Zeitung für immersive Kunst: Panorama, Literatur, Theater, Zeichnung 3. Ausgabe | Mai 2018
„Über die ungeteilte Macht der geteilten Gewalten“ – Die Theatergruppe Rimini Protokoll „Wie man sich sein Haus voller Leute schreibt“ – Der Schriftsteller Holger Siemann „Zeichnen und Sein“ – Der Zeichner Andree Volkmann „Ein Zauber der nicht flöten geht“ – 100 Mal Zauberflöte in der Oper Leipzig
2 Editorial
Illusionen empfehlen sich dadurch, dass sie UnlustgefĂźhle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genieĂ&#x;en lassen
Sigmund Freud
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Liebe Leserinnen, Liebe Leser, erinnern sich noch an das gefährlichste Computer-Spiel
in komplett neue grenzenlose Welten eintauchen. Bei
der Welt? Neinnein, nicht an die Ballerspiele, die angeb-
augmented reality reicht schon ein Smartphone-Display.
lich in harmlosen Gamern Killerinstinkte weckten. Nein,
Wie bei Pokemon go. Aber auch bei Stadtführungen
Pokemon go wars.
zum Beispiel, wo die richtige App mittels Handy-Kamera
Wie die virtuellen Ghostbuster mit starrem Blick aufs
kann. Es handelt sich dabei nicht um einen kurzlebigen
Handy und blind für den Rest der Welt Tag und Nacht
Hype, sondern ein neues Medium. Und das löst nicht
durch die Straßen stolperten? Schlimmer noch, sie ver-
nur einfach eine hysterische und blinde Begeisterung
folgten die kleinen Monster auf ihren Smartphone-Dis-
aus. Es weckt vielmehr eine dem Menschen immanente
plays vom Auto aus und legten mit Verfolgungsjagden
Sehnsucht. Wenn sogar Sigmund Freud, der Experte für
punktuell den Straßenverkehr lahm. Die Polizei sperrte
die Einmischung in das menschliche Unterbewusstsein,
Brücken und Kreuzungen und stellte Warnhinweise auf.
Illusionen als Therapeutikum empfahl, um der Desillusio-
Trotzdem sind die Monsterjäger sogar auf Militärgebie-
nierung des Lebens in seiner krankmachenden Fadheit
ten gelandet, wie Lemminge von Klippen gestürzt, in
zu entkommen.
Autos gelaufen, haben Parkuhren, Bäume und arglose Mitmenschen umgerannt. 14 Millionen Unfälle soll das
Pokemon go hat genau das bei knapp 550 Millionen
Spiel verursacht haben.
Menschen weltweit geschafft. Das totale Eintauchen in eine Illusion. Die Botschaft war: „Um Dich herum
Natürlich war das nicht das „gefährliche“ Handy-Spiel,
sind kleine Monster. Und je mehr von ihnen Du fängst,
das die Spieler kopflos durch die Gegend schickte.
umso besser wird es Dir gehen.“ Denn ein Phänomen
Es war vielmehr ein ganz natürliches Phänomen: Der
war bei all der Aufregung auch nicht zu übersehen: Die
Wunsch nach der absoluten Illusion, die das Spiel ein-
Spieler, ob jung oder alt, hatten ein Lächeln im Gesicht.
löste. Die Spieleentwickler von Nintendo – Pokemon go
Computer-Nerds verließen zum ersten Mal nach langer
brachte dem Unternehmen in seiner Hochphase täglich
Zeit ihre dämmerigen Gamer-Höhlen und erblickten das
16 Millionen Dollar ein – hatten mit diesem Spiel erstmals
Tageslicht. Bewegungsmuffel liefen kilometerweit ihrem
die virtuelle Benutzeroberfläche bisheriger Computer-
Handy hinterher. Und hatten dabei ausgesprochen gute
spiele verlassen. Mittels Handykamera tauchten die
Laune.
computeranimierten Pocket-Monster, die dem Spiel ja auch den Namen gegeben haben, in der ganz realen
Mit dieser Ausgabe von „Threesixo“ wollen auch wir
Umgebung auf.
Ihnen Illusionen machen. Wir stellen Ihnen die Staat-Serie der Performance-Theatergruppe „Rimini Protokoll“
Augmented reality ist die computergestützte Erweite-
vor. Dafür haben wir auch mit den Entwicklern dieser
rung der Realitätswahrnehmung. Und wird unsere Welt
außergewöhnlichen Theaterreihe gesprochen. Wir zeigen
in näherer Zukunft komplett umkrempeln. Der Künstler
Ihnen, dass auch Literatur eine Illusion sein kann. Der
Olafur Eliasson hat gerade in einem Interview gesagt,
Schriftsteller Holger Siemann weckt mit seinem Roman
dass wir uns mit der technischen Entwicklung dieses
„Das Weiszheithaus“ nämlich die Illusion einer konkreten
Mediums im Entwicklungsstadium der Steinzeit befinden.
Lebensrealität.
Aber augmented reality hat ebenso wie virtual reality das
Dass immersive Räume auch durch Tusche, Pinsel und
Spielzimmer längst verlassen und ist in allen Bereichen
Feder entstehen, zeigen die Ausstellungen des Zeich-
unserer Gesellschaft angekommen: Industrie und Touris-
ners Andree Volkmann.
mus, Medizin, Bildung und Schule und auch in der Kunst.
