Psychologie heute compact nr48 2017

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PSYCHOLOGIE HEUTE

2017

H E F T 48

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compact

Ich bin ich Was Sie prägt – Was Sie antreibt Was noch in Ihnen steckt


Gut fßr die Seele ‌

Achtsamkeit fĂźr Einsteiger

Endlich selbstsicher

Bei sich zuhause sein

Eine achtsame Haltung hilft, wenn es im Leben mal nicht so rund läuft. Die Autoren zeigen, wie Sie mit belastenden Situationen im Leben achtsam umgehen kĂśnnen. Ein 9-Wochen-Programm mit zahlreichen AchtsamkeitsĂœbungen. Mit Online-Material

Mithilfe zahlreicher praktischer Ăœbungen lernen Sie, Ihre Stärken zu entdecken und die Schwächen zu akzeptieren, berechtigte von unberechtigter Kritik zu unterscheiden und selbstbewusst Ihre BedĂźrfnisse zu kommunizieren.

Mit den Ăœbungen zur Verbesserung der KĂśrperwahrnehmung gelingt es, den KĂśrper und seine Signale besser zu verstehen und sich in der eigenen Haut wieder wohl zu fĂźhlen.

183 Seiten, geb. â‚Ź 22,95 D ISBN 978-3-621-28184-3

Mit Online-Materialien 176 S.eiten, geb. â‚Ź 22,95 D ISBN 978-3-621-28265-9

Mit Online-Material 197 Seiten, geb. â‚Ź 22,95 D ISBN 978-3-621-28220-8

www.beltz.de

Alle Titel sind auch als

erhältlich.

r Leseproben r & #PPLT EPXOMPBEFO r 1PSUPGSFJ CFTUFMMFO r /FXTMFUUFS


Was Identität ausmacht Die meisten von uns kennen diese Momente existenziellen Selbstzweifels: Man steht irgendwie neben sich, beobachtet das eigene Treiben und fragt sich befremdet: Wer ist dieser Mensch? Glücklicherweise verflüchtigt sich der seltsame Zustand meist nach einer Weile. Doch die Frage selbst beschäftigt uns ein Leben lang: Wer bin ich? Was macht mich zu dieser Person hier? „Der Mensch ist das Wesen, das wissen will, was oder wer es ist“, schreibt der Philosoph Markus Gabriel. Schon immer haben Menschen über diese Frage nachgedacht, und ihre Antworten hinterlegten sie etwa in der Religion, der Philosophie, der Kunst, der Literatur. In diesem Heft finden Sie Antworten der Psychologie. Unsere Autoren erklären, was Identität ausmacht und wie sie sich herausbildet. Vorgestellt werden die Grundmuster der Persönlichkeit, in denen wir uns unterscheiden und als Individuen verorten. Und es geht um die Frage: Bin ich darauf festgelegt, wie ich nun mal bin – oder kann ich auch ganz anders? Um diese eine Antwort vorwegzunehmen: Ja, ich kann anders. Wie ein Schauspieler kann ich in eine andere Rolle schlüpfen, mich in diese Rolle einfühlen: Ich spiele mich selbst, als wäre ich ganz anders, ich agiere out of character. Manche stillen Menschen haben zum Beispiel ein Talent, bei Bedarf sehr überzeugend den Der Mensch ist das eloquenten, extravertierten Alleinunterhalter zu Wesen, das wissen will, geben. Das fühlt sich durchaus angenehm an, doch was oder wer es ist es erschöpft, und nach einer Weile ist man froh, sich wieder ins alte Selbst zurückzuziehen und von dem Charakterausflug zu erholen. Das heißt aber nicht, dass jeder Wandel Camouflage sein muss. Persönlichkeitsentwicklung braucht Zeit. Wir sind geprägt von unseren Genen und dem Elternhaus, der Kultur, der Umgebung, in der wir aufwachsen. Doch bis zu einem gewissen Grad formen wir uns auch selbst, nicht per Willensakt („Ich will jetzt ein anderer Mensch werden!“), sondern über unsere „persönlichen Projekte“. Darunter versteht der kanadisch-britische Psychologe Brian Little vor allem jene selbstgestellten und freiwilligen Lebensaufgaben, die wir nachhaltig und mit Leidenschaft verfolgen. Man wird vielleicht mit einem musikalischen Talent geboren, aber persönlichkeitsprägend wird dieses Talent erst dann, wenn wir ihm beharrlich nachgehen, also musizieren. Das Engagement in einer Stadtteilinitiative, einem Sportverein, einem Chor, die Begeisterung für Yoga: Mit solchen Projekten möblieren wir unsere Lebenswelt, wir schaffen uns eine ureigene Nische, die wiederum unsere Persönlichkeit ausformt und, so Little, neben Genen und Sozialisation zu unserer „dritten Natur“ wird. Übrigens, das wohl wichtigste persönlichkeitsprägende Projekt ist: die Partnerschaft. Ich wünsche Ihnen eine hoffentlich kurzweilige und erkenntnisreiche Zeit mit dem „Projekt“ aus der Reihe Psychologie Heute compact, das Sie hier vor sich haben.

T HO M AS S AUM - AL D E H O F F (t.saum-aldehoff@beltz.de)

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Inhalt

HEFT 48

WER BIN ICH?

WIE BIN ICH?

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Ich will endlich ich sein! HEIKO E RNST

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Das Ich auf Lebenswanderschaft

T H O MA S S A U M- A L D E H O F F

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WE RNE R GRE VE

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Identität ist eher Werden als Sein

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Ich! Großartig!

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Selbstsuche – Eine kurze Geschichte des Ich

Sind Sie ein Ablenker oder ein Alarmist? T H O MA S S A U M- A L D E H O F F

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SILKE P FE RSDO RF

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Ständig auf Empfang SUSIE REINHARDT UND AXEL WOLF

E VA J AEGGI IM GES PRÄCH

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Die verkannten Stillen A N N A R O MI N G

PAUL VERHAEGHE

26 „Ist das noch der alte Adam?“

Typenlehre

Leicht neben der Spur URSULA NUBER

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FRITZ BREIT HAUPT

Unsere blinden Flecken HEIKO ERNST

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Test: Sehen Sie hier auch eine Fledermaus? JO C H E N ME T Z G E R

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I M P R E S S U M

REDAK TION

Werderstraße 10, 69469 Weinheim Postfach 100154, 69441 Weinheim Telefon: 06201/6007-0 Telefax: 06201/6007-382 (Redaktion), 6007-310 (Verlag) W W W.PSYCHOLOGIE-HEUTE.DE HERAUSGEBER UND VERLAG

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KANN ICH ANDERS?

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(Fast) Jeder kann aus seiner Haut ANNET TE S CHÄF ER

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Erproben Sie Ihr Anti-Ich! AXEL WOLF

76

Mal bin ich so, mal so INGRID GL O M P

80

„Eine Partnerschaft prägt die Persönlichkeit“ FRANZ NEY ER UND CHRI S TI NE F I NN I M G E S P R Ä C H

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Charakter zeigen AXEL WOLF

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Impressum Magazin

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Medien

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Markt

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Cartoon

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PSYCHOLOGIE HEUTE

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Editorial

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Fotos: suze, Stihl024, inkje / photocase.de

BILDQUELLEN

Ich bin ich Was Sie prägt – Was Sie antreibt Was noch in Ihnen steckt

Best.-Nr.: 47235 ISBN 978-3-407-47235-9 5


MAGAZIN REDAKTION: ANKE BRUDER

Reise zum Selbst Warum machen Menschen allein Urlaub? Was suchen sie in der Ferne? Sie suchen sich selbst, wie eine australische Studie zeigt. Verantwortlich für den Solotrip war bei vielen demnach eine Mischung aus Freiheits- und (Selbst-)Erkundungsdrang. Auch Entdeckungsfreude spielte eine Rolle: Man wollte nicht nur die fremde Umgebung erkunden, sondern in der unvertrauten Kulisse gleichzeitig sich selbst auskundschaften und dem „inneren Monolog“ lauschen, der ständig in unserem Kopf aufgeführt wird. DOI: 10.1002/jtr.2049

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Introvertierte lieben die Berge Eine Forschungsgruppe der University of Virginia hat in einer kleinen Serie von Experimenten bestätigt: Introvertierte Leute lieben die Berge, extravertierte hingegen mögen die Ebene und das Meer. Die Forscher hatten ihren Probanden Abbildungen von bewaldeten und gebirgigen Landschaften oder von flachen und weiten Gegenden gezeigt. Die Berge wurden dabei durchweg als ruhiger, stiller, friedlicher wahrgenommen, während das Flachland eher mit Geselligkeit und Stimulation assoziiert wurde. Ein Grund, der hinter der Verflechtung von Persönlichkeit und Landschaftsvorlieben steckt, könnte das tendenziell größere Erregungsniveau des Gehirns bei Introvertierten sein. Durch diese erhöhte Erregung benötigen und suchen introvertierte Menschen weniger Anregungen aus der Außenwelt, um sich wohlzufühlen.

Persönlichkeitstyp: guter Esser Die Behandlung von Übergewicht könnte effektiver werden, wenn man die Persönlichkeit der Behandelten berücksichtigte. Zu diesem Ergebnis kommen Psychologen der Universitäten Bamberg und Bochum in einer Zusammenschau von mehr als 70 einschlägigen Studien. Ihre Analysen zeigen, dass Übergewicht, Adipositas und „Essanfälle“ mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften zusammenhängen. Übergewichtige Menschen sind demnach neurotischer, also weniger belastbar, und insbesondere impulsiver als Normalgewichtige. Das heißt, es fällt ihnen schwer, ihr Handeln an langfristigen Zielen auszurichten. Auch sind die Beleibten eher extra- als introvertiert sowie empfänglich für schnelle „Belohnungen“ wie etwa einen Snack. Gewissenhaftigkeit hingegen erwies sich als Schutzfaktor gegen Übergewicht. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Selbstkontrolle. Verträglichkeit und Offenheit scheinen dagegen nicht mit Übergewicht TSA zusammenzuhängen.

schen Tendenzen.

DOI: 10.1111/obr.12235

DOI: 10.1016/j.appet.2015.09.031

Das ist bitter: Menschen, die eine Vorliebe für Radieschen, Ingwer, ungesüßten Kakao oder starken Kaffee angeben, weisen bei Persönlichkeitstests eher unangenehme Eigenschaften auf. Österreichische Psychologen fanden einen Zusammenhang zwischen der Neigung zu bitteren Nahrungsmitteln und sadistischen sowie psychopathi-

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Es gibt einen kleinen, aber signifikanten Effekt des Wohnorts auf das Selbstbewusstsein. Wer sich von Menschen mit einer ähnlichen Persönlichkeit umgeben fühlt, empfindet Zugehörigkeit und soziale Bestätigung – und das stärkt das Selbstvertrauen. Dies gilt allerdings nicht für extravertierte Zeitgenossen, die fühlen sich überall wohl.

DOI: 10.1177/0956797615627133

Arbeitslosigkeit verändert die Persönlichkeit Kaum ein Lebensereignis kann die Persönlichkeit eines Menschen so stark verändern wie der Verlust der Arbeit. Das hat Christopher Boyce von der britischen University of Stirling anhand von Daten des deutschen Sozio-oekonomischen Panels nachgewiesen. Arbeitslose Männer werden demnach zunächst verträglicher und offener für neue Erfahrungen. Boyce interpretiert dies als Anpassung an die Notwendigkeiten der Jobsuche. Doch wenn die Entlassenen keine Stelle finden, geht es mit diesen Charakterzügen abwärts. Wer beispielsweise noch in Arbeit durchschnittlich verträglich war, gehört auf dieser Dimension nun zum unteren Sechstel. Bei Frauen geht es mit beiden Eigenschaften von Anfang an bergab – möglicherweise weil sie oft keine neue Stelle suchen, sondern sich eher in Richtung Familie orientieren. Dafür erholt sich die Offenheit für Neues bei ihnen im vierten Jahr fast vollständig, während sie bei Männern immer weiter sinkt. Ein ähnliches Muster zeigen Frauen beim Merkmal Gewissenhaftigkeit, während Männer in diesem Bereich weiter absacken. Möglicherweise kommen sie besser mit der Arbeitslosigkeit klar, wenn sie Pflichterfüllung und Leistungsmotivation nicht mehr so hochhalten. Tragischerweise wären aber gerade solche zur Gewissenhaftigkeit zählenden Qualitäten nötig, um wieder eine Stelle zu J O C H E N PA U L U S finden.

Geht gar nicht! Bei diesen fünf Eigenschaften schrecken Frauen vor einer langfristigen Beziehung zurück: 1. Faulheit 2. ungepflegtes Erscheinungsbild 3. Aufmerksamkeitssucht 4. Humorlosigkeit 5. weit entfernter Wohnort. Männer nennen ähnliche K.-o.-Kriterien. Jedoch erscheint ihnen ein ungepflegtes Äußeres als größtes Hindernis. DOI: 10.1177/0146167215609064

Christopher Boyce u. a.: Personality change following unemployment. Journal of Applied Psychology, 100/4, 2015, 991–1011. DOI: 10.1037/a0038647

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„Da postet wieder dieser Extravertierte!“ Wer auf Facebook postet, vermittelt anderen Nutzern einen Eindruck von seiner Persönlichkeit. Bei manchen Eigenschaften ist dieser Eindruck sogar ziemlich zuverlässig Forscher der Universität Kansas um Jeffrey Hall baten 100 Facebook-Nutzer, einen Persönlichkeitsfragebogen auszufüllen. Anschließend surften 35 Versuchspersonen, die nicht mit diesen 100 Nutzern bekannt waren, für jeweils 10 bis 15 Minuten durch deren Facebook-Auftritt. Dabei sollten sie sich einen Eindruck von der Persönlichkeit des Menschen machen, der sich dort präsentierte. Extraversion war der Persönlichkeitszug, den die Laiencharakterologen am leichtesten und zuverlässigsten identifizierten. Extravertierte Menschen sind gesellig, gesprächig und in der Gruppe gerne mal tonangebend. Auf Facebook waren extravertierte Frauen und Männer unter anderem an der überdurchschnittlichen Zahl von „Freunden“ zu erkennen, die ihnen dort folgten. Auch posteten sie bevorzugt positive Dinge (was ins Bild passt, denn extravertierte Menschen verbreiten auch im Alltag gerne gute Laune). Außerdem fielen sie durch ihre Vorliebe auf, Wörter per Vokalvermehrung etwas wichtigtuerisch in die Länge zu ziehen, etwa noooooo oder heeeeey.

Verträglichkeit und Offenheit für Neues waren ebenfalls Persönlichkeitsmerkmale, die anhand des Facebook-Auftritts gut zu erkennen waren. Verträgliche – also hilfsbereite und bescheidene – Menschen posteten generell seltener, wohl weil sie sich selbst nicht so wichtig nahmen. Offene Personen, die das gesellschaftliche und kulturelle Geschehen um sie herum mit großem Interesse verfolgen, gefielen sich darin, politische Statements in die Runde zu werfen. Hingegen taten sich die Beurteiler in der Studie schwer, anhand Facebook die Persönlichkeitszüge „Gewissenhaftigkeit“ (Selbstdisziplin, Ordnung) sowie „Neurotizismus“ (emotionale Belastbarkeit) zu taxieren. Auch hatte die Anzahl der „Likes“, also die Zustimmung, die eine Wortmeldung bei anderen Facebook-Nutzern fand, überraschenderweise kaum Informationswert bei der Beurteilung der Persönlichkeit. T S A Jeffrey Hall, Natalie Pennington, Allyn Lueders: Impression management and formation on Facebook: a lens model approach. New Media & Society, 16/6, 2014, 958–982

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Was ist mir wichtig im Leben? Menschen unterscheiden sich darin, welche Werte ihnen wichtig sind. Laut dem israelischen Psychologen Shalom Schwartz gibt es zehn konkurrierende Grundwerte – und diese stehen mit der Persönlichkeit in Verbindung: Männer wirken mit 35 besonders dominant und durchsetzungsstark. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn sie groß gewachsen sind und über ein markantes Gesicht verfügen, wie schottische Forscher herausgefunden haben. Das könnte erklären, warum Helden in Hollywoodfilmen oft von Schauspielern wie Channing Tatum verkörpert werden – auf den all diese Eigenschaften zutreffen.

1. Macht Verbunden mit geringer Verträglichkeit, Extraversion und Streben nach Dominanz, Geld und Prestige

2. Leistung Leistungsorientierung tritt ebenfalls oft gemeinsam mit geringer Verträglichkeit und hoher Extraversion auf

3. Hedonismus Hier geht es um Vergnügen, Selbstbelohnung und Genuss. Typisch für Extravertierte

DOI: 10.1177/0301006615596898

4. Stimulation Das Streben nach Anregendem ist verbandelt mit Extraversion sowie „Offenheit für neue Erfahrungen“

5. Selbstbestimmung Typisch für Menschen, die tendenziell seelisch stabiler, weniger ängstlich und offen für neue Erfahrungen sind

6. Universalismus Hier geht es um soziale Werte: Toleranz, Gerechtigkeit, Frieden, Schutz der Natur. Menschen mit dieser Einstellung sind meist verträglich und offen für Neues

7. Wohltätigkeit Damit sind Fürsorge, Aufrichtigkeit und die Bereitschaft zu verzeihen gemeint. Wohltätige Menschen sind hilfsbereit und freundlich

8. Tradition

Spätestens als Bettina Wulff als erste tätowierte First Lady ins Schloss Bellevue einzog, waren Tattoos in der Mitte der

Drückt sich in Bescheidenheit und Demut aus sowie im Hochhalten von hergebrachten Tugenden und Gepflogenheiten – eher nicht in Offenheit für neue Erfahrungen

deutschen Gesellschaft angekommen. Gerade weil dieser

9. Konformität

Körperschmuck heute so weit verbreitet ist, lässt er kaum

Konformität geht oft mit Verträglichkeit einher, denn verträgliche Menschen sind verständnisvoll und ein bisschen konfliktscheu

noch Rückschlüsse auf die Persönlichkeit seiner Träger zu. Das zeigten Psychologen nun am Beispiel der Impulsivität: Menschen mit Tinte unter der Haut neigen im Durchschnitt

10. Sicherheit

kaum stärker als andere zu Kurzschlussreaktionen. Die Ver-

Diese Werthaltung ist verknüpft mit Gewissenhaftigkeit – der Neigung, das Leben in „geordneten Bahnen“ zu halten

mutung, dass Tattooträger einen Hang zu risikoreichem Verhalten haben, bestätigte sich nicht.

Shalom H. Schwartz u. a.: Refining the theory of basic individual values. DOI: 10.1016/j.paid.2015.08.054

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Journal of Personality and Social Psychology, 103/4, 2012, 663–688

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Im Alter wird es stiller Am Schluss des Lebens verändert sich die Persönlichkeit manchmal stärker als in all den Jahrzehnten zuvor Haben junge Menschen die Turbulenzen des Erwachsenwerdens hinter sich gebracht, strömt das Leben ab etwa 30 Jahren für die meisten ruhiger dahin. Auch an der Struktur der Persönlichkeit verändert sich dann oft über Jahrzehnte hinweg wenig. Im Allgemeinen werden Menschen mit den Jahren etwas umgänglicher und verträglicher, aber auch weniger offen für Neues. Doch gilt diese Kontinuität auch für das Alter? In vereinzelten neueren Studien haben Forscher Indizien dafür gefunden, dass sich die Persönlichkeit besonders im hohen Alter noch einmal deutlich verändern kann. Davon scheinen vor allem zwei der fünf großen Grundzüge der Persönlichkeit (Big Five) betroffen zu sein: Am Lebensabend steige der „Neurotizismus“, die Menschen würden also psychisch dünnhäutiger und labiler. Außerdem würden sie introvertierter, also stiller und zurückgezogener. Beides wurde mit der nachlassenden körperlichen und kognitiven Gesundheit im Alter in Verbindung gebracht: Die zunehmenden Gebrechen, so die These, verändern auch die Persönlichkeit. Ob das wirklich zutrifft, haben Anne Ingeborg Berg und Boo Johansson von der Universität Göteborg anhand der Daten einer großen schwedischen Langzeitstudie mit Zwillingen analysiert. Anfangs 408 Frauen und Männer im Alter zwischen

80 und 98 Jahren wurden über sechs Jahre hinweg viermal in ihrer Wohnung besucht und zu ihrer Gesundheit und Alltagsbewältigung befragt. Dabei füllten sie auch einen Persönlichkeitsfragebogen aus. Was den „Neurotizismus“ betrifft, geben die beiden Psychologen Entwarnung: Die alten Menschen wurden im Verlaufe der sechs Beobachtungsjahre trotz schlechter werdender Gesundheit nicht „nervöser“ oder psychisch labiler. Die meisten Hochaltrigen hatten offensichtlich Freude an ihrem Leben. Allerdings bestätigte sich, dass sie mit den Jahren introvertierter wurden. Forderte die nachlassende Konstitution also doch ihren psychischen Tribut? Über die sechs Jahre hinweg zeigte sich keine solche Verbindung: Ob jemand bei der ersten Befragung über Gesundheitsprobleme klagte, sagte nichts darüber aus, wie introvertiert sie oder er sechs Jahre später sein würde. Die einzige objektive körperliche Einschränkung, die die alten Leute ein wenig introvertierter machte, war Hörverlust. Und dieser, so die schwedischen Psychologen, „schränkt sogar die Kontakte mit nahen Freunden und der Familie ein“. T S A Anne Ingeborg Berg, Boo Johansson: Personality change in the oldest-old: Is it a matter of compromised health and functioning? Journal of Personality, 82/1, 2014, 25–31

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WER BIN ICH?

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„Ich“ zu sein ist heute schwer. Einerseits sehnen wir uns nach Authentizität: Wir wollen uns als echt und unverfälscht empfinden, ganz als wir selbst. Andererseits wächst in Zeiten von Facebook & Co der Drang, Eindruck zu schinden und ein geschöntes Bild von sich zu präsentieren.

Foto: suze / photocase.de

Kann dieser Spagat gelingen?


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ICH WILL ENDLICH ICH SEIN! Wir alle haben die Sehnsucht, wir selbst zu sein, ohne die Heuchelei, die Selbstdarstellung, bei der wir uns ständig ertappen. Doch so paradox das klingt – „authentisch“ leben, also einfach nur ich sein ist gar nicht so leicht VON HEIKO ERNST

D

ie Suche nach dem authentischen oder wahren Ich begleitet den Menschen ein Leben lang: Nachdem wir als Kinder erstmals erkannt haben, dass wir selbst das Wesen sind, das uns aus dem Spiegel anguckt, wollen wir es immer genauer kennenlernen. Entwicklung ist auch die Entfaltung dieses Selbst, das heißt: all der Eigenschaften, Talente, Möglichkeiten, die in uns angelegt sind. Aber schon früh ist die Authentizität gefährdet, wenn sie rigorosen und ausschließlich fremdbestimmten Erziehungs- und Bildungszielen unterworfen wird. Als Jugendliche wollen und müssen wir herausfinden, wer wir wirklich sind, indem wir uns von den Eltern lösen, mit unterschiedlichen Rollen experimentieren und unsere Grenzen testen. Später versuchen wir, den Beruf zu finden, der zu unseren Talenten und Temperamenten passt. Und auch im Privatleben streben wir nach Echtheit: Wir schätzen wahre Freundschaften, und in Partnerschaften wollen wir um unserer selbst willen geliebt werden. Kurz: Wir wollen so leben, dass wir uns selbst treu bleiben können. Und wir leiden, wenn wir uns verbiegen und derart an Verhältnisse oder Menschen anpassen müssen, dass wir dies als Verrat an unserem Selbstbild empfinden.

Was es braucht, um authentisch zu sein Die Sozialpsychologen Michael Kernis und Brian Goldman haben in mehreren Studien untersucht, wie sich das Streben nach Authentizität auf das Wohlbefinden und die psychische 15


Gesundheit auswirkt. Sie unterscheiden vier Komponenten der Authentizität: Um uns als authentisch erleben zu können, ฀฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ selbstbezogenen Gedanken bewusst sein. Dazu gehört, die eigenen Stärken, aber auch die Schwächen zu kennen und zu wissen, wie sie unser Verhalten beeinflussen ฀฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ oder unangenehmes Feedback zu verleugnen oder zu verzerren. Wir müssen also objektiv in eigener Sache sein können ฀฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ oritäten und Bedürfnissen handeln, auch wenn das anderen nicht gefällt oder wir uns Nachteile einhandeln ฀฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ sein, das heißt: den anderen eine Chance geben, sowohl unsere guten als auch die schlechten Seiten zu erkennen, und ihnen nichts vorspielen. Ein Problem dabei ist, dass unser Selbst sich keineswegs in einem festen Aggregatzustand befindet, sondern sich immer wieder verändert. In einer Studie des Center of Cultural Studies & Analysis stellen Margaret King und Jamie O’Boyle fest, dass Menschen etwa alle 20 Jahre ihre Identität grundsätzlich infrage stellen und sich neu definieren: In der Adoleszenz (15–20 Jahre) wird die erste große Identitätskrise durchlebt. In den Erwachsenenjahren (35–40) findet eine kritische Selbstüberprüfung statt: Wo stehe ich? Im frühen Alter (55–60) wird das ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ Alter (75 plus) steht die Frage an, ob man sich mit seinem Selbst aussöhnen und es akzeptieren kann. ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ prüfen sie ihre Identitäten, ihre Beziehungen, ihr Leben – all das, was ihr soziales Ganzes ausmacht. Sie verwerfen, was ihnen falsch, unecht, aufgezwungen erscheint, und sie halten an dem fest, was sie für authentisch halten“, schreiben King und O’Boyle. Das heißt: Unser Ich ist nie endgültig fertig, wir müssen immer wieder neu um innere und äußere Wahrhaftigkeit ringen.

Authentizität basiert auf dem Mut zu Entscheidungen Nahezu alle Religionen und viele philosophische Lehren sehen einen engen Zusammenhang zwischen Authentizität und Moral. Die großen Gestalten in Philosophie und Religion verkör฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ krates und Jesus starben eher, als diese Identität von Wort und Tat und damit sich selbst zu verraten. Martin Luthers berühmter Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ drückt ein scheinbares Paradox des authentischen Menschen aus, nämlich die Wahl ohne Optionen. Der Philosoph Andreas Luckner meint: „Natürlich könnte Luther, wie jeder andere, im Prinzip auch anders, aber eben nicht als 16

der, der er ist, sein will oder zu sein hat. Natürlich könnte Sokrates auch fliehen, aber eben nicht als der, der er ist. Flucht hieße für Sokrates, sich selbst untreu zu werden, seine eigentliche personale Existenz aufzugeben – eine Kränkung, die eine Person sich offenbar selbst zufügen kann, wenn sie nicht hinter dem steht, was sie tut.“ Für die Existenzialphilosophen von Heidegger bis Sartre ist Authentizität ein zentrales Konzept: Sie ist eine Einstellung zum Leben, die auf dem Mut zu Entscheidungen basiert, die uns gemäß sind. Wir erschaffen unser Selbst, indem wir uns immer wieder für die uns eigene Handlungsweise entscheiden. Diese Eigentlichkeit ist mehr als nur die kluge Wahl zwischen verschiedenen Optionen, ist weit mehr als Lebenskunst. Der authentische Mensch entscheidet sich angesichts vieler Handlungsmöglichkeiten so, wie es ihm sein eigentliches Ich befiehlt: „Ich habe keine andere Wahl!“ Uneigentlichkeit dagegen entsteht aus Unselbständigkeit und Konformität in Denken und Handeln. Natürlich können wir im Leben nicht immer so, wie wir wollen. Wir unterliegen sozialen Zwängen oder gehen aus Bequemlichkeit oder Feigheit oft den einfacheren Weg. Nimmt diese Unauthentizität überhand, erzeugt sie auf Dauer das Gefühl, nicht ganz die Person zu sein, die man gerne wäre. Abraham Maslow, Mitbegründer der humanistischen Psychologie, sah das Streben nach Selbstverwirklichung und seelischem Wachstum als das höchste der menschlichen Bedürfnisse an. Dessen Erfüllung kann und soll sich der Mensch um seiner psychischen Gesundheit willen dann zuwenden, wenn er die vorgeordneten körperlichen und psychischen Bedürfnisse – etwa das nach Sättigung, Sicherheit oder Anerkennung – ausreichend befriedigt hat. Maslows Idee der Selbstverwirklichung hat eine ganze Generation beeinflusst und die psychosoziale Kultur der 1960er und 1970er Jahre geprägt. Dieses Streben ist jedoch keineswegs nur eine generationstypische Marotte. Vermutlich spüren die meisten Menschen intuitiv, dass Authentizität ihnen guttut, sie glücklicher und lebenstüchtiger macht. Die Authentizitätsforscher Kernis und Goldman haben folgende Vorteile eines authentischen Lebensstils ermittelt: ฀฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ckeln bessere Strategien, um mit Problemen und Konflikten fertigzuwerden, und suchen entsprechend seltener Zuflucht bei Alkohol und Drogen. ฀฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ was ihnen wiederum ermöglicht, Ziele effizienter zu erreichen. Allerdings muss die Forschung noch erst klären: Sind wir authentisch, weil wir seelisch widerstandsfähig sind, oder werden wir widerstandsfähig, weil wir authentisch sind? PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Wir haben uns daran gewöhnt, dass uns Tag für Tag ein gewisses Maß an Selbstverleugnung abverlangt wird

Nicht alle geben Maslow und seinen Nachfolgern recht. An der Frage, ob es überhaupt so etwas wie ein eigentliches Ich oder ein wahres Selbst gibt, scheiden sich die psychologischen Geister. Ist Authentizität ein unerreichbarer Wunsch, ein Hirngespinst? Erfinden wir gar unsere Authentizität?

Gibt es das wahre Selbst? Der Sozialpsychologe Mark Leary schreibt in seinem Buch The Curse of the Self (Der Fluch des Selbst): „Wir glauben, dass wir ein Kern-Selbst haben, und dem wollen wir entsprechen. Wer das nicht zu schaffen glaubt, leidet wirklich an dieser eingebildeten Unauthentizität.“ Der Musiker, der „unter seinem Niveau“ tingelt, der Grafiker, der sich grämt, weil er nur „oberflächlichen Werbescheiß“ macht, statt seine künstlerische Begabung auszuleben – sie wollen eigentlich ganz andere sein. Auch der Psychologe Roy Baumeister bezweifelt, dass es einen festen Kern unserer Identität gibt. Wir seien ein Bündel aus widerstreitenden Rollen und Verhaltensweisen. Psychologisch ist das wahre Ich schon oft als eine untaugliche Illusion verabschiedet worden, etwa zugunsten eines Patchwork-Selbstes, eines Ensembles von unterschiedlichsten Rollen oder eines mitunter dissonanten Chores von inneren Stimmen. Immerhin konzediert auch Baumeister, dass es so etwas wie Authentizität gebe. Sie bestehe darin, „sich immer wieder bewusstzumachen, dass man im Leben meist mehrere Handlungsmöglichkeiten hat und seine Wahlen bewusst treffen sollte“. Auch wenn man an der Vorstellung eines innersten Selbst festhält, ist es in der Realität oft schwierig, dieses wahre Ich herauszufiltern. Ist es die Rolle als pflichtbewusster Arbeitnehmer und Familienvater oder treusorgende Mutter, oder sind wir uns eigentlich erst dann treu, wenn wir einer aufkei-

menden Abenteuerlust nachgeben und neu anfangen? So vertrackt ist die Sache mit der Authentizität, dass der Psychiater Peter Kramer glaubt, Depressive seien eher sie selbst, wenn sie Antidepressiva nähmen. Erst mit dieser pharmakologischen Nachhilfe könnten sie wieder der Mensch sein, dessen eigentliches Wesen die Depression verdunkelt hat. Die Suche nach dem wahren Ich gestaltet sich auch deshalb schwierig, weil sie von vielen Missverständnissen begleitet wird, etwa dem, dass Echtheit darin bestünde, seinen Emotionen ungeschminkt Ausdruck zu geben und unbegrenzt spontan zu sein. Authentizität besteht jedoch nicht im ehrlichen Gefühlsausbruch oder in unbedingter Offenheit. Sie ist ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ gen und Werte in unterschiedlichsten Situationen. Nur eine Authentizität, die auf Selbstkenntnis gründet, kann die Balan฀฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ schen Diplomatie und Bekenntnisdrang meistern, ohne das wahre Ich dabei zu verraten. Authentizität beweist sich dann, wenn es ans Eingemachte geht, an die Grundüberzeugungen. Das unauthentische Leben wird nicht immer als dramatischer Selbstbetrug erlebt. Viel häufiger erscheint es als schleichende Entfremdung von sich selbst. Es drückt sich dann als vages Unbehagen aus, als gelegentliches Gefühl der inneren Leere. Wir erkennen die eigene Unauthentizität kaum noch, weil wir sie längst für normal halten. Denn wir haben uns daran gewöhnt, dass uns Tag für Tag ein bestimmtes Maß an Selbstverleugnung abverlangt wird: Wir heucheln routiniert Zustimmung („Toller Vorschlag, Chef!“) und machen ohne Zögern Komplimente („Schickes Kleid, Claudia!“). Wir lügen und betrügen nicht direkt, sondern verschweigen einfach die Wahrheit. Und wir schließen jede Menge faule Kompromisse. 17


Wer dagegen allzu sehr auf einem Authentizitätstrip ist, sollte immer wieder abwägen, ob das Authentische in jeder Situation auch das Kluge, das Sinnvolle, das Rücksichtsvolle ist. Oder das schlicht Höfliche. Heute wird das Ungehobelte, das Formlose, das Pampige oft als authentisch verklärt: „Ich bin halt so! Ich kann mich nicht verstellen! Ihr müsst mich nehmen, wie ich bin!“

Ab wann beginnt der Bluff? Doch wollen denn wirklich alle sie selbst sein? Die Konsumgesellschaft zeigt die Tendenz, Authentizität und Selbstsein zu trivialisieren. „Es geht nur noch um die Nachahmung medial verbreiteter Stile, während die Entwicklung substanzieller Lebensziele dahinter zurücktritt und verblasst“, schreibt der kanadische Philosoph Charles Taylor. Und die Marketinggurus James Gilmore und Joseph Pines sehen die Konsumgesellschaft bereits in einer toxischen Zone der Unechtheit: ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ Gewand des Echten. Zumindest widersprüchlich erscheint das Verlangen nach Authentizität in einer Zeit, die höchste Anpassungs-, wenn nicht gar Verstellungskunst hoch schätzt und die mit Second Life, YouTube, Speeddating, Schönheitschirurgie und pharmakologischer Seelenkosmetik ein reichhaltiges Arsenal fürs lustvoll betriebene Ich-kann-auch-ganz-anders zur Verfügung stellt. Der Kick liegt für viele gerade darin, nicht im eigenen Selbst gefangen zu sein, nicht einer Ich-Linie folgen zu müssen, sondern mit vielen Identitäten spielen zu können. Das wahre Leben wird zum Stoff für Facebook, Instagram und andere Foren der Selbstaufführung. Die Virtualisierung des Lebens schreitet voran. Wir präsentieren uns so, wie es entweder unseren Wunschbildern entspricht (in einer Art permanenter Faschingsparty, als Avatar oder als MUD-Figur) oder wie wir gerne gesehen werden wollen. Die Medienwissenschaftlerin Sherry Turkle beschreibt in ihrem Buch Life on the Screen, wie das Internet uns ermöglicht, eine neue Identität, nein: multiple Identitäten zu formen. Heute verwischen wir mehr denn je die Grenzen zwischen Simulation und Wirklichkeit. Das Uneigentliche, das Simulierte beherrscht inzwischen unseren Alltag, ohne dass uns das noch bewusst ist. Sicher, die Realität hat es niemals gegeben. Realität war immer ein Konstrukt. Schon Platons Höhlengleichnis beschreibt eine fundamentale Täuschung über das Wesen der Wirklichkeit: Die Menschen, die in der Höhle festgekettet sind, können nur die Schatten dessen wahrnehmen, was sich draußen wirklich abspielt. Platon würde heute vermutlich einen Bildschirm als Metapher bemühen. Wo das Spiel mit Identitäten nicht freiwillig betrieben wird, gehört das impression management, die Verkaufe in eigener 18

Sache zum Repertoire des aktuellen Sozialcharakters: Optimierung der Fassade, das Abstellen von Fehlern und Defiziten im so wichtigen Eindruck, den man auf andere macht. Auch hierbei ist der Verrat am wahren Selbst eine Sache des Abwägens, des Mehr oder Weniger: Ab wann beginnt die unauthentische Verstellung, der Bluff? Dienen gestylte und geschönte Selbstdarstellungen nicht auch der Akzentuierung und Verdeutlichung des Bildes, das andere sich von uns machen sollen? Auch das Echte muss inszeniert und geschickt präsentiert werden, damit es überhaupt wahrgenommen wird und zur Geltung kommt. Die Akzeptanz von Politikern hängt inzwischen davon ab, als wie authentisch sie wahrgenommen werden. Die ständige Rede von den Typen mit Ecken und Kanten, die es leider, leider nicht mehr gebe, drückt diese Sehnsucht nach glaubwürdigen, authentischen Figuren aus. Da Politiker ohnehin unter dem Generalverdacht stehen, eine Kaste von Tricksern, Schmierenschauspielern und Lügnern zu sein, bemühen sie sich immer verkrampfter, authentisch rüberzukommen. Wenn das nicht klappt, müssen sie sich neu erfinden und diesen Wandel wiederum als glaubwürdige Story verkaufen. So kommt es zu der paradoxen Situation, dass uns heute der authentisch erscheint, der es nicht unbedingt sein will.

