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Michael Phillips

Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies Roman

Ăœbersetzt von Susan-Beate Zobel


Über den Autor Michael Phillips’ Arbeit mit Büchern begann 1970 mit einer kleinen christlichen Buchhandlung, die er und seine Frau Judy gründeten, um ihr Studium zu finanzieren. Während dieses Studiums setzte sich Phillips besonders für die Neuverbreitung der Werke des schottischen Schriftstellers George MacDonald (1824–1905) ein und wurde damit ein weltweit bekannter Experte auf diesem Gebiet. Diese Beschäftigung mit MacDonalds’ Literatur inspirierte ihn zu einer eigenen schriftstellerischen Tätigkeit, durch die eine Vielzahl von Erzählungen entstand, die mittlerweile in mehr als 120 Auflagen erschienen sind.


Inhalt In der Arabischen Wüste (1898) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Teil I: Ararat Der große Fund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weltweite Verschwörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Eichhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungewöhnliche Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil II: London Der Empfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Geheimnisse dringen nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Die Eden-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Das fehlende Glied in der Kette . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Der Terror beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 Ein unerwarteter Besucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Die Erkenntnisse der McCondy-Akte . . . . . . . . . . . . . 161 Ein neuer Mitbewohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Drohungen und Verschwörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Teil III: Afrika Geheime Pläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dunkle Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im afrikanischen Grabenbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremde in Peterborough . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfänge und Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gefahr auf dem Eichhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Suche beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue Mitarbeiterin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urgroßvater Harrys Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283 293 315 328

Teil IV: Kairo Böse Machenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Durchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Suche nach dem Mittelpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . Neues Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dschebel al Lawz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschwunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Gartenhotel am Nilufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345 352 366 372 382 392 396 419

Teil V: Sinai Auf den Spuren von Harry McCondy . . . . . . . . . . . . Am Horeb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das verlorene Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geänderte Pläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In die Falle gegangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gefangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebe in Eden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

429 441 454 462 470 478 490

Anmerkungen zum Stand der Forschung . . . . . . . . . . 499

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Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerbo­ den allerlei Bäume wach­sen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Er­ kenntnis von Gut und Böse.   Ein Strom entspringt in Eden, der den Garten be­ wässert; dort teilt er sich und wird zu vier Hauptflüs­ sen. Der eine heißt Pi­schon; er ist es, der das ganze Land Hawila umfließt, wo es Gold gibt. Das Gold jenes Landes ist gut; dort gibt es auch wertvolles Harz und Karneolsteine. Der zweite Strom heißt Gi­hon; er ist es, der das ganze Land Kusch umfließt. Der dritte Strom heißt Tigris; er ist es, der östlich an Assur vor­ beifließt. Der vierte Strom ist der Euphrat. Genesis 2,8–14

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In der Arabischen Wüste (1898)

E

rbarmungslos brannte die Sonne auf den einsamen Rei­ ter nie­der, den seine Suche bis zu diesem verlassenen Berghang ge­führt hatte. Obwohl man seit Jahrhunderten an­ derer Mei­nung war, glaubte er, den historischen Ort erreicht zu haben. Er hielt kurz an, maß mit seinen Augen die Entfernung zum Gip­fel, den er erklimmen musste, und hob schützend einen Arm vors Ge­sicht. Die Sonne blendete ihn so, dass er kaum etwas erkennen konnte. Doch ohne zu zögern eilte er weiter. Es würde schnell Abend werden und er hatte keine Zeit zu verlieren. Vielleicht waren seine Ver­folger näher, als er dachte. Der Weg wurde steiler und er war jetzt gezwungen, sein Kamel zu­rückzulassen. Er band das Tier an einem Felsen fest und warf sich den Rucksack über die Schulter. Neben Landkarten, Skizzen und verschiedenen Klei­nigkeiten hatte er auch eine Bibel in einem abgegriffenen schwarzen Le­dereinband bei sich, dazu ein kleines, fast neues Notizbuch, in dem er sich erst seit ein paar Tagen Auf­zeich­nungen machte. Heute wür­de er das letzte Puzzleteil zu dem gro­­ßen Gesamtbild fügen, an dem er sein Leben lang gearbeitet hat­te. Er nahm einen kleinen Schluck aus seiner Wasserflasche und wisch­­te sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich hatte er eines seiner beiden großen Notizbücher mitnehmen wol­ len, oh­ne die er normalerweise nie auf eine Forschungsreise ging. Es waren zwei identische Bücher, in denen er seit 20 Jahren die gesamten Er­geb­nisse seiner wissenschaftlichen Arbeit sowie seine persön­lichen Ge­dan­ken und Erlebnisse 9