Und wie es eine Operninszenierung zu 100 Aufführun-
Es wird unsere ganze Wahrnehmung verändern. Virtual
gen schafft, versuchen wir in unserem Beitrag über „Die
reality lässt den Nutzer durch eine Spezial-Brille, die
Zauberflöte“ in der Leipziger Oper herauszufinden.
gar nicht so von ungefähr an eine Taucherbrille erinnert, Ihre Juliane Voigt
Cover: Top Secret International (Staat 1), Rimini Protokoll, Neues Museum Berlin Uraufgeführt Münchner Kammerspiele in der Glyptothek München, 2016 © Kevin Fuchs Bild oben: Juliane Voigt, Zeichnung: Andree Volkmann
Gebäude erkennen und Informationen dazu einblenden
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Über die ungeteilte Macht der geteilten Gewalten „Staat“-Festival der Theater-Gruppe „Rimini Protokoll“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin
Weltzustand Davos (Staat 4), Rimini Protokoll, Wiederaufnahme am Haus der Kulturen der Welt, Uraufgeführt im Schauspielhaus Zürich (2018) © Kevin Fuchs
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Die Ästhetik der Immersion ist eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz. Sie ist eine Ästhetik des emphatischen körperlichen Erlebens und keine Ästhetik der kühlen Interpretation. Und: Sie ist eine Ästhetik des Raumes. Laura Bieger „Ästhetik der Immersion“
6 Über die ungeteilte Macht der geteilten Gewalten
Wer vor Kurzem im Neuen Museum in Berlin war, hat sich
Die Staat-Reihe leuchtet mit einem Punktstrahl in die dunk-
vielleicht über ein paar Besucher gewundert, die mit Kopf-
len Zonen der demokratischen Gesellschaft. In „Staat II“
hörern auf den Ohren plötzlich in sich gekehrt verharrten,
gerät der Zuschauer zum Beispiel auf eine dröhnende
sich unsicher umblickten, unvermittelt in die Hocke gingen
Großbaustelle und erfährt mittels eines szenischen Parcours
oder an der Balustrade über den ägyptischen Sarkophagen
durch acht Stationen, was ein staatliches Bauvorhaben
ohne ersichtlichen Grund mit einem Notizblock in der Luft
über unsere Gesellschaft aussagt. Der Berliner Flughafen,
herumwedelten. Grundsätzlich haben sie sich nicht weiter
der als ruhende Baustelle täglich 1 Millionen Euro Steu-
unterschieden von anderen Besuchern des Museums, die
ergelder verschlingt, ist nur ein Beispiel für die undurch-
mittels Audioguide durch das Museum geführt wurden.
sichtigen Verquickungen von Politik und freier Wirtschaft.
Diese Leute aber waren Spione. Unterwegs im Auftrag
Übergabetermine werden verschoben, Kosten explodieren
eines unsichtbaren Geheimdienstes. Gelenkt von einem
während der Bauzeit, immer mehr Fälle von Korruption in
einflüsternden Algorithmus.
der Genehmigungsplanung werden aufgedeckt. Die acht „Experten des Alltags“, die darüber aufklärten, sind aus-
Zwischen der Büste von Nofretete, altägyptischen Kult-
drücklich keine Schauspieler. Mit dabei zum Beispiel der
kammern und dem Schatz des Priamos ging es da um
Transparency-Anwalt Andreas Riegel oder der um seine
die Entstehung von Geheimdiensten von der Antike bis in
Ehre und sein Vermögen gebrachte Bauingenieur Alfredo
die Gegenwart. Um die Bedeutung von Top-Spitzeln für
di Mauro, dessen Entrauchungsanlage den BER Flughafen-
die Sicherheit des Staatsapparates oder Manipulation von
bau bis heute lahmlegt. Intrige oder Wahrheit? Das konnten
Wahlergebnissen. Whistleblower und Agenten packten aus.
die Zuschauer, die mit Bauhelmen durch die Großbaustelle
Es ging um Datenschutz und digitale Überwachungssys-
aus Gerüsten, Kränen und Baucontainern gelenkt wurden,
teme. Dieser top-secret „Museumsbesuch“ endete damit,
danach selbst entscheiden.
dass der verstörte Zuschauer und Mitakteur mit einem Zettel, auf dem ein anderer Mensch sein größtes Geheim-
„Staat III“ stellte den Versuch an, ob starre demokratische
nis, seine tiefste private Angst, notiert hatte, nach Hause
Regierungssystem nicht durch eine Smartphone-Abstim-
ging. Als Ergebnis eines irritierenden und überraschenden
mungs-App für alle abgelöst werden könnten. Mit der
Moments
Informationsaustausches.
geringen Wahlbeteiligung wie zum Beispiel bei der letzten
Denn nach knapp zwei Stunden des In-die-Irre-Laufens
Bundestagswahl, könne man ja schon längst nicht mehr
durch das Museum, waren die meisten Teilnehmer so mani-
von Volksabstimmungen sprechen. Ist ein Algorithmus
pulierbar, dass sie ohne zu zögern der Aufforderung nach-
also effektiver als ein Verwaltungsapparat? Die Zuschauer
kamen, ihr größtes Geheimnis mit einem völlig unbekannten
bedienten in dieser Abgeschlossenheit der Inszenierung
Menschen zu teilen. Eine analoge Geste, die viel aussagt
ein eigenes Smartphone. Die Abstimmungen zersplitterten
über unsere Offenbarungen im Internet.
die Zuschauer zuerst in viele kleine Gruppen. Wie Schafe
geheimdienstlichen
aber folgten am Ende alle nicht dem Stärkeren, sondern der Die vier Produktionen „Staat I – IV“ sind in den vergangenen
größten Gruppe von Schafen.
Jahren in Zusammenarbeit mit verschiedenen Theatern in Deutschland und der Schweiz entstanden. In Berlin wurden
„Staat IV“ flog schließlich die Zuschauer mittels 360
nun alle geballt gezeigt. Mit Verlängerung wegen großer
Grad-Panorama-Projektionen zum Gigantentreffen nach
Nachfrage. Das Neue Museum auf der Museumsinsel war
Davos ein. Wie und auf wessen Kosten die Weltwirtschaft
die Kulisse für „Staat I - Secret International“. Für Staat II bis
geregelt wird, das erklärten auch hier authentische „Exper-
IV ist das Haus der Kulturen der Welt temporär großräumig
ten des Alltags“.
umgebaut worden. Anders als in der Realität, gibt es bei den Riminis nach zwei Stunden Kraftanstrengung für alle und dem logisch daraus folgenden erschütternden Bild einer katastrophalen Weltlage: Ein ganz gewöhnliches und reales Bier aus der Baustellen-Schubkarre.
Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2), Rimini Protokoll, Wiederaufnahme am Haus der Kulturen der Welt, Uraufgeführt am Düsseldorfer Schauspielhaus (2017) © Kevin Fuchs
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8 Über die ungeteilte Macht der geteilten Gewalten
Interview mit den Machern von Rimini Protokoll über die Ästhetik immersiven Theaters:
Was war Ihre Intention als Theatermacher das Standard-
Wie weit ist es für Sie „Theaterkunst“, wenn Laien auf der Bühne
Theater zu verlassen?
stehen und auch die Zuschauer zu Mitwirkenden werden?
HH
Theater-Welt haben. Uns interessiert nicht die Ästhetik,
HH
das Können der Darsteller. Uns interessieren Inhalte, die
das Theater bedeutet: Denn Theater würde nicht existieren
wir über Leute finden, die normalerweise nicht im Theater
ohne Zuschauer. Und für uns ist es wichtig, dass die da
sind. Es sind Zuschauer, die die Bühne erobern. Das war
sind. Wir spielen die an. Die werden ein Teil davon. In unter-
die erste Öffnung. Wer ist denn so in der Stadt, in der wir
schiedlichen Formen. Die Zuschauer werden unterschied-
leben? Was sind Themen, die wichtig sind. Was sollen das
lich gefordert. Mal tatsächlich körperlich. Mal mehr über
für Leute sein, die wir anstelle von Schauspielern auf der
Entscheidungen. Mal mehr über Orientierungen. Mal mehr
Bühne sehen wollen. Und dann, das war immer schon par-
über das Annehmen von der Rolle. Wir brauchen dieses
allel, als die zweite Bewegung, sozusagen: Wir gehen raus
Gefühl: Da kommt jetzt was an. Es gibt eine Reaktion. Wir
in die Städte und beziehen da Beobachtungsposten. Wo
machen das Licht an, man sieht die Leute, man bezieht die
lässt sich der Theaterbegriff erweitern in dem Sinne, dass
mit ein. Und wenn da keine Leute sind, findet es nicht statt.
Für uns stellte sich die Frage, wer auf der Bühne steht. Wir wollen nicht diese abgeschlossene
Extrem. Es erhebt sich für und mit dem Zuschauer zur Kunstform. Das ist vor allem
Theater. Das nimmt den Zuschauer als das ernst, was er für
eine Stadt zur Bühne wird. Dass man das als Schaufenster nutzt und rausguckt.
DW
Sie haben trotz einer Vielzahl von Anweisungen, die der Zuschauer befolgen sollte, keinen didaktischen Anspruch.
Unsere Realität organisiert sich mehr und
Sie wollen niemanden belehren. Sie haben einmal gesagt:
mehr durch Codes. Das Netz präsentiert uns
„Bestimmte Erkenntnisse kann man nur haben, wenn man sie
inzwischen ein Abbild von der Welt parallel zur Welt. Es ist permanent abrufbar und stimmt mit der Wirklichkeit überein
auch fühlt.“
„Mein Gott, das sieht ja aus, genau wie der U-Bahnhof, an
DW
dem ich ausgestiegen bin. Da ist der H & M auf der Bühne“.
und kritisieren, sondern beweglicher machen. Es gibt ein
Das ist das eine. Und auf der anderen Seite diese realisti-
Operationssystem fürs Theater, das auch aus der Renais-
sche Bühnenbildarchitektur, die eben auch ein Code ist, zu
sance kommt und vorher eben aus der Antike kommt, eben
benutzen und zu lernen, was man damit machen kann. Und
so weiter geschleift wird und immer weiter aktualisiert wird
das dann aber auch ganz konkret werden zu lassen. Das
durch die Texte. Ich glaube, dass der Versuch immer eine
Programmieren und die Technik sind so das eine. Und das
wichtige Geste ist und dass Zuschauer bei unseren Stücken
andere ist dann doch wieder dieses total konkrete Körperli-
das Gefühl haben, sie sitzen nicht in einem Versuch, son-
che, Menschliche, Sinnliche.
dern sie sind integriert in den Versuch.
oder nicht. Das jetzt auf Bretter zu malen und hinzustellen auf die Bühne, wie in der Schaubühne, dass man denkt:
Eigentlich müsste man, um den Realitäten und den Gegenwarten gerecht zu werden,
das Operationssystem des Theaters nicht infrage stellen
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Immerhin sind das pro Aufführung knapp 100 bis 200 Leute,
Die Macher hinter dem Label „Rimini Protokoll“ hei-
die Sie in Gang setzen. Die Zuschauer müssen bei dieser Form
ßen Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel.
von Beteiligtsein sicher auch Hemmungen überwinden?
Sie haben mit ihren Theaterprojekten, bei denen
HH
sie so genannte „Experten des Alltags“ auftreten Ja, das fragen sich sicher Zuschauer, die
lassen, die Theaterszene der vergangenen 25 Jahre
unsere Arbeit nicht kennen. Warum muss ich
geprägt. „Das Ganze gehört zum Gelungensten,
jetzt hier mitmachen? Dennoch wird sehr schnell klar, dass
was immersive Theaterperformance zu bieten hat.“
wir niemanden vorführen oder in peinliche Situationen füh-
(Berliner Zeitung) Die Liste ihrer auch internationa-
ren. Es handelt sich viel mehr um Spiel- und Denkange-
len Preise ist lang. Sowohl im gesellschaftlichen
bote. Normalerweise sind die Konventionen im Theater ja
Bereich (Preis der Kriegsblinden für ihre Hör-
sehr starr, da muss man auf dem Platz sitzen, geradeaus
spiel-Produktionen) als auch der renommiertesten
gucken und leise sein. Und plötzlich wird man eingeladen,
Theaterpreise sowie Einladungen nach Mühlheim
Sachen zu machen. Da gibt es erst mal diese kurze Irritation
und zum Berliner Theatertreffen.
aber es ist immer klar, dass man auch geschützt wird und es jetzt nicht darum geht, besonders spontan oder einfallsreich zu sein.