Der Polonius-Test: Sei dir treu! Wie kommt man also zu sich? Zum einen durch den sogenannten Polonius-Test (Polonius ist in Shakespeares Hamlet der Vater, der seinem Sohn Laertes eine Reihe von Lebensweisheiten mitgibt, vor allem auch diese: To thine own self be true). Der Test besteht in einem bewussten und rigorosen Abgleich von Innen und Außen: Wer bin ich wirklich? Und was gebe ich vor zu sein? Wie oft und wie weit weicht der Eindruck, den ich machen will, von meinem inneren Selbst ab? Peter Kramer sieht in zeitweisem Rückzug in die Einsamkeit eine ideale Methode, um zu sich selbst zu finden: „Wer sich darum sorgt, nicht authentisch zu sein, sollte die Tür schließen und mit sich allein sein. Eine Zeit der Ruhe ist ein großes Plus für die Selbstfindung.“ Der Philosoph Andreas Luckner schlägt die Methode der Authentifikation vor. Damit ist die Aneignung einer bestimmten Seinsweise gemeint. Sie erst ermöglicht, unter den wählbaren Handlungsoptionen meine Optionen zu bestimmen. Die Authentifikation gibt dem Willen eine Richtung: „Man kommt zu sich, indem man sich immer wieder seine ureigensten Seinsmöglichkeiten vor Augen führt: Das ist es, was mir eigen ist! Alles andere kommt nicht infrage.“ Dieses Zu-sich-Finden ist jedoch kein alltäglicher Prozess. Häufig gelingt er nur in den besonderen Momenten, in denen man sein Dasein als Ganzheit erfährt, wie etwa in der Angst oder in der Liebe. PHc PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


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DAS ICH AUF

LEBENSWANDERSCHAFT Das Leben stellt uns vor ein Dilemma: Einerseits wollen wir unverrückbar wir selbst sein, andererseits wollen wir uns weiterentwickeln, also verändern. Ist das ein Widerspruch? VON WERNER GREVE

W

ir kennen uns selbst besser als jeder andere. Schließlich haben nur wir all das erlebt, was uns ausmacht: unsere Freude, unseren Schmerz, unsere unausgesprochenen Wünsche, Ängste, Hoffnungen. Andere haben davon nur durch uns etwas erfahren können – wenn überhaupt. Jeder andere weiß unendlich viel weniger über mich als ich: Ich weiß, wer ich bin. Wirklich? Wissen wir tatsächlich über uns Bescheid? Ein Jahrhundert voller Psychologie hat uns unsicher werden lassen, unsicher darüber, wie viel andere (Psychologen zum Beispiel) über uns wissen, von dem wir nichts wissen, und unsicher, ob wir überhaupt etwas Verlässliches über uns wissen können: Sigmund Freuds Vermutung, das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus, ist längst

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zum geflügelten Wort geworden. Selbsttäuschungen aller Art, die Neigung, sich selbst im positiven Licht zu sehen, ein sehr selektives Gedächtnis gerade in Bezug auf die eigene Biografie – hundert Indizien sprechen dafür, dass unsere Bildersammlung von uns selbst alles andere als ein vollständiges, realistisches und neutrales Archiv ist. Diese Selbstzweifel haben längst den vermeintlichen Kern erreicht. Das „Selbst“ wird bei näherem Besehen zum Plural: Ich bin nicht ich, ich bin viele. Ich bin viele Ebenen: Wenn ich etwas über mich weiß – und sogar über mich weiß, dass ich etwas über mich weiß –, wer weiß dann dies? Ich bin viele Komponenten: Mein Denken, Fühlen, Handeln wird vielfach unterschiedlich reguliert und ist obendrein nicht immer gut abgestimmt, leider. Wir hören uns Dinge sagen, sehen uns Dinge tun, die wir nicht mögen, wir haben gemischte Gefühle –

wir sind oft uneins mit uns selbst. Ich bin viele Zustände: Das, was ich jetzt gerade über mich denke, wird zu einem erheblichen Teil vom Moment bestimmt. Der amerikanische Sozialpsychologe Kenneth Gergen hat schon in den 1970er Jahren mit einfachen Arrangements Zweifel an der eigenen sexuellen Orientierung wecken können. Bettina Hannover von der Freien Universität Berlin hat in einfallsreichen Experimenten demonstriert, dass zum Beispiel meine Kleidung, selbst wenn ich sie auf Aufforderung und aus konkretem Anlass anziehe, mein Selbstbild beeinflussen kann. Zwar sind viele dieser Einflüsse nur kurzfristig wirksam. Doch auch längerfristig wandeln wir uns erheblich. Mein Selbstbild hat sich über die Jahre in fast allem, was mir einst wichtig war, verändert. Ich liebe anderes, womöglich auch andere als früher, ich weiß nur zu gut, PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


dass ich anders aussehe als vor zwanzig und erst recht als vor vierzig Jahren. Meine Einstellungen, meine Fähigkeiten, meine Neigungen, die ganze Person, in der ich wohne, ist so oft umgebaut worden, hat so viele Ersatzteile eingebaut, dass es schwer wird, noch Originalteile zu finden. Das gilt sogar für meine Körperzellen, und auch meine Gene sind natürlich allesamt Kopien, mehr oder weniger genaue, des Originals, mit dem ich begann.

Ist das Ich ein leerer Platzhalter? Nun könnte man diese unglaubliche Plastizität – von meinen Einstellungen bis zu meinen Neuronen – erfreut begrüßen: Sie macht uns anpassungsfähig. Aber sie ist zugleich beunruhigend, manchmal geradezu verstörend: Wenn sich alles an mir und in mir ändern kann, ja tatsächlich geändert hat, von Jahr zu

Jahr, von Minute zu Minute, ist dann meine innere Gewissheit, dies alles habe sich an mir geändert, einfach nur eine grammatische Illusion? Ist „ich“ am Ende nicht mehr als der leere Platzhalter des sprachlichen Subjektes von Sätzen, die sich auf ein in permanentem Wandel begriffenes, äußerst dynamisches, geradezu flüchtiges System beziehen? Bin ich „niemand“, wie der Philosoph Thomas Metzinger es ausdrückte? Wenn das so wäre – woher kommt dann aber die unglaublich starke Gewissheit, dass ich es bin, der sich entwickelt hat, dass ich, bei allem Wandel, derselbe bin wie das Schulkind, das mich auf dem verblichenen Foto schüchtern anlächelt, derselbe bin wie der, der vor bald 30 Jahren geheiratet hat? Mag sein, dass ich meinen heutigen Freunden in vieler Hinsicht ähnlicher bin als dem Teenager, als der ich Ende der 1970er Jahre anfing, Psychologie zu studieren

– aber in wesentlicher Hinsicht habe ich mit diesem Teenager unendlich mehr gemeinsam, als ich mit meinen besten Freunden je teilen kann. Denn sie sind immer – jemand anderer. Ich aber bin immer ich, was immer sich an und in mir ändern mag. Doch woher kommt, worauf stützt sich diese Identität? Immerhin: Wir haben ein starkes Gefühl von Kontinuität, das Selbst ist offenbar ziemlich stabil. Diese Stabilität ist die Geschäftsgrundlage einer der erfolgreichsten psychologischen Disziplinen: der Persönlichkeitspsychologie. Jedenfalls im Erwachsenenalter ist unser Verhalten alles in allem so stabil, dass man überdauernde Persönlichkeitseigenschaften wie etwa „introvertiert“ oder „verträglich“ erkennen kann. Sie ermöglichen Vorhersagen, wie sich ein Mensch in zukünftigen Situationen verhalten und wie er empfinden wird. Diese Vorhersagen gelingen 21


nicht nur relativ gut, sondern immer besser, je älter wir sind: Mit den Jahren wird unser Selbst immer resistenter gegen Veränderungen. Das scheint doch dafür zu sprechen, dass es einen Grundbestand von Persönlichkeitseigenschaften wie etwa die berühmten Big Five (siehe Seite 40) gibt, der dafür sorgt, dass wir über das Leben hinweg relativ stabil und mit uns identisch bleiben. Aber warum ist das so? Es gibt verschiedene Versuche, die Frage nach dem Warum zu beantworten. In den letzten beiden Jahrzehnten ist die Idee, die Gene könnten ein wichtiger Teil dieser Erklärung sein, besonders prominent geworden. Jedoch liefern Gene keine befriedigende Erklärung für das, was wir tun, aus vielen Gründen. Zum Beispiel findet man eine überraschend große Variationsbreite des „Phänotyps“ (also dessen, was man sieht) bei demselben „Genotyp“ (dem individuellen Genprofil). Ob Gene überhaupt aktiviert werden und welche Folgen sie haben, hängt in hohem Maße von der Umwelt ab. Die junge Disziplin, die sich damit seit einiger Zeit beschäftigt, nennt sich Epigenetik.

Stabilität gefällt uns Natürlich sind die Gene nicht gleichgültig für unsere Existenz. Hätten wir andere Gene, wären wir alle Frösche geworden oder Kühe oder Bakterien. (Kurioserweise haben wir tatsächlich überraschend viele Gene mit Kühen gemeinsam, mehr als ein Drittel sogar mit Tomaten.) Kurz: Irgendeine Rolle spielen Gene gewiss, aber sie sind keine Blaupause unserer Persönlichkeit. „Angeboren“ sind Eigenschaften fast nie – sie müssen sich entwickeln. Vier Wochen alte Babys sind noch nicht „hilfsbereit“, „ordentlich“ oder „musikalisch“. Vielleicht hilft ein Blick aus ganz anderer Perspektive: Stabilität gefällt uns, wir brauchen sie, wir wollen sie. Je mehr wir unser Leben selbst bestimmen können, je mehr wir unsere Wohnung, unsere Beziehungen, unsere Tätigkeiten 22

Je mehr wir unser Leben selbst bestimmen, desto seltener ändern wir es

selbst wählen dürfen, desto seltener ändern wir es. Je älter wir werden, desto seltener ziehen wir um – wenn wir nicht müssen. Sind wir erst im selbstgewählten Leben angekommen, gibt es ja auch (meistens) keinen Grund mehr, etwas zu ändern. Dass unsere Persönlichkeit mit fortschreitendem Alter immer stabiler wird, könnte also einfach Ausdruck davon sein, dass unser Wunsch nach Stabilität immer effektiver realisiert wird. Doch wie gelingt es uns, uns in sich wandelnden Umwelten und als sich lebenslang verändernde Lebewesen relativ stabil zu verhalten und uns selbst als stabil zu erleben – und dabei doch immer wieder an neue Herausforderungen angepasst zu handeln? Wie also kommt diese Stabilität zustande? Eine klassische Antwort, seit Anna Freud, ist die Idee von Abwehrmechanismen: Wir wehren Informationen ab, die uns zwingen könnten, unsere Veränderungen, Verluste oder andere unliebsame Seiten von uns ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Eine schier unüberschaubare Menge solcher Mechanismen ist inzwischen gut untersucht und belegt: Wir schreiben Erfolge uns

selbst, Misserfolge aber den Umständen zu, wir präsentieren uns in günstigem Licht, wir vergessen Misserfolge leichter als Erfolge, wir glauben realistische Rückmeldungen, aber wir lieben schmeichelhafte – die Vielfalt defensiver Prozesse ist eindrucksvoll. Doch sie haben Kosten: An irgendeinem Punkt verkennen sie Realitäten, die zur Kenntnis zu nehmen mitunter wichtig sein könnte. Wir müssen uns selbst, gerade unsere Grenzen und Schwächen vielleicht nicht so genau wie möglich, aber doch so genau wie nötig kennen, wenn unsere Pläne und Handlungen nicht dauernd scheitern sollen. Also brauchen wir auch Mechanismen, die uns stabilisieren, dabei aber die Wirklichkeit nicht verleugnen. Wie könnten sie beschaffen sein? Ein Beispiel ist die „Selbstimmunisierung“. Wenn ich überzeugt bin, ein gutes Gedächtnis zu haben, und mir mein gutes Gedächtnis auch wichtig ist, wenn ich aber mit zunehmendem Alter häufiger feststellen muss, einzelne Dinge nicht mehr zuverlässig zu erinnern (Einkaufslisten, Namen von Personen, wichtige Termine), kann ich meine Überzeugung dadurch aufrechterhalten, dass ich „gutes Gedächtnis“ über solche Fertigkeiten definiere, die ich noch gut kann – zum Beispiel Gedichte erinnern, die ich in der Schulzeit auswendig lernen musste, oder Details in meinem Hobby, die ich gut verfügbar habe: „Dies alles kann ich ja einwandfrei – also habe ich ein gutes Gedächtnis! Für Einkaufslisten gibt es ja Zettel, damit belaste ich mein Gedächtnis doch gar nicht!“ Doch dieses Manöver ist nicht unbegrenzt auszudehnen. Solange ich nur Posten auf dem mentalen Einkaufszettel vergesse, mag es noch angehen. Aber wenn das Vergessen auch wichtigere Dinge betrifft („Wollen Sie etwas Unvergessliches tun? Vergessen Sie Ihren Hochzeitstag!“), dann ist die Grenze der Selbstimmunisierung erreicht. Wie kann ich die Gewissheit, ich sei in wesentliPS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


chen Punkten noch ich selbst, auch dann aufrechterhalten, wenn mein Gedächtnis, das mir immer so wichtig war, ernstlich nachzulassen beginnt? „Nun, vielleicht ist es gar nicht so wichtig, wie ich immer dachte. Wenn ich es recht bedenke, ist doch wirklich wichtig, dass ich ein freundlicher, unterstützender Mensch bin, das macht mich wesentlich aus – hat es doch eigentlich immer schon, nicht wahr?“ Dieser Abwehrmechanismus gegen Bedrohungen der Identität besteht darin, dass man selbstbezogene Überzeugungen etwas anders gewichtet als zuvor. Jochen Brandtstädter von der Universität Trier konnte zeigen, dass dieser Anpassungsprozess besonders dann einsetzt, wenn wir an einer für unser Selbstverständnis bedrohlichen Entwicklung nichts ändern können. Die dann notgedrungen vorgenommene Neubewertung des Selbst trägt nicht nur zur Zufriedenheit und Lebensqualität bei, sondern eben auch zu dem Gefühl, man sei noch der, der man immer war. So kann ich auf Veränderungen, auch in für mich ursprünglich wichtigen Bereichen, angemessen reagieren, ohne meine Identität grundsätzlich infrage stellen zu müssen.

Alles fließt – nicht nur der Rhein „Das Selbst“ ist also keine stabile Größe, nicht der unveränderliche Kern unserer Person, nicht die „Substanz“ unserer Identität. Es verändert sich vielmehr immer wieder, um sich den lebenslangen Veränderungen von uns und unserer Umwelt anzupassen, damit wir handlungsfähig bleiben. Gleichzeitig aber passen wir unsere Überzeugungen über uns selbst und deren Wertigkeit permanent an: Das, was ich gut kann, ist wichtig, das, was ich weniger gut kann, ist weniger wichtig. Die Rede von „Selbsterfahrung“ oder von „Selbstbewusstsein“ ist dann nicht der buchstäbliche Blick nach innen, auf einen bestimmten „Gegenstand“ (unser Selbst), sondern

eine Metapher für einen höchst komplexen permanenten Konstruktionsprozess, der Kontinuität herstellt. Immerhin: Auch dies ist eine Selbsterkenntnis. Heraklits oft zitiertes Diktum „Alles fließt“ passt hier, in Bezug auf das Selbst, besonders gut – wir sind immer „in Arbeit“, immer in Bewegung. Aber daraus den Schluss zu ziehen, es gebe kein Selbst, wir seien also „niemand“, ein flüchtiges Geschehen, immer nur Prozess, niemals Produkt, ist irreführend. Der Rhein, an dessen Ufer wir stehen, ist natürlich, nähme man es physikalisch, nicht mehr derselbe Rhein wie gestern oder morgen: Das Wasser ist ein anderes, sein Bett hat sich (ein wenig) verändert, seine Temperatur – alles eben. Wenn man mehr als ein paar Tage Differenz betrachtet, ein halbes Jahrhundert zum Beispiel, hat er sich völlig verändert, ist ein „ganz anderer“ geworden. Gewiss. Aber es ist natürlich dennoch derselbe Rhein: Er war nie und wird nie die Mosel oder der Main sein, auch nicht die Donau, vom Nil ganz zu schweigen. Identität ist nicht unbedingt eine physikalische Identität, auch keine Summe von Teilen. Tatsächlich kommt es auf die Teile kaum an, beim Rhein nicht und auch nicht bei uns. Das Zusammenspiel ist das Wesentliche, nicht die Teile, die da zusammenspielen. Bei allem Wandel ändert sich die Struktur dessen, was wir als die Person anzusehen jedes Recht haben, nicht wesentlich, und zu dieser Struktur gehört auch, in einen Kontext eingebettet zu sein. So sind, näher besehen, Kontinuität und Wandel keine Gegensätze, sondern komplementäre Perspektiven. Wir sind wir, nicht obwohl, sondern weil wir uns dauernd verändern und anpassen. Könnten wir das nicht, wären wir gar nicht mehr, also auch nicht mehr wir. PHc

Keep calm and read Gulder!

Sie steht mitten im Leben, aber fühlt sich ständig ausgepowert, gestresst und im falschen Film. Oktopusgleich versucht die souveräne Frau von heute möglichst alle Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten: »Und – hey! – wenn acht gehen, dann gehen auch zehn! Ach warte – geht ja doch nicht …« Crash, boom, bang! Angelika Gulder kennt diese Fälle aus ihrer Coachingpraxis nur zu gut. Damit es erst gar nicht zu dieser konstanten Selbstüberforderung kommt, hat sie das SeelenruhigSelbstcoaching-Programm entwickelt. Mit 21 Inspirationen, die uns im täglichen Chaos die Ruhe bewahren lassen. Ob Job, Leben oder persönliche Entwicklung: In der Ruhe liegt Ihre Kraft! 2017. 160 Seiten. Durchgehend farbig illustriert von Rita Berman. ISBN 978-3-593-50663-0 € 17,95. Auch als E-Book erhältlich

Werner Greve ist Psychologieprofessor an der Universität Hildesheim. Seine Fachgebiete sind die Entwicklungs- und die Kriminalpsychologie.

campus.de

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IDENTITÄT IST

EHER WERDEN ALS SEIN

Die Ich-Entwicklung: ein Balanceakt zwischen Identifikation und Abgrenzung V O N PA U L V E R H A E G H E

G

nothi seauton, „Erkenne dich selbst“: Dieses Motto zierte den Apollotempel in Delphi, den Sitz der Orakelpriesterin Pythia. Seit Delphi sind wir ununterbrochen auf der Suche nach unserem eigentlichen Ich. Die Priesterinnen und Propheten von einst wurden von Psychologen und in jüngster Zeit von Hirnforschern ab24

gelöst – aber auch deren Antworten stellen uns nie zufrieden. Die Suche offenbart ein merkwürdiges Paradox: Einerseits sind wir davon überzeugt, dass unser „Ich“ schon immer existiert hat und immer weiter existieren wird, gleichzeitig aber konsultieren wir andere, vorzugsweise Experten, um von ihnen zu erfahren, wer sich „wirklich“ hinter unserem Ich verbirgt. Die Annahme, dass wir ein unveränderliches Ich haben, ist höchst fragwürdig, und dass wir deshalb bei der Suche nach unserem Ich jemanden um Hilfe bitten, mehr als plausibel. Unsere Identität ist kein tief in uns verborgener gleichbleibender Kern. Im Gegenteil, Identität ist eine Ansammlung von Vor-

stellungen, die die Außenwelt uns auf den Leib geschneidert hat. Identität ist eine Konstruktion, und der Beweis dafür findet sich in einem Phänomen, das gewissermaßen als wissenschaftliches Experiment aufgefasst werden kann: der Adoption. Holt man ein indisches Baby aus seiner Heimat Rajasthan und lässt es in Gent oder Amsterdam aufwachsen, nimmt es eine Genter oder Amsterdamer Identität an. Wäre dasselbe kleine Mädchen von französischen Eltern in Paris adoptiert worden, hätte es sich zu einer Pariserin entwickelt. Würde sie später als Erwachsene nach ihren sogenannten Wurzeln suchen, würde sie eine herbe Enttäuschung erleben: Diese PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Wurzeln existieren nicht, und womöglich fühlt sie sich in ihrem Geburtsland noch fremder als eine beliebige andere Frau aus Gent oder Amsterdam. Identität ist stärker mit dem Werden verbunden als mit dem Sein, und dieses Werden beginnt schon bei unserer Geburt, denn mit ihr setzt ein bemerkenswerter Prozess ein, der weltweit zu beobachten ist und genetische Gründe haben muss. Früher bezeichnete man ihn als Identifikation, seit der Entdeckung der Spiegelneuronen spricht man von mirroring, Spiegelung. Die Anfangsphasen dieses Prozesses kann man förmlich sehen: Das Baby weint (die Windel ist voll), wie von Zauberhand erscheint die Mama in seinem Blickfeld, gibt besänftigende Laute von sich und artikuliert mehrmals übertrieben deutlich: „Na, brauchst du eine frische Windel?“, begleitet vom entsprechenden Mienenspiel. Die Bedeutung dieser einfachen, in hunderterlei Varianten wiederholten Interaktion ist enorm. Wir lernen, was wir fühlen, und in weiterem Sinn, wer wir sind, weil der andere es uns zeigt. Zudem entwickelt sich daraus die persönliche Vorstellung, dass ein anderer sich unserer Probleme annehmen wird – so war es doch irgendwann einmal?

Foto: Armin Staudt-Berlin / photocase.de

Zugehörigkeit und Trennungsangst Erwachsenwerden heißt unter anderem, sich von dieser Vorstellung zu lösen; bei akutem Schmerz rufen wir jedoch immer noch spontan nach der Mutter. Unsere älteste Angst ist nicht von ungefähr die Trennungsangst, die Angst also, dass der andere uns im Stich lassen könnte, während die älteste Strafe darin besteht, ausgeschlossen zu werden, ausgestoßen zu werden aus der Gruppe, in die Ecke gestellt, mit dem Rücken zu den anderen – der pädagogische Vorläufer der Verbannung. Bei den Botschaften, die zwischen Eltern und Kindern ausgetauscht werden, geht es inhaltlich recht bald um mehr als

nur um Hunger und nasse Windeln. Schon im frühkindlichen Alter bekommen wir ständig zu hören, was wir fühlen, warum wir dies so empfinden und wie wir damit umgehen sollen. Wir hören, dass wir brav sind oder ungezogen, hübsch oder hässlich, genauso dickköpfig wie die Großmutter, so klug wie der Vater. Gleichzeitig erhalten wir Botschaften, die uns vermitteln, wie wir mit unserem Körper und dem der anderen umzugehen haben: „Sitz endlich still!“ „Geh draußen spielen!“ „Lass deinen Bruder in Ruhe!“ „Nein, du lässt dir kein Piercing stechen, und für Sex bist du noch viel zu jung!“ Dies alles führt zur Definition des Menschen, der wir sind, der wir sein sollen und der wir nicht sein dürfen.

Abgrenzung und Autonomie Diese Beschreibung unserer Identitätsentwicklung klingt so einfach wie unglaubwürdig. Bliebe dieser Prozess darauf beschränkt, würden wir alle zu dem, was uns die Umwelt vorgibt, und hätten keine Möglichkeit, unsere Entwicklung zu beeinflussen. Dem ist natürlich nicht so – unsere Identität ist immer ein Spannungsfeld zwischen zwei Polen, nämlich der Übereinstimmung mit dem anderen und der Abgrenzung vom anderen, und zwar von Anfang an. Neben dem ersten Prozess der Identifikation oder Spiegelung samt ihren Begleiterscheinungen spielt sich noch ein weiterer Prozess ab, der durch das Streben nach Autonomie, also die Trennung vom anderen, die Separation gekennzeichnet ist. Im ersten Fall übernehmen wir die Botschaften des anderen, sowohl die positiven („Wie geduldig du bist!“) als auch die negativen („Wie langsam du bist!“), sodass sie Teil unserer Identität werden. Im zweiten Fall haben wir es mit dem Wunsch nach Abgrenzung oder der völligen Ablehnung dieser Botschaft zu tun, häufig begleitet von heftigen Protesten. Der andersgeartete Charakter dieses zweiten Prozesses findet seinen

Ausdruck in der für ihn typischen Angst: Der andere ist uns schon viel zu nahe auf den Leib gerückt, ja, er scheint beinahe in unsere Haut zu schlüpfen und sozusagen an unsere Stelle treten zu wollen. Diese Angst nennen wir Intrusionsangst – Intrusion bedeutet „eindringen“ –, die gleichzeitig das Gegenstück zur ursprünglichen Trennungsangst bildet, als wir dem anderen so nahe wie möglich sein wollten. Die Abgrenzung und das damit verbundene Streben nach Autonomie sind für unsere Identität genauso wichtig wie die Identifikation, weil wir mithilfe dieser Distanz und bestimmter Entscheidungen in Bezug auf die Gestalt unseres „Ichs“ unverwechselbar werden. Dies beginnt schon in frühester Kindheit. Alle Eltern kennen die sogenannte Trotzphase („Ich will nicht!“), in der das Kind nicht zufällig etwa zur selben Zeit zwei neue Wörter entdeckt: nein und ich. Während der Pubertät lodert diese Trotzphase noch einmal mit voller hormoneller Wucht auf, diesmal begleitet von der Illusion der Unabhängigkeit („Ich entscheide selbst!“), obwohl der Protest des Jugendlichen lediglich darauf hinausläuft, sich für alternative Inhalte, also für eine andere Identifikation zu entscheiden. Identität ist stets das vorübergehende Resultat der Wechselwirkung zwischen Übereinstimmung und Abgrenzung. Wir wollen zum großen Ganzen gehören, aber gleichzeitig unabhängig sein. PHc

Paul Verhaeghe ist Psychoanalytiker und Professor an der Universität Gent. Dieser Text ist ein Auszug aus seinem Buch Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft (Kunstmann, München 2013).

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„Ist das noch der alte Adam?“ In unserer sich schnell verändernden Zeit ist es eine große Herausforderung, mit sich identisch zu bleiben. Ein Gespräch mit der Psychologin Eva Jaeggi

Neulich habe ich geträumt, ich verreise und mein Koffer kommt nicht an. Steckt dahinter die Angst, fern der Heimat ein Stück meiner Identität zu verlieren? Nun, Träume haben für mich als Psychoanalytikerin nie eine allen Menschen gemeinsame Bedeutung, es kommt dabei immer auf die privaten Assoziationen des Träumers an. Es könnte sich aber auch um einen Traum von verlorener Heimatidentität handeln. In einer Zeit großer räumlicher Mobilität haben viele Menschen wenig Heimatgefühl und sind im Laufe ihres Lebens oft in mehreren Heimaten zu Hause. Identität, was ist das eigentlich? Sehr vage formuliert: Es ist das Gefühl, das ein Mensch für seine Besonderheiten hat. Das wichtigste Merkmal ist seine Dynamik. Identität ist ein Prozess, der sich aus vielen Facetten zusammensetzt und sich im Laufe eines Lebens immer wieder verändert. Man muss sich diese Veränderung natürlich nicht so vorstellen, als würde man ein gänzlich anderer und neuer Mensch. Es gibt diesbezüglich 26

zwei Seiten, die sich dabei durchkreuzen. Die eine Seite sagt: Ich bin doch letztlich immer noch der, der ich war. Die andere sagt: War ich das wirklich, damals vor 20 oder 30 Jahren? Und es gelingt wohl niemandem, der sich selbst gegenüber ehrlich ist, eine endgültige Antwort zu finden. Es bleibt – bei aller Einsicht und wie sehr man sich auch gewandelt hat – das vorherrschende Gefühl, man sei letztlich stets dieselbe Person geblieben. Wie man diese dann beschreibt, das verändert sich. Gibt es weitere charakteristische Grundzüge? Identität bildet sich im sozialen Umfeld. Von Geburt an wird ein Mensch von anderen als jemand gesehen, der so oder so ist, zum Beispiel niedlich, klug oder trotzig. Es liegt in der Natur der Sprache, dass situative Zustände, in die ein Mensch hineinwächst oder hineingerät, sich oft verselbständigen – so wird ein kleines Mädchen, das sich widerborstig auf den Boden schmeißt, weil es das grüne T-Shirt nicht anziehen will, eben kleiner Trotzkopf genannt. Solche Bezeichnungen sind dann PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


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auch wichtige Bestandteile der Art und Weise, wie wir uns selbst sehen. Da wir im Laufe unseres Lebens mit sehr unterschiedlichen Menschen konfrontiert sind, ändert sich auch das Bild, das wir von uns selbst haben – und das alles trotz des Gefühls, dass wir bei all den Veränderungen auch die Gleichen geblieben sind. Wann beginnt eigentlich das Bewusstwerden der eigenen Persönlichkeit? Die Kindheit spielt von Anfang an eine wichtige Rolle bei der Identitätsbildung. Wir empfinden uns zu Beginn unseres Lebens jedoch vor allem als ein Wesen, das in den Augen der wichtigsten Bezugspersonen gespiegelt wird. Von daher empfangen wir Botschaften darüber, wer wir sind. Aber gleichzeitig – das haben Säuglingsforscher beobachtet – entsteht bereits beim kleinsten Menschenwesen ein verschwommenes Gefühl dafür, dass es etwas Eigenes ist, etwas, das sich auch irgendwie wehren kann gegen das andere. Also, wie wir Psychologen sagen, dass es selbstwirksam sein kann. Das ist dann der Kern

dessen, was wir auch als Erwachsene in der Selbstreflexion empfinden: Ich bin anders als die anderen. Wie sehr können Alter und Krankheiten, aber auch Liebe, Orts-, Berufswechsel das Gefühl für sich selbst verändern? Natürlich sind all diese Erfahrungen bestimmend für unsere Identität, manchmal kann das Gefühl entstehen, man sei durch bestimmte Ereignisse ein ganz neuer Mensch geworden. Es kann aber auch geschehen, dass sich der Prozess dann wieder umkehrt und man spürt, dass es doch noch der „alte Adam“ ist, der sich bemerkbar macht. Es ist übrigens persönlichkeitsspezifisch, ob ein solcher Prozess sich schnell oder langsam vollzieht. Bei Konversionen aller Art lassen sich diese Prozesse besonders gut beobachten. Der Konversion, etwa zu einer anderen Religion, geht oft ein Weg der Irrungen und Unklarheit voraus, bis dann eine Art Damaskuserlebnis eintritt. Können Sie das näher erläutern? Das Damaskuserlebnis ist ein Schlüsselerlebnis, das zu einer einschneidenden Selbsterkenntnis führt, dazu, dass ein Mensch 27


In unserer Zeit wird eine große Flexibilität verlangt. Brüche sind ein Kennzeichen moderner Identität