aufzeichnete. Aber unmittelbar vor seiner Ab­­reise hatte er plötzlich den Eindruck, dass es falsch wäre, diese Bü­cher bei sich zu tragen. So stand nun das eine Buch in seinem Bü­cher­ ­schrank in Peterborough, während das andere im Hotel­ schließ­fach in Kai­ro lag. So­bald er zurück war, würde er alles aus seinem kleinen No­tiz­buch in die großen Bücher übertragen. Obwohl ihm seine Füße wehtaten, ging er eilig weiter. Er musste dem steilen Bergpfad folgen, der ihn auf den Gipfel des Dschebel al Lawz bringen würde. Bald würde er der Welt beweisen, dass die mo­derne Wissenschaft sich irrte! Wenn er seine Entdeckung prä­­sen­tie­ren würde, könnte nie­ mand mehr die Glaubwürdigkeit des Alten Tes­ta­mentes leugnen! Damit würde alles in sich zusammenfallen, was die Wissenschaft in den letzten 30 Jahren geleistet hat­te, um den christ­lichen Glauben zu diskreditieren. Er hatte jahrelang darauf hingearbeitet. Der christliche Glaube stand nicht erst seit der Ver­ öffentlichung von Darwins »Die Entstehung der Arten« vor 39 Jahren unter Be­schuss. Schon während des ganzen Jahrhunderts hatten viele namhafte Männer und Frauen dazu beigetragen, den Samen des Atheis­mus auszustreuen. Doch neuerdings verkündigten alle intellektuellen und aka­ demischen Kreise laut und mit Eifer, die Entstehung des Le­bens sei das Resultat von Zufällen, der Mensch habe sich aus niede­ren Arten weiterentwickelt und der biblische Schöpfungsbericht sei damit un­haltbar geworden. Sein Ziel war, mit einem einzigen genialen archäologi­ schen Fund alle Skeptiker, Atheisten, Philosophen und Wissenschaftler für immer zum Schweigen zu bringen. Er würde nachweisen, dass der Mensch kein höher entwickelter Affe, sondern ein kreatives Wunder Gottes war. Es war ein anstrengender Aufstieg, trotzdem hastete er eilig berg­an. Der Schweiß rann ihm über den Rücken. Er hatte inzwischen den Pfad verlassen, eilte aber so sicher bergauf, als wäre er schon oft dort gewesen. Tatsächlich hatte er den Berg bisher nur auf Karten stu­diert, doch das 10