DW
Nächste Produktion Rimini Protokoll: „Do’s and Don’ts – eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt“. Der Je mehr Durchläufe man macht, je mehr
Zuschauer wird dabei in einem mobilen Zuschauer-
merkt der Zuschauer, wie beteiligt er eigent-
raum durch die Stadt gefahren. Aufführungen im
lich ist. Um so mehr kommt er von diesem Singulären „Ich mach jetzt hier mal mit“ weg. Und dann schraubt man sich so ein stückweit immer weiter heraus und guckt auf das Gesamterlebnis. Das für jeden Einzelnen aus diesen kleinen Momenten besteht. Also man entwickelt selber sein drittes Auge.
HH – Helgard Haug DW – Daniel Wetzel
Mai 2018 in Berlin, im Juli in Essen.
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Wie man sich sein Haus voller Leute schreibt „ Das Weiszheithaus – Ein Jahrhundertroman“ von Holger Siemann
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Das Weiszheithaus mit Fußgängerbrücke 1919, Ansicht Sonnenburger Straße, Großdemonstration nach den Januar-Unruhen und der Ermordung der revolutionären Sozialisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Quelle: Landesarchiv, (vom Autor bearbeitet)
Familie Weiszheit vor dem Kirchlein in Schieß, 1911, untere Reihe v.ln.r.: Elise, Tante Lawrentija, Oma Saige, Saiges Schwester, Onkel Freddy; oben links Ludwig, gen. Lumo, (vom Autor bearbeitet)
Einmal rief ihn die Leiterin einer Bibliothek an. Eine kleine
manchmal Generationen, manchmal wohnen sie zeitgleich
Stadtbibliothek in Schleswig-Holstein. Es ging um letzte
in diesem Weiszheithaus, nur in verschiedenen Flügeln und
Absprachen vor einer Lesung, Unterbringung, Karten-Vor-
Etagen, nehmen Notiz voneinander, lieben oder hassen sich.
verkauf etc. Und dann fragte sie ihn, wo sie die Bücher von
Manche Figuren sind Zentralgestirne, an ihnen lassen sich
diesem Kurt Weiszheit herbekommen könnte, der Schriftstel-
die Zeiten messen. An manche erinnert man sich lange. Viele
ler, der in dem Buch eine so überbordende Rolle spiele. Seine
laufen in kurzen Episoden einfach vorbei.
Werke seien ja auch auszugweise abgedruckt und müssten doch irgendwie zu beschaffen seien. Für den Büchertisch
Nur: Es ist alles erfunden. Alles reine Fantasie. Keinen Men-
am Lesungsabend. Und außerdem sei ihr auch noch nicht
schen in dieser adipösen Doku-Prosa gab es wirklich. Auch
ganz klar, in welches Regal sie das Buch einordnen sollte.
das Haus nicht. Alle Fotografien in dem Buch, geografische
Abteilung Reiseführer oder Sachbuch Berlin, Hauptstadt,
Karten,
Kategorie Mietshäuser? Und der Autor Holger Siemann, der,
schnitte, Tagebuchaufzeichnungen – alles ist ausgespon-
während dieses fernmündlichen Gesprächs, auf der Wiese
nen, kaschiert, gefälscht, verändert zusammengestückelt.
hinter seinem uckermärkischen und sehr abgelegenen
Auch die Bitterfelder Rede, aus der Siemann sich sozusagen
Forsthaus gerade das sehr expressionistische Porträt seines
selbst zitiert.
Grundrisse,
Familienstammbäume,
Romanaus-
Lieblingsschafes signierte, offensichtlich eine konzeptionelle Matisse-Kopie, antwortete ohne zu zögern. „Also ich schlage
Sigrid Löffler hatte einmal vor vielen Jahren in einer Runde
vor: Unter Romane! Steht doch vorne drauf.“ Und ein wenig
des literarischen Quartetts gesagt, der auktoriale Erzähler sei
fahrig, denn sie hatte nicht richtig zugehört, weil Bibliotheka-
tot! Das hat Holger Siemann widerlegt. Der Erzähler in seiner
rinnen im öffentlichen Dienst manchmal zu viel gleichzeitig
Rahmenhandlung ist allwissend. Als Sven Gabbert sitzt er
im Kopf haben, sagte sie, dass ihr das jetzt auch nicht wei-
in dem Haus, Anfang der 1990er Jahre, während der Nach-
terhelfen würde. Schließlich sei es ja keiner.
wende-Sanierung. Als der heruntergekommene Prenzlauer Berg gerade zu einem begehrten Pflaster für internationale
Holger Siemanns Jahrhundertroman handelt von einem Miet-
Investoren geworden war. Er erbt ein Haus von seinem Onkel
shaus und seinen Bewohnerinnen in Berlin, Prenzlauer Berg,
Kurt Weiszheit und findet in einer Kammer des Dachbodens
Kopenhagener Straße, Ecke Sonnenberger, direkt an der
ein Konvolut aus unzähligen Zetteln, Zettelkästen, Notizbü-
Fußgängerbrücke über die Ringbahn. Seit seiner Erbauung
chern und Zeitungsausschnitten – ein Familienarchiv und die
im schnörkeligen Jugendstil bis heute. Es ist aber auch eine
Geschichte des Weiszheithauses. Deshalb kann er das Buch
Saga über die in alle Welt verstreute Familie Weiszheit, deren
schreiben. Er erinnert sich an alles, schlägt nach, sucht, fin-
Ursprünge zurückreichen in das 14. Jahrhundert, zu einem
det neue Details und Zusammenhänge heraus. Angetrieben
abgelegenen Flößerhof in Schieß im Kreis Heydekrug an der
von einer gigantischen Neugier: „Ich versuchte ja nur, die
ostpreußisch-litauischen Grenze.
Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, weil ich dabei sein wollte.“ Sagt Sven Gabbert irgendwann und schreibt
Hunderte Menschen laufen durch die Seiten zwischen den beiden Buchdeckeln. Alle haben Namen, Gesichter, Gerüche, Eigenschaften. Alle hängen mit allen zusammen. Sind um ein paar Ecken verwandt. Wohnen im gleichen Haus. Manchmal liegen Jahrhunderte zwischen ihren Existenzen,
alles auf.
12 Wie man sich sein Haus voller Leute schreibt
Vor Augen hat der Leser zunächst nur Buchstaben, Satzzeichen, Seitenzahlen. So viel er auch blättert: Hundert, zweihundert, achthundert
Seiten
Bleisatz.
Keine
Abbildungen,
keine
Gebrauchsmuster, keine Mitmenschen. Und doch sieht der Leser Gesichter und Landschaften, riecht er die Erde unter seinen Füßen und das Schmieröl der Maschinen, fühlt er Mitleid oder Stolz, Rachdurst oder Liebe, kann er Klänge, Gerüche und Bilder aus Worten erblühen lassen wie ein Gärtner Blumen aus unscheinbaren Samen. Das ist eine großartige Leistung. Ja, man muss sagen: Der Leser hat den größeren Anteil an der Entstehung von Literatur. Er ist es, der das Gemeinte versteht, der die Worte zu lebendigen Bildern phantasiert und die Gefühle in seinem Herzen weckt. Ohne eine gebildete und einbildungsfähige Leserschaft bleiben unsere Bücher bloß Papier mit Tinten-Schißchen drauf. So viele Leser ein Buch hat, so viele Welten entstehen. Ohne den Leser gibt es keine Kunst. Von seinen Fähigkeiten hängt alles ab! Kurt Weiszheit „Rede auf der Bitterfelder Konferenz 1959“ Auszug aus den Apokryphen zum Roman (mit freundlicher Genehmigung des Autors Holger Siemann)
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„Sven ist der, der die Wahrheit erzählt, weil er dieses Archiv
Manchmal haben sie ihn, nachdem er den ganzen Tag
findet. Er kann alles zitieren. Und er wächst in die Autoren-
geschrieben hatte, noch nachts geweckt, um ihm zu erzäh-
rolle hinein. Am Anfang sortiert er nur Zettel, später spinnt er
len, wie es mit ihnen weitergehen soll. Dann ist er aufgestan-
sich ein, lässt keine weißen Stellen zu in den Biografien seiner
den und hat sich an den Schreibtisch gesetzt. Und manch-
Vorfahren, irgendwas denkt er sich dann schon zusammen“
mal, erinnert er sich, stürmten sie alle gleichzeitig los und
– Holger Siemann
redeten wie auf einem italienischen Marktplatz auf ihn ein. Und dann hat er sich einen herausgenommen und gesagt:
Weltkriege, Zeitphänomene, gesellschaftliche Katastrophen
„Komm mal mit, wir gehen mal in eine ruhige Ecke und unter-
und die Zerstörung durch Kriege und Diktaturen – die histori-
halten uns.“ Der Schriftsteller inmitten seines Roman-Perso-
schen Ereignisse sind nur das klappernde Skelett, dem Hol-
nals. Geduldig und liebevoll, schlichtend wie ein Papa.
ger Siemann mit einem gewaltigen Detailwissen und einem eigens angelegten Archiv, Inhalt, Substanz und eine ordent-
„Ich denke mir Biografien aus, die schreibe ich extra auf mit Bil-
liche Plauze angefüttert hat. Das Buch wurde durch den Ver-
dungsbiografie und es gibt eine lange Liste von Werken, die Kurt
lag von 1500 Seiten auf knapp 700 Seiten abgespeckt...
geschrieben hat. Beendet, nicht beendet. Von denen nur ein Teil im Buch auftaucht, also schreibe ich das alles auf, ich muss dann auch
Als Leser kennt man sie bald alle. Jede Wohnung in den
nachgucken, weil ich nicht immer gleich, weiß: Wie heißt die gleich
Seitenflügeln, Vorderhäusern und Etagen. Hört die Musik
nochmal gegenüber im Haus? Das sind so viele, das weiß ich auch
aus der Kneipe, Nachbarn betrunken nach Hause torkeln,
in dem Hausn in dem ich lebe, nicht, man vergisst das.“ – Holger
weiß, wo ein Mensch geboren wurde, wo einer stirbt. Man
Siemann
hört Streitereien oder die Stiefel der SA auf der Straße, riecht den Schmauch der Dampflokomotiven, frisches Holz, altes
Das Buch erzählt ein Jahrhundert Berlin nur über die Men-
Haus, Brandgeruch und die Berliner Luft. Der Leser zieht in
schen, die darin lebten. Es gibt das Böse, also den Bösen,
das Haus ein. Jeden Sonntag sitzt er bei den Weiszheits am
Hermann, in der Nazizeit. Und Nachtigall, einen DDR-Kul-
Mittagstisch, kennt jede Tretmine im Umgang der Familien-
turfunktionär und von Neid zerfressenen Spitzel. Aber es
mitglieder miteinander, jede erotische Neigung, jede Lie-
gibt auch die, an die wir uns über weite Teile des Buches
besgeschichte, jedes Gejammer über kaputte Fenster in der
festklammern können, die uns mitnehmen in die Vergangen-
Planwirtschaft, jedes Stück fehlende Dachrinne, und jede
heit, in deren Nähe wir wissen, dass wir uns nicht schuldig
knarrende Diele.
machen werden. Aus unserer überlegenen Zukunfts-Pers-
Bild oben: Holger Siemann
pektive.