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dann von sich sagt, er sei neu geboren, er sei ganz anders, und die alte Identität ist sozusagen ausgelöscht. Der Name leitet sich aus einer Episode in der Bibel ab: Auf einer Reise nach Damaskus wandelt sich der Christenverfolger Saulus zum bekehrten Christen Paulus. Interessanterweise ist bei solch bekehrten Menschen oftmals später ein neuer radikaler Identitätswechsel möglich: Man kann vom linken Terroristen zum Rechtsausleger werden. Der Identitätsbruch gehört dann zur Identität dazu. In unserer heutigen Zeit wird eine große Flexibilität verlangt – und von der Flexibilität bis zu einem radikalen Wechsel des Identitätsgefühls ist es oft nur ein kleiner Schritt. Diese Art von Identitätsbruch als Kennzeichen moderner Identität wurde schon vor vielen Jahren festgestellt. Das hängt mit unserer mobilen Lebensform zusammen, wir sind im Laufe unseres Lebens an viel mehr Orten, treffen viel mehr Menschen und sind stärker verändernden sozialen Situationen ausgesetzt als früher. Ist das der Grund, warum Soziologen und Psychologen sich mehr denn je mit dem Wandel von Identitäten auseinandersetzen? Sicherlich. Dazu kommt, dass durch die Entwicklung der Psychologie und Psychotherapie als Wissenschaft viel mehr Menschen über sich selbst nachdenken, als es in vormodernen Zeiten möglich war. Selbstreflexionen sind in der sich schnell verändernden Zeit für viele Menschen wichtig geworden, denn man muss über sich selbst Klarheit haben, wenn man der Dynamik um einen herum gewachsen sein will. Nehmen wir die Berufswahl: In traditionellen Zeiten wusste man ungefähr, was man konnte und tun sollte, nämlich das, was auch die Vorfahren getan hatten. Heute ist dieses Modell der Berufsübernahme in westlichen Gesellschaften selten zu finden. So muss man genau überlegen und sich eventuell von Fachleuten beraten lassen, um herauszufinden, was man eigentlich will. Noch komplizierter ist es bei der Wahl des Partners. Auch hier hat die Gesellschaft kaum Vorgaben parat, und es bleiben Fragen, die persönlich oft nicht leicht zu beantworten sind: Wer passt wirklich zu mir? Oder: Bin ich bereit, bestimmte Verpflichtungen und Kompromisse einzugehen? Es heißt, dass es gut sei, sich heutzutage vielseitig auszuprobieren. Kann das nicht auch zu Unsicherheiten führen? In einer mobilen Gesellschaft wie der unsrigen ist es notwendig, verschiedene Lebensformen kennenzulernen, unterschiedliche Berufswelten und andere Milieus zu erfassen, um somit verschiedene Perspektiven einnehmen zu können. Es wird mehr denn je verlangt, dass man flexibel und vielseitig einsetzbar ist. Auch der Arbeitsmarkt erfordert das in vielen Sparten. Dies alles ist nicht immer leicht zu verkraften. Einerseits führt für manch einen eine ständige Veränderung zu psychischen Belastungen, die Angststörungen und Depressionen zur Folge haben können. Andererseits ist eine Vielfalt von PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Erfahrungen aber auch Voraussetzung für Toleranz und ein tiefes Verstehen anderer Menschen aus anderen Kulturen und Herkunftsländern. Gegenwärtig scheint ein solches Verstehen nötiger denn je. Hierbei für sich das richtige Maß zu finden erfordert ebenfalls eine umfassende Selbstreflexion. Das ist, was ich als Identitätserkundung bezeichne. Welche Auswirkung hat die permanente digitale Vernetzung auf die Persönlichkeit? Es gibt einige Auswüchse der digitalen Medien, die vor allem für Heranwachsende schädlich sein können. Besonders wenn sie sich aus der analogen Welt herauskatapultieren, weil sie mit den anstehenden Problemen des Erwachsenwerdens nicht zurechtkommen. Das kann gefährlich sein für die psychische Gesundheit. Da die digitalen Medien eine neue Lebensweise geschaffen haben, die aus unserer Welt wohl nicht mehr verschwinden wird, muss der Umgang damit erlernt werden, und es muss eine Anleitung zum richtigen Gebrauch bereits in der Schule geben. Aber auch wenn man vernünftig damit umgeht – natürlich verändert sich dadurch das Erleben der Welt, verändert sich der Umgang miteinander. Immer erreichbar zu sein, immer schnell an Informationen heranzukommen, das ist Segen und Fluch zugleich. Zum einen ist das schnelle Googeln in vielen Fällen hilfreich und zeitsparend. Es ist aber auch eine Verführung zur Oberflächlichkeit. Dies gilt vor allem für jene Bereiche, die man sich reflektierend und interpretierend aneignen muss, um bereichert zu werden: Soziologische Thesen, psychoanalytische Konstrukte, philosophische Kernsätze zum Beispiel kann man eben nicht schnell mal in Lexikonwissen umwandeln. Bei klaren Fakten, die sich in Zahlen und nachprüfbaren Daten darstellen lassen, mag das anders sein, da lässt sich von Google sicher viel lernen. Doch da, wo reflektierend Stellung bezogen werden muss, können die digital aufgestöberten und rasch angeeigneten Informationen das Denken verflachen. Es ist deshalb Aufgabe der Erzieher, jungen Leuten beizubringen, wie man Wissensmaschinen verwendet, damit sie zur Reifung der Persönlichkeit beitragen, denn auch bestimmte Wissensformen und Einstellungen zu geistigen Produkten gehören zum Identitätserleben. Welchen Einfluss hat dies auf den Umgang miteinander? Es kann bedrohlich werden, wenn man aus dem sozialen Kontext nie aussteigt und sein Leben auf Dauerkommunikation einrichtet. Studenten haben mir berichtet, dass sie kein Seminar durchhalten könnten, ohne vier- bis fünfmal auf ihr Smartphone zu schauen, ob neue Botschaften angekommen sind, worauf sie dann meist auch gleich antworten. Natürlich hat es immer schon unaufmerksame Studenten gegeben, die in der Vorlesung abschweifen, weil sie zum Beispiel einen Liebesbrief schreiben. Dabei sind dann aber Nebenhand-

lungen zu Haupthandlungen geworden, das ist etwas anderes. Bei dieser dauernden Bereitschaft zur Kommunikation gibt es zwei voneinander zu unterscheidende psychische Erregungspotenziale. Zum einen wartet man immer auf „Erfolge“, eben auf Likes, oder befürchtet Misserfolge, nämlich wenn diese ausbleiben. Zum anderen aber, und das scheint mir noch folgenreicher, lebt man sein Leben in Dauerreflexion: Im stetigen Vorhaben, alles allen mitteilen zu wollen, wird schon während des Erlebens die Situation sprachlich formuliert. Dadurch verändern sich das Erleben und die Tätigkeit selbst. Auch das hat es immer schon gegeben, wer kennt das nicht, wenn man verliebt ist, „spricht“ man innerlich auch die ganze Zeit mit dem anderen, weil es eine tiefe Verbundenheit gibt. Doch sind dies Ausnahmezustände. Anders verhält sich das bei der Dauerkommunikation durch Facebook, da wird eine Dauererregung geschaffen, die unmittelbares Erleben gar nicht mehr richtig zulässt. Alles wird schnell zur Kommunikation aufbereitet, und das Einsinken in die Situation, in das Erleben, das zu Einsichten und Erfahrungen werden kann, wird sogar völlig gestoppt. Auch das hat etwas mit Identitätsbildung zu tun: Ich bin, was ich poste. Manch einer stellt sich in späteren Jahren die Frage: War ich eigentlich die Person, die ich hätte sein können? Hätte ich nicht mehr aus mir machen können? Identität besteht nicht nur aus dem, was man tatsächlich ist und tut und erlebt, sie besteht auch aus Möglichkeiten, fantasierten Begabungen, Handlungen und Lebensentwürfen. Je stärker sich diese Fantasien vom real gelebten Leben entfernen, desto eher wird jemand sagen, er hätte ganz anders leben können. Solche Träume gehören zur Identitätsbildung dazu. Was aber unter dem Strich zählt, ist die Verwirklichung. Begleiten die Fantasien ständig einen Menschen, dann beeinflusst das natürlich auch sein Erleben, dann wird er sich als jemand empfinden, der vielleicht am eigentlichen Leben und seinen Bestimmungen „vorbeigelebt“ hat – aber auch das ist dann schließlich eine Facette seiner Identität. Interview: Birgit Weidt

Eva Jaeggi ist Professorin für klinische Psychologie an der TU Berlin i. P., Verhaltenstherapeutin und Psychoanalytikerin, Supervisorin und Buchautorin. Zuletzt erschienen: Wer bin ich? Frag doch die anderen! Wie Identität entsteht und wie sie sich verändert. Huber, Bern 2014 Liebe und andere Wagnisse. Über das Leben in Beziehungen. Fischer & Gann, Munderfing 2016

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ICH! GROSSARTIG! Schon immer neigten Menschen dazu, sich in Szene zu setzen. Doch nie war Selbstdarstellung so allgegenwärtig wie im Zeitalter von Facebook & Co VON SILKE PFERSDORF

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isa in der U-Bahn, in einem teuren Versace-Mini in der Umkleidekabine, gedankenverloren am Strand. Die Freunde der 22-jährigen Hamburger BWL-Studentin wissen immer, was sie gerade tut, wo sie war, wohin sie will. Sie postet weltmännisch „Off to New York“, wenn sie in den Urlaub fliegt. Macht einen Schnappschuss von sich selbst, ein Selfie, von ihren sandigen Zehen in irgendeinem angesagten Beachclub oder einen mit Flüchtlingskindern, denen sie ein paar Spielzeuge vorbeigebracht hat. 87-mal Daumen hoch, 87 „Likes“ also heimste sie von ihren 542 Freunden für ihr letztes Bild ein. Außerdem jede Menge Komplimente wie „Du siehst so süß aus!“ oder „Bist meine Heldin!“. Natürlich postet Lisa nur bildschöne Selbstporträts, die sie notfalls per Photoshop noch schöner macht; natürlich überlegt sie sich genau, was sie postet. „Macht doch jeder so“, sagt Lisa. Und natürlich hat sie recht. 67 Prozent aller deutschen Internetnutzer sind laut einer Bitkom-Studie in sozialen Netzwerken aktiv – laut IpsosUmfrage im Durchschnitt 2,4 Stunden täglich. Die meisten haben eine eigene Seite mit Profilfoto, posten Links, Likes und ein Stück ihres Lebens – den Teil, den die anderen von ihnen sehen sollen, versteht sich. Sorgfältig wird da am eigenen Image herumgezupft, schadhafte Stellen werden ausgebessert, Schatten überschminkt: die hohe Kunst der Selbstdarstellung. Keine Generation war je narzisstischer als die der heutigen Hauptnutzer von Facebook, ist Psychologieprofessorin Jean Twenge von der San Diego State University überzeugt. Sie glaubt auch: Facebook macht alles noch schlimmer. Na gut, die Menschheit neigte noch nie zu Bescheidenheit, das gockelhafte Federspreizen liegt ihr im Blut: „Alle Menschen definieren sich in ihrem

Selbstbewusstsein auch darüber, wie sie vom anderen wahrgenommen werden“, bestätigt Uwe Hasebrink, Direktor des Instituts für Medienforschung am HansBredow-Institut der Universität Hamburg. Auch ein gewisser Hang zur Überheblichkeit und Selbstüberschätzung ist uns in die Wiege gelegt, weiß Sozialpsychologe Hans-Werner Bierhoff von der Universität Bochum. Wir wollen uns im besten Lichte präsentieren. „Soziale Medien“, erklärt Jan-Hinrik Schmidt, Experte für digitale interaktive Medien am Hamburger Hans-BredowInstitut, „eröffnen Kommunikationsräume, die vorher nicht so leicht verfügbar waren.“ Heißt alles in allem: Der Acker ist zwar größer geworden, die Saat aber ist offenbar noch dieselbe. Es gibt allerdings ein Problem: Der Boden, auf den die Saat fällt, hat sich komplett geändert.

Broadcast yourself! Lange Zeit über galt allzu dreist zur Schau gestellte Selbstbeweihräucherung immerhin noch als peinlich. „Bei den Leuten, die sich trotzdem eine große Öffentlichkeit suchten, um sich zu produzieren, haben wir leicht gesagt: Meine Güte, was für ein Selbstdarsteller“, erinnert sich Jan-Hinrik Schmidt. Jährliche Weihnachtsrundbriefe, in denen die Schreiber ihren Freunden und entfernten Verwandten ausgiebig von ihren liebreizenden und gut geratenen Sprösslingen vorschwärmten, vom schicken Auto und Umzug ins größere Haus, nötigten die Empfänger schon mal zu Augenrollen. „Heute“, so Jan-Hinrik Schmidt, „ist das so normal, dass es uns nicht mehr negativ auffällt.“ Aber warum hat die Selbstdarstellung so rasant zugenommen? „Böse könnte ich sagen: Es fing mit der Unterhaltungsshow Wetten, dass? an“, sagt Schmidt. Bis dahin unauffällige Bürger schafften es mit seltsamen Hobbys ins 31


Fernsehen; Bühnen, bisher professionellen Künstlern vorbehalten, gehörten plötzlich jedermann, Aufmerksamkeit geriet zum Objekt der Begierde. Und Aufmerksamkeit bekommt, wer durch Besonderheiten auffällt. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir sehr aktiv unsere unverwechselbare Identität herausarbeiten und präsentieren müssen“, resümiert Schmidt. „Gerade junge Menschen in unserer wettbewerbsorientierten Gesellschaft werden früh damit konfrontiert, sich unterscheiden zu müssen – das unterstützt natürlich das Bedürfnis, darauf hinzuweisen, was man Tolles gemacht hat.“

Mein Kind: hochbegabt! Notfalls springen auch gerne Eltern ein, um auf die Einzigartigkeit ihres Sprösslings hinzuweisen, klagt Hans-Werner Bierhoff: „Viele Eltern sind heutzutage überzeugt, dass ihre Kinder hochbegabt sind und durch ihre Fähigkeiten etwas Besonderes. Auch das ist letztlich narzisstisches Denken: die Überschätzung des Ausmaßes.“ Eltern mit dieser Grund-

einstellung verhätscheln ihren Nachwuchs schnell, belobigen für Nichtigkeiten. Damit, sagt der österreichische Psychiater Reinhard Haller, Autor des Buches Die Narzissmusfalle, fördern Eltern den Narzissmus bei Kindern. Wer etwas Besonderes ist, findet statt, existiert, hinterlässt Spuren. Das ist die Logik unserer Zeit. Für Jugendliche hat das Stattfinden und Bemerktwerden eine ganz eigene Dringlichkeit, so Angela Tillmann vom Institut für Medienforschung Köln. „Sie müssen eine eigene Identität ausbilden, und das ist ein Stück Entwicklungsarbeit.“ Doch noch nie mussten sie so intensiv darum kämpfen. Dafür sorgen der Zeitgeist und die Selbstdarstellungsmöglichkeiten des Internets. Broadcast yourself lautet der Werbeslogan von YouTube. Klar, die Youngster können Filme auf YouTube, Bilder auf Instagram oder Facebook, ihre Taten in Kommentaren, Onlinetagebüchern und Blogs unter die Leute bringen – aber weil das jeder macht, ist es schwieriger geworden, damit noch aufzufallen; die Latte liegt in-

zwischen ziemlich hoch. „Im Netz“, sagt Angela Tillmann, „kommt es zu einer Art Überbietungslogik. Man versucht sich so zu inszenieren, dass man eher wahrgenommen wird als andere. Bilder, die man von sich selbst veröffentlicht, dienen dabei als Peer-Währung.“

Eine Inflation des Ich Früher reichte Small Talk mit der Clique, heute muss man schon stärkere Kaliber auffahren: Ich-auf-der-Party-Bilder, Ich-Botschaften, Likes und ständige Feedbacksuche in den sozialen Netzwerken zum Beispiel. Und das Selfie – für die Psychiaterin Carole Lieberman aus Beverly Hills die perfekte Metapher für eine immer narzisstischer werdende Kultur: „Es ist ein verzweifelter Aufschrei nach Aufmerksamkeit im Stil von: Schaut mich an!“ Selbstinszenierung im Netz, das ist Beziehungspflege und Selbstfindung zugleich. „Wir erleben eine Ich-Inflation“, resümiert Hans-Werner Bierhoff. Eine Beschäftigung mit dem Ego, in welcher Form auch immer. In der Gesellschaft an

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sich ist die Selbstdarstellung in Wort und Tat längst zum eigenständigen Wert angeschwollen. Das Ego ist in ständiger Oktoberfeststimmung, leicht besoffen von sich selbst. In dieser Form, sind sich die Narzissmusforscher einig, gab es das noch nie. 1985 wies jeder siebte Student narzisstische Züge auf, sagt Jean Twenge, 2006 war es schon jeder vierte. Ihre Untersuchung zeigt auch: Jugendliche stimmen heute viel eher der Aussage „Ich bin eine wichtige Person“ zu als früher. Der neue Narzissmus kann sich im Netz halt wunderbar austoben, „und das große Angebot wiederum verstärkt die narzisstischen Tendenzen noch“, sagt Bierhoff. Überhöhte Selbsteinschätzung, Ichbezogenheit, selbstschmeichelnde Verzerrungen der Wahrheit, Betonung von Erfolg, Macht und eigener Großartigkeit, übertriebene Selbstdarstellung, schnell geschlossene oberflächliche Bekanntschaften. Alles das gehört zur narzisstischen Persönlichkeit. Und folgerichtig auch zu Facebook & Co. Reinhard Haller konstatiert eine „zunehmende narzisstische Grundhaltung, individuell wie auch gesellschaftlich“. Dies werde durch die sozialen Netzwerke mit ihren Möglichkeiten zur narzisstischen Selbstdarstellung massiv vorangetrieben. Diese Medien hätten schließlich „extremen Einfluss auf Interesse, Befindlichkeit und Werte der Nutzer“. Die Netzwerke fangen ein, halten fest, versklaven ihre Nutzer, warnt Haller. Das Gefühl, überall der eigene Mittelpunkt zu sein, kann abhängig machen.

Der Zwang zur Einzigartigkeit Auch andere Experten betrachten das Netz als Jahrmarkt der Eitelkeiten längst mit Argusaugen. „Die sozialen Netzwerke könnten ein normales Spiel mit Entwicklungsmöglichkeiten bieten, ein Ausprobieren, das mit Innovation und Kreativität zu tun hat“, sagt Medienforscher Hasebrink. „Stattdessen orientie-

ren sich viele Nutzer an allgemeinen Maßgaben, wie sie glauben, sein zu müssen.“ Auch sein Kollege Schmidt ist besorgt: „Man hechelt der Einzigartigkeit hinterher und bedient sich dabei bestimmter Muster und Inszenierungen.“ Die Selbstporträts zeigen fast immer die gleichen Posen, die schmollmündigen „Duckfaces“, die gleichen Looks. Selbst der „Gefällt mir“-Button, ergaben Untersuchungen von Tina Ganster an der Universität Duisburg-Essen, wird nur geklickt, wenn man sich sicher sein kann, dass die „Freunde“ im Netzwerk derselben Meinung sind. Man guckt, was gut ankommt, und lebt danach. Im Alltag und im Netz. Psychologen warnen vor Gefallsucht und davor, sein eigenes Leben nur noch mit den Augen anderer zu sehen. Eine österreichische Facebookstudie vom „Büro für nachhaltige Kompetenz“ ermittelte, dass viele Jugendliche bereits mehrere unterschiedliche Profile für sich anlegen – auf denen sie ein sozusagen maßgeschneidertes Ich jeweils für Bekannte, Freunde, Eltern, Schulkameraden präsentieren. Wer bin ich – und wenn ja: wie viele? Solange man bloß nicht der Selbstdarstellung der anderen auf den Leim geht: Übermäßiges Surfen auf den Profilseiten anderer Nutzer kann zu Depressionen führen, warnen die amerikanischen Psychologen Hui-Tzu Grace Chou und Nicholas Edge. Sie stellten fest, dass vor allem auf Facebookbildern so viel gelacht, gefeiert, gekuschelt und lieb gehabt wird, dass man schnell das Gefühl bekommt, der Rest der Welt sei schöner, beliebter, wichtiger, glücklicher. Und das ist nun wirklich das Letzte, was einem Menschen in unserer Gesellschaft passieren sollte. PHc

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SELBSTSUCHE EINE KURZE GESCHICHTE DES ICH

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Ist das Ich eine psychologische Notwendigkeit? Oder handelt es sich vor allem um ein entbehrliches Phänomen unserer westlichen Kulturgeschichte? VON FRITZ BREITHAUPT

Foto: kallejipp / photocase.de

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akob war von einer neuartigen Krankheit befallen. Er litt an mangelnder Individualität. Ohne innere Selbstheit fühlte er sich hilflos den Zufällen ausgesetzt. So gab er zu Protokoll: „Ich – nur ein Ball der Umstände? Ich? Ich gehe mein Leben durch und finde diese traurige Wahrheit hundertmal bestätigt.“ Als Selbsttherapie versuchte es der junge Mann mit kreativer Betätigung, war als Autor durchaus erfolgreich und wurde sogar selbst zur literarischen Figur. Doch das Gefühl von Leere verließ ihn nicht, er klagte über mangelnde Originalität. Auch Reisen konnten ihm nicht das Gefühl eines inneren Zentrums verleihen. Selbst die Liebe brachte keine Linderung. Er musste sich ja auch ausgerechnet in eine junge Frau verlieben, die zuvor für kurze Zeit die Flamme eines von ihm verehrten Medienstars gewesen war: Goethe. Und so war auch die Liebe für ihn kein Zeugnis der Individualität, sondern nur Ausdruck von Fankultur und Nachahmung. Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792) litt an einer Krankheit, die man mit nur drei Buchstaben bezeichnen kann: Ich. Er glaubte, ein Ich haben zu müssen. Doch je mehr er etwas suchte, das nur ihm eigen war, so sehr erkannte er darin stets nur den Einfluss von anderen. Das Ich zeigte sich nur als Ich-Zwang. Damals war er ein tragischer Einzelfall. Heute ist sein Leiden die Norm, auch wenn es nicht immer in eine Psychose mündet wie bei ihm. Noch der Generation vor Lenz war nichts fremder und befremdlicher als ein Ich. Ein Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750) hat, wenn er auf sein Genie angesprochen wurde, immer nur abgewunken und auf Gottes Gaben verwiesen. Lenz und mit ihm die Menschen des Sturm und Drang gehörten um 1770 der ersten Generation an, die ihre Existenz unter den Schatten des Begriffs Ich stellte. Es wurde ihnen als Wort zu einer Forderung, der sich kaum jemand entziehen konnte und auf die sich zahlreiche Lebenspraktiken vom Extremtourismus in den Alpen bis zur romantischen Liebe, vom Lotterleben als Künstler bis zum preußischen Partisanentum ausgerichtet haben. Damit es zu diesem Effekt kommen konnte, hat es

offensichtlich nicht gestört, dass keiner so recht wusste, was genau ein Ich ist oder sein könnte. Es sollte das unverwechselbare Individuum mit einem Kern an Authentizität und Unabhängigkeit ausstatten, egal wie. Wir dürfen vermuten, dass eben die Unbestimmtheit des Ich die Fantasie beflügelt hat. Das Zeitalter der Selbstsuche begann.

Die Entdeckung der Vergangenheit Der Akt der Selbstreflexion verspricht die ansonsten so diffizile und paradoxe Individualisierung des Einzelnen. In der Literatur wird der Bildungsroman zum Modell des Lebens. Hier, wo die Vergangenheit und Zukunft des Individuums zusammenkommen, liegt denn auch der Ursprung der empirischen Psychologie oder Erfahrungsseelenkunde. Es gilt zu verstehen, wie die spätere Identität bereits in der Kindheit angelegt ist. Wir verdanken dem neuen Versuch, das Ich durch die eigene Lebensgeschichte zu beweisen, grundsätzliche Reformen auch der Pädagogik und der Rechtsprechung, die den subjektiven Tatbestand und die persönlichen Entschuldigungsgründe massiv aufwerten. Die damals gefundene Antwort auf die Forderung nach einem Ich hat auch heute noch Gültigkeit. Wer seine Vergangenheit offenbart und erzählt, fühlt sich eins mit sich selbst. Zugleich wissen wir, wie gerne wir unser Leben beschönigen, wie wir unsere Lebenserzählung so manipulieren, dass sie zu unserer jetzigen Situation passt. Jeder vergangene Moment kann im Nachhinein so erzählt werden, dass er plötzlich zum entscheidenden Wendepunkt des Lebens wird. Authentisch ist da nichts oder genauer: Die Erinnerungen von vergangenen Momenten erscheinen uns nur als authentisch, weil sie jetzt plötzlich irgendwie zur Erklärung unseres jetzigen Verhaltens zu passen scheinen. Bereits im nächsten Moment kann die gleiche Erinnerung nebensächlich wirken. Unsere Vergangenheit ist im Fluss. Diese Fluktuation der Vergangenheit und die durch sie erklärte Identität können leicht zu einer vollständigen Relativierung führen: Nichts am eigenen Leben gilt dann 35


Ohne Medikamente

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DIE REVOLUTION IN DER BEHANDLUNG VON DEPRESSIONEN. Die Medizinerin Kelly Brogan ist der Auffassung, dass Depressionen nicht länger mit Medikamenten behandelt werden sollten. Antidepressiva schwächen sogar die Selbstheilungsmechanismen des Körpers, so Brogan. Alternativ empfiehlt sie Entgiftung, eine Umstellung der Ernährung und macht Vorschläge für eine leicht umsetzbare Lebensstilmedizin, die sich insbesondere an Frauen wendet.

Leseprobe auf www.beltz.de 36

noch als wirklich wichtig und prägend. Der Zweifel und das Verzweifeln eines Lenz können auch hier Einzug halten. Diesen Zweifel an der Rolle der eigenen Vergangenheit fühlten auch schon die Menschen im späteren 19. Jahrhundert. Jeder kann in seiner Vergangenheit Besonderes finden. Doch um sich zu beweisen, muss man in die Zukunft blicken: Dort muss man sich bewähren. Um 1848 wird der Unternehmer und Existenzgründer zur Figur des neuen Ich. Wer sich aus sich selbst heraus erschafft, der kann stolz auf sein Ich sein. Und wer es aus eigener Kraft vermag, der ist wer. Nicht jeder konnte als Selfmademan bestehen. Es mehrten sich die Geschichten des Misserfolgs. Daraus erwuchs um 1900 eine neue Form von Ichheit. In einer Zeit des schnellen Aufstiegs der Stadtkultur beginnt das Marode zum Zufluchtsort des Ich zu werden. Für eine wachsende Gruppe an Künstlern und Intellektuellen wird das Ich nun in gänzlicher Entgegensetzung zu früheren Epochen eben das, was nicht mitmacht, sich dem offiziellen Erfolg entzieht. Das Ich ist allein, Nomade, wie der Soziologe Georg Simmel 1900 sagt, findet seinen Unterschlupf im Zwielichtigen. Hier beginnt die Subkultur mit den Cafés der Zwanziger und den wilden Jazzkonzerten der Fünfziger. Dorthin zieht es nun die vielen, auch und weil es der Karriere nicht förderlich ist. Paradoxerweise beweist sich das Ich daher zunehmend in Figuren des Scheiterns und des Erliegens. Man denke nur an die Biografien der Expressionisten oder die großen Romane der Epoche wie Rilkes Malte Laurids Brigge oder Thomas Manns Buddenbrooks. Ich ist, was subversiv, avantgardistisch und erfolglos ist. Zum Massenphänomen wird die Kultur des Verfalls in der Weimarer Republik.

Das Idol als Wahl-Ich Zugleich beginnt in der Zeit zwischen den Kriegen bereits eine neue Tendenz, die den Einzelnen auf Vorbilder festlegt. Nicht er (oder sie!) muss ein Ich erringen. Es genügt, eines zu verehren. Die Filmdiva, der Sportheld und der charismatische Führer fungieren als Stellvertreter für das eigene Ich. Der Fan ebenso wie der gute Nazi entgehen dem Ich-Zwang, da ein anderer für sie ein Ich verkörpert. In diesen Kulten der Verkörperung beginnt die schrittweise Befreiung des Einzelnen vom Ich, da dieser nun keine Leistung der Individualisierung mehr zu vollbringen hat. In der Nachkriegszeit der 1950er Jahre verstärkt sich diese erstaunliche Entwicklung, die uns zur Frage der Entbehrlichkeit des Ich führt. Während die Fankulte, Jugendbewegungen und politischen Verbindungen seit den Zwanzigern noch auf starke Persönlichkeiten ausgerichtet waren, verschwinden diese nun. Es bleibt aber das Selbstverständnis, einer Gruppe anzugehören. Die Gruppe wird zur ichfreien Zone. Eine besondere Bedeutung hat hier die Erfindung des Teenagers oder PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Das Ich als Unternehmer: In der Gründerzeit wird Identität

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zum Wirtschaftsfaktor

Halbstarken, wie es damals noch hieß. Für den Teenager gilt nicht der Zwang zur Ich-Suche. Es reicht, wenn er sich in seiner Gruppe behauptet. Die Unfähigkeit zum Erwachsensein schafft eine neue Lebensform. Die Frage ist natürlich, ob mit dem Ich-Zwang die großen mit dem Ich verbundenen Errungenschaften der Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft verschwinden werden. Wer nicht die Angst im Nacken hat wie ein Lenz, der wird nicht um jeden Preis kreativ, aktiv und produktiv. Waren die großen Künstler und Heroen und mit ihnen ein Großteil der Bevölkerung der letzten Jahrhunderte nicht insgeheim viel gehetzter und neurotischer, als es oft in den rückblickenden Verklärungen erscheint? Viele Biografen haben wohl die Versuche der Selbstdarstellung und Originalitätssucht der Prominenten vergangener Tage als echte Originalität verkannt. Ähnlich mag es vielen der Medienstars der Gegenwart gehen, die ihre Schrullen als scheinbare Individualität kultivieren, um ihrer Zielgruppe gerecht zu werden. Jedenfalls ist uns die Not von Lenz nur allzu vertraut. Dass die Werbung uns Individualisierungsangebote bereitstellt, dass wir im Kino mit dem Einzelgänger sympathisieren, dass wir anders sein wollen und dies notfalls durch eine Reise an einen besonders exotischen Ort oder durch das Erlernen einer Kampfsportart, deren Namen niemand kennt, demonstrieren, ist uns selbstverständlich und jeden Tag aufs Neue in unserem

Freundeskreis zu beobachten. Auffällig im Zeitalter des permanenten Selbstbeweises ist es nur, wenn einer über IchVerlust und Ich-Mangel klagt. Man nimmt schlicht an, man habe ein Ich oder müsse es haben; nur wenn es schlecht läuft, könne man es verspielen und verlieren.

Ein Leben ohne Ich Das Ich ist insgesamt vielleicht viel weniger eine psychologische Notwendigkeit, als vielfach angenommen wird. Vielmehr könnte es sich vor allem um ein Phänomen unserer (westlichen, deutschen) Kulturgeschichte handeln, das uns auf Individualisierung einschwört. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als in den Verhaltensformen, mittels derer wir unser Ich zeigen und beweisen wollen. Dazu gehören all die kleinen Tricks der Selbstdarstellung, die Betonung der Erfolge in Beruf und Sexualität, die kleinen Macken, die wir pflegen, und natürlich die Liebe, in der wir die eigene Besonderheit zur Schau stellen (müssen). Hält man sich den damit verbundenen Aufwand und nicht zuletzt die damit verbundenen Investitionen vor Augen, stellt sich die Frage, ob es sich ohne Ich nicht besser leben ließe, ob sich so ein Ich wirklich lohnt. Man darf sich ernsthaft fragen, ob es Alternativen gibt. Mögen die letzten zwei Jahrhunderte auch ganz unter dem Zeichen des Ich und Ich-Zwangs gestanden haben, so ist es heute wie vielleicht niemals zuvor in unserer Geschichte möglich, Formen der Existenz jenseits von fester Identität, Individualität und Ich-Kontrolle zu erproben. Niemand hindert einen heute etwa daran, seine Vorlieben und Orientierungen (etwa religiöser, freundschaftlicher, beruflicher, sexueller Art) von einem Tag auf den anderen zu wechseln. Entsprechend ist auch das Nichtgelingen oder Versagen heute verkraftbarer als in früheren Tagen. Man kann schlicht etwas anderes probieren und solcherart (fast) jedem Zwang ausweichen. Es gibt auch aktivere Alternativen zum Ich. Eine bieten etwa die neuen Medien an. Fernsehen, Werbung, YouTube und Facebook kultivieren zwar vordergründig Individualität. Nach wie vor geht es darum, anders, besonders, beliebter, cooler zu sein. Doch zugleich bieten die Medien ihren Nutzern eine neue Position an: diejenige des Schiedsrichters. Der Schiedsrichter beurteilt andere. Und dazu braucht er selbst kein Ich. Sich selbst muss der neue Schiedsrichter-Mensch nicht mehr beobachten. Möglich wäre, dass ein Ende des Ich auch ein Ende der Hochkultur bedeutet. Allerdings ist das Ich heute noch nicht ganz verschwunden. Es ist optional geworden. Wer sich auf die Jagd nach einem Ich begeben will, kann dies nach wie vor tun. Aber niemand muss es. PHc Fritz Breithaupt ist Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Indiana University in Bloomington (USA). Jüngstes Buch: Die dunklen Seiten der Empathie (Suhrkamp, Berlin 2017).

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WIE BIN ICH?


Jeder von uns ist unverwechselbar. Doch wir haben Seelenverwandte, Menschen mit einem ähnlichen Naturell. Manche sind aufgedreht, andere eher reserviert. Einige reagieren übersensibel auf Reize oder hochalarmiert beim kleinsten

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Gefahrensignal. Die Vielfalt der Temperamente bereichert das Leben, und nicht jeder extreme Persönlichkeitszug ist eine Störung


TYPENLEHRE Jeder Mensch ist einzigartig. Und doch gibt es ein Ordnungssystem, mit dem man die Grundeigenschaften eines jeden zuverlässig einsortieren kann: die Big Five, die fünf großen Achsen der Persönlichkeit VON THOMAS SAUM-ALDEHOFF

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in Gedankenexperiment: Schicken Sie mal versuchsweise einige ihrer Freundinnen und Freunde über einen imaginären Laufsteg. Nun inspizieren Sie die Ausgewählten, einen nach dem anderen. Wie bewegen sie sich, welchen Gesichtsausdruck haben sie, wie stellen sie sich dar? Ist da zum Beispiel eine, die zaghaft daherschleicht, dem Publikum mit verlegenen Blicken begegnet und sich sichtlich wegwünscht an einen weniger exponierten, vertrauteren Ort? Und flaniert dort eine andere vorüber, die ihren Auftritt völlig unbekümmert absolviert und es sichtlich genießt, sich so in Szene zu setzen? Menschen unterscheiden sich. Das ist banal. Nicht banal ist, dass sie sich auf eine durchaus regelhafte, kategorisierbare Weise unterscheiden. Das Gewimmel der Eigenarten ist nicht so beliebig, wie es scheint. Die Vielfalt hat ein Gerüst, einen verborgenen Ordnungsrahmen. Inspiziert und vergleicht man die persönlichen Eigenarten Tausender von Individuen einer Bevölkerung, so stößt man auf Muster. Manche Merkmale gehören zusammen. Wer gesellig ist, ist auch oft fröhlich, wen oft Ängste plagen, der neigt auch zu Depressionen, und wer Fantasie hat, hat zumeist auch Intellekt. Inzwischen hat sich in der weltweiten Gemeinde der Persönlichkeitsforscher ein Konzept durchgesetzt: das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit, kurz: die Big Five. Die Persönlichkeit eines Menschen lässt sich ziemlich treffsicher anhand von fünf Säulen dingfest machen: Extraversion versus Introversion, Neurotizismus (auch „emotionale Labilität“ genannt), Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Neues. Die Big Five bilden die Grundachsen der Persönlichkeit. Jede beschreibt ein Kontinuum zwischen zwei extremen Eigenschaftspolen, zum Beispiel zwischen Extraversion und Introversion. Und jeder Mensch hat einen für ihn typischen Punkt auf jeder dieser fünf Achsen. Es gibt also nicht bloß extravertierte und introvertierte „Typen“, sondern beliebig

viele Abstufungen dazwischen: sehr extravertiert, ziemlich extravertiert, eher introvertiert und so fort. Um einem Menschen gerecht zu werden, sind diese Nuancen wichtig. Doch wenn man das jeweils Charakteristische an diesen Persönlichkeitszügen herausstellen will, konzentriert man sich am besten auf die Extreme, also eben auf die „typisch“ extravertierten und die „typisch“ introvertierten Vertreter, auf sehr neurotische und sehr ausgeglichene, sehr verträgliche und sehr unverträgliche, sehr gewissenhafte und sehr chaotische Menschen, auf solche, die sehr offen, und solche, die höchst reserviert gegenüber allem Neuen sind.