hatte er so gründlich getan, dass er jetzt ganz sichergehen konnte. Als er wieder innehielt, stöhnte er vor Schmerz bei dem Versuch, die Last seines Rucksacks zu verschieben. Die ­schmalen Riemen schnitten ihm ins Fleisch und scheuerten die schweißnasse Haut wund. Ein Felsblock bot Schatten und lud zum Verweilen ein. Er warf den Rucksack auf die Erde und kauerte sich gegen den Stein. Sein Atem ging heftig; Schweiß brach aus allen Poren hervor. Seit zehn Stunden war er nun schon unterwegs und er spürte, wie seine Kräfte allmählich nachließen. Vorsichtig genehmigte er sich einen kleinen Schluck Wasser. Es war unglaublich heiß und er war erschöpft. Seit einem Jahr war er ununterbrochen auf Reisen; zuletzt hatte er 300 Ki­lometer durch die Wüste zurückgelegt, bevor er sich an die Be­steigung dieses Berges gemacht hatte. Er war noch jung, sah aber durch sein von Wind und Wetter ge­gerbtes Gesicht älter aus. Er suchte den Fuß des Berges mit seinem Fernglas ab, konnte jedoch niemanden entdecken. Trotzdem spürte er, dass seine Verfolger nicht weit entfernt waren. Lange hatte er nicht verstanden, warum ihm diese Leute nachstellten. Erst jetzt, während er sich dem Ziel näherte und das bedrohliche Netz der Fins­ternis sich enger um ihn legte, begann er zu ahnen, wer seine Feinde waren. Diese Gedanken trieben ihn wieder auf die Beine und weiter vo­ran. Seit einem Jahr hatte er alle Einzelheiten dieses Berges studiert; nun war er endlich vor Ort. Sein Körper litt unter der ungewohnten Hitze und der Anstrengung, aber sein Herz jubelte. Er war kein moderner Mose, kein Prophet, nur ein Archäologe. Aber er war überzeugt, dass Gott ihm etwas zeigen würde, das für seine Generation von großer Be­deutung war. Ob Mose diesen Berg bestiegen hatte, um in die Gegenwart des lebendigen Gottes zu treten? Was für ein atemberauben­ der Gedanke! Hat­te sich Mose vielleicht in einer dieser 11


Höhlen verborgen, wäh­rend der Allmächtige zu ihm sprach? War es vielleicht hier gewesen, wo Gott an Mose vorüberzog und ihn seine Herrlichkeit sehen ließ? Hatte der Israelit hier die steinernen Tafeln mit den Zehn Geboten empfangen? Und vielleicht war dies der Ort, an dem lange vor Mose, Tau­sende von Jahren früher … Er wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Noch nicht. Das, was er hier vermutete, war zu gewaltig. Seit Jahren träumte er davon, die Dinge, die er nun entde­ cken würde, in die Welt hinauszuschreien. Nun war er den Fakten so nahegekommen. Wenn dies wirk­lich der Ort war, für den er ihn hielt, dann … Er drehte sich um und sah ins Tal hinab. Etwas war nicht in Ord­nung. Da entdeckte er es: Eine Staubwolke kam über die Ebene auf den Berg zu. Plötzliche Angst schnürte ihm die Kehle zu. Das Fern­glas bestätigte seine Be­fürch­tun­gen. Wie hatten sie es geschafft, ihm bis hierher zu folgen? War er sich nicht ganz sicher gewesen, dass er sie in Kairo abgeschüttelt hatte? Sie besaßen Pferde. Damit würden sie ihn bald eingeholt haben. Er eilte, so schnell er konnte, den Berg hinauf, das Fern­glas griffbereit in seiner Linken. Er musste den Gipfel erreichen, sich verstecken und Gott würde ihn beschützen. Dies war doch heiliger Boden. Gott würde den Feinden der Wahrheit nicht gestatten, ihre Offen­ba­rung zu verhindern. Das Laufen fiel ihm nun immer schwerer. Er stolperte über et­was, das aus der Erde ragte, verlor das Gleichgewicht, seine Brille flog zu Boden und er fiel auf seine Hand. Blut tropfte auf seine Hose. Als er sich eilig wieder aufrichtete, blieb ein Blutfleck auf der Wurzel zu­rück, über die er gestol­ pert war. Er sah das Blut nicht und ahnte noch weniger, worüber er gefallen war, sondern griff hastig nach seiner Brille, von der ein Glas zerbrochen war, und lief weiter, so schnell er konn­ te. Zwei Kilometer hinter ihm hatten die Reiter sein Kamel er­ reicht, das mahlend die Kiefern bewegte, ohne etwas zum 12