1962 in Leipzig geboren, studierte Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Er arbeitete als Offizier, Schauspieler, Sozialwissenschaftler, Familienhelfer und Journalist und ist Autor zahlreicher Hörspiele, Features und Libretti. Seine ersten beiden Romane Arbeit und Streben und Karlas versuch die Welt zu verbessern erschienen 2006 und 2008. Holger Siemann lebt in Berlin und in der Uckermark. Béte Noire 2014, Installation
Geschichten und wundersamer Dinge. Die, einmal geöffnet,
„Ich wollte das Erzählen selber thematisieren. In einer Zeit, in der
Bild unten: Das Weiszeithaus – Ein Jahrhundertroman
seine Miasmen, seinen Glimmer, Worte und Gesichter, seine
unbegrenzte Möglichkeiten bestehen, scheinbar objektive Nach-
Stimmungen und Stimmen, auf die Leser verströmt und in
richten zu faken. Und die künstlich herzustellen, die aber total
das Weiszheits-Universum einsaugt.
echt klingen. Und dann soll der Leser sich damit beschäftigen.“
Das Buch ist wie eine Wunder-Box, ein Raum voller irrer
– Holger Siemann Und auch der Schriftsteller selbst ist irgendwann komplett darin eingetaucht. Das ganze Personal in dem Roman hat
Und trotz seines vordergründigen Sachbuch-Images ist „Das
ihn als Schreiber, als Medium beansprucht. Als einen, der
Weiszheithaus“ nicht nur ein logistisches Unterfangen son-
das alles in den Computer tippen sollte. Er verstand ihre Viel-
dern ein Meisterwerk der Erzählkunst. Das Weiszheit-Haus,
stimmigkeit. Denn er hatte sie ja schließlich erfunden. Ihnen
ein Ort auf dieser Welt, in das man von ganzem Herzen
Sprache gegeben, Charaktere, Schicksale. Manchmal hat er
sofort einziehen möchte. Obwohl da immer auch die Wände
überhaupt nicht mehr durchgesehen. Manchmal hat er aus
wackeln. Es ist kein Schutzraum. Aber ein Ort zum Leben.
Männern Frauen gemacht und umgekehrt, manchmal hat er aus drei Menschen eben einen gemacht.
Siemann arbeitet inzwischen an neuen Büchern. Und die Figuren beginnen zu verblassen. Aber er weiß schon jetzt,
„Hunderte... Tausende...ich kenne noch eine Menge mehr Leute,
dass er mit einigen von ihnen sein ganzes Leben verbringen
als die im Buch. Am Anfang sind viele Leute ein- und ausgezo-
wird.
gen. Die hatten auch keine großen Umzugswagen, sondern Handkarren, wenn sie nicht nur ein Bündel hatten und dann zogen die ja zu viert fünft in so winzig kleine Wohnungen ein. Da hatte ich eine ganze lange Liste. Und musste dann auf vieles verzichten. Aber manches ist dann auch zusammengerutscht zu einer Figur. Die frauenbewegte Journalistin, die auch Hüte macht zum Beispiel, das sind mal drei gewesen, kann man ja leicht erkennen.“ – Holger Siemann
Eine Geschichte, ebenso vielfältig, zuweilen grausam, und verrückt wie die Geschichte Berlins im 20. Jahrhundert 736 Seiten. Gebunden. Leseband, € 28.00 ISBN 9783038200451
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Zeichnen und Sein Der Zeichner Andree Volkmann
Mitte der 1960er Jahre hat die Zeichnung das Format gesprengt und den Raum erobert. Auch der Künstler Andree Volkmann hat schon sehr früh gemerkt, dass er mit der Linie, die er zog, nur auf Augenhöhe etwas anfangen konnte. Also direkt an der Wand vor ihm. Das war dann so in den 80ern. Eine Linie macht ebenso, was sie will und hat nicht vor, sich den Formaten des weißen Kartons zu unterwerfen. Und Volkmann hatte nicht vor, sie davon abzuhalten. Für einen Bogen Papier hat sein innerstes Ausloten nicht gereicht. Der Pinselstrich zog an der realsozialistischen Begrenztheit vorbei. Als junger Künstler hat Volkmann so unter erheblichem Einsatz von Lebenszeit mit feinem Zeichenstrich oder Punktrastern eine enge Plattenbauexistenz am Rande der ostdeutschen Großstadt in einer fernseherischen Zukunftsund Vergangenheitsvision durchbrochen und damit sein Denken unendlich erweitert. Ganze Wände hat er mit den analogen Strichcodes seiner überbordenden Se(h)nsüchte überzogen. Inspiriert von Originalgenies englischer dekorativer Kunst oder amerikanischer Pop Art. Mit mächtigen Kontrasten aus schwarz und weiß. In seiner Form war er schon immer ein Rebell. Und ist doch ungeheuer einseitig: Es ist immer erkennbar Andree Volkmann und seine vielseitig einzigartige Autorenschaft.
Installation view „fernsehen“, 2017, Kunsthalle Rostock © Jojo Corväjᾰ
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Belle, 2017/18, Belistift, Tusche, Lackfarbe auf Papier, 12,5 x 9,5 cm © Andreee Volkmann *Megacity of Style
16 Zeichnen und Sein
o.T. #271, 2017, Tusche auf Papier, 29,7 x 21 cm ©Andree Volkmann
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Andree Volkmann „Ich heiße ...“ Zeichnungen: Andree Volkmann Text: Juliane Voigt 21 x 15 cm, 144 Seiten, Buchblock mit offener Bindung und geschlossenen Seiten, € 29,90, Weiw Verlag Stralsund/Amsterdam, ISBN 978-3-937938-20-2
„fernsehen“ in der Kunsthalle Rostock
Ein Raum mit einem Oberlicht sehr weit oben – 12 Meter im Quadrat. Der „White Cube“ genannte Lichthof der Rostocker Kunsthalle. Alles ist weiß und geschlossen hier. Nur eine Seite öffnet sich in einer niedrigen Glasfront. So vermittelt der Ort den Eindruck eines Dioramas: Der Künstler inmitten seines Werkes hinter Glas, umgeben von Licht und Klang (Soundinstallation: Daniel Dorsch). Die Schwerelosigkeit und Abge-
„Physical“ Galerie „Kabinett.25“ in Berlin*
schiedenheit eines abgedrehten Andree Volkmann-Orbits. Dieser Effekt ist dem Gestaltungswillen des Berliner Szenografen und Ausstellungskurators Detlef Weitz zu danken. Und auch der Titel der Ausstellung. „fernsehen“ – ein Begriff, der in seiner gewohnten Bedeutung längst als Anachro-
Über sehr feine Bleistiftlinien gießen sich Schlieren von
nismus funktioniert, könnte jetzt zur Orientierung dienen im
schwarzer Tusche. Jede Zeichnung hat dieses Überlegte,
Raster aus Bildern im Raum. Diese reichen schließlich bis
Zarte, Vorsichtige. Und dann legt sich eine dunkle, verhül-
an den obersten Rand des sieben Meter hohen White Cube.