1. Extraversion und Introversion „Jedermann kennt jene verschlossenen, schwer zu durchschauenden, oft scheuen Naturen, die den denkbar stärksten Gegensatz bilden zu jenen anderen offenen, umgänglichen, öfter heiteren oder wenigstens freundlichen und zugänglichen Charakteren.“ So führte Carl Gustav Jung 1921 in seiner Schrift über Psychologische Typen jenes Gegensatzpaar ein, das es zu so großer Popularität bringen sollte. Was Extravertierte und Introvertierte laut Jung unterscheidet, ist die Ausrichtung ihrer „psychischen Energie“. Extravertierte sind dem zugewandt, was um sie herum passiert. Introvertierte richten ihr Augenmerk hingegen auf ihr eigenes Erleben. Extravertierte haben ihre Schokoladenseite außen, Introvertierte innen (siehe auch den Beitrag auf Seite 46). Das Gegensatzpaar von Extraversion und Introversion ist so etwas wie die Mutter der Big Five. Kein anderer Persönlichkeitszug ist im Verhalten so offensichtlich, kein anderer so sehr zum Allgemeingut geworden, kein anderer so gut erforscht. Er setzt sich zusammen aus diesen Eigenschaften: Herzlichkeit. Extravertierte Frauen und Männer haben ein Talent, zwischenmenschliche Nähe herzustellen. Sie werden mit wildfremden Menschen rasch vertraut, sind verbindlich und zugewandt. Introvertierte Menschen dagegen wirken beim 41


ersten Kontakt eher reserviert. Doch es fehlt ihnen keineswegs an Empathie und Wärme, sie zeigen dies bloß weniger. Geselligkeit. Extravertierte genießen Gesellschaft. Je mehr Leute um sie herum sind, desto wohler fühlen sie sich. Sie haben einen großen Freundeskreis. Ganz anders die Introvertierten: Sie fühlen sich in großen Gruppen eher unwohl. Sie genießen hingegen das Beisammensein mit guten Freunden in kleiner Runde. Durchsetzungsfähigkeit. Extravertierte treten bestimmt und selbstsicher auf. In der Gruppe übernehmen sie gern die Führung. Sie sind energisch, entschlossen, entscheidungsfreudig – was ihrer Karriere oft zugutekommt. Introvertierte halten sich lieber im Hintergrund und haben nicht gerne das Sagen. Aktivität. Extravertierte sagen von sich selbst: „Ich führe ein hektisches Leben.“ Introvertierte sind ruhiger, nehmen sich mehr Zeit zum Entspannen oder zum schieren Nichtstun. Faul sind sie deshalb noch lange nicht. Erlebnishunger. Extravertierte sind auf der Suche nach Anund Aufregung. Sie mögen leuchtende Farben, eine knallige Aufmachung und energische, rhythmische Musik. Sie sind gern da, wo „viel los ist“. Introvertierte ziehen lieber ihre ruhigen Bahnen, sie brauchen nicht den Adrenalinkick. Glückserleben. Extravertierte haben einen beneidenswerten Hang zu positiven Emotionen. Sie sind ausgelassen, begeisterungsfähig, häufig gut gelaunt. Sie suchen die Glücksmomente – und meistens finden sie die auch. Doch Introvertierte sind weder übellaunige Gestalten, noch sind sie unglücklich. Sie brauchen keine Euphorie, Wohlbefinden reicht ihnen.

2. Neurotizismus An manchen Tagen fühlt man sich klein und wertlos. Der Himmel ist grau. Nichts will gelingen. Alle wollen einem übel. Das Leben: ein Jammertal. Die Zukunft: ein Minenfeld. Am besten, man verkriecht sich. Jeder hat solche Tage. Sie gehen vorbei – bei den meisten. Manchen Menschen aber ist die Mutlosigkeit ein anhänglicher Lebensbegleiter. Persönlichkeitsforscher tauften dieses Merkmal „Neurotizismus“. Doch weil das so abwertend klingt, verwenden manche lieber Umschreibungen wie „emotionale Ansprechbarkeit“. Doch es sind nur ganz bestimmte Emotionen, auf die Menschen mit einem stark ausgeprägten Neurotizismus ansprechen, nämlich die herunterziehenden. Ängstlichkeit. Personen mit hohem Neurotizismus sind oft furchtsam, nervös und angespannt. Sie machen sich Sorgen um „ungelegte Eier“ und grübeln über bevorstehende Ereignisse oder Entwicklungen. Wenig „neurotische“, also emotional belastbare Menschen beschreiben sich hingegen als entspannt und gelassen. Reizbarkeit. Seelisch unsichere Menschen regen sich rasch auf. Sie drücken ihren Ärger aber selten konstruktiv aus. Oft 42

schmollen sie. Sie fühlen sich als Opfer. Seelisch stabile Personen hingegen haben ein dickes Fell. Eine Kritik oder ein Übergangenwerden wirft sie nicht gleich aus der Bahn. Depressivität. Frauen und Männer mit hohem Neurotizismus sind schnell entmutigt, häufig traurig, niedergeschlagen, wie gelähmt. Sie fühlen sich dann wertlos und einsam. Psychisch wetterfeste Personen werden selten von Selbstzweifeln oder niederschmetternden Gefühlen geplagt. Soziale Befangenheit. Neurotische Menschen wähnen sich anderen unterlegen. In Gesellschaft fühlen sie sich befangen, denn sie fürchten, belächelt oder verspottet zu werden. Sie schämen sich, sind verlegen. Menschen mit niedrigen Neurotizismuswerten sind da viel unbekümmerter. Impulsivität. Neurotiker sind anfällig für Süchte und unerwünschte Verlockungen. Wenn sie ein Verlangen nach Süßigkeiten oder einem Glas Wein überkommt, fällt es ihnen schwer, standhaft zu bleiben. Seelisch stabilen Persönlichkeiten fällt es leichter, ein Bedürfnis zurückzustellen. Verletzlichkeit. Neurotizismus macht anfällig für Stress. Die Betreffenden reagieren dann oft panisch, kopflos, verzweifelt, sind mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der zu bewältigenden Situation. Natürlich spüren auch wenig neurotische Menschen Stress, doch sie haben ihn besser im Griff.

3. Verträglichkeit Von den fünf Faktoren der Persönlichkeit ist Verträglichkeit vielleicht der wichtigste. Dieses Bündel von Eigenschaften kommt mitten aus dem Leben. „Konstrukte wie Liebe und Hass, Solidarität, Konflikt, Kooperation, Güte sind Teil dieser Dimension und durchziehen sie“, konstatiert der niederländische Persönlichkeitsforscher Boele De Raad. Der Testpsychologe Robert Hogan betrachtet Verträglichkeit als eine Eigenschaft, die Menschen das Leben in sozialen Verbänden, etwa am Arbeitsplatz erleichtert. Sie speise sich aus einem Gefühl der sozialen Zugehörigkeit, dem Empfinden, dass man als Individuum Teil eines größeren Ganzen ist. Verträglichkeit charakterisiere „die menschlicheren Aspekte des Menschseins“, schrieb der Persönlichkeitsforscher John Digman, nämlich Bedürfnisse wie „Altruismus, Fürsorge und Unterstützung am einen Ende der Skala und Feindseligkeit, Gleichgültigkeit, Selbstzentriertheit, Bosheit und Eifersucht am anderen“. Vertrauen. Verträgliche Menschen begegnen anderen mit ungeschütztem Zutrauen. Sie gehen grundsätzlich davon aus, dass sie ehrlich und fair behandelt werden. Wenig verträgliche Menschen beschreiben sich hingegen als argwöhnisch. Es ist für sie keine Frage, „dass man von den meisten Leuten ausgenutzt wird, wenn man es zulässt“. Freimütigkeit. Verträgliche Charaktere sind aufrichtig und offen, allerdings auf eine freundliche, nicht verletzende Art. PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Persönlichkeitsfaktor Verträglichkeit: Wer wenig von dieser Eigenschaft mitbringt, ist rabiat im Durchsetzen

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eigener Interessen

Wenn sie jemandem schmeicheln, dann um ihm einen Gefallen zu tun. Bei wenig verträglichen Zeitgenossen sind Schmeicheleien eher Mittel zum Zweck. Ihr Motto: „Um zu bekommen, was ich will, bin ich notfalls bereit, andere Menschen zu manipulieren.“ Altruismus. Die Verträglichen versuchen, „stets rücksichtsvoll und sensibel zu handeln“. Hilfsbereitschaft ist ihnen nicht Fassade, sondern Bedürfnis. Sie sind großzügig. Unverträgliche Menschen sind egoistisch: Soll sich doch jeder um seinen eigenen Kram kümmern! Entgegenkommen (versus Feindseligkeit). Diese Facette der Verträglichkeit beschreibt die Neigung zu Aggressivität und Dominanz in Konflikten. Verträgliche Menschen sind meist rasch bereit, um des lieben Friedens willen anderen nach- und klein beizugeben. Unverträgliche Individuen sind auf aggressive Weise konfliktbereit. Bescheidenheit. Verträgliche Leute rücken ihre Leistungen nicht gerne in den Vordergrund. Es ist ihnen peinlich, im Bewerbungsgespräch auf ihre durchaus dokumentierten Erfolge zu verweisen. Ganz anders die weniger Verträglichen: Sie hüten sich, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, erzählen gerne von ihren Heldentaten und schmücken diese großzügig aus. Güte. Diese Facette der Verträglichkeit umfasst Eigenschaften wie Empathie, Sympathie und Anteilnahme anderen

gegenüber. Verträgliche Menschen versuchen, „zu jedem, dem ich begegne, freundlich zu sein“. Sie stellen oft ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Unverträgliche indes beschreiben sich als „nüchtern und unnachgiebig“.

4. Gewissenhaftigkeit „Sekundärtugenden“ wie Fleiß, Ordnung oder Selbstdisziplin haben heute einen zweifelhaften Ruf. Menschen mit diesen Eigenschaften gelten als strebsam, langweilig, wenig kreativ. Doch wer im Alltag bestehen will, braucht nun mal eine gewisse Portion an Organisiertheit, Beharrlichkeit und Selbstüberwindung. Diese Eigenschaften bündeln sich im Persönlichkeitsfaktor Gewissenhaftigkeit. Von allen Big-Five-Dimensionen hängt die Gewissenhaftigkeit am engsten mit dem Arbeitsverhalten sowie mit der Leistung und dem Fortkommen in Schule, Ausbildung und Beruf zusammen. Zudem stellte sich heraus, dass Gewissenhaftigkeit nicht unerheblich zu einem gesunden und langen Leben beiträgt. Hohe Gewissenhaftigkeit geht einher mit Enthaltsamkeit gegenüber Drogen und Zigaretten und Disziplin beim Fithalten des Körpers. Kompetenz. Gewissenhafte Menschen beschreiben sich als leistungsfähig, effektiv, vernünftig, nennen sich eine „in vielem kompetente“ und überdies „tüchtige Person, die ihre Arbeit 43


immer erledigt“. Personen am unteren Ende der Gewissenhaftigkeitsskala hingegen bleiben oft hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil es ihnen an Engagement mangelt. Ordnungsliebe. Bei Gewissenhaften hat alles seinen Platz. Die weniger Gewissenhaften konstatieren: „Ich werde wohl niemals fähig sein, Ordnung in mein Leben zu bekommen.“ In einer Studie konnten sogar wildfremde Menschen nach einem Blick in einen Büroraum recht gut einschätzen, wie gewissenhaft die Person war, die hier residierte. Pflichtbewusstsein. Dies betrifft das Akzeptieren und Befolgen von Regeln. Gewissenhafte Menschen setzen sich Standards und handeln danach. Weniger gewissenhafte gestehen ein, dass sie nicht so zuverlässig sind, wie sie sein sollten. Leistungsstreben. Gewissenhafte Menschen geben sich hohe Ziele vor und ackern kräftig, um sie zu erreichen. Den Leuten am anderen Pol der Skala kann man schwerlich nachsagen, vom Ehrgeiz zerfressen zu sein. Selbstdisziplin. Gemeint ist die Fähigkeit, Aufgaben anzufangen und bis zum Ende durchzuziehen, trotz Langeweile und Ablenkungen. Gewissenhafte können sich beim Arbeiten an der kurzen Leine führen, weniger Gewissenhafte neigen zum Unterbrechen und Aufschieben. Besonnenheit. Gewissenhafte schmieden detaillierte Pläne, ehe sie ein Vorhaben in Angriff nehmen. Am anderen Ende der Skala stehen Menschen, die sich eher von „Spontanität“ leiten lassen und sich dann oft in Situationen wiederfinden, auf die sie nicht vorbereitet sind.

5. Offenheit für Neues Der Homo sapiens hat ein tiefverwurzeltes Bedürfnis, seine Umgebung zu erkunden und Neues kennenzulernen. Wie die Persönlichkeitsforschung indes feststellte, ist dieses Bedürfnis nach Erkenntnis und neuen Eindrücken nicht in jedem gleichermaßen stark verankert: Menschen unterscheiden sich in ihrer „Offenheit für neue Erfahrungen“, dem fünften und schillerndsten Faktor der Big Five. Dieser Persönlichkeitszug drückt ein Bestreben aus, hinter Grenzen zu blicken und bestehende Grenzen infrage zu stellen. Er beschreibt eine Aufgeschlossenheit gegenüber neuartigen Eindrücken, anderen Kulturen, fremden Weltanschauungen, intellektuellen Debatten. Offenheit für Fantasie. Die „Weite des Bewusstseins“, über die Menschen mit offener Persönlichkeit verfügen, ist in ihrem regen Fantasieleben zu besichtigen. Sie haben ein Faible für skurrile Geschichten und verstiegene Gedanken. Personen mit karger Offenheit hingegen sehen in derartigen Träumereien reine Zeitverschwendung. Offenheit für Ästhetik. Offene Menschen sind empfänglich für Kunst, Malerei, Gedichte, Musik. Menschen vom wenig erfahrungsoffenen Typ haben keinen Draht zur Kunst – vor 44

allem zu solcher, die unkonventionell daherkommt. Mit Obertonmusik, experimentellem Theater oder abstrakter Malerei kann man sie jagen. Offenheit für Gefühle. Offene erleben ihre Gefühle sehr intensiv und schenken ihnen große Bedeutung. Weniger offene nehmen nur selten Notiz von ihren Empfindungen und messen ihnen keinen Belang bei. Offenheit für Handlungen. Die einen lieben die Abwechslung. Wann immer möglich, entfliehen sie dem Trott und der Routine. Die anderen ziehen es vor, an liebgewonnenen Gewohnheiten und Ritualen festzuhalten, und verbringen etwa den Urlaub stets am gleichen Ort. Offenheit für Ideen. Offen für Erfahrungen zu sein heißt auch, vielfältige intellektuelle Interessen zu pflegen. Menschen, bei denen dieser Persönlichkeitszug verkümmert ist, beschäftigen sich nicht gern mit Theorien und abstrakten Fragen. Offenheit des Normen- und Wertesystems. Grundsätzlich haben offene Menschen einen Hang zum Oppositionellen. Sie stellen gerne Dogmen und Normen infrage – seien es gesellschaftliche, moralische oder religiöse Vorstellungen. Wenig offene vertrauen eher auf das Hergebrachte, Bewährte – und auf Autoritäten. Soweit diese Skizze der fünf großen Achsen der Persönlichkeit. Jede und jeder von uns hat ein charakteristisches „Profil“ über diese fünf Achsen hinweg: Ich bin zu einem bestimmten, für mich typischen Grad extravertiert oder introvertiert, neurotisch, verträglich, gewissenhaft und offen für Neues. Dieses individuelle Profil formt sich im Lauf des Lebens. Zu welchem Grad die Gene diese Persönlichkeitsentwicklung steuern, darüber gehen die Auffassungen auch in der Forschung auseinander. Fest steht, dass dieses individuelle Grundmuster der Persönlichkeit nach den Turbulenzen der Adoleszenz und der frühen Erwachsenenjahre bei den meisten von uns über viele Jahrzehnte des Lebens äußerst stabil bleibt. Diese vermeintliche Festgefahrenheit muss uns nicht schrecken, denn sie ist Ausdruck unserer Identität, unserer Eigenart als Individuum. Die Persönlichkeitsforscher Robert McCrae und Paul Costa formulierten es so: „Wir handeln am freiesten, wenn wir unsere dauerhaften Wesenszüge ausdrücken.“ PHc

ZUM WEITERLESEN Thomas Saum-Aldehoff: Big Five. Sich selbst und andere erkennen. Patmos, Ostfildern 2015 (3. Auflage)

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Armin Mueller-Stahl Original (raphiken

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DIE VERKANNTEN STILLEN Mit ihrer wortkargen, zurückhaltenden Art haben es introvertierte Menschen schwer in dieser marktschreierischen Zeit. Sie wirken schüchtern, gehemmt, sogar abweisend – doch nichts davon stimmt VON ANNA ROMING

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eht es Ihnen auch so? Sie sind gerne allein. Wenn Sie tagelang keine Zeit finden, um in Ruhe ein Buch zu lesen, Musik zu hören, sich dem Garten zu widmen oder ganz einfach nur Ihren Gedanken nachzuhängen, werden Sie nervös und geraten unter Stress. Gerne treffen Sie sich mit einem Kollegen oder einer Freundin zum Gedankenaustausch; in einer größeren Gruppe aber fühlen Sie sich oft fehl am Platze. Vor großem Publikum eine Rede halten, das können Sie. Aber danach sind Sie froh, wenn Sie nicht noch allzu viele Fragen beantworten und mit den Veranstaltern einen trinken gehen müssen. Partys sind Ihre Sache nicht, Sie hassen Small Talk, und Sie sind nicht begierig darauf, mit wildfremden Menschen Kontakt zu knüpfen. Wenn all das auf Sie zutrifft, dann sind Sie möglicherweise in den Augen so mancher Zeitgenossen ein seltsamer Mensch: kontaktscheu, schüchtern, menschenfeindlich und arrogant. Ein Eigenbrötler eben, von dem man nie so genau weiß, woran man mit ihm ist. Doch Sie sind nicht schüchtern, Sie sind kein Einzelgänger, Sie sind auch nicht arrogant und schon gar nicht menschenfeindlich. Sie sind schlicht ein introvertierter Typ. Anders als die eher Extravertierten unter ihren Mitmenschen brauchen Sie Zeit für sich allein.

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Introvertierte und extravertierte Menschen wirken, als kämen sie von verschiedenen Planeten. Introvertierte sind unauffällig, machen nicht viel Lärm um sich, halten sich zurück. Extravertierte dagegen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Oberflächlich gesehen wirken introvertierte Menschen schüchtern. Aber der Schein trügt. Schüchterne Menschen wünschen sich soziale Kontakte, fürchten aber, den Begegnungen mit anderen nicht gewachsen zu sein. Sie haben Angst, den Ansprüchen ihrer Mitmenschen nicht genügen zu können, sich danebenzubenehmen, etwas Falsches zu sagen. Schüchterne beobachten sich selbst mit Argusaugen, wenn sie in der Öffentlichkeit sind – und kommen dabei im eigenen Urteil schlecht weg. Introvertierte dagegen kennen solche Ängste nicht. Sie sind nicht ungerne mit anderen zusammen, sie besuchen ohne Scheu größere gesellschaftliche Ereignisse. Dort stehen sie aber selten im Mittelpunkt, sondern eher am Rande. Das aber macht ihnen nichts aus. Sie halten sich gerne abseits und beobachten das Geschehen. So wenig introvertierte Menschen schüchtern sind, so wenig sind sie menschenfeindlich. Allerdings ermüden sie schneller als andere in Gesellschaft und suchen dann nach Rückzugsmöglichkeiten. Wenn ein Gespräch zu lange dauert, wenn ein Abend mit Freunden gar nicht enden will, dann sehnen sie sich PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


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nach Stille und Alleinsein. Introvertierte verkraften soziale Kontakte nur in kleinen Dosen. Introvertierte sind wie eine aufladbare Batterie, meint die amerikanische Psychologin Marti Olsen Laney: Sind sie längere Zeit mit Menschen zusammen, ist ihr Energiespeicher irgendwann erschöpft. Sie ziehen sich dann zurück, um ihn wieder aufzuladen. Nur in der Besinnung auf sich selbst können sie regenerieren und neue Kraft schöpfen. Extravertierte dagegen sind wie Solarzellen, meint die Psychologin. Sie brauchen die Energiezufuhr von außen, um das Ladelevel ihres Akkus hoch zu halten. Wenn sie zu lange ohne „Sonnenstrahlen“ sind, also ohne Kontakt zur Außenwelt, fühlen sie sich leer und antriebslos.

Fremd in der eigenen Kultur Wir leben in einer Zeit, in der es introvertierte Menschen eher schwer haben. Die Schau- und Zeigelust blüht, Eindruckschinden und Selbstreklame sind moderne Tugenden. Aufmerksamkeit erregen kann man heute offenbar nur durch Lautstärke, grelle Bilder und Skandale. Extravertierte dominieren das öffentliche Leben. Mit ihrer Lust am Reden und ihrem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit setzen sie die Maßstäbe. Aus-sich-heraus-Gehen ist erwünscht und gilt als Zeichen für Normalität. Extravertierte scheinen auch im Streben nach Glück die besseren Karten zu haben. Sie sind oft euphorisch und guter Laune. Für Introvertierte hingegen hat Glücklichsein nicht die oberste Priorität. Positive Gefühle scheinen für sie in manchen Situationen sogar hinderlich zu sein, wie die israelische Psychologin Maya Tamir in ihren Studien feststellte. Vor die Wahl gestellt, sich vor der Lösung schwieriger kognitiver Aufgaben in einen positiven oder neutralen Gefühlszustand zu versetzen, entschieden sich extravertierte Versuchspersonen für eine Aufhellung ihrer Stimmung (zum Beispiel, indem sie sich bewusst an glückliche Erlebnisse erinnerten). Introvertierte Studienteilnehmer widmeten sich den gestellten Anforderungen lieber in einem neutralen Gefühlszustand. In einer anderen Studie maß der amerikanische Psychologe Brian W. Haas, wie viel Zeit introvertierte und extravertierte Versuchspersonen benötigten, um zu benennen, in welcher Farbe ein emotional provozierendes Wort gedruckt war. Introvertierte lösten diese Aufgabe schneller als Extravertierte. Sie konzentrierten sich auf die Farbe und ließen sich vom emotionalen Gehalt des jeweiligen Wortes nicht ablenken. Introvertierte sind ganz bei sich. Anders als Extravertierten ist es ihnen nicht so wichtig, möglichst viele Freunde zu haben, Networking zu betreiben, bei vielen Menschen beliebt zu sein und für jedes Wochenende einen vollen Terminkalender zu haben. Dass sie mit diesen Einstellungen und Verhaltensweisen ihre nicht introvertierten Mitmenschen irritieren, spüren sie. 48

Deren Unverständnis macht ihnen oft zu schaffen. Müssen sie realisieren, dass ihre eigene Orientierung und ihre Werte mit den herrschenden Werten einer Gesellschaft nicht konform gehen, dann ist das durchaus eine Gefahr für ihre seelische Gesundheit. Je mehr sie das Gefühl haben, nicht in die Zeit zu passen, je mehr sie glauben, sich erklären oder für ihre Art entschuldigen zu müssen, desto größer ist die Entfremdung von sich selbst und von der Gesellschaft, in der sie leben.

Introvertierte hören zu, Extravertierte reden Das Gefühl, nicht richtig zu sein, beschleicht introvertierte Menschen häufig auch in Gesprächssituationen, in denen sie keinen Fuß in die Tür bekommen, weil sie sich auch in ihrem Kommunikationsstil von anderen, vor allem von Extravertierten deutlich unterscheiden. „Wie war dein Tag?“, fragt der extravertierte Gesprächspartner. Der Introvertierte denkt nach: Wie war der Tag denn, was ist alles passiert? – und schweigt erst einmal. Dies fasst der andere als Aufforderung zum Weiterreden auf. „Ich hatte einen verrückten Tag, beinahe hätte ich einen Unfall gebaut, und dann hat mir auch noch der Chef ein neues Projekt auf den Tisch gelegt …“ Solange der Introvertierte nicht selbst das Wort ergreift, wird der andere ihn zutexten. Irgendwann resigniert er und hört nur noch zu. Was im privaten Gespräch für den introvertierten Menschen unerfreulich ist, kann sich im beruflichen Zusammenhang negativ auswirken. Kommt ein Introvertierter in einem Team nicht zu Wort, heißt das nicht, dass er oder sie nicht engagiert bei der Sache ist. Er nimmt aufmerksam auf, was gesprochen wird, er denkt darüber nach und wartet auf den richtigen Augenblick, um seine Meinung zu äußern – doch er läuft Gefahr, von den anderen als desinteressiert und unengagiert wahrgenommen zu werden. Wer mit introvertierten Menschen zusammenarbeitet, sollte wissen: Brainstorming in der Gruppe ist nicht ihre Sache. Ruhige Zweiergespräche und E-Mail-Kommunikation sind es schon. Grundsätzlich gilt: Wenn man einen Introvertierten in Gedanken versunken sieht, sollte man ihn nicht mit Fragen wie „Was ist los?“, „Alles in Ordnung?“ oder „Was denkst du?“ irritieren. Schweigen ist im Falle introvertierter Menschen tatsächlich Gold. Ob im Beruf oder im Privatleben – introvertierte Menschen haben es verdient, dass sie in ihrer Art ebenso respektiert werden wie alle anderen. Denn Introversion ist keine Wahl, es ist auch kein Lebensstil, sondern eine Persönlichkeitseigenschaft, die nicht so leicht verändert werden kann – und auch nicht verändert werden muss. Verändern aber könnten sich die Nichtintrovertierten – zum Beispiel indem sie Menschen mehr Verständnis und Geduld entgegenbringen, für die Rückzug und Ruhe erstrebenswerter sind als Trubel und Geselligkeit. PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Sind Sie ein introvertierter Mensch? Wenn Sie unsicher sind, ob auch Sie ein nach innen gewandter Mensch sind, kann dieser Test Ihnen einen Anhaltspunkt liefern. Lesen Sie die folgenden Aussagen und überlegen Sie, ob diese auf Sie zutreffen oder nicht. Anschließend zählen Sie Ihre „trifft zu“-Antworten zusammen

Wenn ich mich ausruhen möchte, bin ich lieber allein oder mit einem oder zwei vertrauten Menschen zusammen als in einer Gruppe. O trifft zu O trifft nicht zu Wenn ich an Projekten arbeite, arbeite ich lieber länger ungestört am Stück als in kleineren Etappen. O trifft zu O trifft nicht zu Für gewöhnlich höre ich lieber zu und lasse andere reden. O trifft zu O trifft nicht zu Sicher denken andere, ich sei still, geheimnisvoll, distanziert oder gelassen. O trifft zu O trifft nicht zu Besondere Anlässe feiere ich lieber mit einer Person oder mit ein paar engen Freunden als mit einem großen Fest. O trifft zu O trifft nicht zu Für gewöhnlich brauche ich Zeit nachzudenken, bevor ich antworte oder spreche. O trifft zu O trifft nicht zu Ich tendiere dazu, Details wahrzunehmen, die andere Menschen nicht sehen. O trifft zu O trifft nicht zu Nach einem Streit zwischen zwei Menschen kann ich die Spannung in der Luft spüren. O trifft zu O trifft nicht zu Wenn ich etwas verspreche, halte ich es auch. O trifft zu O trifft nicht zu Ich gerate schnell unter Druck, wenn ich einen Abgabetermin habe. O trifft zu O trifft nicht zu Ich kann gedanklich gut abschalten, wenn mir etwas zu viel wird. O trifft zu O trifft nicht zu Ich schaue mir eine Sache eine Weile an, bevor ich mich entschließe, mitzumachen. O trifft zu O trifft nicht zu

Ich unterbreche andere ungern und mag es auch nicht, unterbrochen zu werden. O trifft zu O trifft nicht zu Wenn ich viele Informationen aufnehme, brauche ich eine Weile, um sie zu sortieren. O trifft zu O trifft nicht zu Ich kann nicht verstehen, warum Menschen Horrorfilme mögen oder Achterbahn fahren wollen. O trifft zu O trifft nicht zu Manchmal reagiere ich stark auf Gerüche, Essen, Wetter, Lärm oder Ähnliches. O trifft zu O trifft nicht zu

Wenn ich müde bin oder wenn ich versuche, gleichzeitig zu reden und zu denken, dann sind meine Sätze oft lückenhaft. O trifft zu O trifft nicht zu Ich betrachte Bekannte nicht als meine Freunde. O trifft zu O trifft nicht zu Ich zeige niemandem meine Arbeit oder teile niemandem meine Ideen mit, solange ich sie nicht vollkommen formuliert habe. O trifft zu O trifft nicht zu Ich bin überrascht, wenn andere mich für klug halten. O trifft zu O trifft nicht zu

Ich bin kreativ und fantasievoll. O trifft zu O trifft nicht zu Nach sozialen Anlässen fühle ich mich oft erschöpft, sogar dann, wenn ich Spaß gehabt habe. O trifft zu O trifft nicht zu Ich mag es lieber, vorgestellt zu werden, als andere vorstellen zu müssen. O trifft zu O trifft nicht zu Ich bin manchmal schlecht gelaunt, wenn ich zu lange mit Menschen oder Aktivitäten beschäftigt war. O trifft zu O trifft nicht zu Ich fühle mich oft unwohl in fremden Umgebungen. O trifft zu O trifft nicht zu Ich habe es gern, wenn Leute mich besuchen, aber ich will nicht, dass sie zu lange bleiben. O trifft zu O trifft nicht zu Oft graut es mir regelrecht davor, jemanden zurückrufen zu müssen. O trifft zu O trifft nicht zu Ich spüre manchmal eine Leere im Kopf, wenn ich Leuten zum ersten Mal begegne oder unerwartet etwas sagen muss. O trifft zu O trifft nicht zu

AUSWERTUNG Notieren Sie, wie häufig Sie „trifft zu“ angekreuzt haben. Dann lesen Sie die folgenden Erläuterungen: 20–29: Sie sind sehr introvertiert. Es ist deswegen wichtig für Sie, zu verstehen, dass Ihnen Ihre Gedanken, Ihre Eindrücke, Ihre Gefühle mehr bedeuten als jedes Ereignis in der Außenwelt. Ihre Batterien laden Sie nicht auf einer Party auf, sondern wenn Sie für sich allein sind. 10–19: Sie haben sowohl introvertierte als auch extravertierte Züge. Das kann bedeuten, dass Sie manchmal nicht genau wissen, was Sie wollen. Sie sind dann hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, allein sein zu wollen und unter Menschen zu sein. Für Sie ist es wichtig, herauszufinden, welche Situationen Ihnen Kraft geben und welche Sie Kraft kosten. 1–9: Sie sind eher extravertiert. Sie brauchen andere Menschen um sich herum. Alleinsein ist für Sie nicht erstrebenswert. Sie fühlen sich wie ein Fisch im Wasser, wenn Sie neue Eindrücke bekommen und etwas erleben. PHc

QUELLE

Meine Beziehungen sind von Dauer. O trifft zu O trifft nicht zu

Marti Olsen Laney: The introvert advantage. How to thrive in an extrovert world. Workman Publishing Company, New York 2002

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STÄNDIG AUF EMPFANG Sie nehmen Geräusche und Gerüche überdeutlich wahr und sind auch emotional äußerst empfänglich: Hochsensible Menschen haben ein sehr durchlässiges Nervenkostüm. Das hat auch Vorteile VON SUSIE REINHARDT UND AXEL WOLF

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I

m Fußballstadion ist es ihnen zu laut, Partys sind ihnen zu trubelig, und im Kaufhaus nervt sie die Unübersichtlichkeit. Small Talk überfordert sie, Musik kann sie zu Tränen rühren, bei Gewaltszenen im Fernsehen schalten sie ab, für Stimmungen von Mitmenschen sind sie extrem empfänglich, und sie ahnen aufkommende Schwierigkeiten schneller als andere. Ende der 1990er Jahre entdeckte die Psychologin Elaine N. Aron, dass manche Menschen feinfühliger sind als andere, da sie offenbar Reize anders verarbeiten. Sie beschrieb diese besondere Reizempfindlichkeit als ein eigenständiges Persönlichkeitsmerkmal, das sie „hochsensibel“ nannte. Rund 15 bis 20 Prozent der Menschen sind betroffen, schätzt Aron. Aron stieß im Zuge ihrer Arbeit als Psychotherapeutin auf diesen Typus. Ihr fiel auf, dass manche Menschen auf viele Arten von Sinneseindrücken stärker anspringen. Die Psychologin forschte, führte zahlreiche Gespräche mit Klienten und beschrieb daraufhin das Erleben dieser hochsensiblen Menschen genauer. Sie bekommen oft zu hören: „Nun sei mal nicht so empfindlich!“ In der Tat haben die Betroffenen offenbar ein höchst durchlässiges Nervenkostüm. Eine liebevoll gemeinte Frotzelei, eine achtlose Bemerkung kann sie in tagelanges Brüten versetzen. Aber genauso sehr kann sie eine freundliche Geste oder ein unerwartetes Kompliment überglücklich machen, und der Anblick eines Vaters, der sein Kind liebevoll tröstet, lässt sie in Tränen ausbrechen. Hochsensible sind aber auch sensorisch auf höchster Alarmstufe: Gerüche, Berührungen, plötzliche Geräusche bringen sie aus dem Gleichgewicht, und ein kratzender Pullover geht gar nicht.

