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Islam
Politische Bildung und interreligiöses Lernen
Dritte Teillieferung
Modul 5:
Islam in Europa – Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Bosnien-Herzegowina
Modul 6:
Islam Länderbeispiel – Iran
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Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen Impressum
Titelbilder: Foto ©: v.l.n.r.: Picture Alliance, Alexander Rüsche; dpa, Abaca; AP, Enric F. Marti; dpa; Getty-Images, Behrouz Mehri
Bonn 2004 Themen und Materialien © Bundeszentrale für politische Bildung / bpb Adenauerallee 86 53113 Bonn Autoren Wolfgang Böge und Jörg Bohn, unter Mitarbeit von Hamid Azadi, Jutta Böge, Ralph Ghadban und Banafsheh Nourkhiz Projektleitung, Konzeption und Redaktion Wolfgang Böge, Jörg Bohn; bpb: Franz Kiefer (verantwortlich) Visuelle Konzeption Cleeves Communication MediaPartner – UnitDrei, Meckenheim Druck Druckhaus Dresden GmbH
Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autoren die Verantwortung. Wir bedanken uns bei allen Institutionen und Personen für die Abdruckerlaubnis. Wir haben uns bemüht, alle Copyrightinhaber ausfindig zu machen und um Abdruckgenehmigung zu bitten. Sollten wir eine Quelle nicht oder nicht vollständig angegeben haben, so bitten wir um Hinweise an die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Die Redaktion. Diese Veröffentlichung ist nach den Regeln der neuen Rechtschreibung gesetzt. Ausnahmen bilden Texte, bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderung entgegenstehen. Für die Inhalte der in diesem Werk genannten Internet-Seiten sind allein deren Herausgeber verantwortlich, der Hinweis darauf und die Seiten selbst stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung, der Autoren oder der Redaktion dar. Es kann auch keine Gewähr für ihre Aktualität übernommen werden.
Redaktionsschluss: Oktober 2004 ISBN: 3-89331-565-9
Dieses Projekt wurde gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums des Innern.
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Modul 5: Der Islam in Europa
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Der Islam in Europa Impressum
Titelbilder: Foto ©: v.l.n.r.: Moschee in London (PA); Moschee in Paris (AP); Moschee in Sarajevo (AP)
Bonn 2004 Themen und Materialien © Bundeszentrale für politische Bildung / bpb Adenauerallee 86 53113 Bonn Autoren Wolfgang Böge, unter Mitarbeit von Ralph Ghadban und Jutta Böge Projektleitung, Konzeption und Redaktion Wolfgang Böge, Jörg Bohn; bpb: Franz Kiefer (verantwortlich) Visuelle Konzeption Cleeves Communication MediaPartner – UnitDrei, Meckenheim Druck Druckhaus Dresden GmbH
Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autoren die Verantwortung. Wir bedanken uns bei allen Institutionen und Personen für die Abdruckerlaubnis. Wir haben uns bemüht, alle Copyrightinhaber ausfindig zu machen und um Abdruckgenehmigung zu bitten. Sollten wir eine Quelle nicht oder nicht vollständig angegeben haben, so bitten wir um Hinweise an die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Die Redaktion. Diese Veröffentlichung ist nach den Regeln der neuen Rechtschreibung gesetzt. Ausnahmen bilden Texte, bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderung entgegenstehen. Für die Inhalte der in diesem Werk genannten Internet-Seiten sind allein deren Herausgeber verantwortlich, der Hinweis darauf und die Seiten selbst stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung, der Autoren oder der Redaktion dar. Es kann auch keine Gewähr für ihre Aktualität übernommen werden.
Redaktionsschluss: Oktober 2004 ISBN: 3-89331-565-9
Dieses Projekt wurde gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums des Innern.