lende Wolke darüber. Weniger als ahnungsvolle Dämmerung
Zu sehen waren verschiedene Programme: Bilder von Orten,
denn als betäubender Äther. Wie ein alles überlagernder
Tieren, Dingen - Schmetterlinge, tragische Frauen, abstrak-
Impuls, der Trivialitäten ausblendet. Die eine große Sache,
tes und amorphes, eine riesige Katze, Wohnzimmer-Botanik,
die alles prägt. Eine Form von Kraft und Unmittelbarkeit.
der Blick aus dem Fenster eines Badezimmers in der Platte,
„Physical“ – durchaus wörtlich gemeint. Körperlich. Das
die Porträts der Serie „Ich heiße...“, die es jetzt auch als Buch
Affekthafte, Unkontrollierbare, das sich eigenständig über
gibt. Dazwischen riesenhaft vergrößert, verschieden frisiert,
jedes vernunftbegabte Denken, über Ratio und Erkenntnis
grinsend und starrend der Künstler selbst. Ein schwarz-weiß
legt. Ein impulsiver und körperlicher Akt, mit dem Volkmann
Blick auf Bilder aus Linien. Dazwischen Weiß als buchstäbli-
seine Zeichnungen ertränkt. „Lets get physical“ – lass es uns
ches Nichts.
machen.
Andree Volkmann … lebt und arbeitet in Berlin. Er zeichnet für Magazine, Bücher, Animationen, Design und Szenografie. Für das Jüdische Museum München, das Grashaus in Aachen und das Deutsche Historische Museum Berlin entwickelte er auf Zeichnung basierende raum- und inhaltsbezogene Inszenierungen. Zuletzt zeichnete Volkmann für Bühnenbilder in Graz und Berlin. Gerade arbeitet er für das Jüdische Museum in Berlin und gestaltet für dessen Neugestaltung einen eigenen Raum als „Jüdische Walhalla“. Volkmann ist Dozent an der AVA Academy of Visual Arts Frankfurt am Main. Dort unterrichtet er freies Zeichnen und Illustration. Diesen Sommer erarbeitet er mit Studierenden einen Raum mit Zeichnungen zu Gedichten von Paul Celan. Die Kunsthalle Rostock widmete Volkmann im Herbst 2017 eine Einzelausstellung. Unter dem Titel „fernsehen“ zeigte sie Zeichnungen der letzten Jahre und in situ ausgeführte Wandarbeiten. Derzeit stellt die Galerie Kabinett25 in Berlin Kreuzberg eine Auswahl großformatiger Tuschzeichnungen aus der Serie „Physical“ aus.
„Die Zauberflöte“, Oper Leipzig, 2004, Szene mit Zauberwald und Weiszheits-Tempel, Inszenierung: Ralf Nürnberger, Kostüme: Claudia Rühle, Bühne: Yadegar Asisi
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„Die Zauberflöte“ der Leipziger Oper mit einem Bühnenbild von Yadegar Asisi
Ein Zauber der nicht flöten geht
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Der Weisheits-Tempel im Zentrum dieser Bühnenbild-Szenerie bezieht sich auf einen Entwurf des französischen Architekten Étienne-Louis Boullée. 1784 hatte dieser ein Kenotaph, eine Art Denkmal, für Isaac Newton entworfen. Eine 150 Meter hohe Kugel, die das Universum symbolisieren sollte. Im Inneren sollte durch die Perforation der Kugeloberfläche der Sternenhimmel dargestellt werden. Der Entwurf wurde nicht realisiert. Gilt aber architekturgeschichtlich als der Höhepunkt der utopischen Revolutionsarchitektur. „Die Zauberflöte“ entstand 1791 kurz nach der französischen Revolution.
Die Meininger Prospekte werden in wechselnden Ausstellungen präsentiert „Zauberwelt der Kulisse“ Theatermuseum Meiningen Meininger Museen Schlossplatz 1 98617 Meiningen
Warum „Die Zauberflöte“ so beliebt ist, darüber lässt sich seit
Zum anderen aber ist es das märchenhafte Bühnenbild von
der Uraufführung der Oper 1791 trefflich debattieren. Es ist
Yadegar Asisi. Ein sensationelles Bildertheater, das dem
sicherlich die göttliche Musik. Mozarts letzte Oper. Bei einem
Anspruch von Mozart und Schikaneder, die Oper auf Erfolg
Komponisten, der zum Zeitpunkt seines Todes 35 Jahre alt
denn auf Weltendeutung anzulegen, so überaus gerecht
war, ist das kein abgeklärtes Alterswerk, sondern ein sprü-
wird. Da wechseln überwältigende Bilder von Zauberwald
hendes Feuerwerk zur Feier des Lebens. Die Figuren sind
zu Prunkbibliothek. Der Freimaurer-Tempel von Sarastro
von heftigen Leidenschaften getrieben, voller Widersprüche
kündigt als eine Art Kolossal-Planetarium die technisierte
und Gegensätze. Es gibt den Priester und die Königin, den
Wissenschaft der Zukunft an. Und die überwältigende Metro-
hellen Tag und die dunkle Nacht, Tempel und Wald, Natur
polis-Adaption des finalen Aktes katapultiert Tamino und
und Kultur. Der Naturbursche Papageno macht sich triebge-
Pamina als entromantisierte Zukunftswesen in das Maschi-
steuert über sein Weibchen her. Dagegen stellt sich Pamino
nenzeitalter. „Bildgewaltig und schlüssig“ fand das die Edel-
mit masochistischem Ernst einer schier unlösbaren Prüfung
feder der Leipziger Volkszeitung, Peter Korfmacher, in seiner
nach der anderen, um seiner Pamina überhaupt wert zu sein.
damaligen Premieren-Kritik.