Sie beklagen sich oft über Dinge, die andere Menschen nicht einmal bemerken: Das Deodorant eines Kollegen, eine Duftkerze, das leise Brummen einer Neonlampe im Büro verursachen ihnen Kopfschmerzen. Häufiger als andere Menschen scheinen Hochsensible unter Störungsbildern wie chronischer Müdigkeit oder Fibromyalgie zu leiden. Derart feinsinnige Menschen gab es schon immer, ist Aron überzeugt. Sie geht davon aus, dass Hochsensibilität ein angeborener Wesenszug ist, welcher der Gemeinschaft nützt und der schon für das Überleben unserer Vorfahren sinnvoll war: Da Hochsensible ständig auf Empfang und oft alarmiert sind, bemerken sie manches früher als andere. Die Dünnhäutigen unter unseren Vorfahren sahen beispielsweise als Erste den Löwen im Gebüsch und konnten so die Gruppe vor der Gefahr warnen. Es ist daher gut möglich, dass sie als Mahner für das Überleben unserer Art wichtig waren und noch immer sind: Heute sind sie womöglich die Ersten, die schwelende Konflikte im Team bemerken, Umweltgefahren erkennen und auf andere Risiken aufmerksam machen.

Dünne Bewusstseinswände Hochsensible haben nicht nur eine wichtige Mahnerrolle, vermutlich sind auch viele von ihnen besonders kreativ. Das zeigt sich darin, dass sie kulturelle Strömungen schon spüren können, lange bevor diese den Mainstream erreicht haben, denn sie erkennen all die kleinen Signale und Zeichen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Hochsensible sind oft Schriftsteller, Historiker, Philosophen, Richter, Theologen, Künstler, Musiker oder Forscher. Der 2013 verstorbene Psychiater und Traumforscher Ernest Hartmann von 51


Menschen mit einer ungefilterten Wahrnehmung müssen viel mehr Eindrücke verarbeiten

der Tufts University arbeitete intensiv an einem Konzept, das die Grenzen in der Struktur der Persönlichkeit beleuchten soll: Das Leben, so fand er heraus, wird durch eine Reihe von Grenzen definiert – zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen mir und dir, zwischen Subjekt und Objekt und so weiter. Und wir Menschen unterscheiden uns darin, wie und wo wir diese Grenzen ziehen und wahrnehmen. In Hartmanns Theorie können Menschen, deren mentale Grenzen eher durchlässig sind, die Bewusstseinsinhalte nicht deutlich voneinander unterscheiden – sie erleben etwa einen Tagtraum als ziemlich real und die raue Wirklichkeit als etwas Fantastisches. Es ist, als ob sie überhaupt sehr poröse „Schalen“ hätten, die es auch der Umwelt erlauben, in sie ein- und bis in ihre Träume vorzudringen. Hartmanns Theorie der „dünnen Wände“ bekräftigt die Vorstellung, dass manche Menschen sehr viel mehr Eindrücke und Einflüsse verarbeiten müssen als andere. Die neuere Hirnforschung liefert weitere Erkenntnisse, die das Konzept Hochsensibilität stützen. Bildgebende Verfahren lieferten Hinweise, dass es deutliche Unterschiede zwischen den Gehirnen von Hochsensiblen und ande52

ren Menschen gibt. Regionen des Neokortex, die mit Aufmerksamkeit und der Verarbeitung von Sinnesdaten gekoppelt sind, reagieren bei Hochsensiblen hochaktiv auf jede Art von Stimulierung. Auch Areale, die auf Belohnungen oder aber auf Angstauslöser spezialisiert sind, sprechen bei Hochsensiblen intensiver auf Reize an als beim Durchschnitt. Eine andere Facette der Sensitivität hat der Emotionsforscher Michael Jawer entdeckt. Er arbeitete für eine Umweltschutzagentur und untersuchte im Rahmen seiner Tätigkeit Berichte über „krankmachende“ Häuser und die Luftqualität in Gebäuden. Dabei stellte er fest, dass einige Menschen über belastende Zustände in Gebäuden und Büros klagten – also über üble Gerüche, hässliche Farben, Staub und andere belastende Faktoren. Manche dieser „Gebäudesensiblen“ gaben an, dass sie durch Ausdünstungen, Pestizide oder andere Spurenelemente in der Luft krank geworden seien. Andere berichteten, dass sie auch emotional sehr belastet würden durch den Aufenthalt in solchen Gebäuden. Als Jawer dann einige Personen befragte, die davor eindeutig als Hochsensible identifiziert worden waren, fand er bei ihnen ein weites Spektrum von Störungen und Beeinträchtigungen vor, bei denen man eine starke psychosomatische Komponente vermutet: Migräne, Reizdarm, chronisches Erschöpfungssyndrom, Allergien und Fibromyalgie.

Hochsensibel und hochbegabt? Die Psychologin Andrea Brackmann betrachtet das Phänomen der Hochsensibilität aus einer anderen Perspektive: der Hochbegabung. Brackmann entdeckte, dass das Denken der Begabten oft mit einem sensibleren Wesen einhergeht: Hochbegabte sind häufig schon als Kinder nicht nur auf geistiger, sondern auch auf emotionaler Ebene besonders ansprechbar. Diesen Zusammenhang

von schnellem Denken und sensiblem Fühlen fand sie in verschiedenen Forschungsarbeiten bestätigt. Viele Eltern, so Brackmann, hätten ihr berichtet, dass ihre hochbegabten Kinder „dauernd unter Strom“ stünden – eine Beschreibung, die auch gut zu den Hochsensiblen und deren Anspannung passt. Allerdings sehen nicht alle Experten einen Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Hochbegabung. So äußert sich die Psychologin Sandra Konrad, die an der Helmut-SchmidtUniversität der Bundeswehr Hamburg zum Thema forscht, eher skeptisch. Bei allen Gemeinsamkeiten sind Hochsensible keine homogene Gruppe. Welche und wie viele Sinne jeweils scharfgestellt sind, ist individuell unterschiedlich. Es könnten unterschiedliche Gene beteiligt sein, das Zusammenwirken mit anderen Anlagen und Eigenschaften spielt eine Rolle, und schließlich sind auch die frühen Erfahrungen eines Menschen mitverantwortlich für die individuellen Ausprägungen der Hochsensibilität. Für Hochsensible bedeutet ihre ständig erhöhte Wachsamkeit erheblichen Stress. Wird sie nicht regelmäßig heruntergedimmt, kommt es zu einer verstärkten Ausschüttung des Stresshormons Kortisol – und dies steht in Zusammenhang mit einem erhöhten Depressionsund Burnoutrisiko. Ein weiterer Stressfaktor ist die permanente Erfahrung des Andersseins, die das Selbstwertgefühl schwächt. Für Betroffene ist es daher wichtig, zu erkennen, warum sie sich oft „anders“ oder „falsch“ fühlen. Wenn sie die eigene Hochsensibilität erkennen und als eine neutrale Eigenart akzeptieren, können sie das eigene Verhalten und Erleben mit einem milderen Blick anschauen und neu bewerten. PHc

ZUM WEITERLESEN Elaine N. Aron: Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen. Mvg, München 2013 (9. Auflage)

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SIND SIE EIN

ABLENKER ODER EIN ALARMIST?

S

tellen Sie sich vor, Sie sitzen im Flugzeug. Noch 30 Minuten bis zur Landung. Das Essen ist längst abgeräumt, vorn flimmert der Bordfilm. Da geht unvermittelt ein Ruck durch die Maschine, und Sie spüren, wie sie heftig absackt. Erstarrt kauern Sie in Ihrem Sitz. Endlich, endlose Sekunden später, meldet sich der Kapitän: kein Grund zur Beunruhigung, bloß könne der Rest des Fluges ein wenig turbulent werden. Ist wirklich alles in Ordnung? Ganz überzeugt sind Sie nicht. Was würden Sie nun tun? Aufmerksam die Triebwerksgeräusche sondieren; nochmals Satz für Satz den Zettel mit den Sicherheitshinweisen studieren; dabei aus den Augenwinkeln beobachten, ob sich die Crew irgendwie anders als sonst benimmt? Oder schulterzuckend den Kopfhörer überstülpen und den Bordfilm bis zum Abspann anschauen? Haben Sie die zweite Alternative gewählt? Dann sind Sie wahrscheinlich ein „Blunter“ (to blunt: abstumpfen, Schärfe nehmen). Sie machen um Gefahrenhinweise einen Bogen, spielen bedrohliche Informationen herunter. Was Sie beunruhigen könnte, lassen Sie erst gar nicht an sich heran. Sie schauen nicht hin, blenden aus, lenken sich ab. Ihr Motto: Was ich 54

nicht weiß, macht mich nicht heiß. Selten haben Sie schlaflose Nächte wegen Dingen, an denen Sie ohnehin wenig ändern können. Das ist gut. Wozu darüber nachgrübeln, ob Sie bei der angekündigten Entlassungswelle in der Firma dabei sein werden. Es kommt, wie es kommt. Doch vielleicht bringen Sie auch Dinge, an denen Sie durchaus etwas ändern könnten, nicht aus der Reserve. Das ist schlecht. Hätten Sie nicht doch die Zeit vor der Entlassung nutzen können, um bereits berufliche Alternativen zu sondieren? Oder gehören Sie zu denjenigen, die im Eingangsbeispiel ängstlich das Flugzeugtriebwerk belauscht hätten? Dann sind Sie wahrscheinlich ein „Monitor“ (to monitor: überwachen, mahnen). Immerzu halten Sie nach potenziellen Gefahren Ausschau. Im Zweifelsfall wollen Sie es ganz genau wissen. Die volle schreckliche Wahrheit muss auf den Tisch! Das ist gut. Nur wer die Augen nicht verschließt, vermag zu handeln, kann der Gefahr begegnen. Doch Sie beobachten nicht neutral. Sie bauschen auf, sehen schwarz. Sie regen sich auf, machen sich verrückt wegen ungelegter Eier. Bisweilen lähmt Sie Ihr Wissen, statt Sie aufzurütteln. Das ist schlecht. Im Grunde wissen Sie das. Aber Sie können nicht anders. Ihr Motto: Was ich weiß, PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Für manche Menschen steckt die Welt voller Bedrohungen. Überall wittern sie Gefahren. Bis zur Entwarnung finden sie dann keine Ruhe. Doch was, wenn die Entwarnung ausbleibt? VON THOMAS SAUM-ALDEHOFF

macht mich heiß – aber was ich nicht weiß, macht mich erst recht heiß. Wenn Sie etwas alarmiert, können Sie es beim besten Willen nicht ignorieren.

Foto: sïanaïs / photocase.de

Zwei Stile im Umgang mit Bedrohungen Monitoring und Blunting, Überwachen und Ausblenden sind zwei entgegengesetzte Bewältigungsstile im Umgang mit bedrohlichen Situationen und Informationen. Menschen unterscheiden sich darin, welchen der beiden Stile sie bevorzugen. Diese Unterschiede sind stabil. Aus einem passionierten Überwacher wird nicht über Nacht ein Ablenker und umgekehrt. Rund 20 Prozent der Bevölkerung sind Monitors, weitere 20 Prozent Blunters, der Rest Mischtypen, hat Ursula Voss von der Universität Frankfurt mit ihrem Team ermittelt. Die amerikanische Medizinpsychologin Suzanne M. Miller hat die beiden Stile Ende der 1980er Jahre ausfindig gemacht. Monitors regen sich leicht auf. Sie scannen ihre Umgebung, immer auf der Suche nach potenziellen Bedrohungen. Sind sie fündig geworden, schlägt ihr Körper Alarm. Dann verkrampfen die Muskeln, das Herz rast, der Schweiß bricht aus, die Schmerzschwelle sinkt.

Zum Beispiel im Kino. Die Kommunikationswissenschaftler Glenn Sparks und Melissa Spirek beglückten studentische Versuchspersonen mit einer Vorführung des Horrorfilms Nightmare on Elm Street. Dabei maßen sie den Hautwiderstand, ein Indikator für Angstschweiß. Die Monitors unter den Probanden blieben bei den ruhigeren Passagen des Films noch relativ cool. Die Horrorszenen hingegen versetzten sie deutlich stärker in Aufruhr als ihre Blunterkollegen, denn genau in diesen Sequenzen wurden die Monitors mit den Gefahrensignalen traktiert, nach denen sie stets Ausschau halten. Das Experiment zeigt, was sich auch in anderen Studien bestätigte: Die meisten Monitors sind nicht generell ängstlicher oder „neurotischer“ als andere Menschen. Sie reagieren nur dann gestresst, wenn sie etwas finden, über das sie sich ängstigen oder Sorgen machen können – und sie finden häufig etwas, denn sie suchen ja ständig nach solchen Alarmzeichen. Ihre Neigung, die Aufmerksamkeit auf das Bedrohliche zu fokussieren, ist ziemlich resistent gegen Veränderungsversuche. Das mussten niederländische Psychologen um Peter Muris feststellen, als sie die Wirksamkeit einer Verhaltenstherapie bei Spinnenphobikerinnen überprüften. 36 Frauen, die ihre pani55


sche Furcht vor den unappetitlichen Krabbeltieren loswerden wollten, absolvierten ein „Expositionstraining“: Zweieinhalb Stunden lang versuchten Sie unter therapeutischer Anleitung, einer Spinne Schritt für Schritt und Griff für Griff näherzukommen. Diese bewährte Therapietechnik schlug indes bei jenen Patientinnen, die zuvor als Monitors identifiziert worden waren, kaum an – so sehr sie sich auch bemühten, sie konnten nicht anders, als die harmlosen Tierchen als potenzielle Quelle der Gefahr wahrzunehmen. Ursula Voss und ihre Kollegen haben beobachtet, dass es bereits unter Kleinkindern Monitors und Blunters gibt. Sie stellten ferner fest, dass erwachsene Monitors häufig schlecht schlafen, weil ihnen auch des Nachts allerlei Befürchtungen durch den Kopf gehen. Ein übers andere Mal schreckt sie ein „verdächtiges“ Geräusch aus dem Schlaf – könnten das Einbrecher sein? Nicht nur in Gefahren-, sondern auch in Leistungssituationen bleiben Überwacher und Ablenker ihrem Stil treu. Das stellte Suzanne Miller fest, als sie Studenten beiden Typs eine Reihe von Tests aufhalste, die angeblich Rückschlüsse auf die akademische Leistung erlaubten. Eine Leuchtanzeige signalisierte dabei fortlaufend, wie gut sie gerade lagen. Monitors blinzelten häufig zu dem Licht hinüber; Blunters dagegen gingen auch hier jedem Stress aus dem Weg und ignorierten das Leistungsfeedback.

Überwacher lauschen in sich hinein Studien belegen, dass der Hang zum Monitoring sich auch massiv im Gesundheitsverhalten eines Menschen spiegelt, in seinem Umgang mit Krankheit und Bedrohung von Leib und Leben. Der Bewältigungsstil kann also mitentscheidend sein für Erfolg oder Misserfolg einer medizinischen Therapie. Ergibt ein simpler Routinetest beim Hausarzt erhöhte Cholesterinwerte, reagieren Monitorpatienten oft gleich ängstlich und depressiv, als sei der Herzinfarkt nun bloß noch eine Frage der Zeit. Schlimmste Befürchtungen quälen auch schwangere Frauen vom Überwachungstyp, die sich einer Fruchtwasseruntersuchung auf mögliche Chromosomenschäden bei ihrem heranwachsenden Kind unterziehen und dabei das Risiko eines schlechten Testergebnisses völlig überzeichnen. Monitors lauschen generell häufiger als andere in sich hinein, spüren eventuellen Warnzeichen nach. Jedes Ziehen und Ziepen bedarf der fachkundigen Untersuchung – es könnte ja „was Ernsthaftes“ sein. Überwachungsmenschen sind eifrige, aber beileibe keine einfach zu handhabenden Arztbesucher. Sie kooperieren vorbildlich mit dem Doktor, befolgen seine Anweisungen und all die Hinweise auf den Beipackzetteln der Medikamente, die er verschreibt. So wie sie auch all die Ernährungsratschläge zum Vorbeugen gegen Krebs und Herzinfarkt nebst den Verhaltensempfehlungen zur Verhütung von Infek56

tionen geflissentlich beachten. Gleichwohl sind diese Patienten beim medizinischen Fachpersonal gefürchtet. Immer darauf gefasst, dass es gleich wehtun, stechen, ziehen oder brennen wird, sind Monitors während körperlicher Untersuchungen häufig verkrampft und angespannt – und daher besonders schmerzempfindlich. Bereitet der Arzt sie indes in einem ausführlichen Informationsgespräch auf sämtliche Details einer bevorstehenden unangenehmen Untersuchung vor, so zeigt dies bei Monitors Wirkung: Sie sind dann während des Eingriffs ruhiger. Bei Blunters ist das genau umgekehrt: Am ruhigsten sind sie während einer medizinischen Untersuchung, wenn man sie zuvor mit den Details verschont hat. Information beunruhigt sie.

„Ist wirklich alles abgeklärt, Frau Doktor?“ Monitors wollen beim Arzt alles ganz genau wissen: Woher rühren diese Beschwerden? Was kann ich tun, um künftigen Komplikationen vorzubeugen? Was der Doktor ihnen nicht oder für ihren Geschmack in zu knappen Worten sagt, suchen sie aus Büchern oder dem Internet zusammen. Mit Erfolg: Monitorpatienten erwiesen sich in Befragungen oft als gut über ihren Gesundheitszustand informiert. Obwohl sie sich generell vor dem Ergebnis jeder diagnostischen Abklärung fürchten, machen Menschen vom Überwachungstyp meist keinen Bogen um Vorsorgeuntersuchungen. Ja sie fordern – sicher ist sicher – oft von sich aus weitere Schritte: Könnten wir nicht noch Test x, Spiegelung y machen, um Störung z auszuschließen? Monitors bilden sich jedoch keine Symptome ein oder erzeugen diese gar. Im Gegenteil: Sie suchen die Gewissheit, dass sie gesund sind. Erhalten sie trotz allen Nachbohrens eine überzeugende Entwarnung, sind sie erleichtert. Nun können sie Ruhe geben, einstweilen, bis zum nächsten verdächtigen Wert. Monitors frönen einer aufwendigen Sicherheitsstrategie. „Trotz der hohen psychischen Kosten dieser Strategie könnte Monitoring eine konstruktive Funktion haben“, schreibt Suzanne Miller. „Es hilft einem bei zielgerichteten Anstrengungen, solange die Gefahr kalkulierbar ist.“ Aber wehe, wenn sie nicht mehr kalkulierbar ist! Wenn die diagnostische Prozedur tatsächlich einen beunruhigenden Befund bringt, wird der Wissensdurst, der den Patienten ansonsten Erleichterung verschafft, zu einer fatalen Stressquelle. Suzanne Miller beobachtete Patienten vom Monitortyp, bei denen eine Krebserkrankung diagnostiziert worden war. Selbst inmitten von Schock, Angst und Verzweiflung hielten sie zunächst an ihrer Strategie fest und suchten nach weiteren Informationen. Im Prinzip ist das natürlich sinnvoll. Krebspatienten sollten über alle Behandlungsoptionen umfassend informiert sein, um mündig mitentscheiden zu können. Doch Monitorpatienten nehmen ihr Schicksal selten wirklich selbst PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Monitortypen sammeln Informationen, um sich zu beruhigen. Doch sie verkraften keine alarmierenden Botschaften

in die Hand, sondern gerade sie delegieren die Entscheidungen häufig an den Arzt. Sie wissen zwar gut Bescheid, wie es um sie steht, doch dieses Wissen überfordert sie. Denn all die Informationen und diagnostischen Werte, die sie noch immer zu ihrer Beruhigung zusammentragen, steigern stattdessen die Sorgen.

Was hält die Sorgen in Schach? Zwar spüren Monitors durchaus, dass dies so ist, und versuchen, den dunklen Gedanken Einhalt zu bieten. Aber mit dem Unterdrücken ist es bekanntlich so eine Sache: Je mehr man einen Gedanken bekämpft, desto stärker drängt er sich auf. „Monitors könnten besonders anfällig sein für diesen paradoxen Effekt“, schreibt Miller, „weil es ihnen schwerfällt, unangenehme Gedanken spontan zu unterdrücken. Versuchen sie es dennoch, erweist es sich oft als nutzlos.“ In höchster emotionaler Not, so beobachtete Miller, versuchen viele Monitors, auf den entgegengesetzten Bewältigungsstil umzuschalten: Sie schwänzen Untersuchungen, die ihnen noch mehr schlechte Nachrichten bringen könnten, und geben sich Mühe, die Gefahr zu leugnen. Doch dazu haben sie kein Talent. Nur geborene Blunters profitieren seelisch vom Meiden der Bedrohung – bei Monitors hingegen steigert diese Strategie die Angst. Ausblenden ist für sie keine Lösung. Wie können Ärzte, Pfleger und Psychologen Patienten vom Monitortyp am wirkungsvollsten unterstützen? Generell hat sich gezeigt, dass Monitors auch in schwierigen Lebenslagen von Informationen profitieren – bloß kommt es auf ihre Dosierung an und auf die „Verpackung“. Risiken und Nebenwirkungen einer vorgeschlagenen Behandlung muss die Ärztin natürlich erwähnen, aber sie sollte diesen Aspekt bei Monitors nicht auch noch besonders hervorheben, denn derlei alarmierende Informationen saugen sie ohnehin in sich auf. Stattdes-

sen sollte sie die positiven Folgen der empfohlenen Therapie hervorheben. Prinzipiell hilfreich sind auch Entspannungstechniken wie das autogene Training – mit denen sich Monitors allerdings ebenfalls schwertun, denn das Ablenken und Abschalten ist eben nicht ihr Metier. So zeigte sich etwa, dass krebskranke Patienten vom Bluntertyp stärker von Entspannungsverfahren während der Chemotherapie profitierten als Monitors. Doch da half ein kleiner Trick: Gab man den Monitors die geschönte, aber aufbauende Rückmeldung, dass es mit der Entspannung ja schon recht gut klappe, dann taten sie sich leichter. Monitors brauchen spezielle Strategien, um störende Gedanken auszublenden. Hierzu eignen sich kognitive Techniken wie der „Gedankenstopp“ oder auch sogenannte Distraktoren – prägnante Vorstellungsbilder, die das Bewusstsein beschäftigen und den Katastrophenideen den Raum zur Entfaltung streitig machen. Beispielsweise fiel Versuchspersonen in einem Experiment das Hinwegdrängen unliebsamer Gedanken leichter, wenn sie sich mit dem mentalen Bild eines knallig roten Volkswagens ablenkten. Ziel solcher Hilfen und Trainings kann nicht sein, die Patienten zu „bekehren“ und von ihrem Drang abzubringen, ihre Umgebung zu überwachen, meint Suzanne Miller. Dies ist nun mal ihr Stil und Teil ihrer Persönlichkeit. Miller leitet Monitorpatienten vielmehr an, ihren angestammten Bewältigungsstil konstruktiv und auf weniger belastende Weise zu nutzen. Wichtig ist dabei, sich eine Sicht auf die Dinge anzugewöhnen, „die das Hervorstechen der Bedrohung reduziert und stattdessen die Aufmerksamkeit auf die positiven und beruhigenden Aspekte der Situation lenkt – und auf die Dinge, die sie tun können, um Probleme effektiv zu bewältigen und zu lösen“. PHc

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LEICHT NEBEN DER SPUR

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Normal sein, das heißt durchschnittlich, realitätsorientiert zu leben. Wer auffällt, sich unangepasst verhält, gilt schnell als verrückt. Doch so klar ist die Sache nicht VON URSULA NUBER

B

in ich normal? Das fragt sich die Frau, die, wie ihre Umgebung meint, schon viel zu lange um ihren Mann trauert. Das fragt sich der Geschäftsreisende, der immer einen Schluck Whiskey braucht, ehe er in ein Flugzeug steigt. Das fragt sich die Mutter, die sich nicht richtig um ihr Kind kümmern kann, weil sie unter einem Putzzwang leidet. Das fragt sich der Ehemann, der mal wieder seiner Frau gegenüber die Fassung verloren hat. Das fragt sich die junge Frau, die unter quälender Niedergeschlagenheit leidet. Und das fragt sich der Mann, der sich an keine Frau binden kann. Bin ich normal? Neue wissenschaftliche Ansätze definieren Normalität nicht mehr als Entweder-oder-Kategorie (entweder man ist normal oder verrückt), sondern betrachten sie als ein Kontinuum. An dessen einem Ende steht Verrücktheit und am anderen Ende psychische Gesundheit – mit zahlreichen Abstufungen dazwischen. So gesehen, ist die Linie zwischen normalem und nicht normalem Verhalten viel dünner, als uns lieb ist. John Ratey, Psychiater an der Harvard Medical School, geht sogar so weit zu sagen: „Wahrscheinlich ist niemand von uns normal – normal in dem Sinne, ein Gehirn zu besitzen, in dem alle einzelnen Bestandteile und alle Systeme gleichermaßen gut funktionieren und alle Funktionen deutlich innerhalb eines optimalen Spektrums liegen.“ Schwierige Lebensumstände, Stress, Sorgen verursachen nach Rateys Theorie im Gehirn einen mentalen Lärm, ein „weißes Rauschen“ und stören die normalen Gehirnfunktionen. Wie realer Lärm hat auch dieses Geräusch schädliche Wirkungen. Es wird schwierig, einen Gedanken festzuhalten, die Reaktionen erfolgen automatisch und direkt. Die Folge sind dann leichte Verrücktheiten wie Aufmerksamkeitsstörungen, Wutanfälle, Fressattacken, milde Depressionen oder Angstzustände. Diese ganz normalen Probleme normaler Menschen seien Schattensyndrome von voll ausgeprägten psychischen Krankheiten, meint John Ratey. Das bedeutet: Jeder Mensch kann unter bestimmten Bedingungen

ein bisschen verrückt werden. Damit bestätigt der Psychiater, was Sigmund Freud bereits 1937 wusste: „Jeder Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des Psychotikers, in größerem oder geringerem Ausmaß …“

Das Hilfreiche an Verrücktheiten Wenn aber jeder Mensch zumindest ein bisschen verrückt werden kann, ist dann nicht Verrücktheit eine völlig normale Erscheinung? Wenn sich die Grenzen zwischen Normal und Anormal auflösen, ermöglicht das nicht neue Normalitäten? Es gibt inzwischen eine Reihe von Wissenschaftlern, die das Phänomen aus diesem optimistischeren Blickwinkel betrachten. Sie halten wenig davon, alle Menschen zu pathologisieren, indem selbst leichte Störungen als nicht normal etikettiert werden. Stattdessen fragen sie, ob bestimmte verrückte Verhaltensweisen unter bestimmten Umständen nicht völlig normal sein können. Müssen Anwälte vor Gericht nicht aggressiv auftreten? Braucht eine Schauspielerin nicht eine gehörige Portion Narzissmus? Ist es nicht beruhigend, wenn ein Buchhalter zwanghafte Züge und einen ausgeprägten Perfektionismus aufweist? Diese positive Sicht auf die Persönlichkeit ordnet menschliches Verhalten nicht mehr in die Kategorien „pathologisch“ und „nicht pathologisch“ ein, sondern trägt der Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen Rechnung. Am Beispiel der im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-5) aufgeführten zehn Persönlichkeitseigenschaften wird diese Sichtweise deutlich. Dort, in der Bibel der Psychiater, werden paranoide, schizoide, schizotype, antisoziale, narzisstische, histrionische, vermeidendselbstunsichere, dependente, zwanghafte und Borderline-Verhaltensweisen (siehe Kasten Seite 60) als Störung bezeichnet, wenn verschiedene Kriterien erfüllt sind. Persönlichkeitszüge werden aber nur dann als Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, wenn sie unflexibel, unangepasst und überdauernd sind und in bedeutsamer Weise funktionelle Beeinträchtigungen oder subjektives Leiden verursachen. Zunehmend betonen Wissenschaftler die Wichtigkeit, zwischen Persönlichkeitsstilen (oder -zügen) und Persönlichkeitsstörungen zu unterscheiden. Sie gehen davon aus, dass jede Art des Denkens, Fühlens und Handelns sich als gesunder Persönlichkeitsstil, aber auch als diagnostizierbare Störung äußern kann. Dabei sollten die Ausprägung der Symptome, die Stressbelastung, die Flexibilität der Person und ihr Lebenskontext berücksichtigt werden. Ausprägung: Die Person denkt, fühlt oder handelt in einer Art und Weise, die am äußersten negativen Ende des Kontinuums zwischen Normalität und Abnormalität liegt. Flexibilität: Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung sind in ihrem Verhalten festgefahren und unfähig, auf veränderte Bedingungen zu reagieren. 59


STIL ODER STÖRUNG? Ob eine bestimmte Charaktereigenschaft einem Menschen und seiner Umgebung schwerwiegende Probleme bereitet oder ob er gut damit leben kann, hängt von ihrer Ausprägung ab und von dem Lebensumfeld

Die paranoide Persönlichkeit

Die narzisstische Persönlichkeit

Handelt es sich um einen Persönlichkeitsstil, dann ist die Person

Selbstsicher, geschäftstüchtig und ehrgeizig sind Menschen mit

kritisch und achtsam. Sie fühlt sich wohl in einer Umgebung, in

narzisstischem Persönlichkeitsstil. Sie brauchen allerdings eine

der sie sich nicht offenbaren oder verletzbar machen muss. Un-

Umgebung, in der sie sich anderen überlegen fühlen. Stoßen sie

wohl dagegen fühlt sie sich in einem Umfeld oder in Beziehungen,

auf Widerworte und Kritik, können sie nur schwer mit dieser

die ihr viel Vertrauen und Engagement abverlangen. Eine Persön-

„Kränkung“ zurechtkommen. Eine Störung liegt vor, wenn sie

lichkeitsstörung liegt vor, wenn die Person von Misstrauen getrie-

ihre Mitmenschen mit Arroganz und ohne Einfühlung begegnen

ben ist und dünnhäutig, nachtragend und feindselig reagiert.

und sie für ihre Zwecke ausbeuten.

Die schizoide Persönlichkeit

Die histrionische Persönlichkeit

Ein Mensch mit einem schizoiden Persönlichkeitsstil ist selbstän-

Diese Person liebt dramatische Auftritte, ist unterhaltsam, stilbe-

dig und selbstbeherrscht, nüchtern und unerschütterlich. Er ist

wusst, großzügig und fantasievoll. Ein künstlerisches Umfeld, in

gut aufgehoben in Umgebungen, die keine emotionalen Ansprü-

dem sie Aufmerksamkeit bekommt, ist ideal für sie. Unglücklich

che stellen. Probleme entstehen, wenn Nähe und Intimität gefor-

wird sie, wenn sie mit ihrer auffälligen Art aneckt. Eine Persönlich-

dert sind. Zur Störung entwickeln sich schizoide Eigenschaften,

keitsstörung liegt vor, wenn Histrioniker Eigenschaften zeigen

wenn der Betreffende auf seine Umwelt nur kalt und abgehoben

wie: fordernd und ichbezogen, eitel und oberflächlich, sexuell

reagiert und sich völlig zurückzieht.

aggressiv und provokativ.

Die schizotype Persönlichkeit Unkonventionell, kreativ und offen ist ein Mensch, bei dem schi-

Die vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeit

zotype Eigenschaften nur schwach ausgeprägt sind. Diese Perso-

Diese Menschen können ein Gewinn für ihre Umgebung sein. Sie

nen entfalten sich dort, wo sie ihre Originalität und Fantasie ein-

sind sensibel, treu und zuverlässig. In strukturierten, stabilen Um-

bringen können. In einer konventionellen Umgebung dagegen

gebungen, wo sie wenig neue Menschen kennenlernen müssen,

leiden sie. Von einer Persönlichkeitsstörung muss gesprochen

fühlen sie sich wohl. Schädlich dagegen ist ein freies Umfeld, das

werden, wenn die Person seltsame Überzeugungen entwickelt

soziale Interaktion abverlangt. Eine Persönlichkeitsstörung liegt

(Aberglaube, Telepathie), seltsame Denk- und Sprechweisen zeigt

vor, wenn die Person aus Angst vor Zurückweisung berufliche

und Reaktionen der anderen nicht mehr wahrnimmt.

oder soziale Aktivitäten vermeidet.

Die Borderlinepersönlichkeit

Die dependente Persönlichkeit

Wer leichte Borderlinezüge besitzt, kann seine Gefühle gut aus-

Ein dependenter Mensch ist treu und hingebungsvoll, liebenswür-

drücken, ist oft spontan, unbekümmert, neugierig. In einem to-

dig und kooperativ. In einer Umgebung, in der er sich auf andere

leranten, zugewandten Umfeld fühlt sich diese Person wohl. Gift

verlassen kann, ist er gut aufgehoben. In Situationen, in denen er

sind Beziehungen und Situationen, in denen sie sich verlassen und

herausgefordert wird oder auf sich allein gestellt ist, bekommt er

unverbunden fühlt. Zur Störung werden Borderlinezüge, wenn

dagegen Probleme. Zur Störung wird der dependente Stil, wenn

die Person sich launisch, sprunghaft, kapriziös verhält, zugleich

die Person sich ohne die Unterstützung anderer hilflos fühlt und

aber extrem anhänglich. Selbstverletzungen und ein schwaches

extreme Angst vor dem Verlassenwerden hat.

Selbstwertgefühl sind die Schattenseiten von Borderline.

Die zwanghafte Persönlichkeit Die antisoziale Persönlichkeit

Diese Menschen sind gewissenhaft, exakt und prinzipientreu. Sie

Menschen mit diesem Charakterzug sind oft charmant und ge-

brauchen eine organisierte Umgebung. Ein Leben ohne Regeln

wandt. Sie lieben das Abenteuer und gehen gerne Risiken ein.

und ohne feste Gewohnheiten ist ihnen zuwider. Zwanghaftes

Regeln und Einschränkungen sind ihnen zuwider. Ist dieser Cha-

Verhalten wird zur Störung, wenn die Person perfektionistisch

rakterzug ausgeprägter, dann fallen diese Menschen durch über-

und unflexibel ist und sich derart in Details und Listen verliert, dass

mäßige Aggression auf. Sie verhalten sich manipulativ, respektlos,

sie mit der Arbeit nicht vorankommt.

rücksichtslos und umbarmherzig. 60

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Je nach Kontext kann Verrücktes auch nützlich sein

Stress: Wer unter einer Persönlichkeitsstörung leidet, erlebt sich selbst als stark belastet und in seinem Leben eingeschränkt. Kontext: Eine Verhaltensweise, die in einer Situation völlig deplatziert und verrückt wirkt, kann in einer anderen Situation angebracht und von Nutzen sein. Ob ein Mensch unter seinen Persönlichkeitseigenschaften leidet, hängt in ganz besonderem Maße vom Kontext ab, in dem er lebt, erklärt der Psychiater Randolph Nesse von der Universität von Michigan an einem Beispiel: Eine Frau mit einer histrionischen Persönlichkeit wird vermutlich viel Ärger bekommen, wenn sie für eine Steuerberatungsfirma arbeitet. Ihr impulsives, dramatisches, exaltiertes Auftreten ist hier fehl am Platz. Arbeitet diese Frau jedoch als Schauspielerin, sind ihre Eigenschaften von großem Nutzen. Ein Verhalten, das in der einen Situation völlig verrückt wirkt, kann in einer anderen Umgebung gefeiert werden.