Fressen zu haben. Ob an diesem trockenen Platz jemals et­ was gewachsen war? Die Reiter waren ebenso außer Atem wie ihre Tiere. Sie hatten den Weg von Akaba in einer Rekordzeit zurückge­ legt. Innerhalb von Sekunden hatten sie mit ihren starken Ferngläsern ihre Beute ausgemacht. Der Anführer hatte in die betreffende Richtung gedeutet; sei­ne beiden Begleiter hatten genickt und dann ihren Pferden die Spo­ren gegeben. Sie waren so weit wie möglich den Berg mit den Pfer­den hinaufgeritten. Nun, 20 Minuten später, mussten sie doch absteigen und ihre Ver­folgung zu Fuß fortsetzen. Sie waren kräftig und tru­ gen kein Gepäck. Lebensmittel und Wasser ließen sie in den Satteltaschen zurück. Nach getaner Arbeit würden sie in Ruhe ihre Mahlzeit einnehmen, be­vor sie sich wieder auf den Rückweg machten. Jeder der Männer trug neben dem Fernglas auch noch ein Ge­wehr bei sich. Sie waren ihrem Opfer schon sehr nahe gekommen. Der Verfolgte keuchte heftig. Bald würde er zusammenbrechen. Immer wieder sah er sich wie ein gejagtes Tier um. Die Feinde kamen unvorstellbar schnell näher. Wie hatten sie ihn hier finden können? Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Was er jetzt brauchte, war ein Ver­­­steck. Wenn er sich selbst nicht mehr retten konnte, so musste er doch zumindest die Notizen der vergangenen Tage in Sicherheit bringen. Sie waren ihm wichtiger als sein Leben. Sollte er seine Er­kennt­nisse nicht mehr selbst an die Öffentlichkeit bringen können, würde Gott einen anderen dafür berufen. Das Notizbuch durfte nur nicht in die Hände der Feinde fallen. Er brauchte ein Versteck … Ein Schuss zerriss die Luft; einen halben Meter von ihm entfernt splitterte der Felsen. Sofort warf er sich flach auf den Boden. Doch das Echo des Schusses verhallte, ohne dass ein weiterer folgte. Stille breitete sich aus. Er erhob sich leise stöhnend und hastete weiter, noch schneller als bisher. Er war in höchster Gefahr und hatte keine Möglichkeit, sich zu 13


schützen. An eine Waffe hatte er nicht gedacht, als er seinen Rucksack gepackt hatte. Er bog um eine Ecke, dankbar, dass er für kurze Zeit in Deckung war. Wieder explodierte ein Schuss, dieses Mal aus noch größerer Nähe. Er hörte die Männer fluchen, als sie ihn wieder verfehlten. Endlich sah er eine kleine Höhle, deren Eingang von einem Fel­sen halb verdeckt wurde. Er rannte darauf zu und kroch hinein, so schnell er konnte. Innen herrschte totale Finsternis, aber er erkannte rasch, dass diese Höhle für ihn selbst zu niedrig und zu kurz war. Hier würden ihn die Männer sofort entdecken. Eilig nahm er den Rucksack ab. Wenigstens sein Gepäck würde hier sicher sein. Er kroch hinein, so tief er konnte, und schob sein kost­bares Geheimnis in die hinterste Ecke der finsteren Höhle. Wäh­rend­dessen betete er halblaut. Er hoffte, dass Gott die Person hier­her­brin­gen würde, die seine Aufgabe zu Ende führen konnte. Ohne seinen Rucksack fiel ihm der Aufstieg leichter. Er rann­te jetzt. Aber es war sinnlos; die drei Männer kamen immer nä­her. Er war erst 40 oder 50 Meter weit gekommen, als ihn eine Kugel traf. Er schrie vor Schmerzen und fiel zu Boden. Seine linke Wade blutete. Trotzdem rappelte er sich wieder auf und schleppte sich mühsam bergan, das verletzte Bein hinter sich herziehend. Eine Blutspur mar­­­kierte seinen Weg. Er wusste, dass er diese Stunde nicht überleben würde. War dies der Berg, auf dem Gottes Gegenwart einst ge­wohnt hatte? Er spürte nichts davon. Und doch erfüllte ihn eine tiefe Befriedigung. Er hatte sein Leben für die Suche nach der Wahrheit gegeben und bereute es nicht. Auch wenn er nun nicht mehr die Mög­ lichkeit hatte, alles ans Licht zu bringen, so würde diese Zeit doch ohne Zweifel kommen. Ein anderer würde seinen Weg fortsetzen. Trotzdem kämpfte er sich weiter nach oben. Er wollte sich so weit wie möglich von der Höhle entfernen, damit die Feinde nicht – 14