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Der Islam in Europa Inhalt
......................................................................................................................................................................................Seite Brief an die Kolleginnen und Kollegen.............................................................................................................................................4 1. Grundlagen.............................................................................................................................................................................................7 • Einleitung ..........................................................................................................................................................................................7 • Materialübersicht und Arbeitshinweise.................................................................................................................................7 • Schülermaterialien (1.1–1.12) ....................................................................................................................................................8 2. Das Selbstverständnis des Westens – Ansichten und Erwartungen........................................................................18 • Einleitung........................................................................................................................................................................................18 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ..............................................................................................................................18 • Schülermaterialien (2.1–2.15)..................................................................................................................................................20 3. Großbritannien...................................................................................................................................................................................34 • Einleitung........................................................................................................................................................................................34 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ..............................................................................................................................34 • Schülermaterialien (3.1–3.19.5) ..............................................................................................................................................37 4. Frankreich ............................................................................................................................................................................................55 • Einleitung........................................................................................................................................................................................55 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ..............................................................................................................................56 • Schülermaterialien (4.1–4.14)..................................................................................................................................................59 5. Niederlande..........................................................................................................................................................................................90 • Einleitung........................................................................................................................................................................................90 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ..............................................................................................................................91 • Schülermaterialien (5.1–5.8.3).................................................................................................................................................94 6. Bosnien-Herzegowina ..................................................................................................................................................................112 • Einleitung .....................................................................................................................................................................................112 • Materialübersicht und Arbeitshinweise............................................................................................................................112 • Schülermaterialien (6.1–6.15) ...............................................................................................................................................114 7. Ausblick ...............................................................................................................................................................................................128
