Davis Bunn | Janette Oke
Die Flamme der Hoffnung Roman
Aus dem Amerikanischen 端bersetzt von Silvia Lutz
Über die Autoren Janette Oke – die „Grande Dame“ der christlichen Romanliteratur – hat bereits über 75 Bücher veröffentlicht und das Interesse an ihren Erzählungen ist nach wie vor ungebrochen. Kein Wunder, gelingt es ihr doch immer wieder, tiefgreifende biblische Wahrheiten in warmherzige und spannende Geschichten von Menschen wie du und ich einzubetten. Davis Bunn schreibt seit 20 Jahren erfolgreich Romane, die bereits in 16 Sprachen übersetzt wurden. Er lehrt heute darüber hinaus an der Universität Oxford.
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifizierte Papier Super Snowbright für dieses Buch liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.
Copyright © 2010 by Davis Bunn and Janette Oke Originally published in English under the title The Hidden Flame by Bethany House, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, USA All rights reserved. © 2011 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Die Bibelverse wurden der „Hoffnung für alle“-Bibel entnommen. © 1986, 1996, 2002 International Bible Society. Übersetzung, Herausgeber und Verlag: Brunnen Verlag, Basel und Gießen 1. Auflage 2011 Bestell-Nr. 816 631 ISBN 978-3-86591-631-0 Umschlaggestaltung: Immanuel Grapentin Umschlagfoto: Mike Habermann Photography, LLC Satz: Marcellini Media GmbH, Wetzlar Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
1. Kapitel ﱾﱽﱼﱻ
Jerusalem Anno Domini 33 Abigail zog sich unauffällig von der Feier zurück und humpelte in die Kühle des Schattens. Da ihr Bein vor Schmerzen pochte, ließ sie sich auf einer Steinbank an der Außenmauer des Innenhofes nieder. Die Atmosphäre war erfüllt von der Ausgelassenheit der Hochzeitsgäste. Noch nie hatte sie ein so fröhliches Fest erlebt. Die junge Frau hatte das Gefühl, als hätten sich all die Anspannung, die Angst und die Ungewissheit der vergangenen Wochen in Freude, Zuversicht und Gewissheit verwandelt. Die Jünger feierten nicht nur die Hochzeit von Alban und Lea. Neben der Freude über die Ehe dieser beiden neuen Jünger des Herrn hatten sie einen noch viel wichtigeren Grund zu feiern. Sie alle freuten sich über die Wahrheit, die sie zwar geglaubt hatten, die jetzt aber bezeugt wurde: Ihr Herr, der Rabbi Jesus, war wirklich von den Toten auferstanden, und es gab Augenzeugen, die diese Tatsache bestätigen konnten. Abigail beobachtete den zwölfjährigen Jakob, der mit einem Eifer, der fast schon an Hysterie grenzte, zwischen den Feiernden hin und her tanzte. Abigail konnte gar nicht aufhören, darüber zu staunen, dass ihr Bruder noch am Leben war, dass er wohlbehalten und gesund war. Es kam ihr beinahe 5
wie eine Ewigkeit vor, seit ihre Familie bei einem Massaker ums Leben gekommen war. Sie hatte sich seither allein und verloren gefühlt. Und erst vor wenigen Stunden hatte sie während der Feierlichkeiten einen flüchtigen Blick auf einen Jungen erhascht, der auf der anderen Seite des Innenhofes stand, und es war, als wäre auch er von den Toten auferstanden. Es war ein Wunder, das ihr wie ein Traum erschien. Allein der Gedanke daran trieb ihr erneut Tränen in die Augen. Jakob musste ihren Blick gespürt haben, denn er wandte sich um, als suche er sie. Als sich ihre Blicke trafen, lief er zu ihr herüber. Sie konnte die Besorgnis in seinen dunklen Augen sehen. „Warum tanzt du nicht mit, Abigail? Geht es dir nicht gut?“ „Mir geht es bestens, Jakob.