Foto: andsa / photocase.de

Ein Erbe der Evolution Diese neue, tolerante Sichtweise ermöglicht es, viele Verhaltensweisen vom Image des Pathologischen, des Verrückten zu befreien. Denn, so Thomas Widinger von der Universität von Kentucky: Die Muster, die man in Persönlichkeitsstörungen findet, sind Eigenschaften, die in der gesamten Bevölkerung zu finden sind. Wir alle besitzen sie in einem größeren oder geringeren Maße. Sie sind ein Erbe der Evolution. Viele Verhaltensweisen, die heute als seltsam oder unnormal erscheinen, waren zu früheren Zeiten sinnvolle Anpassungen, wie Widinger ausführt. So schützte ein vermeidend-ängstliches Verhalten unsere Vorfahren in einer Zeit, als Fremde eine potenzielle Gefahr darstellten. „Die Unsicherheit und Nervosität, die vermeidende Personen empfinden, wenn sie es mit Fremden zu

tun haben, war in bestimmten Situationen eine sinnvolle Reaktion“, erklärt Widinger. Ähnlich können zwanghafte Persönlichkeitseigenschaften wie Geiz und übermäßige Perfektion eine Vorbereitung auf Notsituationen gewesen sein. Was heute oft vorschnell als nicht normal eingestuft wird, war einst ein sinnvolles Verhalten. Die neuen Erkenntnisse geben Hoffnung, dass spleenige, exzentrische, auffällige Verhaltensweisen wieder einen Platz im Spektrum des Normalen erhalten und nicht gleich als pathologisch abgestempelt und unterdrückt werden. Es gibt Hoffnung, dass in unserer Gesellschaft nicht mehr nur der Konformismus triumphiert, sondern auch das Schillernde, Bunte, Unangepasste akzeptiert wird. Das neue Konzept von Normalität bedeutet aber nicht nur mehr Toleranz für bisher als unnormal geltende Verhaltensweisen. Es bedeutet auch eine Abkehr von der Auffassung, dass Konformität und Anpassung an die geltenden Regeln Königswege zur psychischen Gesundheit sind. Denn so gesund Normalität auch erscheinen mag, bei genauem Hinsehen ist sie oft doch alles andere als das. Zwar schützt Anpassung an die Norm vor Konflikten, doch allzu Normale verlieren etwas Kostbares, wie die Psychoanalytikerin Joyce McDougall warnt: „In der Konstruktion der massiven Wände ihrer Normalität scheint es ihnen an Fantasie zu fehlen. Oder vielleicht kommt es der Wahrheit näher, zu sagen, dass diese schützenden Wände das Individuum von jedem Kontakt mit sich selbst, von seinem Fantasieleben fernhalten.“ Allzu Angepasste wüssten nicht mal mehr, wie man träumt, meint McDougall. Norm kann zur Zwangsjacke der Seele, zum Friedhof der Fantasie werden. Der Preis für allzu große Normalität ist ein Leben auf Sparflamme. PHc 61


UNSERE BLINDEN FLECKEN Wir glauben, uns selbst ganz gut zu kennen. Wie kommt es nur, dass die Menschen um uns oft einen vรถllig anderen Eindruck haben? VON HEIKO ERNST 62

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Unser Selbstbild ist nie vollständig, denn manche Winkel unserer Person sind uns nicht einsichtig

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N

ach der Notenkonferenz sitzen einige aus dem Lehrerkollegium noch bei einem Kaffee zusammen. Als Charlotte S. erklärt, wie schwer es ihr manchmal falle, die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen und den Stoff durchzukriegen, äußern alle Kollegen ihr Erstaunen: „Du? Du bist doch der Star! Die Schüler bewundern dich! Die fressen dir doch aus der Hand! Wir hören immer nur: Die Frau S. – die ist toll, die ist super!“ Charlotte S. versucht zu erklären, wie deprimiert und fertig sie nach manchen Unterrichtsstunden ist – aber das halten die Kollegen für Koketterie. Offenbar ist uns nicht immer bewusst, wie wir im Alltag agieren und welchen Eindruck wir dabei auf andere machen. Und fast jeder Mensch erlebt von Zeit zu Zeit, dass sich eine Kluft auftut zwischen seiner Selbsteinschätzung und den Urteilen, die andere über ihn fällen. Es ist eine gut gesicherte psychologische Tatsache: Unser Selbstbild ist nie vollständig, denn unsere Selbstwahrnehmung ist durch blinde Flecken beeinträchtigt, Bereiche, die uns nicht einsichtig sind. Eine psychologische Forschungsrichtung, die Theorie vom self-enhancement, geht davon aus, dass wir unser Selbstbild

systematisch zu unseren Gunsten schönen und verzerren: Über 85 Prozent aller deutschen Autofahrer halten ihre Fahrkünste für überdurchschnittlich. Selbsttäuschung ist demnach der Normalfall: Wir sehen uns nahezu immer besser, als es der Wirklichkeit entspricht. Die Sozialpsychologin Shelley Taylor spricht von „positiven Illusionen“. Eine zweite Forschungsrichtung hingegen betont die Bedeutung der anderen: Unser Selbstbild komme durch „sozial geteilte Realität“ zustande. Wir beobachten, wie andere auf uns reagieren – und schließen daraus, wie wir sind. Und wir beobachten uns selbst „wie ein Fremder, vor allem wenn unsere inneren Hinweise schwach, zweideutig oder unverständlich sind“, meint der Sozialpsychologe Daryl J. Bem, Begründer der Selbstwahrnehmungstheorie. Das heißt: Wir leiten und lesen aus unserem Verhalten ab, welche Eigenschaften wir haben: Ich bin das, was ich tue, und ich bin so, wie ich es tue. Diese Theorien sind nicht falsch, aber unvollständig. Es gibt für beide genügend Gegenbeispiele in der Wirklichkeit: Viele Menschen neigen eben nicht zur „Selbstvergrößerung“, sondern eher dazu, sich zu verkleinern, sie unterschätzen ihre Fähigkeiten oder ihre Beliebtheit. Wieder andere achten wenig darauf, wie sie wirken oder „rüberkommen“, sie ignorieren selbst wohlwollendes Feedback und pflegen in der Tat eine systematische Selbstüberschätzung. Fest steht inzwischen: Bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, etwa Narzissmus oder Depressivität, beeinflussen maßgeblich, wie wir uns selbst einschätzen und die „Daten“ über unsere Performance verwerten.

Was können wir über uns wissen? Woher wissen wir überhaupt, wie wir sind und wie wir wirken? Wie entsteht unser Selbstbild? Es gibt vier Zugänge, aber nicht alle stehen uns offen: Erstens sind da relativ eindeutige und allseits ersichtliche Informationen, die wir weder vor uns selbst noch vor anderen verbergen können oder wollen: Als „öffentliche Person“ sind wir sichtbar und wissen meist ziemlich genau, welche Dinge wir mitteilen – etwa Meinungen, Überzeugungen, Vorlieben. Für uns selbst kaum zu ignorieren und für andere deutlich sichtbar sind meist auch Temperamentseigenschaften (lebhaft, lethargisch, ängstlich). Manche Wahrheiten über uns liegen offen zutage, auch wenn einige davon uns unangenehm sind. Zweitens gibt es Wahrheiten über uns selbst, die wir nicht erkennen können oder wollen – das sind die blinden Flecken in unserer Selbstwahrnehmung: Wir bemerken nicht, dass wir manchmal unnötig aggressiv, etwas geschwätzig, schnell beleidigt, sehr defensiv oder lange nachtragend sind. Die anderen wissen es wohl, sie erkennen also einen wichtigen Teil unserer Persönlichkeit, den wir selbst nicht sehen. „Die Sünden der anderen liegen offen vor uns, unseren eigenen wenden wir den Rücken zu“, schrieb der römische Philosoph Seneca. 63


Drittens gibt es eine Fülle von Informationen über uns, die nur wir selbst kennen. Nur wir wissen, was wir in jedem Augenblick fühlen und denken. Die Innenansicht bietet uns einen bevorzugten Zugang zu den Empfindungen, die unser Wesen ausmachen: Wir wissen selbst am besten, was uns rührt oder ärgert, was wir mögen und was nicht, woran wir glauben, wozu wir diese oder jene Meinung haben. Aus guten Gründen schützen wir diese Innensphäre. Beobachter müssten sich schon sehr anstrengen, wenn sie etwas davon erkennen wollten. Es liegt bei uns, wem wir etwas von diesem Privatwissen freiwillig preisgeben. So sind viele Menschen, selbst Schauspieler oder Manager, in sozialen Situationen schüchtern. Sie haben jedoch gelernt, diese quälende Unsicherheit gut zu verbergen. Viertens prägen Impulse und Motive unsere Persönlichkeit, die sowohl uns selbst nicht bewusst sind als auch anderen Menschen verborgen bleiben. Unbewusste „Elternaufträge“ lassen uns beispielsweise nach bestimmten beruflichen Zielen streben oder beeinflussen die Partnerwahl. Weit zurückliegende Kränkungen führen in bestimmten Situationen zu unangemessenen Aggressionen oder machen uns tieftraurig. Häufig liegen die Ursachen weit zurück in unserer Persönlichkeitsentwicklung, und es bedürfte schon großer introspektiver Anstrengungen, ihnen auf die Spur zu kommen – etwa in einer Psychotherapie.

Wie gut kennen uns die anderen? Wir tun uns schwer damit, eigene Persönlichkeitszüge und Eigenschaften realistisch-nüchtern zu beurteilen, in die wir eine Menge investiert haben – zum Beispiel Bildung und Intelligenz. Wenn Menschen ihre eigene Intelligenz einschätzen sollen, übersteigt diese Einschätzung fast immer den per Test gemessenen IQ. Dagegen liegen Menschen, die uns gut kennen, bei der Einschätzung unserer Intelligenz meist ziemlich richtig. Ihr Blick ist nicht durch das Selbstinteresse verzerrt. Verzerrte Selbstwahrnehmung spielt auch bei der Einschätzung der eigenen Attraktivität eine Rolle. Dabei kann es zu grotesken Fehlurteilen in beide Richtungen kommen: Einige Menschen halten sich für Supermodels und Adonisse. Andere haben ein negativ verzerrtes Selbstbild (bis hin zur „Dysmorphophobie“ – der Angst, völlig entstellt zu sein). Beides beweist, dass wir oft schon im rein Physischen nicht zu halbwegs objektiven Selbsturteilen fähig sind. Erst recht gilt das für die Körpersprache, für Mimik und Gestik. Wir mögen uns zwar öfter im Spiegel betrachten, aber „in Bewegung“ sehen uns die anderen sehr viel häufiger. Allgemein lassen sich die Befunde der Persönlichkeitsforschung so zusammenfassen: Wir werden präziser und schneller „erkannt“, wenn es um unsere aktiven Eigenschaften geht, also den Verhaltensstil, der unser soziales Agieren prägt. Sehr sichtbar scheint all das zu sein, was dem beruflichen Vorankommen oder dem Anerkanntwerden dient. Dynamik und 64

Selbstbehauptung in Gruppen sind gut erkennbare Seiten unserer Persönlichkeit. Dies gilt vor allem für Situationen, in denen andere sich einen ersten Eindruck von uns bilden. In länger andauernden Beziehungen wie Freundschaften, Partnerschaften und längerfristigen Arbeitsbeziehungen wird das Fremdbild vor allem durch die „stilleren“ Eigenschaften wie Verträglichkeit und Offenheit geprägt. Manche Menschen sind für die anderen wie ein offenes Buch – sie können relativ schnell und sehr zutreffend beurteilt werden. Der Psychologe Randall Colvin von der Northeastern University hat die Eigenschaften dieser Menschen untersucht und herausgefunden, dass es vor allem extravertierte, emotional stabile, warmherzige und in ihrem Verhalten konsistente Charaktere sind. Diese Merkmale gelten als „Verstärker“ in dem Sinne, dass sie andere Persönlichkeitsmerkmale sichtbarer machen. Es ist beispielsweise leichter, die Kreativität eines extravertierten Menschen zu beurteilen als die eines introvertierten, einfach deshalb, weil der Extravertierte sehr viel mehr über seine Ideen, Ansichten oder Erfahrungen mitteilt. Der Introvertierte behält vieles für sich, wir können nur vermuten, was in seinem Kopf vorgeht – und ob das, was vorgeht, auch kreativ ist. Wer mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält, sich allgemein wenig taktisch verhält, sondern sein Herz auf der Zunge trägt, wer immer sofort antwortet und sich nicht die Informationen aus der Nase ziehen lässt – der ist als Persönlichkeit nicht schwer zu dechiffrieren. Ein Fremdbild kann durchaus falsch sein, wenn die Beobachter einen Menschen immer nur in einer bestimmten Situation wahrnehmen. Auch die Vielzahl der übereinstimmenden Urteile kann dann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies ein eher untypisches, unzutreffendes Urteil über den Beobachteten ist. Für unser eigenes Fremdurteil über andere bedeutet das, dass wir einen Menschen erst dann wirklich beurteilen können, wenn wir ihn in mehreren Situationen und Kontexten erlebt haben. Also: Die anderen kennen uns einfach nicht gut genug! Davon sind wir nur zu gerne überzeugt, wenn Selbstbild und Fremdbild auseinanderklaffen. Wir werden verkannt, man tut uns unrecht! So sind wir doch gar nicht! Die Ergebnisse der Persönlichkeitsforschung legen uns nahe: Es lohnt sich, zweimal nachzudenken. In der Regel reflektieren die Urteile der anderen Gewohnheiten oder Eigenschaften, die uns selbst nicht bewusst sind. Studien über Verhaltensindikatoren, die eine Herzinfarktgefährdung anzeigen könnten, haben eindrücklich bestätigt: Ehepartner schätzen die genauen Grade an Angst, Ärger, Dominanzstreben, Selbstisolation und Rückzug sehr viel genauer ein als die Betroffenen selbst. Ihre Beobachtungen sind in höherem Maße geeignet, ein Herzinfarktrisiko vorherzusagen. PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Wir schützen unsere Innensphäre. Beobachter müssen sich sehr anstrengen, wenn sie etwas davon erkennen wollen

Wie können wir in Erfahrung bringen, welche vielleicht gefährlichen oder sozial abträglichen blinden Flecken wir in unserem Selbstbild haben? Wie erfahren wir, welche Wirkung wir wirklich auf andere haben?

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Wie wir das Selbstbild korrigieren können Direkt nachzufragen kommt uns meist erst mal gar nicht in den Sinn – vor allem nicht in der Phase, in der wir unser Selbstbild für stimmig halten. Aber wenn sich die widersprüchlichen Signale mehren, lohnt es sich, einen Abgleich zu versuchen: Halten mich die anderen wirklich für einen kreativen Kopf, eine nette Kollegin, eine fördernde Chefin? Wir sind selten dabei, wenn über uns hergezogen wird, wenn unsere Schwächen und Marotten durchgekaut werden. Wie wir auf andere wirken, erfahren wir am besten, wenn wir das Feedback aktiv einholen – und zwar von möglichst vielen und unterschiedlichen Menschen. Da wir sehr häufig nur mit solchen Leuten gerne reden, die ähnliche Meinungen wie wir haben und mit denen wir in ein gegenseitiges Bekräftigungsverhältnis treten, stabilisieren wir in der Regel die Selbstbilder. Manchmal hilft es zu wissen, wie man von nichtsympathisierenden oder gar feindseligen Menschen wahrgenommen wird. Wenn es um unser Ausdrucksverhalten geht, also um die Art, wie wir sprechen und gestikulieren, wie wir mimisch auf andere reagieren oder welche körpersprachlichen Signale wir unbewusst aussenden, ist eine andere Form von Feedback hilfreich: Es hilft dann, ein Video zu sehen, das uns während einer sozialen Interaktion zeigt. Das kann sehr ernüchternd, aber sehr informativ sein. Ein klassisches Experiment der Psychologen Richard Robins und Oliver John zeigt, wie ein geschöntes Selbstbild mit der

Realität kollidieren kann: Robins und John ließen ihre Probanden in Gruppen diskutieren. Es kam darauf an, seine Standpunkte klarzumachen und zum Gruppenergebnis möglichst viel beizutragen. Die Diskussionen wurden aufgezeichnet. Anschließend sollten die Teilnehmer zunächst ihren eigenen Beitrag bewerten, etwa die Zahl der Wortmeldungen und die Qualität der Argumente. Erwartungsgemäß sahen sich die meisten Teilnehmer als eifrige Diskutanten und schlagfertige Argumentierer. Nach dieser Selbstbeurteilung schauten sich alle Teilnehmer das Video ihrer Diskussionen an, und dann sollten sie ihren Auftritt noch einmal bewerten. Das Ergebnis: Die meisten der ursprünglichen Selbsteinschätzungen wurden nun deutlich nach unten korrigiert. Doch nicht nur in unserer Selbsteinschätzung haben wir blinde Flecken, sondern manche Flecken unserer Persönlichkeit sind für andere kaum erkennbar, sogar in vermeintlich eingespielten Zweierbeziehungen. Wir unterliegen nämlich der Illusion der Transparenz: Weil wir so gut in unserem Innenleben Bescheid wissen, glauben wir, dass auch andere einen ganz guten Einblick hätten und unsere Gefühle, Absichten oder Gedanken kennen müssten. Auch beobachten uns andere nur selten so sorgfältig, wie wir ihnen unterstellen. Wir vergessen nämlich, dass jeder selbst Schauspieler auf einer Bühne und viel zu sehr mit der eigenen Performance beschäftigt ist. Die Wechselwirkung zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung ist komplex und oft vertrackt. Das zeigt die Forschung in einem Bereich besonders eindrücklich – und tröstlich: Wir mögen uns zwar in vielem überschätzen, aber meistens unterschätzen wir den Grad der Sympathie oder Wertschätzung, die andere uns entgegenbringen. Eine gute Botschaft also: Wir sind in der Regel viel beliebter, als wir glauben! PHc 65


SEHEN SIE HIER AUCH

EINE FLEDERMAUS? „Der Rorschach“ ist der wohl prominenteste Test in der Geschichte der Psychologie. Die Tintenkleckse des Schweizer Psychiaters Hermann Rorschach stammen aus dem Jahr 1921. Sie wurden dermaßen häufig in Romanen und Spielfilmen zitiert,

1.

4.

dass sie – neben grauem Bart und Patien-

a) ein Beckenknochen

a) ein aufgebrochenes Tiergerippe

tencouch – zu den bekanntesten Klischees

b) eine Fledermaus oder

b) ein Tierfell

der „Seelenklempnerei“ gehören. Auf den

ein Schmetterling

ersten Blick wirkt der Rorschachtest denk-

c) ein pelziger Mann mit seinem sehr großen Penis – er sieht aus wie mein Vater

c) eine Maske, die das Böse repräsentiert

bar harmlos und verspielt. Man legt seinen Probanden nacheinander bestimmte Tintenklecksbilder vor (ja, es sind noch immer dieselben wie vor 96 Jahren) und stellt dazu eine einzige Frage: „Was könnte das sein?“

Was verraten Ihre Antworten? Wie viel geben sie über Ihre Persönlichkeit

2.

5.

preis? Liefern sie womöglich einen Hin-

a) zwei Hasen

a) ein Nussknacker

weis auf ernste psychische Störungen?

b) zwei Menschen, die einander

b) eine Fledermaus

Probieren Sie es ruhig einmal aus. Anders

begrüßen

als bei einem richtigen Rorschachtest ha-

c) zermatschte Insekten auf

ben wir Ihnen je drei Antwortmöglichkei-

einer Windschutzscheibe

c) zwei Krokodilköpfe

ten vorgegeben.

3. a) zwei Kellner

6.

b) zwei Frauen, die gemeinsam

a) irgendwie sollte das Bild orangefarben

etwas tragen c) ein Kaninchenschädel; Rauch steigt aus seinen Augen

66

sein; keine Ahnung, warum b) ein Tierfell c) ein großer Penis mit Flügeln

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Ein Selbsttest nach Rorschach VON JOCHEN METZGER

Auswertung

Nicht alle Psychologen glauben an sol-

Werfen wir einen Blick auf Ihre Antworten.

che projektiven Verfahren. Und auch viele

Vermutlich haben Sie recht häufig Lösung

Laien halten „den Rorschach“ für längst

b) gewählt – denn genau das tun die aller-

überholten Mumpitz.

meisten Probanden. Mit diesen Antwor-

Ganz so einfach ist die Sache nicht. Es

7.

ten darf man wieder nach Hause gehen,

stimmt zwar, dass der Rorschachtest nicht

a) das sind Insekten

ohne dass der Mann im weißen Kittel ner-

dafür taugt, generelle Aussagen über

b) zwei junge Frauen,

vös nach dem Alarmknopf unter seinem

Charakter und Persönlichkeit zu treffen.

Schreibtisch fingert.

Doch gleich mehrere Metastudien zeigen,

die einander ansehen

Sollten Sie neunmal Antwort a) mar-

dass ausgebildete Fachleute mit einem

die weiße Fläche in der Mitte

kiert haben, sind Sie vermutlich ein intelli-

Rorschachtest recht gut Schizophrenie

achte – ganz klar: eine Lampe

genter und ehrgeiziger, aber emotional

oder Denkstörungen diagnostizieren kön-

sehr kontrollierter Mensch. Es handelt sich

nen. In einer Ausbildung lernt man zum

bei allen Lösungen um die Antworten, die

Beispiel, auch Kleinigkeiten in die Bewer-

der zweifache Nobelpreisträger Linus Pau-

tung mit aufzunehmen: Wie sehr achtet

ling (1901–1994) während eines Ror-

ein Proband auf Formen? Wie sehr auf

schachtests zu Protokoll gab.

Farben? Konzentriert er sich mehr auf De-

c) zwei Hexen; wenn ich nur auf

Sie haben durchweg Antwort c) mar-

tails oder auf das ganze Bild? Wie lange

kiert? Nun, dann haben Sie möglicherwei-

braucht er für seine Antworten? Wie häu-

8.

se das ein oder andere Problem, etwa mit

fig dreht er die Karte in der Hand?

a) eine Landschaft, vom Regen

den Eltern (Karte 4 wird „die Vaterkarte“

Dennoch dürfte die große Zeit des

genannt, Karte 7 „die Mutterkarte“), mit

klassischen Rorschachtests tatsächlich vor-

tiefsitzenden Aggressionen (Karte 9),

bei sein. Grund dafür ist keine Kritik von

Ängsten (Karte 8) oder gar einer Schizo-

fachlicher Seite, sondern das Internet.

phrenie (ebenfalls Karte 7).

Dort sind die zehn Tintenkleckse inzwi-

ausgewaschen b) zwei Bären, die an etwas nach oben klettern c) zwei Tiere, die versuchen, einem Feuer zu entkommen

Ist man verrückt, wenn man einmal

schen für jedermann zugänglich. Wer

Antwort c) markiert hat? Natürlich nicht.

möchte, kann sich also ganz leicht auf die

Bei einem professionellen Rorschachtest

Bilder vorbereiten und entsprechende

ist eine Menge Statistik im Spiel. Niemand

„gute“ Antworten auswendig lernen.

bekommt eine Diagnose aufgrund einer einzigen Antwort. Die Daten müssen ein schlüssiges Muster ergeben. Und anders als hier lässt man die Probanden auch völlig frei erzählen, ohne

9.

Antworten vorzugeben. Man geht davon

ZUM WEITERLESEN

a) zwei Schweineköpfe

aus, dass genau dieses Verfahren Zugang

Ben Ambridge: Das Psycho-Test-

b) eine Blume

zu unbewussten Gefühlen und Gedanken

Buch. Knaur, München 2015,

c) zwei Monster,

eröffnet.

" 19,99

die miteinander kämpfen

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3

KANN ICH ANDERS?


Manchmal überraschen wir uns selbst: So habe ich mich ja noch nie erlebt! Zwar fühlen wir uns im Alltag meist am wohlsten, wenn wir uns innerlich treu bleiben und uns so verhalten, wie es unserem Wesen entspricht. Doch bisweilen kann es nützlich und sogar angenehm sein, mal ganz anders zu agieren. Denn: Unsere Persönlichkeit ist zwar beständig,

Foto: inkje / photocase.de

doch nicht in Blei gegossen


(FAST) JEDER KANN AUS SEINER HAUT Manchmal wäre es gut, sich ganz bewusst anders zu verhalten, als es der eigenen Persönlichkeit entspricht. Aber geht das überhaupt? Ja – doch es hat seinen Preis VON ANNETTE SCHÄFER

A

uthentizität ist heute ein hohes Gut. Keine Rollen spielen, aus sich heraus agieren, sich so verhalten, wie es der eigenen Natur entspricht: Wer so handelt, heißt es, wird im Leben erfolgreich und glücklich sein. Ohne Zweifel ist es wichtig, im Großen und Ganzen im Einklang mit sich selbst zu leben. Doch viele Menschen stellen fest, dass der Versuch, ganz „echt“ zu sein, nicht immer weiterführt – und einem manchmal sogar handfeste Probleme einbringt. Da ist zum Beispiel die introvertierte Krankenhausärztin, deren Fähigkeit zuzuhören die Patienten äußerst schätzen, die aber im Kollegenkreis selten mit ihrer Einschätzung durchdringen kann. Oder der sanfte Teenager, dem der Schulpsychologe ein hohes Maß an Verträglichkeit attestiert, der sich aber nicht gegen die Bullys in seiner Klasse wehren kann. Und dem Diabetiker, der gerne fünf gerade sein lässt, bringt sein „authentisches 70

Verhalten“ Schwierigkeiten ein, weil er auch bei der Blutzuckerbestimmung nicht der Gewissenhafteste ist. Wäre es nicht besser, wenn die stille Ärztin bei der Chefvisite mehr aus sich herausginge, wenn der nette Schüler den anderen auch mal die Zähne zeigte und der schlampige Diabetiker im Hinblick auf seine Gesundheit wie ein Buchhalter agierte, auch wenn jeder von ihnen sich dazu verstellen müsste? In bestimmten Situationen, bestätigen Psychologen, ist es vorteilhaft, wenn man sich ganz bewusst anders verhält, als es der eigenen Persönlichkeit entspricht. Sich immer und überall treu zu bleiben halten sie für zu kurz gesprungen. „Ich bin jedes Mal bestürzt, wenn ich höre, dass Leute anderen raten: ‚Sei einfach du selbst‘“, betont der Arbeits- und Gesundheitspsychologe Ben Fletcher von der Universität Hertfordshire in seinem Buch Flex, das er zusammen mit der Entwicklungspsychologin Karen Pine geschrieben hat. Die durch die Per-

sönlichkeit geprägten Gewohnheiten eines Menschen, so argumentieren die beiden, passen oft schlecht mit der vielschichtigen Umwelt, in der er lebt, zusammen. Es sei nicht vorteilhaft, wenn sich ein Mensch immer gleichartig verhält, insbesondere in unserer dynamischen Welt. Je statischer die Persönlichkeit eines Menschen ist, warnen sie, umso schwerer wird er es finden, sich an neue Umstände anzupassen, und umso stressanfälliger wird er sein. Deshalb sei es manchmal besser, das zu tun, was einem gerade nicht „im Blut liegt“. Um das Beste aus sich zu machen, müsse man in manchen Situationen gegen seine natürlichen Tendenzen gehen und sich anders zeigen. Fletcher benutzt das Verb to flex, was sich mit dehnen oder biegen übersetzen lässt. Er sei überzeugt, schreibt er, dass jeder Mensch die Kapazität hat, unterschiedliche Personen zu sein: „Inwieweit man diese Fähigkeit entwickelt, bestimmt darüber, wie erfolgreich man im Leben ist.“ PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


untypisches Verhalten psychisch und körperlich anstrengend ist. Little weiß aus eigener Erfahrung, wovon er spricht. Der in Kanada aufgewachsene Wissenschaftler gilt als begnadeter Lehrer. Als er noch an der HarvardUniversität arbeitete, waren seine Vorlesungen dort legendär. Er wirbelte auf der Bühne herum, erzählte Witze und stimmte auch schon mal ein Liedchen an. Die Studenten liebten seine von Energie und Esprit sprühenden Auftritte, und die Stunden endeten oft mit stehenden Ovationen. Sogar mit dem renommierten 3M Teaching Fellowship, das manchmal als Nobelpreis für die Universitätslehre bezeichnet wird, wurde er ausgezeichnet. Doch wer nun glaubt, der Professor sei von Natur aus extravertiert, irrt. Jenseits des Lehrerpults ist er ein extrem ruhiger, nach innen gekehrter Mensch, versichert die Autorin Susan Cain, die

Manchmal ist es besser, das zu tun, was einem gerade nicht im Blut liegt

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Auch der Persönlichkeitspsychologe Brian Little, Leiter einer Forschungsgruppe an der britischen Universität Cambridge, ist davon überzeugt, dass man sich manchmal out of character verhalten sollte, wie es im Englischen heißt. „Uncharakteristisches“ Verhalten kann beinhalten, dass sich ein extravertierter Student unter der Woche im stillen Kämmerlein auf seine Bücher konzentriert und nur am Wochenende um die Häuser zieht. Oder dass sich eine Frau, die zu Ungeduld und Widerstreit neigt, sanftmütig gibt, wenn sie mit dem kleinen Sohn spielt. Diese Art von strategischem Handeln ist der Inhalt von Littles Free Trait Theory. Der Einsatz sogenannter freier Eigenschaften eröffne Pfade zu persönlichem Wachstum, die verschlossen blieben, wenn man sich allein auf seine genetische und kulturelle Grundausstattung beschränke. Little verschweigt aber auch nicht, dass

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ihn in ihrem Buch Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt porträtiert hat. Mit seiner Frau zieht er sich gern in sein Haus in den kanadischen Wäldern zurück. Er verbringt seine Freizeit mit Lesen, Musikhören und Schreiben und zieht persönliche Gespräche jeder Party vor. Wie passen der introvertierte Einsiedler und der aus sich herausgehende Redner zusammen? Es ist genau diese Frage, die Little in seinem Ansatz adressiert.

Quer zu Biologie und Kultur Die Free Trait Theory unterscheidet drei Arten, wie ein Mensch „er selbst“ sein kann: Die erste ist biologischer Natur. Die meisten Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass die Persönlichkeit teilweise genetische Wurzeln hat. Man schätzt, dass etwa 50 Prozent der interindividuellen Unterschiede bei Eigenschaften wie Extraversion oder Verträglichkeit erblich bedingt sind. Ein zweiter Einflussfaktor ist sozialer Art. Im Laufe der Sozialisation lernt ein Kind, welches Verhalten in seinem Umfeld als opportun angesehen wird. Durch Gewöhnung, so Little, können auch diese Verhaltensweisen „ins Blut übergehen“ und zur zweiten Natur werden. Das Besondere an Littles Theorie ist der dritte Aspekt. Über die Einflüsse von Biologie und Umwelt hinaus, so argumentiert er, kann sich ein Mensch ganz bewusst Verhaltensmuster zu eigen machen, die seiner genetisch und kulturell geprägten Natur widersprechen. Eine introvertierte Frau fühle sich vielleicht leidenschaftlich zur Tätigkeit einer Reporterin hingezogen, die vor Ort von gefährlichen oder spektakulären Ereignissen berichtet. Um darin erfolgreich zu sein, wird sie sich wahrscheinlich extravertierter geben müssen, als sie eigentlich ist. Dies bezeichnet Little als freie Eigenschaften. Dies seien „persönlich konstruierte Aktionsmuster, die strategisch genutzt werden, um Ziele und Projekte voranzutreiben, die für das 72

Individuum wichtig sind“. Wenn Little seine mitreißenden Lehrshows aufführt, setzt er also gezielt freie Eigenschaften ein, um seine Studenten in Bann zu ziehen und ihnen so das Lernen zu erleichtern. Aber fühlt sich der Rückgriff auf freie Eigenschaften nicht dennoch an, als würde man sich verstellen, als wäre man ein Scharlatan? Das kann laut Little durchaus sein. Menschen wie die Mutter, die sich trotz ihres aufbrausenden Naturells dem Sohn gegenüber sanftmütig gibt, und der nach Gesellschaft hungernde Student, der unter der Woche zum Stubenhocker wird, mögen das Gefühl haben, ihr Verhalten sei nur gespielt und eigentlich unaufrichtig, erläutert er. Im Lichte seiner Theorie verhalten sie sich aber durchaus sich selbst gegenüber treu, nämlich treu im Hinblick auf Projekte, die ihnen am Herzen liegen, sei es ein Prädikatsexamen oder eine liebevolle Beziehung zum eigenen Kind.