Kopiervorlage Sprechblasen.............................................................................................................................................................132
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die vorliegende didaktisierte Materialsammlung ist im Zusammenhang mit den anderen in dieser Reihe erschienenen Unterrichtsmodulen zum Thema Islam zu sehen. Die/Der Unterrichtende sollte unbedingt mindestens die erste Teillieferung (zwei Module: 1. Projektübergreifende Materialien, 2. Politik und Religion im Islam) von der Bundeszentrale für politische Bildung anfordern, da sich dort grundlegende und ergänzende Unterrichtsmaterialien finden, auf die hier nur hingewiesen werden kann. Für diejenigen, die sich in den Gesamtkomplex erst einarbeiten müssen, enthalten die ersten Module das Grundlagenwissen und eine Einführung in grundsätzliche politische Fragen zum Thema Islam und eine problemorientierte Sammlung von Materialien zu den Konfliktfeldern. In diesem Modul geht es einerseits um Grundlagenwissen, eine Zusammenstellung europäischer Autoren zu Identitätsfragen und Integrationsfragen angesichts der verstärkten muslimischen Zuwanderung und andererseits um einen Rundblick über die verschiedenartige Situation der Muslime in ausgesuchten europäischen Staaten. Die Materialien sollen auf die Frage nach dem Verhältnis Europas zu seinen muslimischen Minderheiten, dem Verhältnis der Muslime zu ihren jeweiligen Staaten und die Frage nach einer gelungenen oder mangelnden Integration in die jeweilige Gesellschaft und damit verbunden Konflikte anhand ausgesuchter Beispiele eingehen. Die Materialien sind nach thematischen Komplexen geordnet, wenn möglich bzw. wo es angebracht erscheint, kontrovers angelegt und problemorientiert aufbereitet, so dass auch eigenständiges Arbeiten gefördert wird. Arbeitshinweise erleichtern den Unterrichtenden wie in den anderen Modulen das Vorgehen. Das Modul ist im Verein mit Teilen der anderen Module (s. o.) geeignet für viele Formen der Erwachsenenbildung, einen schulischen Kurs „Islam in Europa“, für eine Projektwoche oder auch für einzelne Studientage in den Fächern Religion und Politik etc. oder für fächerübergreifenden Unterricht im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich. Die Materialzusammenstellung ist kein Unterrichtsmodell, sie bietet mehr als 4
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in einem Lehrgang abgearbeitet werden kann. Immer wird der oder die Unterrichtende auswählen und Schwerpunkte setzen müssen. Aktuelles Material soll das bereitgestellte ergänzen. Damit wird das Modul aber auch flexibel einsetzbar und im Verein mit Materialien aus den anderen Modulen vielfältig verwendbar. Nicht wenige Gesellschaftswissenschaftler sind der Ansicht, dass Migrations- und Integrationsfragen zum wichtigsten Thema der kommenden Jahrzehnte werden können, wenn die Zuwanderung aus islamischen und anderen außereuropäischen Ländern nach Europa sich in dem Maß des letzten Jahrzehnts weiterentwickelt. Ca. 120 Millionen junger Muslime am südlichen und östlichen Rand des Mittelmeeres warten aber auf eine Chance, nach Europa zu gelangen, liest man. Ein großer Bevölkerungsdruck lastet auf dem überalternden Europa, das einerseits junge Arbeitskräfte braucht und andererseits überall in politische Konflikte um eine geregelte Zuwanderung verstrickt ist. Veränderungs-, Abgrenzungs- und Strukturerhaltungskonflikte sind – sich verschärfend – zu erwarten, wenn die Integration nicht besser gelingt als in der Vergangenheit. Das Modell einer multikulturellen Gesellschaft ist mehr oder weniger still zu Grabe getragen worden. Seine Protagonisten von gestern scheuen heute sogar das Wort. Das kommunitaristische Modell führt erkennbar in Parallelgesellschaften, Gettobildung und Räume, in denen das gemeinsame Regelwerk keine Gültigkeit mehr besitzt. Alle betroffenen Länder Europas haben mehr oder weniger ähnliche Probleme, wenn auch Ausgangslagen und Entwicklungen verschieden sind. Alle europäischen Staaten haben die Unterlassungssünden der Vergangenheit, die Vernachlässigung der Einwanderungsfragen erkannt und setzen stärker auf Integrationsanstrengungen. Eine europäische Perspektive, eine gemeinsame Reaktion auf die Herausforderungen ist erst im Entstehen. Dabei importiert Europa gleichzeitig mit der Zuwanderung längst überwunden geglaubte Konflikte der Vergangenheit zwischen Religion und Staat, zwischen individueller Freiheit und Gruppenzwang, zwischen Mehrheiten und Minderheiten, zwischen säkularer Bürgergesellschaft und religiösem Fundamentalismus mit der Gefahr eines religiös segmentierten Gemeinwesens.