“ Das war die Wahrheit. Ihr verletztes Bein bereitete ihr zwar starke Schmerzen, aber in diesem Moment fühlte sie nur die tiefe Freude in ihrem Herzen. Ihre geliebte Freundin Lea tanzte mit ihrem frisch angetrauten Mann Alban im Kreis der Gläubigen, und ihr Bruder stand vor ihr. Ihr Bruder. „Ich bin nur ein bisschen müde“, beruhigte sie ihn. „Soll ich dir etwas holen?“ Er warf einen Blick auf das Hochzeitsbüfett, das mit Blumen und Laub geschmückt war und auf dem schon alles für das bevorstehende Festessen bereitstand. Plötzlich überkam sie das Bedürfnis, ihn zu berühren, nur um sich zu vergewissern, dass er nicht nur eine Erscheinung war. Mit einem zittrigen Lächeln legte sie die Hand auf seine Schulter. „Vielleicht ein wenig Wasser. Danke.“ Als Jakob davonlief, wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder der jubelnden Menge zu, die den kleinen Platz füllte. Ist es wirklich erst sechs Wochen her, seit unser Herr starb? Die Jünger hatten sich eingesperrt und mit leiser Stimme ernste und ängstliche Worte miteinander gewechselt und sich jedes Mal, wenn sie die Straßen Jerusalems betreten mussten, besorgt nach allen Seiten umgesehen. Und dann war Jesus ihnen erschienen und danach in den Himmel aufgefahren und 6
hatte ihnen den Geist des Herrn gesandt, der auf unvorstellbare Weise auf sie herabgekommen war. Mit Wind und Feuerflammen. Und jetzt waren sie hier versammelt, mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen, und sangen Freudenlieder. Erneut stiegen die Klänge von Tamburinen und Flöten empor und luden die Anwesenden zum nächsten Tanz ein. Es war eine wunderbare Hochzeitsfeier, aber gleichzeitig feierten sie auch die Auferstehung ihres Herrn und sein Abschiedsgeschenk an sie: seine unsichtbare, aber spürbare Gegenwart. „Und wir feiern Jakobs Rückkehr“, flüsterte Abigail mit einem sanften Lächeln, während sie sich mit einem Palmwedel Luft zufächerte. Wie gut es tat, dass sie so viele Gründe zu feiern hatten. Wenn nur mein Bein nicht so wehtun würde! Sie schob die Hand unauffällig unter ihre Tunika und rieb ihr Bein. Sie hätte sich so gern den Tanzenden angeschlossen. Immer weiter und weiter würde sie sich im Innenhof im Kreis drehen . . . „Hier, Schwester!“ Vor Freude über die vertraute Anrede aus dem Mund eines Jungen, den sie für immer verloren geglaubt hatte, lief Abigail ein leichter Schauer über den Rücken. Sie lächelte ihn dankbar an und nahm den irdenen Becher entgegen, konnte aber nichts trinken, da ihre Kehle vor Rührung wie zugeschnürt war. Jakob drehte sich wieder um und beobachtete die klatschende, singende Menge. Mit einem Kopfnicken forderte sie ihn auf, sich wieder zu den Feiernden zu gesellen. Sie sah ihm an, dass er hin- und hergerissen war, aber sie versetzte seiner Schulter einen leichten Stoß. „Geh, Jakob. Tanze für uns beide“, forderte sie ihn mit Freudentränen in den Augen auf. Im nächsten Augenblick war er auch schon fort, und sie schaute zu, wie er sich mit ihren Freunden an den Händen hielt und sich mit ihnen bewegte. Ihre Freundin Hannah war darunter und hatte einen Reif aus weißen Blumen um den 7