Ein erneuter Schuss krachte aus ohrenbetäubender Nähe. Der Mann fiel vornüber; Blut rann aus einer Wunde in sei­ nem Rücken. Er hatte nur noch wenige Sekunden zu leben. »Gott … Herr, Gott«, flüsterte er kaum hörbar, während eilige Stie­feltritte schnell näher kamen, »bewahre … bewah­ re das Ge­heim­nis dieses Berges … vor … ihnen, bis … deine Zeit gekommen ist, oh mein Gott …!« Die Männer blieben stehen. Einer von ihnen trat dem blu­ tenden Mann in die Seite; er gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Mit ei­nem Fußtritt drehten sie den Körper auf den Rücken. Das Blut trocknete rasch auf dem heißen Gestein. »Er ist tot«, sagte der Erste. »Was machen wir mit ihm?«, fragte ein anderer. »Soll er doch hier verrotten! Wir sollten ihn zum Schweigen bringen, mehr haben sie nicht gesagt. Wir haben unseren Auftrag er­füllt.« Während er sprach, gab er dem Toten noch einmal einen Tritt. Die Leiche rollte ein kleines Stück den Abhang hinunter und blieb auf einem Fels­ vorsprung liegen. »Hier leben nur Geier, sonst nichts. Und das hier ist jetzt ihre Sache …« Der Mörder und seine beiden Komplizen wandten sich um und machten sich an den Abstieg. Eine Viertelstunde später stolperten sie über eine mächtige Wurzel, auf der ein Blutfleck zu sehen war. Sie ahnten nicht, dass es sich dabei um das Beweisstück handelte, das ihr Opfer gesucht hatte.

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Teil I

Ararat


Der große Fund

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ine Gestalt baumelte an dünnen Seilen über dem Abgrund. Langsam wurde sie von der äußersten Kante des Glet­scher­vor­sprungs herabgelassen. »Schneller«, forderte eine Männerstimme über Funk und von oben wurde mehr Seil nachgegeben. Rundherum sah man nichts als Berggipfel und gleißend weißes Eis. Doch der Mann an den Sei­len fühlte sich sicher. Die Apparatur des Krans war viel be­last­barer, als es den Anschein hatte. Das Ziel der Expedition war ein schwarzes Loch im Gletscher. Es hatte einen Durchmesser von weniger als zwei Metern und war immer noch 150 Meter von ihm entfernt. Monate zuvor war das Loch mühsam ins Eis geschmolzen worden. Zwei Brenn­­stäbe, ein Rohr mit Sauerstoff für die Flammen, ein Schlauch, der das Schmelzwasser absaugte, und eine Kamera waren bereits mithilfe des gleichen Krans, der auch jetzt im Einsatz war, herabgelassen wor­den. Oben im Camp hatte das Team den Vorgang über die Ka­mera beobachtet. Das Ganze wurde von einem Computer gesteuert, der mit einem speziell für diese Aktion geschriebenen Pro­­ gramm arbeitete. Die großen Geräte des Raumfahrtzentrums wa­ren ebenso notwendig wie die Präzision zierlicher medizinischer Ins­tru­men­te. So war es möglich, im ewigen Eis in großer Höhe eine ar­chäo­logische Endoskopie durchzuführen. Der einzige Risikofaktor, den niemand beeinflussen konnte, war der Wind. Hier in den Bergen der Osttürkei konnten in fast ­5000 Me­tern Höhe heftige Winde auftreten. Wenn sie einsetzten, konn­t­e trotz all der technischen Hilfsmittel we­der ein Astronaut noch ein Chirurg verhindern, dass die Seile durch­einandergerieten. Das Leben des Mannes, der 19


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