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ist es zu begreifen, dass es „den“ Is` lamUnerlässlich nicht gibt. Die Muslime teilen sich in ähnlich viele Gruppen auf wie Angehörige anderer Religionen, da es keine großen Organisationen, welche für die einzelnen Gemeinden sprechen könnten, gibt. So gibt es viele religiöse Richtungen, Auffassungen, Traditionen, deren Ausprägungen häufig zudem von nationalen oder ethnischen Ursprüngen, sozialen Herkunftsfaktoren oder Bildungsaspekten überlagert werden. Etwas, was der unwissende europäische Betrachter vielleicht als islamisch ansieht, weil die betroffenen, selbst unwissenden Muslime es so vertreten, mag z. B. gar nicht religiös zu begründen sein, sondern hat seinen Ursprung im Verharren im Denken der rückständig ländlichen Herkunft oder ethnisch-kultureller Traditionen. In Europa wird der arabische Islam, insbesondere in seiner in Saudi-Arabien beheimateten wahabitischen (besonders strengen konservativen) Form, wegen der Nähe zu Europa fälschlicherweise häufig als Islam schlechthin verallgemeinert. Der arabische Islam repräsentiert aber nur eine Minderheit der Muslime der Welt. Die meisten Muslime leben in Indien und Indonesien und der Wahabitismus repräsentiert auch nur eine zwar finanzstarke und daher einflussreiche, aber kleine Minderheit innerhalb der nahöstlichen und nordafrikanischen Muslime. Die meisten Muslime in Europa sind so säkular ausgerichtet wie der Rest der Bevölkerung. Sie fühlen sich als Kulturmuslime, pflegen privat ihre Traditionen und Alltagsgebräuche und sind bereit, sich in die vorgefundene Gesellschaft zu integrieren, bereit, Religion als Privatsache anzusehen, und bereit, den Vorrang der gemeinschaftlichen Rechtsordnung vor partikularen Interessen anzuerkennen. Sie haben ihre Synthese zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft und eigenen kulturellen Traditionen gefunden. Dieser größere Teil der Muslime hat sich entweder ganz integriert oder verfügt daneben über ethnisch bzw. von der Herkunft geprägte Strukturen. Er kümmert sich kaum um Religion. Der weniger integrationsbereite oder integrationsunwillige, orthodox-gläubige bis fundamentalistische Teil der Muslime ist verhältnismäßig klein, aber gut organisiert, verfügt z. T. über ausländische Geldquel-
len z. B. aus Saudi-Arabien, der Türkei, dem Iran oder anderen Ländern und verschafft sich in der Öffentlichkeit und in den Medien deutlich und überproportional Gehör. Er beherrscht viele der Moscheevereine sowie der angeschlossenen sozialen und gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen wie Jugendclubs, Gemeindezentren, Sprachen- und Koranschulen und angeschlossene Läden und prägt das Bild des Islam in der Öffentlichkeit. Sonderfälle sind die von der türkischen Regierung geförderten und kontrollierten Vereinigungen und die eher säkularen türkisch-alewitischen Gemeinden. Die letzteren haben durch ihre eher individualistischliberale Grundhaltung von allen muslimischen Gruppen die wenigsten Integrationsschwierigkeiten. Wenn also von Problemfeldern der Integration die Rede ist, darf der Unterricht nie vergessen, dass es sich nicht um „die“ Muslime handelt, sondern um jeweils Minderheiten innerhalb des muslimischen Bevölkerungsteils mit bestimmten Mentalitäten und Interessen, wie in dem Modul „Politik und Religion im Islam“ (bpb: 1. Teillieferung: Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen) zu erarbeiten war. Das Modul „Politik und Religion im Islam“ sollte neben den allgemeinen Materialien, dem ersten Teil der gleichen Lieferung, ebenfalls für die Arbeit vorliegen, da es sowohl den allgemeinen Hintergrund vermittelt als auch eine Vielzahl von Beispielen bietet, die zur Erklärung oder Ergänzung herangezogen werden können (Bestellnummer bei der Bundeszentrale: 2461). Es darf bei der Betrachtung der Konfliktfelder nicht übersehen werden, dass ein ganz beträchtlicher Teil der Konflikte zwar in religiösen Zusammenhängen gesehen werden muss, dass es sich aber eigentlich um soziale oder kulturelle Konflikte handelt, die sich in religiösen Einbettungen ausprägen, und insofern auch keine genuin religiösen Antworten verlangen, sondern Antworten der Sozial- und Kulturpolitik. Die Integrationsfragen machen sich also letztlich fest an Fragen wie den folgenden: Wie gut sind die Kenntnisse der Muslime in der Landessprache, wie weit lebt man ohne Sprachkenntnisse im Land in Parallelgesellschaften, wie viele Alltagskontakte gibt es Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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den Gruppen, wie viele integrierte Ärzte ` zwischen und Ärztinnen, Polizistinnen und Polizisten, Lehrerinnen und Lehrer, Unternehmerinnen und Unternehmer, Militärangehörige usw. gibt es, wie viele muslimische Mädchen haben die gleichen Schulabschlüsse erreicht wie der Durchschnitt aller, wie wenig Gettobildung ist zu verzeichnen, wie wenig rechtsfreie Räume entstehen, wie gelingt es zu unterbinden, dass Jugendbanden, aufgehetzt von fundamentalistischen Imamen, Stadtviertel als eine Art Religionspolizei tyrannisieren, wie gelingt es, auch in Moscheen fundamentalistischer Splittergruppen die Gesetze der Staaten wirksam werden zu lassen, wie setzt man die Forderungen der Menschenrechte auch gegen Zwangsheiraten muslimischer Mädchen und in einigen Fällen auch Jungen durch, wie viele fest in die Gesamtgesellschaft integrierte Organisationen der westlichen Zivilgesellschaft bringt der muslimische Teil eigenständig hervor, bzw. wie häufig werden Muslime in die bestehenden Organisationen der Zivilgesellschaft gleichberechtigt aufgenommen und eingebunden usw.?