Kopf gewunden. Lea und ihr Bräutigam hatten sich bereits in ihr Brautgemach zurückgezogen. Abigail riss sich von ihren Gedanken los. Sie sollte jetzt lieber Martha und Maria helfen, die gerade die Platten mit gebratenem Lamm an die Tische brachten, welche an der gegenüberliegenden Wand aufgereiht waren. Ein fröhliches Lachen erregte trotz der ausgelassenen Stimmen im Hof ihre Aufmerksamkeit. Einer der Fischer aus Galiläa erzählte offenbar eine amüsante Geschichte. Obwohl sie die Worte nicht verstand, konnte sie sich ein erneutes Lächeln nicht verkneifen, als der Mann seinem Gefährten gut gelaunt auf den Rücken klopfte und beide miteinander lachten. Sie seufzte und versuchte aufzustehen, als sie sah, wie die Frauen irdene Schüsseln mit großen roten Trauben und reifen Oliven auftrugen. Sie hatte geholfen, die Soße aus getrockneten Kichererbsen und das Gericht aus frischen Frühlingszwiebeln, Koriander und Minze zuzubereiten. „Abigail“, rief Martha zu ihr herüber. „Komm und setz dich an den Tisch.“ Obwohl die Stimme kurz angebunden war, wusste Abigail, wie die Worte gemeint waren. Marthas Herz war voll Liebe. „Ich sollte euch helfen . . .“ „Es gibt genügend andere Hände, die das tun können. Ich habe gesehen, dass du wieder Schmerzen hast. Jetzt setz dich und iss.“ Als Petrus von seinem Platz aufstand, um für das Essen zu danken, bewegte sich Abigail widerstrebend zu ihrem Platz am Tisch der Frauen. Sie hörte ihm gern zu, wenn er laut betete. Seine Worte waren an Jahwe gerichtet, aber sie enthielten so viel Trost und Weisheit. Die junge Frau hatte sich jedoch kaum auf ihren Platz gesetzt, als jemand an ihrem Ärmel zupfte. Nedra aus dem Haushalt des Herodes beugte sich zu Abigail hinab. Dass Nedra hier war, wunderte die junge Frau, denn trotz Leas inständiger Bitte hatte Nedras Herr, Enos, sich geweigert, ihr zu erlauben, an der heutigen Hochzeitsfeier teilzunehmen. 8
„Oh, Nedra! Lea wird sich so freuen, wenn sie hört, dass Enos nachgegeben hat . . .“ Aber die Dienerin schüttelte den Kopf. Sie rang so sehr nach Luft, dass ihr Atem Abigails Gesicht berührte, als sie sich nahe vorbeugte und keuchte: „Enos weiß nicht, dass ich hier bin. Sie müssen fort! Sofort!“ Abigail schaute sie völlig verwirrt an. „Von wem sprichst du?“ „Lea, Alban. Sie müssen fort. Jetzt!“ Nedras Augen waren groß und voller Angst. Von der anderen Seite des Tisches drang Lachen an ihre Ohren. Die besorgte Aufregung dieser Frau passte nicht zu diesem Tag. „Aber Lea und Alban, sie . . .“ „Jetzt! Du musst mir glauben.“ Nedras Finger vergruben sich in Abigails Tunika. „Sie dürfen keine Zeit verlieren!“ „Du verstehst nicht, Nedra. Sie sind ins Brautgemach gegangen . . .“ „Herodes hat bereits seine Wachen losgeschickt.“ Nedra blickte sie verängstigt an. Eine Stimme von Abigails anderer Seite erkundigte sich: „Stimmt etwas nicht?“ Sie war erleichtert, als sie Martha hinter ihrer Bank stehen sah. „Nedra sagt, dass große Gefahr bestehe. Ich habe versucht, ihr zu erklären . . .“ „Und ich sage dir: Sie müssen fliehen!“ Nedra richtete sich auf und wedelte aufgeregt mit den Händen. Ein junger Mann namens Stephanus stand plötzlich neben ihnen. Abigail konnte die feinen Linien in seinem dunklen Gesicht sehen, als sich Sorgenfalten über seine Stirn legten. Aber trotz Nedras offensichtlicher großer Unruhe strahlte er eine bemerkenswerte Ruhe aus. „Bitte . . . Nedra, nicht wahr? Bitte erkläre uns . . .“ „Wenn Enos merkt, dass ich fort bin, lässt er mich umbringen.“ Nedra wischte sich mit zitternder Hand über die Stirn. „Dann dürfen wir nicht zulassen, dass er es merkt. Du musst Durst haben, wenn du den ganzen Weg gelaufen bist. 9
