fragte Irene so beiläufig wie möglich. Ich merkte jedoch genau, dass ihre Stimme rau klang. Sie nahm einen Schluck Kaffee, um ihre Befangenheit zu überspielen. „Ich erinnere mich doch überhaupt nicht an sie.“ 23


„Ja, natürlich.“ Mama – dieses Thema war ein zentraler Punkt in unserer schwesterlichen Beziehung, da durfte ich nichts falsch machen. Ich beschloss, nicht weiter von Grießbrei mit Zimt zu erzählen (Mama hatte Muster aus Zimt gestreut, Gesichter oder Sterne – das war gar nicht so einfach! Ich hatte dasselbe später für Xaver gemacht), sondern meine Erzählung an dem Punkt zu beginnen, an dem Irene erstmals auf der Bildfläche erschien. Die Zeit davor – die gehörte mir allein … „Ich erinnere mich an die Zeit, als Mama mit dir schwanger war“, begann ich vorsichtig. „Komisch, ich habe es erst im fünften oder sechsten Monat richtig realisiert …“ „Hat sie dir denn nichts davon gesagt?“, unterbrach Irene mich. „Äh ...“ Eigentlich war ich sicher, dass Mama mir nichts gesagt hatte; so etwas Einschneidendes hätte ich selbst als Teenager nicht überhört. Aber ich wollte keinesfalls etwas sagen, was Irene kränken oder Mamas Andenken beflecken konnte. „Ich hab es vielleicht nur nicht mitgekriegt“, räumte ich daher ein. „Du weißt doch, mit siebzehn ist man sehr mit sich selbst beschäftigt!“ „Und – hat sie sich gefreut?“, fragte Irene weiter. „Ich ... ich war schließlich nicht gerade geplant, oder ...?“ Sie versuchte ganz locker zu wirken, aber sie beugte sich vor und verriet dadurch ihre innere Anspannung. „Ja“, antwortete ich, und diesmal brauchte ich nicht zu schummeln. „Sie hat andauernd betont, welch ein Glück es ist, dass sie dich hat. Sie ist jede Woche zum Arzt gegangen, um die Schwangerschaft überwachen zu lassen, damit nur ja alles gut geht. Naja, immerhin war sie auch schon über 40 ...“ 24


Ich sah meine Mutter vor mir: zierlich, mit immer leicht zerzauster Frisur, die Arme irgendwie schützend um den schwangeren Leib gelegt. Ja, tatsächlich: schützend. So, als müsste sie das wachsende Leben in ihrem Bauch gegen irgendeine Bedrohung verteidigen. „Und dann?“ Irene sog die Informationen über Mama gierig auf. Hatte Papa ihr denn nie etwas erzählt? „Als du dann geboren warst, hatte sie nur noch Augen für dich“, berichtete ich. Ich hatte gedacht, ich wäre darüber hinweg, aber beim Erzählen stieg erneut eine Welle der Bitterkeit in mir hoch, die ich damals empfunden hatte: Das Baby bedeutete plötzlich alles, und Polly war nur noch eine lästige Randerscheinung – allenfalls dazu gut, um ab und zu eine Stunde lang auf das kleine Augäpfelchen aufzupassen, aber ... – Nein! Ich schüttelte mein Unbehagen ab. Was nützte es, sich nach all diesen Jahren noch darüber zu kränken? „Sie hat dich kaum aus den Augen gelassen“, fuhr ich fort. „Es durfte auch nur ganz selten jemand anderer auf dich aufpassen. Ihr beide wart unzertrennlich. Und dabei ...“ Ich überlegte. Eigentlich war das merkwürdig. „Ja?“, forschte Irene. „Dabei hat sie oft ... überfordert gewirkt. Überreizt ... traurig ... Hm. Vielleicht hat sie an einer postnatalen Depression gelitten?“ „Wieso?“ „So etwas kommt manchmal vor nach einer Geburt“, erläuterte ich. „Die Hormonumstellung und all das ... Und dann war ja Papa auch nicht da ...“ „Wo war er denn?“, fragte sie überrascht. „Weißt du das nicht? Er hat mehrere Gastjahre an ausländischen Universitäten verbracht – in Italien, England, Amerika, Japan ... Du bist, glaube ich, während des Tokio-Jahres geboren. Damals ist Papa nur unge25