Europa wird zukünftig eine nicht unbeträchtliche Bevölkerung aufweisen, die sich kulturell, praktizierend oder sogar orthodox dem Islam zugehörig fühlt. Letztlich stehen alle europäischen Staaten vor folgenden Fragen: Wie kann die Integrationspolitik erreichen, dass die Muslime wie der Rest der Bevölkerung für die Wertordnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ihrer jeweiligen neuen Heimatländer eintreten, für die universalen Menschenrechte, für Volkssouveränität und Rechtsstaatlichkeit und individuelle Selbstbestimmung und Entfaltungsfreiheit inklusive der individuellen Religionsfreiheit, auch wenn dies mit der einen oder anderen Glaubens- oder Gruppentradition kollidiert? Wie kann erreicht werden, dass sie nicht ihre kulturelle Identität verlieren, sofern sie nicht selbst in freier Entscheidung eine weitgehende Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft vorziehen, wie es viele tun? Wolfgang Böge
Hinweis: Die anderen Module der Gesamtreihe enthalten vielfältige Materialien, die zum Verständnis beitragen. Sie sollten daher zur Arbeit mit herangezogen werden. Wenn sie nicht vorliegen, können sie über die Bundeszentrale für politische Bildung bestellt werden („Islam – politische Bildung und interreligiöses Lernen“, Module „Projektübergreifende Materialien“, „Politik und Religion im Islam“ sowie „Interreligiöses Lernen Teil 1“ – drei sich ergänzende Materialeinheiten). Die Redaktion
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Der Islam in Europa 1.
Grundlagen
Einleitung Seit mehr als 13 Jahrhunderten, seit der islamischen Eroberung des größeren Teils der christlich-römischen Mittelmeerwelt und deren Islamisierung steht Europa in Beziehung zu islamischen Einflüssen. Häufig waren es kriegerische Auseinandersetzungen, häufig war es fruchtbarer kultureller Einfluss. Die Reconquista in Spanien setzte dem Islam auf der Iberischen Halbinsel ein Ende. Die Osmanische Herrschaft schuf auf dem Balkan durch die Islamisierung in Albanien, in Bosnien und angrenzenden Gebieten eine
muslimische Bevölkerung. Das russische Zarenreich herrschte nach den Eroberungen weiter Gebiete Zentralasiens bis zum Iran und Afghanistan über viele muslimische Völker. In den westeuropäischen Staaten der Neuzeit entstand erst im 20. Jahrhundert durch Arbeitsmigration und Fluchtbewegungen eine muslimische Minderheit. Das Bild ist heute sehr vielschichtig und unübersichtlich. Alle Staaten haben eigene Entwicklungen genommen. Hier soll der Blick im Wesentlichen auf Westeuropa beschränkt werden. Wolfgang Böge
Materialübersicht 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10 1.11 1.12
Warum geht der Islam Europa an? ....................................................................................................................................8 Europas Begleiter (Karikatur) ...............................................................................................................................................8 Islamische Kultur in Europa..................................................................................................................................................9 Immigration – Einwanderung...........................................................................................................................................10 Der Islam zwischen Integration und Fundamentalismus.......................................................................................11 Muslime in Europa 1.............................................................................................................................................................12 Integration (Karikatur)..........................................................................................................................................................12 Muslime in Europa 2.............................................................................................................................................................12 Islamische Verbände in Deutschland.............................................................................................................................14 Das Verbreitungsgebiet des Islam (Karte) ....................................................................................................................15 Muslime in Europa (Statistik).............................................................................................................................................16 Die Ursprungsländer der Muslime in Deutschland (Statistik)...............................................................................17