Martha, bring ihr bitte etwas zu trinken. Und jetzt erzähle uns, was passiert ist.“ Abigail sah, wie die Frau erschauerte. „Herodes hat seine Wachen losgeschickt“, wiederholte sie heiser. „Um Lea zu holen?“ „Und Alban. Herodes sinnt immer noch auf Rache an den beiden. Man wird sie holen und dann soll ihnen ein schneller Prozess gemacht werden. Und dann . . . und dann wird er beide töten lassen.“ „Bist du sicher?“ „Ich habe gehört, wie sie die Pläne geschmiedet haben.“ „Gibt es jemanden, der uns helfen könnte?“ Martha kam mit einem Becher zurück, aber Nedra hielt ihn nur in der Hand. „Nein“, antwortete sie. „Pilatus ist nach Cäsarea aufgebrochen. Aus diesem Grund schlägt Herodes jetzt zu.“ Nedra atmete wieder panisch und stockend. „Ich muss zurück. Mit jeder Minute, die ich hierbleibe, steigt die Gefahr . . .“ „Natürlich musst du zurück.“ Stephanus ließ seinen Blick über den Innenhof schweifen. „Jakob“, rief er. „Wir brauchen deine Hilfe. Sorgst du dafür, dass diese Frau rasch und sicher in den Palast zurückkommt?“ Der Junge reagierte sofort. Augenscheinlich spürte er die Gefahr. „Ich kenne Abkürzungen. Komm!“, forderte er Nedra auf und wandte sich zum Tor. „Guter Junge“, nickte Stephanus und lächelte Nedra an. „Es war richtig, dass du gekommen bist.“ „Sagt ihnen, dass es mir leidtut. Aber sie müssen sich beeilen.“ Nedra wehrte sich nicht, als Jakob ihre Hand ergriff und sie mit sich fortzog, während sie den anderen über die Schulter noch etwas zurief: „Sagt ihnen, dass sie schnell verschwinden müssen. Und richte ihnen liebe Grüße aus. Und dass ich für sie bete.“ „Und wir beten für dich. Jetzt beeile dich.“ Stephanus wandte sich an Martha. „Wir müssen es ihnen sagen.“ Abigail fiel auf, dass die Musik aufgehört hatte zu spielen 10
und dass die anderen sie aufmerksam beobachteten. „Könnten wir sie denn nicht verstecken?“, erkundigte sie sich mit erstickter Stimme. Martha antwortete schnell: „Es sieht Nedra nicht ähnlich, unnötig Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um ihre Freunde zu warnen!“ „Wenn Herodes seine Wachen bereits losgeschickt hat, müssen wir uns beeilen“, fügte Stephanus hinzu. Aber nicht einmal die Dringlichkeit ihrer Situation konnte ihn um seine angeborene Ruhe bringen. „Alban und Lea befinden sich in großer Gefahr. Hier gibt es keinen Platz, an dem wir sie verstecken können. Nicht vor Herodes’ Zorn, nicht in dieser Stadt. Nedra hat recht: Sie müssen fliehen.“ Abigail fand in sich eine Stärke, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß. Sie wandte sich an Martha. „Ich gehe und warne sie. Packst du für sie etwas Verpflegung in einen Beutel?“ Stephanus entfernte sich bereits von ihnen. „Ich schaue mal, ob ich ein Pferd auftreiben kann.“ Während Abigail von Panik ergriffen die Holzstufen zu dem Zimmer hinauflief, in dem sie und Hannah wohnten und das sie für das Brautpaar geschmückt und ihm zur Verfügung gestellt hatten, vernahm sie das leise Lachen einer Frau. Sie hatte Lea noch nie lachen gehört. Und jetzt müssen die Freudenmomente so rasch zu Ende gehen. Tränen traten ihr in die Augen, als sie vor der verschlossenen Tür stehen blieb. Sie wollte die beiden gerade rufen, als die Tür bereits aufging. Alban stand vor ihr, den Arm um Lea geschlungen. „Was ist, Abigail? Ich habe hastige Schritte auf der Treppe gehört . . .“ „Herodes.“ Das Wort hatte einen unangenehmen Beigeschmack. „Seine Truppen kommen euch holen. Jetzt. Es ist keine Zeit . . .“ Sie brach ab, da Alban sie am Arm ergriff. „Ruhig“, forderte er sie auf. „Fang von vorne an.“ 11