fähr alle zwei Monate zu Besuch gekommen. Mama war immer recht einsam und nervös ohne ihn, und dann noch mit einem neugeborenen Baby – das war einfach zu viel für sie. Aber Papa konnte nicht vorzeitig aus seinem Vertrag aussteigen, außerdem war das Jahr eh schon fast herum.“ „Und wie äußerte sich dieses postnatale Dings?“ Ich ließ meine Gedanken zurückschweifen. „Manchmal hat Mama dich ganz versunken angeschaut – als ob sie dein Gesicht auswendig lernen wollte. Und dann hat sie plötzlich zu weinen begonnen.“ Ich erinnerte mich noch genau, wie irritierend und beunruhigend ich dieses Verhalten empfunden hatte. „Vielleicht hat sie geahnt ... dass sie mich bald verlassen wird?“, murmelte Irene. „Nein ... nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie soll das möglich sein?“ „Woran ist sie eigentlich gestorben?“, flüsterte Irene so leise, dass ich sie fast nicht verstand. Mir blieb der Mund offen stehen. Konnte es sein, dass sie das tatsächlich nicht wusste?! „Schau mich nicht so an“, bat sie. „Papa hat bei diesem Thema immer abgeblockt. Und wen anderen hatte ich ja nicht zum Fragen!“ Ich versuchte, mein Gesicht wieder unter Kontrolle zu bringen. Irene konnte ja nichts dafür – aber wie hatte Papa ihr das antun können? Ihr all die Jahre nichts von Mama zu erzählen?! Überhaupt nichts?! „Äh ... Also ... Es war ein Unfall.“ „Was für einer?“ „Mit ... mit einem Jagdgewehr.“ „Was für ein Gewehr? Jetzt komm schon, lass dir nicht so die Würmer aus der Nase ziehen! Ich will alles wissen, ganz genau! Und ich bin kein Baby mehr!“ 26


Sie hatte recht. Instinktiv hatte ich versucht, meine kleine Schwester vor der bösen Welt zu beschützen, indem ich beschwichtigte, vertuschte, beschönigte. Und vermutlich hatte Papa genau dasselbe getan. Aber sie war erwachsen und hatte ein Recht auf die Wahrheit. Das versprach eine lange Nacht zu werden ... ✳ Xaver weckte mich am nächsten Morgen zum Glück gerade rechtzeitig; ich stürzte einen Kaffee hinunter und fuhr mir notdürftig mit dem Kamm durch die Haare. Bevor ich davonhastete, sah ich schnell in Irenes Zimmer. Wir hatten den Großteil der Nacht durchgeredet, und ich erinnerte mich nicht mehr, ob sie geweckt werden wollte oder nicht, und wenn ja, wann. In ihrem Zimmer war es dunkel, weil die Vorhänge zugezogen waren. Irene lag ziemlich verdreht und in ihre Decke verwickelt im Bett. Sie wälzte sich herum und ächzte. Womöglich hatte sie gerade einen Albtraum. Ich schlich näher, um sie vorsichtig zu wecken, da rief sie plötzlich: „Nein! Nicht! Bleib da!“ Der Rest ging in unverständlichem Gemurmel unter. Es war gruselig, weil sie die Augen geschlossen hatte und gleichzeitig so verloren und verzweifelt aussah. Sie streckte den Arm aus und griff in die leere Luft, um irgendetwas (oder jemanden?) festzuhalten. Träumte sie etwa gar von Mama?! „Irene“, flüsterte ich und rüttelte vorsichtig an ihrer Schulter. „Wach auf! Du träumst schlecht!“ Sie öffnete ihre Augen und starrte verständnislos durch mich durch. Ihr leerer Blick hatte etwas Beunruhigendes. „Ich bin’s – Polly!“ Ich fühlte mich unbehaglich. 27