Arbeitshinweise 1. Fassen Sie die Hauptthesen der Texte zusammen und formulieren Sie zustimmend oder ablehnend auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen und Anschauungen eine eigene Meinung zur Bedeutung der Beschäftigung mit dem Thema. Begründen Sie Ihre Meinung. 2. Vergegenwärtigen Sie sich die Verteilung der muslimischen Bevölkerung in Europa und versuchen Sie die aktuellen Zahlen zu recherchieren. Ziehen Sie dabei in Betracht, dass der größere Teil der Muslime nicht besonders religiös ist und nicht in Moscheevereinen oder ähnlichen Organisationen als Mitglied eingeschrieben ist. Die Zahlen sind also insgesamt nicht verlässlich und sie sind auch nicht sehr aussagekräftig. Erstellen Sie eine Karte der Verteilung (1.4, 1.6, 1.7). 3. Beginnen Sie eine Wandzeitung mit den Ergebnissen aus Aufgabe 2. Die Wandzeitung soll später Ihre wichtigsten Fragen und Ergebnisse in Thesenform darstellen. 4. Recherchieren Sie mit Hilfe einer Suchmaschine im Internet muslimische Webseiten, Organisationen und Institutionen insbesondere in Deutschland. Machen Sie eine Liste und versuchen Sie die Seiten in Ihrer Grundhaltung zur Frage der Integration zu erfassen. (Vgl. 1.9, 3.6, 4.3, 5.4) 5. Recherchieren Sie die geografische Verteilung der Muslime in Deutschland anhand von Länderstatistiken. Welche Städte haben eine besonders große muslimische Bevölkerung? Kontaktieren Sie zu diesem Zweck auch muslimische Organisationen z. B. das Islam Archiv Soest. Nutzen Sie auch hierbei das Internet. Seien Sie aber kritisch wegen der Unzuverlässigkeit des Internets als Informationsquelle.
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1.1 Warum geht der Islam Europa an?
Ein Friedensdialog hat nur Sinn, wenn offen über die Dissonanzen und die damit verbundenen Konfliktpotentiale geredet werden darf und hierzu auch der politische Wille besteht. […]
[…] Mehr als jede andere – nicht-europäische – Religion geht der Islam Europa als Kerngebiet der westlichen Zivilisation an. Einer der Gründe hierfür liegt darin, daß es sich bei diesem Glauben auch um eine Weltanschauung mit universellem Geltungsanspruch handelt. Es gibt andere Weltreligionen neben dem Islam, wie etwa den Konfuzianismus, Buddhismus oder Hinduismus, aber diese sind fern von Europa. Der Durchschnittseuropäer fühlt sich kaum von ihnen betroffen. Anders verhält es sich mit dem Islam, dessen Universalismus eine Herausforderung an den Anspruch des Westens auf eine universelle Geltung seiner Werte und Normen darstellt. […]
Im Übergang zum 21. Jahrhundert hängt das gegenwärtige Interesse am Islam nicht nur mit der durch Globalisierung zu einem globalen Dorf geschrumpften Welt zusammen. Die Beschäftigung mit dem Islam in unserem Zeitalter der Zivilisationskonflikte ist nicht länger eine bildungsbürgerliche Öffnung wie einst zu Goethes oder Lessings Zeiten, sondern sogar tagespolitisch relevante Friedensarbeit. Der Frieden mit dem Islam unter den Bedingungen islamischer Migration nach Europa ist ein Alltagsproblem als innerer Frieden in Europa und zugleich als äußerer Frieden mit der südlichen und östlichen Mittelmeerregion und Südosteuropa. […]
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Das westliche Christentum und die von seinem Gebiet aus zwischen 1500 und 1800 expandierende westliche Zivilisation teilen mit dem Islam und der aus ihm hervorgegangenen Zivilisation die Gemeinsamkeit, Universalität für sich zu beanspruchen […]
Bassam Tibi: Europa ohne Identität, C. Bertelsmann Verlag, München 1998, S. 241 ff.