„Herodes hat seine Wachen losgeschickt. Nedra hat sich aus dem Palast weggeschlichen, um uns zu warnen. Er hat vor . . .“ Sie konnte nicht weitersprechen. Lea flüsterte: „Was sagst du da?“ „Pilatus hat die Stadt verlassen“, erklärte Alban in einem grimmigen Tonfall. „Herodes sieht das als seine Chance, sich dafür zu rächen, dass ich seine Pläne mit den Überfällen vereitelt habe.“ Abigail warf sich in Leas Arme. Ihre Tränen verwandelten sich in ein Schluchzen, als sie die Arme um ihre Freundin legte. „Ihr müsst fliehen. Die Truppen . . .“ Leas Arme fühlten sich warm an, als sie sich fester um Abigails Schultern legten. „Holt eure Sachen – Jakob und du. Wir müssen uns beeilen.“ „Die Truppen sind nicht hinter Abigail und Jakob her, Lea.“ Die Härte in Albans Stimme brachte die Frauen ein wenig zur Ruhe. „Es ist für sie viel zu gefährlich, uns zu begleiten. Allein werden wir schneller und unauffälliger vorankommen.“ „Aber . . .“ „Lea, wenn die Wachen schon unterwegs sind, müssen wir jetzt verschwinden. Wenn wir in Sicherheit sind, lassen wir die beiden nachkommen.“ „Jakob bringt Nedra gerade zum Palast zurück.“ Abigail wischte sich übers Gesicht. „Alban hat recht. Und mein Bein . . .“ Lea umklammerte sie noch fester. Sanft zog Alban Lea von ihr weg. „Wir müssen gehen.“ „Wir schicken euch so bald wie möglich eine Nachricht“, rief Lea Abigail zu, während sie eilig die Treppe hinuntergezogen wurde. „Das verspreche ich dir.“ Abigail ließ sich auf eine Stufe sinken und barg das Gesicht in den Händen, während die Tränen durch ihre Finger liefen. „Oh Gott, schenke, dass sie schnell wegkommen, und beschütze sie“, war alles, was sie beten konnte.
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Das einzige Tier, das Stephanus in so kurzer Zeit auftreiben konnte, war der Esel, mit dem sie gewöhnlich Feuerholz aus dem Tal holten. Abigail konnte Albans Miene ablesen, dass er sich etwas anderes erhofft hatte. Seine Augen verrieten seine Unruhe darüber, dass man sie gefangen nehmen würde. Gott sei Dank war Lea zu sehr damit beschäftigt, die Frauen zum Abschied zu umarmen, um das zu bemerken. Als sie auf den Rücken des Esels gestiegen war und zu ihrem Mann hinunterschaute, war die gewohnte unerschütterliche Stärke in Albans Miene zurückgekehrt. „Wir müssen los.“ „Wohin geht ihr?“, fragte Abigail. „Es ist am besten, wenn ihr das nicht wisst. Wenn ihr nichts wisst, seid ihr auch nicht in Gefahr.“ Selbst der stoischen Martha war die Angst anzusehen. „Mit diesem Esel werdet ihr nicht weit kommen.“ Alban ergriff den Führstrick und marschierte los. „Uns bleibt keine andere Wahl.“ Als sie das Tor erreichten, hallte das Klappern von Pferdehufen durch die schmale Gasse. Albans Hand fuhr an seinen Gürtel, aber seine Finger griffen ins Leere, da er seine Waffen abgelegt hatte. Er schaute Lea an und sagte: „Bereite dich darauf vor, schnell loszulaufen.“ „Ich werde dich nie verlassen!“ Alban wollte ihr widersprechen, drehte sich aber rasch zu Pferd und Reiter herum, die durch die schmale Gasse gesprengt kamen. „Linux!“, rief er, als dieser vor ihm und Lea stehen blieb. Der Soldat schaute ihn mit düsterer Miene an. „Herodes’ Männer sind mir dicht auf den Fersen!“ Linux glitt zu ihnen hinab. „Nehmt mein Pferd und beeilt euch!“ Die beiden Soldaten umarmten sich. Das anfängliche Zögern verwandelte sich schnell in eine Entschlossenheit, die verriet, dass die Offiziere Freunde geworden waren. Dann schwang sich Alban auf den Rücken des Pferdes und zog Lea hinter sich hinauf. Stephanus und Martha schoben ihnen die hastig zusammengepackten Bündel für unterwegs in die 13