Glücklicherweise schien sie mich jetzt zu erkennen. „Was is los?“, lallte sie verschlafen. „Ich geh jetzt – möchtest du aufstehen? Es ist halb acht.“ „Oh ... äh ... ich schlaf noch ein bisschen.“ Sie umarmte haltsuchend ihr zerknülltes Kissen. „Wovon hast du denn gerade geträumt?“, wagte ich zu fragen. „Keine Ahnung“, murmelte sie erschöpft und schloss die Augen. Keine Ahnung?! Wenn man mitten in einem Traum aufgeweckt wird, erinnert man sich doch daran! Warum will sie es mir nicht sagen? Was hatte sie für Geheimnisse vor mir? Immerhin schaffte ich es pünktlich zur Arbeit. Das war auch gut so, denn gleich als erste Kundin erschien Frau Grothe, die großen Wert auf Pünktlichkeit legte. Sie hatte mir die zweifelhafte Ehre zuteilwerden lassen, ihr Ballkleid für den Life-Ball zu nähen. Als Frau eines bekannten Architekten hielt sie sich für eine Art Prominente und lächelte ungeniert in jede Kamera, die auch nur halbwegs in ihre Nähe kam. Ihr Ballkleid musste daher so schrill wie nur möglich aussehen, und gleichzeitig so seriös, wie es sich für eine Architekten-Gattin ziemte. Das allein war schon kompliziert genug; dass die Dame figurmäßig näher bei Miss Piggy als bei Twiggy lag, erleichterte die Sache auch nicht gerade. Dazu kam noch, dass das Kleid garantiert im Fernsehen zu sehen sein würde – so kamerageil, wie Frau Grothe war! Ich konnte hier grandiose Werbung für mich betreiben – oder mich für alle Zeit unmöglich machen. Daher kam ich bei den diversen Vorschlägen bezüglich gewagter Dekolletés, Schlitzen bis zur Hüfte oder Rüschenbesatz ordentlich in Schwitzen. Wie konnte 28


ich ihren Wünschen gerecht werden, ohne gleichzeitig sie (oder gar mich) lächerlich zu machen? Auch sonst war an diesem Tag viel los. Die Zeit der Frühlingsbälle stand bevor, und die ganze High Society von Wien (oder was sich dafür hielt) brauchte neue Kleider – und meine Kollegin Anita litt an einem akuten Anfall von Verliebtheit. Das heißt, leiden tat eher ich, denn sie schwärmte mir ohne Punkt und Komma von ihrem neuen Typen vor und kam mit dem Nähen nicht voran, sodass ich schließlich einen von ihren Ärmeln übernahm, sonst wäre sie nie fertig geworden. Bei ihren Erzählungen von Bootsfahrten im Mondenschein konnte ich nicht umhin, mir Leander im Herkules-Kostüm vorzustellen, wie er mich vor einem Seeungeheuer mit neun Köpfen beschützt … Sein schweißnasser Heldenkörper glänzt im Mondlicht, während er der Bestie mit dem Schwert einen Kopf nach dem anderen abschlägt … Seine Sorge gilt nur mir … ich sitze im Boot und – autsch! Jetzt hatte ich mir vor lauter Träumen doch tatsächlich in den Finger gestochen, das war mir seit Jahren nicht mehr passiert! Ich kam spät weg an diesem Tag. Lag es an Frau Grothes Entwürfen oder an Anitas Ärmel oder einfach daran, dass ich übernächtig war und mich wie ferngesteuert bewegte? Na, wenigstens musste ich mich heute nicht sorgen, dass Xaver ganz allein zu Hause war, denn Irene war ja da. Doch als ich heimkam, war die Wohnung finster und leer.

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