Bassam Tibi ist syrischer Abstammung. Er ist einer der bekanntesten deutschen Autoren von soziologisch-politologischen Büchern über den Islam und lehrt an den Universitäten Göttingen, St. Gallen und Harvard.
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1.2 Europas Begleiter
© Murschetz/CCC, www. c5.net
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Grundlagen
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1.3 Islamische Kultur und Europa Nach ihrer Eroberung der christlich geprägten Länder im nahen Osten und am südlischen Ufer des Mittelmeeres im 7. Jahrhundert fassten die Muslime im 8. Jahrhundert auch nördlich des Mittelmeeres Fuß. Spanien stand ab dem 8. Jahrhundert weitgehend unter muslimischer Herrschaft, auf Sizilien und in Eines der berühmtesten Zeugnisse mittelalterlicher islamischer Baukunst in Europa ist der Alhambra-Palast im spanischen Granada. verschiedenen KüstenstriFoto: © Ullsteinbild, Klöckner chen am nördlichen Ufer Im 13. Jahrhundert lagen fast alle wichtigen antiken des Mittelmeeres gab es auf längere Zeit oder vornaturwissenschaftlichen Schriften der Griechen in laübergehend muslimische Eroberungen. teinischen Übersetzungen vor. Später, vom 15. JahrGeschichte und Kultur des Islam sind in vielfältiger hundert an, dominierte das Osmanische Reich auf isWeise im Raum um das Mittelmeer mit der europäilamischer Seite den Kulturaustausch, ohne allerdings schen Entwicklung verbunden. Die islamische Kultur, an die Leistungen des sogenannten Goldenen Zeitaldie von persisch-arabischen Einflüssen beherrscht ters islamischer Kultur im Hohen Mittelalter anknüpwurde, nahm die griechisch-römische Antike in den fen zu können. Im 19. und 20. Jahrhundert brachte eroberten Ländern auf, assimilierte sie, wandelte sie die europäische Kolonialpolitik vielfache Kulturkonum, bewahrte sie und gab sie schließlich an die sich takte zwischen der muslimischen Welt und Europa. entwickelnden Kulturen Europas weiter. Arabisch war Zu allen Zeiten der Geschichte, im Mittelalter wie die Sprache der Wissenschaft und des Handels vom in der Neuzeit, war jeder kulturelle Austausch politisch Persischen Golf bis Spanien. Der intensive Handel und überlagert, meist war er geprägt durch die zeitweilige zahlreiche Pilgerfahrten nach Jerusalem sorgten für Dominanz der einen oder anderen Seite, selten war er Austausch. Karl der Große z. B. ließ in Jerusalem u. a. symmetrisch. Dies hat eine wünschenswerte vorureine Kirche bauen und stand in Kontakt mit dem Kaliteilslose Perspektive immer behindert. fen in Bagdad, einem der Kulturzentren der damaligen Welt. Islamische Kunst und Wissenschaft standen Wolfgang Böge im Hohen Mittelalter in großer Blüte. Die Kreuzzüge Hinweis: Zu den Kultureinflüssen vgl. auch: Bunbrachten weiteren Kulturkontakt, allerdings auch eine deszentrale für politische Bildung: Islam – PolitiVerschärfung der Gegensätze. In Spanien kam es bis sche Bildung und interreligiöses Lernen, Erste Liein das 15. Jahrhundert zu einem besonders regen Kulferung, Projektübergreifende Materialien, Islam in turaustausch zwischen islamischen, jüdischen und Wissenschaft, Kunst und Kultur, S. 74–81; zur Gechristlichen Einflüssen. Seit dem 19. Jahrhundert wurschichte vgl. ebda S. 35–46. Dort finden sich auch den antike Texte in Spanien aus dem Arabischen in Geschichtskarten (Red.) das Lateinische übersetzt und so in Europa bekannt.