Arme. Einen kurzen Moment ließ das Paar seine Blicke über die versammelte Menge schweifen, ein schweigender Augenblick, der nicht in Worte zu fassen war. Dann riss Alban das Pferd herum und gab ihm die Fersen. Abigail wischte sich mit ihrem Kopftuch die Tränen ab, die ihr über die Wangen liefen. Die Angst schnürte ihr fast die Kehle zu, und sie fragte sich, wann – und ob – sie die beiden jemals wiedersehen würde. Sie fühlte Blicke auf sich ruhen und stellte fest, dass der Soldat – Linux – nicht seinem Freund nachschaute. Er schaute sie an. Ein Schauer lief über Abigails Rücken. Ihr war der gutaussehende römische Offizier schon früher aufgefallen und auch sein Mut war ihr nicht entgangen. Sie zog das Tuch enger um ihr Gesicht und bedeckte alles bis auf ihre Augen, dann wandte sie sich ab und blickte dem fliehenden Pferd hinterher, das mit Alban und Lea auf seinem Rücken um die Ecke verschwand. Als das Klappern der galoppierenden Hufe auf dem Kopfsteinpflaster verhallte, wandte Abigail den Kopf und bemerkte, dass die gesamte Gemeinschaft der Gläubigen in einem betroffenen Schweigen neben ihr stand. Es gab keine Hochzeitsmusik mehr, kein Lachen und keine Ausgelassenheit, kein Tanzen und Festessen. Wieder einmal hatte sich ihre Welt schlagartig verändert, und sie wurden daran erinnert, wer sie waren, wo sie waren. Fremde in ihrem eigenen Land. Gewiss, sie waren Judäer, aber sowohl von ihren eigenen religiösen Anführern als auch von den römischen Machthabern wurden sie als Feinde betrachtet. Da erhob sich inmitten der Stille eine zuversichtliche Stimme. Obwohl sie nicht viel lauter war als ein Flüstern, hallte sie im stillen Innenhof wider. Ein Gebet, das aus dem Herzen und der Seele des früheren Fischers aus Galiläa kam. „Geht mit Gott“, flüsterte Petrus. „Geht mit Gott“, wiederholte die gesamte Gruppe, als hole die versammelte Gemeinde neuen Atem. Ja, denn Gott war 14
bei den beiden, die jetzt um ihr Leben liefen, genauso wie er bei denen war, die hiergeblieben waren und sich den Verfolgern stellen mussten.
ﱚ Abigail stand noch unter dem Schock der dramatischen Ereignisse der vergangenen Minuten, als ein keuchender Jakob an ihrem Tuch zupfte. Er konnte seine Frage kaum aussprechen. „Haben sie sich versteckt?“ Abigail ergriff mit beiden Händen seine Schultern. „Ist Nedra . . .?“ „Wir haben es geschafft“, keuchte er. „Ich glaube nicht, dass Enos gemerkt hat, dass sie fort war.“ „Gott sei Dank“, flüsterte Abigail erleichtert. „Wo ist Alban?“ „Fort. Sie . . .“ „Fort? Was soll das heißen? Wohin?“ „Sie sind fortgeritten. Wir können nur beten, dass ihnen die Flucht gelingt.“ „Aber . . . aber wie konnte er ohne mich weggehen? Ich sollte doch mitkommen. Er hat mir versprochen, dass er mich nie verlassen wird.“ Abigail blickte in das betroffene Gesicht ihres Bruders und begriff, was er ihr zu sagen versuchte. „Er konnte nicht warten, Jakob. Alban und Lea waren in Gefahr. Das weißt du.“ Noch während sie sprach, vernahm sie schon das Klappern von Pferdehufen auf den Pflastersteinen – von vielen Pferdehufen –, die sich dem Innenhof rasch näherten. Herodes’ Soldaten waren eingetroffen. „Schnell!“ Abigail schob Jakob vor sich her. „Wir müssen uns verstecken, bevor sie kommen.“ Als er sich wehrte, zog sie ihn weiter. „Lauf, Jakob!“ Er drehte sich halb um und schaute sie an. „Wohin soll ich laufen?“ „Hinten hinaus. Dort ist eine Gasse, die zu den Nebenstraßen führt.“ 15