Für Kenner steigt die Spannung zudem mit dem Näher-
Diese Bildgewalt aber war Asisis Reminiszenz an die
rücken der Arie der Königin der Nacht. Die so genannte
berühmten Meininger Bühnen-Prospekte. Das Hoftheater
„Rachearie“, eine der anspruchsvollsten Koloratur-Arien für
Sachsen-Meiningen hatte unter Herzog Georg II. Mitte des
Sopranistinnen. Die Stelle, an der die Königin ihrer Tochter
19. Jahrhunderts das Schauspiel und die Ausstattung des
Pamina ein Messer in die Hand drückt und sie beschwört,
Deutschen Theaters vollständig revolutioniert. Es war die Blü-
ihren größten Feind Sarastro zu töten. Dem folgt der wüten-
tezeit des Illusionismus. Die Blütezeit auch der Panoramen.
dende Anlauf der Primadonna, eine Attacke von pfeilspitzen
Die Blütezeit des Theaters mit seinen ganzen illusorischen
Tönen in schneebedeckter Gipfellage, die, je nach Elastizi-
Möglichkeiten.
tät des Stimm-Organs, schneller und schriller in die Höhe hüpfen. Hat nicht jeder schon einmal in düsterer Vorahnung
Georg II. ist auch als „Theaterherzog“ bekannt und hat selbst
vor einem Ausrutscher mit aufgerissenen Augen die Lippen
die meisten der heute im Meininger Theatermuseum ausge-
zusammengepresst, wenn die Sängerin fuchsteufelswild die
stellten Bühnenbilder entworfen. Das waren Prospekte, die
gefürchtete Klippe zum hohen F ansteuerte?
mit ihrer illusorischen Tiefenwirkung die Seh-Süchte des 19. Jahrhunderts bedienten. Damals haben emsige Thea-
Nun, abgesehen vom Musikalischen - Das Werk funktioniert
termaler in einer Art Großproduktion bis zu 15 Meter breite
als eindimensionales Märchenspiel ebenso wie als artifiziel-
und acht Meter hohe Leinwände mit Gouache- und Leim-
les Mysterienspiel mit geheimnisvollem Freimaurer-Schischi.
farben bemalt. Auch die Panoramen waren in dieser Zeit
Eltern nehmen deshalb getrost ihre Kinder mit in die Oper. Es
handgemalt. Ein Aufwand, der heute nicht nur völlig unzeit-
gibt schlicht Gut und Böse. Frau und Mann, die sich am Ende
gemäß wäre. Die Größenordnung, mit der Asisi die Bühne
küssen. Liebe und Hass ebenso wie Rache und Vergebung.
für die Zauberflöte entworfen hat, war von dem Malersaal
Das Freimaurer-Motto: „Mann und Weib und Weib und Mann
nicht zu bewältigen. Obwohl diese Abteilung der Leipziger
reichen an die Gottheit ran.“ Ist auch das Motto der Zauber-
Oper grandiose Arbeit geleistet hat. Yadegar Asisi aber war
flöte.
im Jahr 2004 durch das gerade vorher eröffnete Panorama „8848 Everest“ im Leipziger Panometer mit den neuesten
Kein Wunder, dass die Zauberflöte immer mal wieder und
Drucktechniken vertraut. Und ließ die großen Bühnen-Pros-
immer wieder auch mit aktuellen Inszenierungen auf jedem
pekte auf die gleiche Weise herstellen wie schon das Pano-
Opernhaus-Spielplan stehen muss. Die Leipziger Oper
ramabild – das erste, mit dem er seitdem die Panoramen als
macht da eine Ausnahme. Sie hat seit 14 Jahren ein und die-
ein erfolgreiches Medium in das 21. Jahrhundert geholt hat.
selbe Zauberflöte im Spielplan. Seit Oktober 2004 wird hier
In eine Zeit, in der Projektionen und die technischen Möglich-
Mozarts Zauberflöte in einer Inszenierung des Berliner Regis-
keiten der virtual reality unsere Sehgewohnheiten verändern,
seurs Ralf Nürnberger und dem Bühnenbild von Yadegar
haben Panoramen ebenso wie diese illusorischen Thea-
Asisi gespielt. Gerade ist die 100. Aufführung über die Bühne
ter-Prospekte ihre Faszination nicht verloren. Die Zauberflöte
gegangen.
ist in dieser Ausstattung nicht umsonst so ein Dinosaurier des Spielplans der Leipziger Oper geworden.
Wie geht sowas in einer so rasanten Zeit? An so einem renommierten Haus? Dass die Oper auf dieser großen Bühne immer
Längst haben Sänger und Sängerinnen mehrere Male
noch funktioniert, hat mehrere Gründe. Einer davon ist der,
gewechselt. Aber Seit 14 Jahren werden dieselben Kulissen
dass die Handlung so „sauber“ inszeniert ist. Nichts ist ver-
hin und wieder hergeschoben. Es bedürfe, schrieb der Kri-
quer, denn mit Verlaub lässt sich da einiges auch hineinkom-
tiker im Jahr 2004, keiner prophetischen Gabe, dass diese
plizieren und umdeuten. Charaktere und Inhalte auf dieser
Zauberflöte der Auslastung der Leipziger Oper helfen würde.
Bühne aber ermöglichen einen kinderleichten Zugang. „Eine
Und wie wir sehen, gibt es die Zauberflöte immer noch und
richtig normale Zauberflöte!“ heißt es aus Theaterkreisen.
das Opernhaus auch. Zu erleben für alle, die es 100 Mal verpasst haben, noch bis Frühjahr 2019.
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