Das „Charakterfach“ wechseln So betrachtet, braucht man also kein schlechtes Gewissen zu haben und sich nicht als falscher Mensch zu fühlen, wenn man zum Wohle wichtiger Ziele manchmal ein bisschen Theater spielt. Es stellt sich allerdings die Frage: Kann sich überhaupt jeder auf diese Weise verstellen? Gibt es Menschen, die sich ohne Probleme anders geben können, als sie eigentlich sind, und solche, die nicht so leicht aus ihrer Haut schlüpfen? In der Tat scheint das Talent, Persönlichkeitseigenschaften flexibel einzusetzen, unterschiedlich stark ausgeprägt zu sein. Besonders in Führungspositionen, versichert Cain, gibt es viele Menschen, die sich eine sehr überzeugende So-tunals-ob-Extraversion zu eigen gemacht haben. Sie beschreibt das Beispiel von Alex, dem Leiter einer Finanzdienstleistungsfirma, der als Kind zu den Schüchtern-Netten gehörte. Weil er gegenüber Mitschülern immer wieder den Kürzeren zog und ständig geärgert wurde, be-

schloss er in der siebten Klasse, so könne es nicht weitergehen. Er begann, die soziale Dynamik in der Klasse und auf dem Schulhof zu studieren. Er beobachtete, wie Jungs sprechen und gehen, um Dominanz zu signalisieren, lernte, wie man sich gut mit Mädchen unterhält, und begann sich gegen Piesacker zu wehren, zur Not auch physisch. Heute, schreibt Cain, sei Alex ein geselliger, umgänglicher Firmenchef, der sich in Verhandlungen nicht die Butter vom Brot nehmen lässt. Seine introvertierte Seite ist immer noch da, aber er hat sie für die Freizeit reserviert, die er am liebsten nur mit Frau und Kindern verbringt. Doch nicht jeder kann so leicht in ein anderes „Charakterfach“ wechseln, wie ein faszinierendes Experiment aus den 1970er Jahren zeigt. Damals bat der Psychologe Richard Lippa, der heute Professor an der California State University ist, 46 Probanden darum, Mathelehrer zu spielen. Thema der Stunde: der Unterschied zwischen gleichseitigen und ungleichseitigen Dreiecken, den es einer imaginären elften Schulklasse zu erklären galt – und das gleich dreimal hintereinander. Einmal sollten sich die Teilnehmer ganz natürlich verhalten, einmal einen besonders extravertierten und einmal einen besonders introvertierten Lehrer geben. Lippa und sein Team nahmen die „Schulstunden“ per Video auf. Insgesamt, so stellte sich heraus, verfügten die Teilnehmer über beachtliche schauspielerische Fähigkeiten. Von Natur aus Extravertierte konnten recht überzeugend introvertierte Lehrer geben und umgekehrt. Doch es gab durchaus individuelle Unterschiede, die mit dem zusammenhängen, was Psychologen Self-Monitoring (Selbstüberwachung) nennen. Starke Selbstüberwacher sind Menschen, die sich sehr an der Umgebung orientieren; sie richten ihre Antennen ständig darauf, welches Verhalten in der momentanen Situation gefragt ist, und versuchen sich entsprechend zu verPS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


halten. Schwache Selbstüberwacher dagegen lenken ihr Augenmerk vor allem nach innen und streben danach, eine Kongruenz zwischen ihrem Naturell und ihrem Verhalten herzustellen. In Lippas Experiment zeigten sich starke Selbstüberwacher als die deutlich besseren Darsteller. Ihre Talente waren geradezu verblüffend. Hinter ihrem Talent zum Rollenwechsel steckt vermutlich viel Übung: Manche trainieren von Kindheit an, ein bestimmtes Bild von sich abzugeben.

Mach’s doch mal anders! Nicht nur extravertiertes Verhalten ist erlernbar, wenn man dem Psychologen Ben Fletcher glaubt. Er hat ein umfassendes Trainingsprogramm entwickelt, mit dem Menschen „die anderen neun Zehntel“ der eigenen Persönlichkeit entwickeln sollen (siehe Seite 74: Erproben Sie Ihr Anti-Ich!). Das Programm setzt auf die Macht des Tuns. Das Verhalten, so Fletcher, präge die Gedanken: „Man kann einem Menschen nicht einfach sagen, er solle sich verändern. Ein Mensch muss etwas anderes tun, um Veränderung möglich zu machen.“ Die Idee des Do Something Different (DSD) genannten Programms mag simpel erscheinen. Doch es kann erstaunliche Wirkungen entfalten, wenn man Fletchers empirischen Untersuchungen glaubt. In einer Studie mit Menschen, die abnehmen wollten, verglich er eine Gruppe, die das DSD-Programm durchlief, mit einer anderen, die stattdessen täglich in Tagebüchern über positive Erlebnisse reflektierte. Am Ende des Monats zeigte die DSD-Gruppe einen deutlich größeren Gewichtsverlust als die Kontrollgruppe; dieser Vorsprung hielt auch die nächsten Monate an. Wohlgemerkt: Die Verhaltensänderungen, zu denen die DSD-Teilnehmer aufgefordert wurden, hatten nichts mit Ernährung oder Gewichtsabnahme zu tun. Dennoch fingen sie an, gesünder zu essen und sich mehr zu bewegen, wie sich

in einer zweiten Studie zeigte. Die Erfahrung, flexibel agieren zu können – als quirliger Mensch entspannter zu sein, als konventioneller Typ auch mal was Verrücktes zu machen –, half ihnen bei ihren Abnehmversuchen. Je flexibler das Verhalten eines Teilnehmers geworden war, umso größer sein Gewichtsverlust. Die „Dehnbarkeit“ der Persönlichkeit hat aber ihre Grenzen. Ein Programm wie DSD kann die Flexibilität eines Menschen deutlich erhöhen, von Grund auf ändern kann es ihn nicht. Manche Aspekte der Persönlichkeit, so räumt Fletcher ein, werden immer unverändert bleiben, sei es, dass sie genetisch verwurzelt oder von Umweltfaktoren beeinflusst sind. Im Mathelehrerexperiment von Lippa konnten selbst die besten Schauspieler nicht verhindern, dass ihre wahre Persönlichkeit zuweilen „durchsickerte“. Ein Extravertierter, der insgesamt eine glänzende Vorstellung von einem ruhigen Lehrer gab, durchquerte den Raum vielleicht mit langen energischen Schritten, wie sie typisch für Extravertierte sind; ein Introvertierter in der Extraversionsszene wendete den Blick zwischendurch schüchtern von der Klasse ab. Wichtiger noch: So tun, als ob, ist anstrengend, wie Little betont. Über längere Zeitspannen untypisches Verhalten aufrechtzuerhalten rufe eine Anspannung hervor, die auf Kosten des Wohlbefindens gehen könne. Um negativen Folgen vorzubeugen, rät der Wissenschaftler, müsse man sich bewusst Erholungsnischen schaffen. Dies sind Orte oder Situationen, in denen man sich nicht verstellen muss, sondern so sein kann, wie man wirklich ist. PHc

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Erkenne Dich selbst und schöpfe Kraft daraus!

Johannes Storch et al.

Ich blicks Verstehe dich und handle gezielt 2016. 256 Seiten, gebunden € 24,95 / CHF 32.50 ISBN 978-3-456-85574-5 Auch als eBook erhältlich Erkenne dich selbst – der uralte Anspruch der Menschheit auf anschauliche und amüsante Weise in einem konkreten Ratgeber umgesetzt. Die Autoren stellen am Beispiel von vier Mitarbeitenden einer kleinen Firma die prägnantesten Persönlichkeitstypen mitsamt Stärken und Schwächen so vor, dass tiefe Einblicke in ihr Unbewusstes möglich werden – der Leser wird diverse Aha-Erlebnisse und Ich-blicks-Einsichten erfahren! Basierend auf der Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI-Theorie) bieten die Autoren einen profunden Einblick in das psychische Geschehen auf dem Weg zu der oft entlastenden Selbsterkenntnis.

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Brian R. Little: Me, myself, and us. The science of personality and the art of well-being. PublicAffairs, New York 2014 B. Fletcher, K. Pine: Flex. Do something different. How to use the other 9/10ths of your personality. University of Hertfordshire Press, Hatfield 2012

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ERPROBEN SIE

IHR ANTI-ICH! Unsere Persönlichkeit ist flexibler, als wir denken, meinen die Psychologen Ben Fletcher und Karen Pine. In ihrem Buch Flex geben sie Anleitungen, wie man seine Persönlichkeitszüge im Alltag konterkarieren kann

Nachgiebig/ durchsetzungsfähig

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Wenn Sie ein eher nachgiebiger Mensch ฀

Durchsetzungsfähigkeit: ฀

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immer es angemessen ist. ฀฀

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genug ist, und beschweren Sie sich

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mit deutlichen Worten. ฀

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Vertrauen/Misstrauen

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diese misstrauischen Verhaltensweisen: ฀

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sich darauf einlassen.

฀ Ihre Maxime ist: Vorsicht ist die Mutter

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Risiko/Sicherheit

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sind, dann trainieren Sie doch mal Ihre ฀฀

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Spontan/systematisch ฀

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Sie sind immer neugierig und offen

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Von Axel Wolf

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nie gegrüßt haben. ฀

schen, mit denen Sie oft zu tun haben, ฀

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oder lesen Sie.

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oder Verbündeten zu gewinnen.

getragen wird. ฀

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Fokussiert/offen

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nicht ihre Sätze.

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Introvertiert/extravertiert

den Sie getroffen haben.

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erledigt hätte werden müssen.

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dentität ist biegsam“, meint Sam Sommers, „und persönliche Vorlieben entstehen im jeweiligen Moment.“ Wer die menschliche Natur verstehen will, müsse sich der Macht der äußeren Gegebenheiten bewusst sein. Sommers, Psychologieprofessor an der Tufts University, legt in seinem Buch Situations Matter dar, dass das, was wir in einem bestimmten Augenblick tun, oft weniger durch unseren Charakter bestimmt wird als – zum Beispiel – durch die Gesellschaft, in der wir uns befinden, und ob wir gut gelaunt oder in Eile sind. So konnten Wissenschaftler der Universität Princeton zeigen, dass Hilfsbereitschaft nicht allein eine Frage der Persönlichkeit ist, sondern davon abhängt, ob der Helfer unter Zeitdruck steht oder nicht. Die Forscher schickten ihre Probanden quer über den Campus der Universität zu einem Gebäude, um dort einen kurzen Vortrag zu halten. Am Rande des Wegs hatten die Forscher einen schäbig gekleideten Schauspieler platziert, der stöhnte und hustete und eindeutig Hilfe brauchte. Von den Teilnehmern, die gesagt bekommen hatten, sie sollten sich beeilen, weil sie spät dran seien, boten nur zehn Prozent dem Mann Hilfe an. Von denen, die glaubten, sie hätten jede Menge Zeit, waren es 63 Prozent. Der Clou war jedoch: Die Forscher machten diesen Test nicht mit irgendwelchen Studenten, sondern mit angehenden Priestern, und das Thema des Vortrags, den sie halten sollten, war „Der gute Samariter“. Zeitdruck allein reicht offenbar aus, um durchaus hilfsbereite Menschen im Nu in solche zu verwandeln, die nur noch auf die eigenen Probleme fixiert sind. Andere Studien bestätigen den Einfluss ganz trivialer Faktoren auf die Hilfsbereitschaft: In einer davon waren 60 Prozent der Passanten bereit, Geld zu wechseln, wenn man sie vor einem Geschäft fragte, aus dem der Duft frischgebackener Plätzchen strömte, jedoch weniger als 20 Prozent derjenigen, die vor einem Kleidungsgeschäft angesprochen wurden. Der Geruch frischen Gebäcks oder auch gerösteten Kaffees versetzt Menschen in eine bessere Stimmung, und wer glücklich ist, ist hilfsbereiter.

In einer Gruppe sind wir anders Von anderen Menschen umgeben zu sein ist „der vielleicht stärkste situationsbedingte Einfluss von allen“, so Sommers. In einer Menge nimmt die Hilfsbereitschaft ab. Denn taucht ein Problem auf, denkt man automatisch: Es wird sich schon jemand anderes drum kümmern. Sommers erwähnt eine Studie, bei der die Teilnehmer in Großraumbüronischen saßen und glaubten, sie wären über Gegensprechanlagen mit Kommilitonen verbunden, mit denen sie über ihre Erfahrungen im Studium sprechen sollten. 76

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MAL BIN ICH SO, MAL SO


Doch dann hörten sie, wie ein Student, der bereits Gesundheitsprobleme erwähnt hatte, würgte und immer größere Probleme mit dem Sprechen hatte, bis nur noch Wörter wie „Anfall“, „sterben“ und „Hilfe“ zu verstehen waren. Glaubten die Probanden, sie seien der einzige Gesprächspartner des Betroffenen, verließen 85 Prozent die Bürozelle, um Hilfe zu suchen. Wähnten sie sich in einem Dreiergespräch, taten dies nur 62 Prozent, und glaubten sie, einer Runde von fünf Teilnehmern anzugehören, sank der Anteil auf 31 Prozent. Weder das Geschlecht noch die Persönlichkeit hatte einen Einfluss auf das Verhalten.

Die Lehren aus dem Milgram-Experiment

Hilfsbereit oder egoistisch, still oder gesellig: Wie wir uns verhalten, ist nicht nur eine Frage der Persönlichkeit. Es kommt immer auch auf die Situation an. Bisweilen haben ganz banale Dinge großen Einfluss VON INGRID GLOMP

In der Anwesenheit anderer fühlt man sich weniger verantwortlich, und andererseits steigt das Risiko, sich zu blamieren. Doch das ist es nicht allein. „Inmitten einer Menge ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass wir Notfälle als solche erkennen“, sagt Sommers, denn wir orientieren uns am Verhalten der anderen, die vielleicht mehr Informationen besitzen als wir. Der Einfluss der Mitmenschen kann aber nicht nur ein Handeln verhindern, er kann auch umgekehrt zum Tun verleiten. Berühmt geworden ist die klassische Studie des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram, bei der er in den 1960er Jahren ganz normale Mitbürger dazu brachte, anderen Menschen scheinbar qualvolle elektrische Schläge zu verabreichen. Der jeweilige Proband sollte als „Lehrer“ fungieren. Jedes Mal, wenn es dem „Lernenden“ (in Wirklichkeit einem Schauspieler) nicht gelang, sich ein Wortpaar zu merken, sollte er ihn mit Stromschlägen von zunehmender Stärke bestrafen. Trotz Schmerzensschreien des Lernenden, der außerdem angeblich unter Herzproblemen litt, und Äußerungen, dass er das Experiment beenden wolle, gingen 65 Prozent der Teilnehmer bis zur höchsten Stufe von 450 Volt. Alles, was dazu nötig war, war, dass der anwesende „Wissenschaftler“ widerstrebende Teilnehmer mit Sätzen ermunterte wie „Bitte machen Sie weiter“ oder „Es ist absolut entscheidend, dass Sie weitermachen“. Milgram testete in weiteren Varianten seines Gehorsamsexperiments den Einfluss verschiedener Situationen: ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ßerhalb der Yale-Universität, gingen nur noch 47,5 Prozent der Probanden bis zur höchsten Voltzahl. ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ gab, gingen nur 22,5 Prozent bis zum stärksten Stromschlag. ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ler) teil, die sich zu einem früheren Zeitpunkt weigerten, weiterzumachen, so verabreichten nur noch 10 Prozent den stärksten Stromschlag. 77


฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ wenn zwei Experimentatoren anwesend waren, von denen einer den Versuch stoppen wollte und ein zweiter befahl, weiterzumachen. ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ ฀ eines „Lehrers“ (eines Schauspielers), so machten 92,5 Prozent bis zum Ende mit. Möglicherweise waren Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts autoritätshöriger als in der heutigen Zeit und eher von einem selbstsicher auftretenden Versuchsleiter zu beeindrucken. „Würden Leute heutzutage immer noch gehorchen?”, fragte der amerikanische Psychologe Jerry Burger vor wenigen Jahren in seinem Artikel Replicating Milgram. Die kurze Antwort lautet: Sie würden. Das haben seine Versuche aus dem Jahr 2006 ergeben.

Auf den Kontext kommt es an Dass bereits kleinste Veränderungen des Kontextes Verhalten beeinflussen können, zeigte Sam Sommers in folgendem Experiment. „Wenn wir Collegestudenten unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit in gemischten Gruppen oder Paaren Probleme lösen lassen und ihnen sagen, dass wir sehen wollen, wie gut sie zusammenarbeiten, so finden sie diese Aufgaben besorgniserregender und kognitiv anstrengender als in homogenen Gruppen. Der Grund: Sie sind ängstlich bemüht, einen guten Eindruck zu machen und zum Beispiel nichts Falsches zu sagen. Auch nonverbal erscheinen sie weniger warm und abgelenkter. Erklären wir jedoch, dass es um Effizienz geht und dass sie umso mehr Geld erhalten, je besser sie abschneiden, dann leisten gemischte Gruppen genauso viel wie einheitliche, wenn nicht sogar mehr. Ironischerweise sind sich die Teilnehmer sogar sympathischer. Worauf man das Augenmerk der Probanden in solchen gemischten Gruppen lenkt, wie man das Ziel der Zusammenarbeit formuliert, hat also einen dramatischen Einfluss auf ihre Interaktion.“ Selbst darüber, wo die Liebe hinfällt (oder die Freundschaft), bestimmen teilweise ganz prosaische Umstände. Zum Beispiel die räumliche Nähe. Die Befragung von Bewohnern einer amerikanischen Wohnanlage ergab: Je dichter Menschen beieinander wohnten, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich anfreundeten. In Häusern mit mehreren Wohnungen galt: Mit jeden weiteren sechs Metern Abstand zwischen Nachbarn halbierte sich die Chance auf eine enge Freundschaft. Die Kehrseite der Medaille: Nähe erhöht auch die Wahrscheinlichkeit von Abneigung. Wenn Situationen uns so stark beeinflussen, was ist dann mit der vielbeschworenen Authentizität? Auf beliebte Selbsthilferatschläge von der Sorte, man solle „sich selbst finden“ oder „das authentische Selbst entdecken“, reagiert Sam Sommers allergisch, denn er ist der Ansicht, dass das gar nicht geht. 78

Erstens habe niemand einen immer gleichen Charakter. Zweitens zeige die Forschung, „dass wir nicht halb so gut darin sind, wie wir denken, die Faktoren, die unsere Vorlieben und Handlungen prägen, zu erklären“. Im Rahmen einer Studie haben William Fleeson und sein Student Joshua Wilt von der Wake Forest University zweierlei herausgefunden. Erstens: Selten verhielten sich Menschen ganz genau so, wie es ihrer Persönlichkeit laut einem einschlägigen Fragebogentest entsprach. Meistens wichen sie in der einen oder anderen Richtung davon ab. Probanden mit einer introvertierten Persönlichkeit beispielsweise waren in einigen Situationen durchaus kontaktfreudig, und Extravertierte verhielten sich manchmal zurückhaltend. Zweitens: Unabhängig von ihrer Grundpersönlichkeit empfanden die Teilnehmer ihr Verhalten als besonders echt, wenn es extravertiert, freundlich, gewissenhaft, emotional stabil und interessiert war. Jemand, der schüchtern ist (und sich auch selbst so einschätzt), fühlt sich trotzdem beispielsweise authentischer, wenn er bei einer Party aus sich herausgeht.

Persönlichkeit ist nicht alles „Ich behaupte nicht, dass etwas wie Persönlichkeit eine reine Erfindung ist“, stellt Sommers klar. „Ich glaube schon, dass Menschen sich im Hinblick auf solche allgemeinen Eigenschaften voneinander unterscheiden. Ich denke jedoch, dass Persönlichkeit überschätzt wird, wenn es darum geht, unser Verhalten oder das unserer Mitmenschen zu erklären.“ Sein Argument sei nicht, „dass Persönlichkeit nicht existiert, sondern dass wir zu wenig über die andere Seite der Medaille nachdenken. Unklar ist noch, wie groß der Einfluss äußerer, situationsbedingter Kräfte ist im Vergleich zu inneren Faktoren wie Disposition, Biologie und so weiter.“ Die Erkenntnis, dass Persönlichkeit nicht alles ist, sondern man vielfach auf äußere Einflüsse reagiert, ist vielleicht gewöhnungsbedürftig. Sie kann jedoch ungemein befreiend sein. Wenn nämlich das Selbst flexibel ist, bekommt man Spielraum, bei Fehlschlägen einen neuen Versuch zu wagen, die Bedingungen zu ändern und es besser zu machen. Aussagen wie „Sie war als Kind schon schüchtern“ oder „Ich bin und bleibe ein Versager“ verlieren dann ihre Macht. PHc

ZUM WEITERLESEN Sam Sommers: Situations matter. Understanding how context transforms your world. Riverhead Books, New York 2011

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„Eine Partnerschaft prägt die Persönlichkeit“ Welche Merkmale bringt ein idealer Beziehungsmensch mit? FINN: Den „idealen Beziehungsmenschen“ gibt es nicht. Beziehungsglück hängt von so vielen Einflüssen ab. Doch Menschen, die von ihrem Wesen her verträglich sind und nach Harmonie und Ausgleich streben, führen in der Regel eine glücklichere Beziehung. Ein wichtiger Faktor ist aber auch emotionale Stabilität. Gute Voraussetzungen haben also Menschen, die nicht zu Ängstlichkeit oder Depressivität neigen und ein hohes Selbstwertgefühl haben und sich so mögen, wie sie sind. Sie strahlen dies auch nach außen aus, und diese Sicherheit wirkt sich positiv auf den Partner 80

Wie verändern wir uns, sobald wir unser Leben mit einem geliebten Menschen teilen? – Ein Gespräch mit den Persönlichkeitsforschern Franz J. Neyer und Christine Finn

und die Partnerschaft aus. Selbstwertgefühl ist also gut für eine Beziehung, aber eine glückliche Beziehung ist auch gut für das Selbstwertgefühl. Dieses Merkmal ist sogar eine Art Gradmesser dafür, wie sehr man sich in der Beziehung aufgehoben und gemocht fühlt. Besteht nicht die Gefahr, dass allzu selbstbewusste Menschen den Partner unterbuttern? FINN: Diese extreme Art von Selbstbewusstsein ist damit nicht gemeint. Natürlich schadet es der Partnerschaft, wenn jemand übersteigert selbstzentriert ist bis hin zum Narzissmus, denn diese Menschen sind unsensibel für die Bedürfnisse ihres Partners. PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Foto: simonthon.com / photocase.de

Und selbstunsichere Menschen haben es im Beziehungsleben schwer? FINN: Menschen mit hohem „Neurotizismus“, die emotional nicht sehr stabil sind, nehmen vieles im Leben eher negativ wahr und reagieren daher oft unsicher oder gekränkt. Im Zweifel interpretieren sie harmlose oder allenfalls vieldeutige Verhaltensweisen ihres Partners zu ihren Ungunsten: „Mein Gott, er will sich von mir trennen!“ Während emotional stabile und selbstsichere Menschen ganz selbstverständlich davon ausgehen, gemocht und geschätzt zu werden, brauchen die Unsicheren ständig Bestätigungen, dass der Partner sie noch liebt. Das kann sich auch auf den Partner auswirken, der sich nun seinerseits unverstanden und permanent verdächtigt fühlt. NEYER: Das bedeutet nun aber nicht, dass unsichere, „neurotische“ Menschen dazu verdammt sind, in ihren Beziehungen zu scheitern. Man kann Selbstunsicherheit kompensieren mit einnehmenden Eigenschaften wie Zugewandtheit, Umgänglichkeit, Zuverlässigkeit. Zum anderen kommt es natürlich auch immer auf den Partner und dessen Persönlichkeit an, etwa wie geduldig er oder sie reagiert, wie viel Wertschätzung er zeigt oder auch wie viel Humor er mitbringt. Die Persönlichkeit beeinflusst also die Partnerschaft. Verändert auch die Partnerschaft die Persönlichkeit? FINN: Eine Partnerschaft prägt ganz eindeutig die Persönlichkeit. Das gilt besonders für die ersten überdauernden Beziehungen im jungen Erwachsenenalter. Sie führen zu einer insgesamt reiferen Persönlichkeit. Die beiden Partner werden verträglicher und emotional stabiler, das Selbstwertgefühl steigt. NEYER: Es wird in unserer Kultur als eine wichtige Entwicklungsaufgabe angesehen, eine Beziehung einzugehen und womöglich eine Familie zu gründen. Die Tatsache, dass man diese Aufgabe gemeistert hat, stärkt das Selbstwertgefühl. Darüber hinaus trägt die

Erfahrung der Sicherheit in einer Beziehung zur Persönlichkeitsreifung bei. Interessanterweise wird dieser Reifungsschritt nicht rückgängig gemacht, wenn dann später die Partnerschaft endet, so schmerzhaft das auch ist. Der Gewinn für die Persönlichkeit bleibt bestehen. Und die jungen Menschen, die keinen Partner finden oder es mit keinem lange aushalten: Entwickeln sie sich anders als die Gebundenen? NEYER: Dies betrifft relativ wenige, zwischen sieben und neun Prozent. Tatsächlich zeigte sich in unseren Studien, dass diese Menschen diesen Reifungsschritt nicht mitmachen. Zum Beispiel stagnierte ihr Selbstwertgefühl, und bei den Männern ging es in einer amerikanischen Studie sogar deutlich zurück. Möglicherweise identifizieren sich Männer besonders stark über ihren Wert auf dem Partnermarkt und empfinden ihren Singlestatus als persönliche Niederlage. Tatsächlich kann es ein Zeichen von psychischen Schwierigkeiten sein, wenn jemand überdauernd keinen Partner findet. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die hoch anschlussmotiviert sind und in einer Partnerschaft viel zu bieten hätten – aber zu schüchtern sind. Die brauchen einfach länger, aber irgendwann kommen sie auch zum Ziel. Was ist mit Paaren, die sich schon über Jahrzehnte in ihrer Beziehung eingerichtet haben? Prägt die Partnerschaft dann noch immer die Persönlichkeit? NEYER: Dafür gibt es durchaus Anhaltspunkte. Wir vermuten, dass dann die Beziehung selbst immer stärker Teil der Persönlichkeit wird und sozusagen in der Persönlichkeit aufgeht. Allerdings bleibt man, so lange die Beziehung auch währen mag, immer die Person, die man ist. Auch wenn man sich verändert: Niemand dreht sich um 180 Grad. Man neigt in langjährigen Beziehungen dazu, sich selbst und den anderen als Einheit zu sehen. Wird der Partner dann zum „erweiterten Selbst“?

Man stellt sogar Gemeinsamkeiten zwischen sich fest, die gar nicht existieren

NEYER: Man muss sich das nicht so vorstellen wie bei Tristan und Isolde, wo die beiden in ihrer Liebe so miteinander verschmelzen, dass sie Ich und Du nicht mehr unterscheiden können. Man erlebt eben über die Jahre sehr viele Dinge gemeinsam, die man teilt. Das kann dazu führen, dass man sogar Gemeinsamkeiten zwischen sich feststellt, die gar nicht existieren. Man glaubt, der andere sei so ähnlich wie man selbst, und unterstellt ihm automatisch, dass er eine bestimmte Alltagssituation genauso empfindet und bewertet. Man projiziert also das eigene Erleben auf den anderen. Das hat den „Vorteil“, dass man sich mit dem abweichenden Standpunkt des anderen gar nicht erst auseinandersetzen muss, sich nicht streiten muss. Laut einigen Studien scheint diese positive Illusion der Beziehungszufriedenheit eher zuträglich als abträglich zu sein. Menschen suchen eben nach Vertrautheit, und im Zweifel konstruieren sie sich diese Verbundenheit. Interview: Thomas Saum-Aldehoff

Prof. Franz J. Neyer ist Direktor des Instituts für Psychologie an der Universität Jena. Dr. Christine Finn ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.

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CHARAKTER ZEIGEN Was macht mich unverwechselbar? Was sind meine besonderen Merkmale? Die Psychologie hat sechs Bereiche definiert, die über uns Auskunft geben VON AXEL WOLF

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harakter, so hat der Psychotherapeut und Philosoph James Hillman definiert, ist die Form unserer Psyche, zu der wir unser Leben lang hinstreben, zu der wir uns hinentwickeln. Er geht dabei von einem mehr oder weniger angeborenen Charakterkern aus, den wir sozusagen im Laufe unseres Lebens „erfüllen“: Wir werden, was wir sind. Andere Auffassungen vom Charakter betonen eher die Einflüsse von Umwelt, Erziehung und Schicksal auf die Persönlichkeit: Wir sind (auch) das Produkt dessen, was uns zustößt. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Charakter das Ensemble von Eigenheiten und Eigenschaften, die einen Menschen unverwechselbar machen. Manchmal meinen wir mit „Charakter“ vor allem den „schlechten Charakter,“ wenn die Schattenseiten eines Menschen zum Vorschein kommen. Und manchmal benutzen wir das Wort, um eine gewisse Stärke und Widerständigkeit zu loben: „Da hat sie aber Charakter gezeigt!“ 82

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Wenn wir als Eltern oder Lehrer Kinder und Jugendliche beobachten, versuchen wir, die „Zeichen“ zu erkennen, und fragen uns, in welche Richtung sie sich entwickeln werden. Welche Prägungen oder angeborenen Eigenschaften werden sich durchsetzen? Welche Erziehungseinflüsse oder Launen des Schicksals drängen sie in diese oder jene Bahn? Und wir fragen uns auch selbst: Was bin ich eigentlich für ein Typ? Was sind meine besonderen Charaktermerkmale? Was mache ich wirklich gut im Leben, und wo spüre ich immer wieder Defizite? Wir haben zwar ein mehr oder weniger festgefügtes Selbstbild, aber würden wir für uns selbst „die Hand ins Feuer legen“? Sind wir beispielsweise in schwierigen Situationen charakterstark, flexibel, eigensinnig oder kreativ genug, um standzuhalten und die Probleme zu bewältigen? Die Persönlichkeitspsychologie setzt sich mit Eigenschaften, Talenten und Bewältigungsmustern auseinander und hat sechs Bereiche identifiziert, die über unser Verhältnis zur Welt, unseren sozialen Stil und unsere berufliche Zukunft entscheiden. Es hilft, diese sechs „Schlüsselkompetenzen“ des Charakters zu kennen, damit uns das Leben besser gelingt: Intelligenz, Antrieb, Zufriedenheit, Moral, Freundschaft und Vertrauen. Alle sechs dieser Hinweise auf die Charakterstruktur zeigen sich bereits relativ früh im Leben. Ihr Mischungsverhältnis in einem Individuum verändert sich im Laufe des Älterwerdens kaum. Das Charakterprofil gibt Auskunft darüber, was jemandem wichtig ist im Leben und wohin er sich entwickelt. Es ist das, was uns als die besondere Note, das gewisse Etwas eines Menschen beeindruckt. Manchmal verdecken Äußerlichkeiten – etwa der „Ton“ eines Menschen oder seine „Ausstrahlung“ – das, was langfristig wirklich dominant sein wird. Worauf sollen wir achten, etwa wenn wir uns verlieben, wenn wir Freundschaften schließen, wenn wir Geschäftspartner suchen oder auch nur Reisegefährten oder Sportfreunde?

1. Intelligenz: Das Startkapital Die Intelligenz eines Menschen ist wahrscheinlich seine stabilste Eigenschaft. Sie sagt viel darüber aus, welche Potenziale, welche Zukunftsaussichten er haben und wie er sich entwickeln wird. Das gilt nicht nur für seine geistigen Leistungen und beruflichen Erfolge, sondern auch für seinen Charakter im Allgemeinen. Intelligenz zeigt an, wie schnell und gut wir Informationen aufnehmen und verarbeiten. Sie ist zwar keine Garantie, aber eine gute Chance, die Dinge des Lebens zu verstehen, Erfahrungen zu bewerten und einzuordnen, aus ihnen und auch von anderen Menschen zu lernen. Intelligenz ermöglicht, mit Komplexität umzugehen, und schützt uns oft davor, auf simple Lösungsmuster oder Stereotypen zurückzufallen. Was bedeutet der Baustein Intelligenz für das Charakterbild, das wir von uns selbst oder von anderen haben? Wir 84

können beobachten, wie Menschen denken, in welchem Stil sie analysieren und Probleme lösen, wie sie ein Argument entwickeln, ob sie sprunghaft oder systematisch vorgehen. Der Psychotherapeut Barry Lubetkin sieht es als Zeichen gut entwickelter und realitätstüchtiger Intelligenz, wenn ein Mensch die Für und Wider eines Dilemmas abwägen, ein Problem klar definieren und in seinen Dimensionen erkennen kann.

2. Antrieb: Driften oder Dampf machen? Manche Menschen driften mit relativ wenig Aufwand und Anstrengung durchs Leben, ihre Ziele sind wenig ambitioniert, und sie haben es in einer Art innerer Kosten-Nutzen-Kalkulation aufgegeben, für bestimmte Dinge besondere Anstrengungen zu investieren. Andere werden von Leidenschaft angetrieben und verfolgen Ziele mit großer Ausdauer. Antrieb ist die Eigenschaft, die uns immer wieder Mühen und Anstrengung auf uns nehmen lässt, um Lebensziele zu erreichen. Ob wir zu dieser Investition bereit oder fähig sind, hängt unter anderem davon ab, ob wir genügend Optimismus und Selbstvertrauen aufbringen können. Ob man ein gemeinsames geschäftliches Projekt verfolgt oder eine Familie gründet – bei den beteiligten Partnern sollte ein ähnlicher Level von Antrieb vorhanden sein. Wenn wichtige Ziele und Werte nicht von vornherein klar sind und wenn die Beteiligten nicht mit annähernd gleicher Energie diese Ziele verfolgen, sind Spannungen und langfristige Probleme programmiert. Man braucht ein gewisses Maß an Risikofreude, um neue, innovative Leistungen und Ziele zu erreichen, jenseits der Routine und der ausgetretenen Pfade. Dazu wiederum ist ein gewisses Maß an Selbständigkeit im Denken, eine geistige Unabhängigkeit vom Urteil anderer nötig. Die eigenen Entscheidungen zu verteidigen, an ihnen festzuhalten und sie hartnäckig zu verfolgen ist die Basis für den Charakterzug Antrieb. Er ist unter anderem daran zu erkennen: Wie spricht jemand über seine Probleme und die Hindernisse für seine Vorhaben? Wie reagiert er auf Schwierigkeiten und Rückschläge? Menschen mit starkem Antrieb finden immer wieder Mittel und Wege, um sich mit Schwierigkeiten auseinanderzusetzen, aber sie erkennen auch die Unberechenbarkeit des Lebens an. Sie hadern nicht mit dem Schicksal, wenn sie Niederlagen oder schlicht Pech hinnehmen müssen – sondern rappeln sich auf und suchen sich neue Ziele.

3. Zufriedenheit: Glück finden können Wo und wie ein Mensch sein Glück sucht und ob er fähig ist, öfter Zufriedenheit als Unzufriedenheit zu empfinden, verrät viel über seinen Charakter. Psychologen und Philosophen sind sich darüber einig, dass Glück vor allem aus einem Gefühl der Sinnhaftigkeit und des Dazugehörens entsteht. PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


Wo und wie ein Mensch sein Glück sucht, verrät viel über seinen Charakter

Glück erfahren wir weniger beim Erreichen eines bestimmten Zieles, sondern auf dem Weg dorthin, wenn wir dabei Schwierigkeiten überwinden und über uns hinauswachsen, wenn wir uns anstrengen und vielleicht auch Versagungen auf uns nehmen. Es gibt kein anhaltendes Glück ohne Herausforderungen, Risiken und psychisches Wachstum. Hedonistische Genüsse sind gut, aber sie nutzen sich schnell ab und verschaffen uns keine anhaltende Zufriedenheit. Ob ein Mensch mehr oder weniger mit seinem Leben zufrieden ist, hängt nicht nur, aber doch in hohem Maße auch davon ab, wie er seine Erfahrungen deutet und einordnet. Sieht er sich als Opfer eines blinden Schicksals, als Spielball der Ereignisse, so wird das seinen Willen verkrüppeln und seine Glücksmöglichkeiten stark reduzieren. Unterliegt er andererseits dem Irrtum, immer alles unter Kontrolle zu haben, ist auch das ein sicherer Weg in tiefe Unzufriedenheit.