Sie eilten in dem Augenblick über den Innenhof, in dem tänzelnde Pferde schnaubend und wiehernd in den Hof stürmten. Abigail hörte die Rufe der Soldaten, das Klirren ihrer Schwerter. Sie drückte Jakob hinter sich in den Schatten, da sie fürchtete, selbst mit der kleinsten Bewegung ungewollt ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Alban. Wo ist er?“, kam der wütende Ruf von dem offensichtlichen Anführer der Soldaten. „Er ist nicht hier“, beantwortete Petrus seine Frage. „Wir bekamen die Information, dass er sich in diesem Haus aufhält. Streitest du das ab?“ Die Stimme war grob. „Ich streite nicht ab, dass er hier war. Heute ist sein Hochzeitstag. Wir haben gefeiert, dass er seine Braut zur Frau nahm, und . . .“ „Mich interessiert eure Feier nicht. Wohin ist er jetzt gegangen?“ „Das hat er nicht gesagt.“ Der Soldat stieß einen Schwall Flüche aus. „Wir werden schon sehen, ob ihr die Wahrheit sagt. Soldaten, absteigen! Durchsucht jeden Winkel dieses lausigen Ortes von oben bis unten. Falls dieser Bauer hier lügt, hängt er bald an einem Kreuz. Zusammen mit dem Rest seiner Anhänger.“ Abigail holte tief Luft und zog Jakob weiter. Inmitten des Lärms und der Verwirrung im Innenhof würde man sie kaum bemerken. „In diese Richtung“, zischte sie über ihre Schulter. Als sie sich in einen Durchgang in der Rückseite des Geländes drückten, betete sie. Bitte, Vater Gott, hilf uns . . . hilf uns allen. Herr Jesus, führe unsere Schritte. Heiliger Geist, sei bei uns . . . Jakob, der im Gewirr der kleinen Straßen und Gassen Jerusalems zu Hause war, übernahm bei ihrer eiligen Flucht schnell die Führung.
ﱚ Als sie später an diesem Abend in der Hütte saßen, die an den Laden eines Fischhändlers, der zur Gemeinschaft der Jünger gehörte, angebaut war, bestürmte Jakob Abigail erneut mit 16
Fragen. Wohin waren Alban und Lea unterwegs? Wie sahen ihre Pläne aus? Wie bald würden sie ihn nachholen? Ihre Antworten waren immer die gleichen. „Ich weiß es nicht.“ Er verlor schnell die Geduld. „Was sollen wir dann tun?“ „Warten“, antwortete Abigail. „Warten!“ Jakob wollte schnauben, doch er war den Tränen nahe. „So war es nicht geplant. Ich brauche Alban jetzt. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden. Oder mir von ihm Anweisungen geben lassen, was ich tun soll. Wie kannst du sagen, dass wir warten sollen? Worauf? Auf wen? Was ist, wenn sie es nicht schaffen? Wie sollen wir das in Erfahrung bringen?“ Seine Worte überschlugen sich und bildeten eine Litanei aus seiner Frustration und seiner Trauer. „Wenn sie es nicht schaffen, wird Herodes von hier bis Rom damit prahlen“, erklärte Abigail schließlich und bemühte sich, ihre Ungeduld zu zügeln. „Selbst wenn sie es schaffen, kann es sein, dass er etwas anderes behauptet, um sein Gesicht zu wahren. Wir können nichts anderes tun, Jakob, als warten. Wenn sie können, werden sie uns eine Nachricht schicken. Und zur rechten Zeit werden sie uns holen.“ Aber Jakob ließ sich nicht überzeugen. Abigail konnte fühlen, wie er sich in der Dunkelheit der Nacht von ihr zurückzog. Das schmerzte sie zutiefst. Hatte sie Jakob erst vor wenigen Stunden gefunden, um ihn jetzt in seiner Trauer um Alban wieder zu verlieren? Sie betete, dass dies nicht geschehen möge. Doch in diesem Augenblick fühlte sich ihr Herz noch kälter an als die frostigen Arme der Nacht, die sich um sie schlangen.
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