4. Moral: Wohin zeigt der innere Kompass? Was macht einen Menschen zum halbwegs anständigen, verlässlichen und gutartigen Wesen – und was zum gewohnheitsmäßigen Betrüger, Gauner oder Halsabschneider? Wir alle sind immer wieder moralischen Unsicherheiten und Anfechtungen ausgesetzt, und manchmal erfüllen wir auch unsere eigenen Wertvorstellungen nicht hundertprozentig. Kleine Steuerbetrügereien, Lügen und andere Unaufrichtigkeiten, Boshaftigkeiten – nichts Menschliches ist uns wirklich fremd. Der Unterschied zwischen einem prinzipiell „guten Charakter“ und einem schlechten liegt jedoch darin, dass uns die moralischen Klippen und ethischen Irrwege immer bewusst bleiben, dass wir wenigstens ein schlechtes Gewissen empfinden und oft genug vor der Versuchung zurückschrecken. Die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, ihre Gefühle zu lesen und ihr Leid nachempfinden zu können, ist die Basis für ein gedeihliches soziales Zusammenleben. Mitgefühl und Empathie können natürlich auch vorgetäuscht werden – Politiker und andere Mächtige wissen, dass diese Eigenschaften von ihnen erwartet werden. Auch Psychopathen sind durchaus in der Lage, charmant und hilfsbereit, liebenswürdig und einfühlsam zu wirken. Die bloße Fähigkeit zum moralischen Räsonieren reicht nicht aus, um einen „guten Charakter“ zu haben. Selbst fundierte moralische Urteilsfähigkeit bedeutet nicht, dass jemand auch Taten folgen lässt. Der Charakter wird erst dann wirklich bewiesen, wenn ein Ernstfall eintritt, etwa eine Notsituation. Das Verhalten hängt dann auch von der Fähigkeit ab, sich so weit selbst beruhigen zu können, dass ein hilfreiches Handeln oder Eingreifen möglich wird, meint die Entwicklungspsychologin Susan Engel. Man muss also Angst, Panik, Gier oder den eigenen Fluchtreflex managen können. Dies ist die Basis von „guten“ charakterlichen Entscheidungen in jedem Lebensbereich. 85


Sie wollen einen Menschen kennenlernen? Machen Sie einen Ausflug in seine Kindheit

5. Freundschaft: Vom Geben und Nehmen Wie ein Mensch Freundschaft lebt und erlebt, lässt tief in seinen Charakter sehen: Denn Freundschaft ist ein Konglomerat von einer ganzen Reihe positiver Eigenschaften. Sie basiert auf wirklicher Gleichheit und Gegenseitigkeit zwischen zwei Menschen, auf Fürsorge, Selbstlosigkeit, Offenheit. Deshalb ist Freundschaft so befriedigend, wenn nicht gar eine der Hauptursachen für Lebenszufriedenheit. Freundschaft erlaubt uns, am anderen zu wachsen, wir besitzen in Freunden ein Unterstützungssystem, das uns ermutigt, Risiken einzugehen und Talente zu entwickeln und auszuschöpfen. Eine wachsende Zahl von Studien und Forschungsarbeiten bestätigt, dass es die besondere Kombination von Freundlichkeit und Selbstbewusstsein ist, die wir bei anderen (und natürlich auch bei uns selbst) schätzen. Denn beide Eigenschaften garantieren im Zusammenspiel, dass sich jemand in der Lage sieht, einem Freund beizuspringen und in der Not zu helfen. Auch die Dauer einer Freundschaft ist ein Maß für deren charakterbildende Qualität: Die Fähigkeit, mit jemandem eine gemeinsame Geschichte zu entwickeln, gibt Auskunft darüber, ob wir genügend Loyalität, Nachsicht und Engagement aufbringen, um eine Freundschaft über ihre Hoch- und Tiefpunkte und über den Lauf der Zeit zu erhalten. Wer zu längerfristigen Freundschaften fähig ist, signalisiert damit, dass er auch mit menschlichen Schwächen, inklusive den eigenen, gut umgehen kann. Die Fähigkeit zur Freundschaft hat zwei wesentliche Dimensionen: Die eine ist der Grad an Soziabilität, ein Zug, der vor allem eine Frage des angeborenen Temperaments ist. Die zweite Dimension ist das ehrliche Interesse, das man für einen anderen Menschen aufbringen kann. Wir müssen diese sozialen Fähigkeiten aber auch „operational“ machen können: all die Alltagsfähigkeiten beherrschen, die es braucht, um gute Bekannte und einige sehr gute Freunde um sich zu versammeln und sich an sie zu binden. Nicht jeder Mensch verfügt über die gleichen Fähigkeiten, auf andere zuzugehen. Introvertierte Naturen fühlen sich ganz wohl dabei, wenn sie viel Zeit mit sich allein verbringen können (siehe auch den Beitrag auf Seite 46). Das Bedürfnis, allein zu sein, sich vor allzu vielen Kontakten zu schützen und in 86

einer Innenwelt zu leben, ist jedoch nicht automatisch ein Indiz dafür, dass jemand ein Defizit in der Freundschaftsfähigkeit hat. Wichtig ist nur, dass er bei sich bietender Gelegenheit (oder auch wenn er selbst als Freund gefordert ist) „umschalten“ kann und seine sozialen Fähigkeiten unter Beweis stellt. Der Stil, in dem wir mit anderen Menschen interagieren, bleibt meist lebenslang stabil. Dieser Stil wird früh erkennbar, und er erlaubt eine Prognose über das künftige soziale Leben eines Menschen. Freundschaft gründet auf Gegenseitigkeit, allerdings kann sie auch auf dem Austausch von Gütern oder Vorteilen beruhen, also auf einer eher berechnenden Gegenseitigkeit. Am Vorhandensein und am Zustand seiner Freundschaften können wir vieles über den Charakter eines Menschen erfahren. Er zeigt sich etwa daran, ob er in der Freundschaft dominieren oder gut unterhalten sein will, ob er strenge Maßstäbe an Freunde anlegt und ob er Freundschaften auch verkommen lässt.

6. Vertrauen: Die Segnungen der Intimität Wer fähig ist, intime und vertrauensvolle Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen, verfügt über ein großes Reservoir an Glücksmöglichkeiten, an Trost und Hilfe in schlechten Zeiten. Denn dieser Charakterzug berührt die Wurzel unserer psychischen Sicherheit, er entscheidet darüber, wie wir auf die Welt zugehen und wie wir sie für uns erobern. An den Graden der Intimität mit verschiedenen Menschen können wir ablesen, welches Maß an Vertrauen wir aufbringen, wie sehr wir uns öffnen, wie viel wir preisgeben und uns damit verletzlich machen. Nicht zuletzt beeinflusst unsere persönliche Intimitätsbilanz die Fähigkeit, den Stress in unserem Alltag zu bewältigen. Psychologen sind sich darin einig, dass unsere ersten Beziehungen die Basis für alle weiteren sind. Die Qualität der emotionalen Bindungen innerhalb der Familie beeinflusst nicht nur unsere Fähigkeit, auch zu anderen Menschen Bindungen aufzubauen und uns in ihnen sicher zu fühlen. Das erste Stressbewältigungssystem, das wir im Laufe unseres Lebens erwerben, ist die Bindung, die wir als Kind zu einer fürsorglichen Bezugsperson, meist ist das die Mutter, aufbauen können. PS YCH OLO G IE H EUTE com p a c t


2. – 3. November 2017 Weinheim, Bergstraße Der Wunsch, etwas über andere zu erfahren, und die Bereitschaft, ihnen zuzuhören, sind oft die dringendsten Bedürfnisse in einer engen Beziehung, vor allem in Zeiten von Stress und emotionaler Bedrängnis. Diese Fähigkeiten sind in allen menschlichen Beziehungen hoch geschätzt. Dazu gehört neben dem Zuhören auch die Fähigkeit, dem anderen zu signalisieren, dass man ihn gehört und verstanden hat. Für Barry Lubetkin ist dies eine soziale Schlüsselkompetenz: Je besser diese Kommunikation fließen kann, desto zufriedener und glücklicher fühlen sich Menschen in der betreffenden Beziehung. Dazu zählt auch die Bereitschaft, sich dem anderen gegenüber zu offenbaren. Die Verletzbarkeit, die dadurch entsteht, setzt tiefes Vertrauen in den anderen voraus. Keine menschliche Bindung, keine dauerhafte und belastungsfähige Beziehung kann ohne dieses Vertrauen existieren. Das Gegenteil wäre eine ständige misstrauische Wachsamkeit, ein Sichbelauern und -beargwöhnen. Vertrauen wiederum baut darauf auf, dass wir uns auf den anderen verlassen können, dass wir seine Reaktionen vorhersagen und einschätzen können. Und hier schließt sich der Kreis: Charakter heißt, genau diese Sicherheit im Urteil über andere und über sich selbst zu haben. Ein Charakter macht den im positiven Sinne berechenbaren, verlässlichen Menschen aus. Und das gilt vor allem für Zeiten von Krisen und Not. Lubetkin schlägt einen Test vor, bei dem wir viel erfahren können über einen Menschen, beispielsweise einen zukünftigen Liebespartner: „Fahren Sie mit ihm in seine Heimat, fahren Sie am Elternhaus vorbei, besuchen Sie Orte der Kindheit, und fast automatisch werden Sie etwas darüber erfahren, was für ein Mensch er ist und wie er dazu wurde: Erzähl mir, wo ihr zu Abend gegessen habt, worüber habt ihr euch unterhalten? Wo war dein Zimmer? Wie war es für dich, abends ins Bett zu gehen?“ Lubetkin ist überzeugt, dass wir keine unmittelbarere und präzisere Einsicht in die emotionale „Grundsteinlegung“ eines Menschen gewinnen als durch eine solche Reise in die Kindheit. Plötzlich tauchen starke emotional gefärbte Erinnerungen auf, und wir werden erfahren, ob Verbitterung oder Bedauern, Zärtlichkeit oder Enttäuschung, Wut oder Humor diese Kindheit gefärbt haben und ob jemand Frieden mit dieser Vergangenheit geschlossen hat. PHC

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MEDIEN REDAKTION: ANKE BRUDER

Sich selbst verstehen Wie wir uns selbst näherkommen und unser Leben verbessern können „Jeder Mensch steht vor einer grundsätzlichen Aufgabe: Er muss sein Leben führen. Irgendwie muss er die vierundzwanzig Stunden des Tages füllen, mit was auch immer“, schreibt Michael Bordt in seinem Buch Die Kunst, sich selbst zu verstehen. Der Weg dahin, jeden neuen Tag auf möglichst gelungene und glückliche Weise zu verbringen, führt bei ihm über die Selbsterkenntnis. Der Autor, Jesuit und Professor an der Hochschule für Philosophie in München, beschreibt in acht Kapiteln, wie wir Selbsterkenntnis erlangen – und wie wir sie nutzen können, um unser Leben zu überdenken und gegebenenfalls zu verbessern. Wichtige 88

Fragen, die dabei beantwortet werden wollen, sind etwa: Welche meiner Gedanken und Gefühle gehören wirklich zu mir, und welche sind fremdbestimmt? Was für ein Mensch möchte ich sein? Welche Werte sind mir wichtig? Was ist eigentlich ein „gelungenes Leben“? Bordt führt gut verständlich und sehr lebensnah durch alle diese Fragen und „Aufgabenbereiche“. Und er klammert auch nicht aus, was es bedeutet, das Leben auch dann als ein „gutes“ zu empfinden, wenn es von Leid oder Tod bestimmt wird und nicht eben leicht von der Hand geht. Michael Bordt SJ: Die Kunst, sich selbst zu verstehen. Den Weg ins eigene Leben finden. Ein philosophisches Plädoyer. Elisabeth Sandmann, München 2015, 198 S., " 19,95

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Was ist Persönlichkeit? Ist sie „in Stein gemeißelt“ oder veränderbar? Stehen Persönlichkeitseigenschaften in Zusammenhang mit einem langen Leben? Christian Montag versucht in dem kleinen Buch Persönlichkeit. Auf der Suche nach unserer Individualität den aktuellen Stand der Forschung zusammenzutragen. Der Leser erfährt etwa, dass gewissenhafte Menschen offenbar länger leben. Selbstdisziplin als wesentlicher Bestandteil von Gewissenhaftigkeit scheint demnach von großer Bedeutung, um ein gesundes Leben zu führen und alt zu werden. Montag geht auch der Frage nach, ob Tiere eine Persönlichkeit haben. Interessanterweise führt er eine Studie von Samuel Gosling an, bei der das menschliche Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit auch bei Hunden zuverlässig gemessen werden konnte – mit Ausnahme des fünften Faktors, eben Gewissenhaftigkeit. Diese Eigenschaft kann dem Forscher zufolge nur bei Menschen und Schimpansen beobachtet werden. Wussten Hundehalter ja längst, dass ihr Vierbeiner sich in den Eigenschaften Offenheit, Extraversion, Neurotizismus und Verträglichkeit von anderen unterscheidet. K AT R I N B R E N N E R - B E C K E R Christian Montag: Persönlichkeit. Auf der Suche nach unserer Individualität. Springer, Berlin/Heidelberg 2016, 174 S., " 19,99

Meine tägliche Herausforderung APP

Lust auf Miniabenteuer? Die App Daily Quest möchte uns aus unserer Komfortzone locken und stellt jeden Tag eine kleine Aufgabe, an

der wir uns versuchen können. Zum Beispiel: „Advocatus Diaboli: Vertrete die genaue Gegenmeinung in ei-

Werden, wer wir sind Selbstsicher sein gilt in unserer Gesellschaft als wichtiger Wert. Gleichzeitig hat jeder von uns seine kleinen Unsicherheiten – und viele wünschen sich, mehr Selbstvertrauen zu entwickeln und selbstbewusster auftreten zu können. In ihrem Ratgeber Schluss mit meiner Wenigkeit! erläutern die Psychologinnen Laura Seebauer und Gitta Jacob, welche Aspekte Selbstsicherheit überhaupt umfasst: Sie bedeutet nicht nur, sich in sozialen Beziehungen selbstbewusst zu verhalten, sondern auch, sich selbst zu mögen, sich gut zu kennen und zu wissen, welche Ziele man im Leben verfolgt. Anhand vieler Fallbeispiele und konkreter Übungen beschreiben die Autorinnen, wie man an den unterschiedlichen Aspekten seiner Selbstsicherheit arbeiten kann. Etwa sich über Ziele im Leben klarer zu werden oder Hindernisse, die zu Unsicherheit führen, zu überwinden. Andere Kapitel zeigen, wie man selbstbewusst mit Kritik und Lob umgeht oder aktiv positive Beziehungen zu anderen Menschen herstellt. Wer sich bereits mit dem Thema soziale Phobie oder mit den Methoden der Verhaltenstherapie beschäftigt hat, dem werden viele Konzepte im Buch bekannt vorkommen: etwa automatisierte Gedanken zu hinterfragen, achtsam mit sich selbst zu sein oder bei Gesprächen auf die Regeln der sozialen Kompetenz zu achten. Doch für alle, die sich in vielen Situationen unsicher fühlen und aus der engen Welt ihrer „Kaffeetasse“ ausbrechen möchten, bietet der Ratgeber gute und vielseitige Hilfestellungen. Je nach Geschmack kann man das Buch dabei von vorn nach hinten durcharbeiten – oder sich einfach einzelne Aspekte, die einem wichtig erscheinen, herauspicken. CHRISTINE AMRHEIN

ner Diskussion. Wähle für den größtmöglichen Effekt eine Meinung aus, die nicht Deine ist.“ Was wir davon haben? Persönliches Wachstum – zumindest für alle, die die Aufgaben ernst nehmen.

Laura Seebauer, Gitta Jacob: Schluss mit meiner Wenigkeit! Selbstvertrauen erlangen und selbstsicher handeln. Mit Onlinematerial. Beltz, Weinheim 2015, 176 S., " 22,95

Daily Quest. App für iOS, " 4,99

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Leise, aber stark Introvertiert – was bedeutet das? Gehört die Welt nur den Lauten? Bin ich selbst introvertiert? Eine Rundumbetrachtung der Welt der „Stillen“ bietet Anne Heintzes Hörbuch Auf die leise Weise. Die Autorin, Expertin für Introversion und Hochsensibilität, erklärt darin das Konzept der Intro- und Extraversion und beschreibt, wie sich die individuelle Veranlagung im täglichen Leben auswirkt. Sie betont die Stärken der Introvertierten und erklärt, wie ruhige Menschen das Beste aus ihrer Veranlagung machen können. Dabei will sie niemanden umerziehen, sondern gibt Tipps, wie Introvertierte im „lauten“ Alltag überleben können: im Umgang mit anderen Menschen, in der Familie, im Beruf, beim Small Talk, beim Einstehen für eigene Bedürfnisse. Heintze schont dabei niemanden, sie lässt Introversion nicht als Ausrede gelten, bestimmte Dinge nicht tun zu wollen, zum Beispiel das Üben von Kritik oder das Reden in der Öffentlichkeit. Vielmehr ist sie überzeugt, dass Introvertierte all diese Dinge genauso gut können wie Extravertierte. Nur eben auf ihre Weise.

Übung zur Selbstannahme In ihrem Buch So wie du bist beschreibt die österreichisch-französische Zen-lehrerin Corinne Frottier den buddhistischen Weg zur Selbstannahme. Darin empfiehlt sie unter anderem die Meditationsübung „Wahrnehmen, nicht verändern“ So geht’s: Nachdem wir uns bequem hingesetzt haben, verbinden wir unsere Aufmerksamkeit eine Weile mit unserem Atem. Wenn wir das Gefühl haben, unsere Gedanken sind ein wenig zur Ruhe gekommen, stellen wir uns die folgende Frage:

Wie ist es gerade? Wie nehme ich diesen Augenblick wahr? Ist er angenehm oder unangenehm? Diese Frage sollte möglichst konkret und aufrichtig beantwortet werden und alle Bereiche der Wahrnehmung einschließen: körperliche Empfindungen, Gedanken, Gefühle. Dann folgt die nächste Frage:

Anne Heintze: Auf die leise Weise. Wie Introvertierte ihre Stärken erkennen und nutzen. 2 Audio-CDs. Inklusive Selbsttest im Booklet. Argon Balance 2016. Laufzeit: 120 Minuten, " 14,95

Wie sollte es sein? Wie wünsche ich mir diesen Moment? Was soll anders sein, und wie soll es sein? Auch hier sollten wir wieder so konkret und aufrichtig wie möglich sein. Anschließend widmen wir uns dem letzten Teil der Übung:

Nimm wahr, verändere nichts.

Die CharlieBrown-Theorie der Persönlichkeit

Wir betrachten den Moment, wie er tatsächlich ist, und halten unsere unmittelbare Wahrnehmung und unsere Wunschvorstellung unberührt von Urteilen und Kommentaren im Fokus unseres Gewahrseins. Wir spüren, wie unser KörperGeist-System sich entspannt und sanftes Wohl-

Was haben Charlie Brown und die Peanuts mit der

wollen sich in uns ausbreitet. Wir fahren mit

Big-Five-Theorie der Persönlichkeit gemeinsam?

dieser Übung so lange fort, wie wir möchten.

Ziemlich viel, meint Psychologieprofessor James C. Kaufman – und erklärt uns auf amüsante Weise die fünf Faktoren der Persönlichkeit anhand des

Corinne Frottier: So wie du bist. Der

beliebten Comicstrips. In englischer Sprache.

buddhistische Weg zur Selbstannahme. Kösel, München 2016, 208 S., " 17,99

www.jamesckaufman.com/personality/the-charlie-brown-theory-ofpersonality/

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Die Stunde der Stillen

Foto: rockabella / photocase.de

Wie können introvertierte Menschen ihre Stärken im Arbeitsalltag ausbauen?

Lauter! Mehr Begeisterung! Verkaufen Sie sich besser! Mit derlei Ratschlägen sind Introvertierte oft konfrontiert. Ungeachtet des Booms ruhiger Strategien wie Achtsamkeit oder Meditation wird der größte Erfolg noch immer dort vermutet, wo es am lautesten zugeht. Jennifer Kahnweiler dagegen ist überzeugt, dass den Stillen die Zukunft gehört. Ihnen gilt dieses Buch – und jenen, die sich von leisen Überzeugern inspirieren lassen wollen. Der erste Rat lautet daher: „Hören Sie auf, sich wie ein Extravertierter verhalten zu wollen!“ Stattdessen sollten sich Introvertierte auf ihre Stärken besinnen. Etwa wie eine von der Autorin befragte Marketingmanagerin, die sich als „großer Blaureiher“ versteht, „der majestätisch herniederschwebt, wenn er etwas zu sagen hat – als Gegensatz zu den vielen gackernden Gänsen, die endlos vor sich hin plappern“. Kahnweiler hat im Laufe ihrer Beratungserfahrung sechs erfolgversprechende Schlüsselqualifikationen identifiziert, die von der Gruppe der Zurückhaltenden genutzt werden: stille Auszeiten, um Kraft zu tanken, gute Vorbereitung auf Gespräche oder Präsentationen, engagiertes und empathisches Zuhören, fokussierte Gespräche, Ausdruckskraft beim Schreiben sowie gezielte und intelligente Nutzung sozialer Medien. Ein Test zu Beginn des Buches lädt ein, den persönlichen „Stiller-

Einfluss-Quotienten“ (SEQ) zu testen, um herauszufinden, welche der Stärken noch ausbaufähig wären. Allerdings kann man auch beim Einsatz stiller Stärken über das Ziel hinausschießen, warnt Kahnweiler. Wer sich in Auszeiten verliert oder bei einsamen Recherchen verzettelt, wird nie zum Abschluss kommen. Ein Quäntchen Extraversion braucht es dann wohl doch. Drei Schritte sollen helfen: Ein Konzept entwerfen, diesen Plan ein paar Tage ruhen lassen, mit jemandem besprechen – und dann: raus damit. Handeln! Und nicht zuletzt eine verlockende Belohnung einbauen. Welche? „Dass Sie erfolgreich eingefahrene Denkmuster infrage stellen, dass Ihre neuen Ideen an Boden gewinnen, Ihre Visionen wahr werden …“ Ein lesenswertes Buch, das Einsichten ermöglicht und zahlreiche Anregungen aus der Praxis bietet. S Y LV I A M E I S E

Jennifer B. Kahnweiler: Die Stärken der Stillen. Selbstvertrauen und Überzeugungskraft für introvertierte Menschen. Aus dem Englischen von Karsten Petersen. Junfermann, Paderborn 2015, 158 S., " 19,–

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Aneinander vorbeidenken? Ludger Pfeil zeigt, wie philosophisches Denken helfen kann, uns und andere besser zu verstehen Wir alle haben grundlegende Überzeugungen, Werte und Normen. Sie können das Ergebnis persönlicher Erfahrung sein oder das Resultat bloßen Nachdenkens. Nicht wenige unserer Denk- und Handlungsmuster sind das Produkt unserer individuellen kulturellen Sozialisation und uns daher oftmals gar nicht bewusst. Gerade diese unhinterfragten Grundeinstellungen können oftmals die Ursache dafür sein, dass wir nicht nur aneinander vorbeireden, sondern, so der Autor Ludger Pfeil, „auch tiefer aneinander vorbeidenken“. Der promovierte Philosoph hat deshalb den Versuch unternommen, diese ausgesprochenen und unausgesprochenen Einstellungen zu kategorisieren und anhand von neun philosophischen Grundtypen darzustellen. Das Ziel dabei ist, unser eigenes Denken, aber auch die Denkmodelle anderer besser zu verstehen. Da gibt es, um nur einige zu nennen, den Überzeugungsdenker, den Glücksfinder, den Hinterfrager, den Pflichtbewussten oder den Quergeist. Um diese verschiedenen Persönlichkeitstypen lebendig werden zu lassen, bedient sich Pfeil einschlägiger Denker und ihrer Philosophien, die jeweils exemplarisch für den betreffenden Typen stehen. So ist beispielsweise der Quergeist durch Philosophen wie Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger repräsentiert. Ludger Pfeil macht bereits im ersten Kapitel des Buches klar, dass „was und wie wir denken, beeinflusst, wie wir die Welt betrachten, wie wir mit uns selbst, anderen Menschen und Dingen umgehen, was wir für wichtig und unwichtig halten und wie wir Entscheidungen treffen“. So hofft der Autor darauf, der Leser möge sich gedanklich auch auf fremde, vielleicht sogar konträre Positionen einlassen, um die eigenen gedanklich ausgetretenen Pfade zu verlassen, denn „die Philosophie bietet uns wie sonst höchstens die Literatur die Chance, andere Sichten auf die Welt kennenzulernen und uns aus der Beschränkung der mehr oder weniger engen eigenen Gedankenwelt … mindestens zeitweise zu befreien“. Eckart Löhr

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Wie ticke ich? Sich selbst verstehen, wer will das nicht? Eher wissenschaftlich und systematisch geht das Autorenquartett Johannes Storch, Corinne Morgenegg, Maja Storch und Julius Kuhl das Thema an. Ihr Buch Ich blicks. Verstehe dich und handle gezielt vereint zwei Ansätze, mit deren Hilfe wir unser Verhalten und unsere Gefühle selbst analysieren können, um gegebenenfalls etwas daran zu verändern. Zunächst geht es darum, mithilfe der Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen (PSI) das eigene „Funktionieren“ unter die Lupe zu nehmen. Die Theorie geht von vier Funktionssystemen aus, die auf Affekten, Erfahrungen und der Arbeitsweise unseres Gehirns basieren. Hat man verstanden, wie man PSI-mäßig tickt, kann man mithilfe des nächsten Ansatzes, des Zürcher Ressourcen-Modells (ZRM) seine Handlungen künftig so planen, dass sie zur eigenen Persönlichkeit und zum eigenen Leben passen. Das ZRM geht von zwei verschiedenen Systemen aus, die Wahrnehmung und Verhalten steuern: dem Verstand und dem Unbewussten. Diese zwei Systeme gilt es in Einklang zu bringen, damit ein zufriedenes Leben gelingen kann. Wer sich nicht an der etwas sperrigen Aufmachung stört, kommt mit diesem Buch sicher zu manch spannenden Einsichten. Mit Selbsttest und vielen Übungen zum Mitmachen.

Ludger Pfeil: Du lebst, was du denkst. Neun philosophische

Johannes Storch u. a.: Ich blicks. Verstehe dich und

Denkweisen, mit denen wir uns und andere besser verstehen.

handle gezielt. Hogrefe, Bern 2016, 256 S.,

Rowohlt, Reinbek 2015, 255 S., " 14,99

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Auf dem Weg zu sich selbst Fast 2000 Kilometer wandert eine junge Frau allein auf dem Pacific Crest Trail (PCT). Der Film Der große Trip – Wild, der auf einer wahren Geschichte basiert, bietet mehr als eine gute Abenteuerstory: Er zeichnet das psychologische Porträt einer Frau, die es schafft, auf diesem Marsch sich mit sich selbst zu versöhnen Es beginnt mit einem Stöhnen. Das schwere Atmen kommt von einer Frau. Sie sitzt allein auf einem der Berggipfel inmitten einer wunderschönen Landschaft. Neben ihr, im Gras, steht ein riesiger Rucksack. Wie ein Cowgirl nach getaner Arbeit sitzt die Endzwanzigerin da, schwitzend, mit verklebtem Haar, sie hat Schrunden und blaue Flecken. Ein bisschen trotzig wirkt sie und auch stolz – aber körperlich am Ende. Sie stöhnt vor Schmerzen, schaut dabei auf ihre Füße, die sie offenbar gerade von den Schuhen befreit hat: Wir sehen Blasen und blutige Zehen – ein Anblick, der schwer zu ertragen ist. Der Film Der große Trip – Wild wirft uns mit dieser Anfangsszene mitten hinein in den Hiking-Alltag der Cheryl Strayed (Reese Witherspoon). Damit geht es uns ähnlich wie der Protagonistin: Sie ist keine passionierte Wanderin und hatte diesen Weg nur grob geplant. Trotzdem will sie über drei Monate rund 2000 Kilometer weit auf dem Pacific Crest Trail wandern. Der Fernwanderweg im Westen der USA führt durch Wüsten, Wälder und über Hochebenen, hier sind sonst fast nur Männer unterwegs. Und die meisten gehen nicht allein wie Cheryl. Die Idee zu dieser Herausforderung kommt ihr an einem Tiefpunkt ihres Lebens: Sie hat gerade eine Scheidung hinter sich und gibt sich den neuen Nachnamen „Strayed“. Der Name (Engl: to stray – streunen) spielt auf ihren Lebenswandel an, für den sie sich schuldig fühlt: Sie war einige Jahre glücklich verheiratet, doch dann wird ihre Mutter unheilbar krank und stirbt bald darauf. Siechtum und Tod der Mutter (Laura Dern) werfen die junge Frau völlig aus der Bahn: Cheryl reibt sich einerseits als Krankenpflegerin für die Mutter auf, andererseits betrügt sie ihren Ehemann, schläft wahllos mit Männern, schmeißt ihr Studium, nimmt Drogen. Der Stoff basiert auf einer wahren Geschichte, die der britische Autor Nick Hornby für den Film bearbeitete. Er zeichnet Cheryl als Frau mit vielen Facetten und zum Teil wider-

sprüchlichen Eigenschaften: So ist sie einerseits eine Amazone, die sich allein in der Wildnis durchbeißt, dem Wetter trotzt, Einsamkeit und körperliche Schmerzen aushält und ihr überdimensioniertes Gepäck klaglos schultert. Aber Cheryl ist auch ein Mensch, der mit sich hadert, Sex und Drogen zur Betäubung einsetzt, um inneren Zuständen zu entfliehen. Im Film wandern wir die meiste Zeit an Cheryls Seite auf dem PCT. Aber diese Abenteuerstory wird immer wieder abrupt unterbrochen durch Cheryls Erinnerungen, die sich hier Bahn brechen. Sie führen uns meist zurück in die Kindheit. Manche Szenen sehen wir immer wieder: Cheryl als etwa Sechsjährige mit verstörtem Gesichtsausdruck in einem Apothekengang, mutterseelenallein, mit einem Päckchen Verbandszeug in der Hand. Mit der Zeit verstehen wir: Cheryl ist ein traumatisiertes Kind, das Verbandszeug war für die Mutter, die vom Vater mehr als einmal blutig geschlagen wurde. Im Verlauf des Films wird allmählich nachvollziehbar, warum Cheryl sich schuldig fühlt, wie sie in den Strudel des selbstschädigenden Verhaltens geraten konnte. So ist Der große Trip nicht nur ein Abenteuerfilm. Er ist auch ein differenziertes psychologisches Porträt und eine Beschreibung dessen, was manchen Menschen offenbar beim Fernwandern oder Pilgern gelingt: Nicht nur der Körper bekommt neue Muskeln, an Stellen, die man noch gar nicht kannte. Auch die Seele schöpft dadurch neue Kraft. Susie Reinhardt

Der große Trip – Wild. DVD. 20th Century Fox Home Entertainment 2015. Laufzeit: 112 Minuten

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Konliktberatung leitet an zu einer objektiven und realistischen Sichtweise zu finden, hilt wieder Ruhe und Klarheit in eine scheinbar ausweglose Situation zu bringen. Neue Sichtweisen und Strategien helfen Sorgenspiralen zu stoppen, mit Provokationen, Kritik oder Zurückweisung adäquat umzugehen, sowohl im Privatleben als auch in der Berufswelt und damit vom passiven Opfer zum souverän Handelnden zu werden. Wer mit sich selbst in Einklang ist, den eigenen Selbstwert gestärkt hat, Konlikte ohne Berührungsängste annehmen, verstehen und lösen kann, ist in seiner beratenden oder leitenden Funktion gelassener, strukturierter und authentischer. Die 3 monatige Ausbildung ist eine Kombination aus Fernstudium und Präsenzunterricht mit monatlichem Wochenendblock und daher auch für entfernt wohnende Teilnehmer geeignet. Ausbildungsziel ist eine beratende oder Referententätigkeit in Form von Seminaren oder Projekten, entweder eigenständig oder integriert in den bestehenden Beruf. Sowohl in der in der therapeutischen oder pädagogischen Arbeit mit Kindern, als auch in der Erwachsenenbildung, innerbetrieblichen Fortbildung oder im Coaching. Infos auch zu Entspannungspädagogik, Bewegungspädagogik, Yogatrainer/in

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VOM GESELLSCHAFTLICHEN UND KULTURELLEN WERT DER PSYCHOTHERAPIE

Robert L. Woolfolk

Felix Leps schildert seine Zwangserkrankung äuĂ&#x;erst eindringlich: von den ersten unauffälligen Symptomen, deren allmählicher Ausbreitung, bis die Zwänge in fast allen Lebensbereichen Ăźberhandnehmen. Die Kontrolle Ăźber sich und seinen Alltag erlangt er erst nach mehreren Anläufen in einer Therapie zurĂźck. Dieser Erfahrungsbericht beschreibt die Symptome der Zwangserkrankung und vermittelt, wie wichtig es ist, sich Hilfe zu suchen.

Ma rs h a M. Li n e h a n

Band 2 Handbuch der Dialektisch-Behavioralen Therapie

Abschied von der reinen Labor-Psychotherapie und der Synapsen-Psychiatrie INHALT: Krise der Psychotherapie – BĂźrgerkriege unter Psychotherapeuten – Krise der Pharmakotherapie – Psychotherapeutische Expertise – Psychotherapie als Humanismus – Schädliche Therapien – Aussichten auf ein :LHGHUDXĂ€HEHQ ISBN 978-3-86294-042-4 336 Seiten | Broschur | â‚Ź 68,–

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Alt und krank – ein Albtraum? In der Altersmedizin läut heute einiges schief: schädliche Therapien, zu viele Medikamente, zu wenig Zeit und Beratung. Der Journalist Raimund Schmid deckt die fatalen Mechanismen im deutschen Gesundheitssystem auf, gleichzeitig zeigt er aber auch an Beispielen, wie eine auf die spezifischen Bedürfnisse alter Menschen ausgerichtete Gesundheitsleistung aussehen kann. Er benennt klar, was angesichts des demografischen Wandels nicht nur jeder Einzelne, sondern die Gesellschat praktisch, politisch und präventiv tun muss. 264 Seiten, gebunden im Schutzumschlag € 19,95 D | ISBN 978-3-407-86436-9 Auch als erhältlich

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