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1.4 Immigration - Einwanderung Europa verbindet mit dem Islam eine wechselvolle Geschichte. Überspitzt könnte man sagen, dass erst der Islam Europa zu seiner Existenz verholfen hat. Denn ohne die fränkischen Siege über islamische Invasionsheere im frühen Mittelalter hätten die Länder nördlich des Mittelmeeres kaum eine Chance zu einer selbstständigen Entwicklung erhalten. Ein ähnliches Szenarium wiederholte sich in der frühen Neuzeit an der Ostflanke Europas. Mehrfach mussten hier europäische Herrscher islamische Vorstöße zurückweisen, am nachhaltigsten im Jahre 1683, als ein europäisches Vielvölkerheer eine türkische Invasionsarmee bei Wien besiegte.
Muslime in Europa
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Die Zeit militärischer Konfrontationen gehört glücklicherweise längst der Vergangenheit an: Heute leben in Europa über 15 Millionen Muslime. Die meisten sind nach dem Zweiten Weltkrieg aus ehemaligen Kolonien in deren Mutterländer eingewandert. So zogen nach Großbritannien vorzugsweise Muslime aus dem früheren Britisch-Indien. In Frankreich siedelten vor allem Nordafrikaner. Von den 7,2 Millionen Ausländern in Deutschland bekennen sich etwa 3 Millionen zum Islam. Dazu zählen auch etwa 100 000 Muslime deutscher Herkunft und eine halbe Million Gläubige, die die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen haben und deshalb in keiner Ausländerstatistik mehr auftauchen. Die meisten Muslime, über zwei Millionen, sind Türken, die seit den 1960er Jahren als „Gastarbeiter“ in Deutschland eingewandert sind und hier häufig bereits in dritter Generation leben.
Abb. aus: Epkenhans u. a.: Geschichte / Geschehen, Klett Schulbuchverlag, Leipzig 2003, S. 213
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Migranten waren nach Europa gezogen, um ` denDiepolitischen und wirtschaftlichen Problemen ihrer Heimatländer zu entfliehen. Zunächst wurden sie hier durch eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften begünstigt. Aber im Verlauf der 1970er Jahre begannen sich die langfristigen Konjunkturaussichten einzutrüben. Die zunehmende Arbeitslosigkeit traf die Neuankömmlinge härter als die Einheimischen, weil diese überwiegend zur Gruppe der ungelernten Arbeitnehmer gehörten. Der schnell entstandene Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg war eine der Ursachen, warum es mit ihrer Integration schwierig wurde […] […] die öffentlich wirkenden Leitbilder stehen häufig im Widerspruch zu islamischen Wertüberzeugungen und Rollenverständnissen – besonders in Bezug auf Familie und Geschlecht. Dies […] hat viele Muslime dazu bewogen, sich aus der fremden Umgebung abzusondern, mit Landsleuten im selben Wohnviertel zusammenzurücken und sich wie auf einer Insel im eigenen Kulturkreis einzuschließen. Aus Untersuchungen weiß man, dass die meisten hier lebenden Türken via Satellitenempfang und Video-Verleih mit dem heimischen Fernseh- und Filmprogramm verbunden bleiben, dass aber das Interesse gering bleibt, die entsprechenden Produktionen ihres Gastlandes näher kennen zu lernen. In den 1970er Jahren – zeitgleich mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage muslimischer Migranten und mit dem Beginn der Re-Islamisierung in ihren Heimatländern – begann der Islam auch unter den in Europa lebenden Muslimen eine neue Rolle zu spielen. Besonders die junge Generation verweigerte zunehmend die Integration und definierte sich stattdessen über den Islam – in der Regel aber nicht mehr über den tradierten Volksislam ihrer Eltern, sondern über eine der zahlreichen Spielarten des Islamismus, der in vielen damals neu entstandenen islamischen Kulturzentren und Moscheeverbänden gelehrt wurde. Häufig spielten hierbei radikale Islamisten eine Führungsrolle, die vor Polizeimaßnahmen in ihren Heimatländern nach Europa geflohen waren. Vor diesem Hintergrund wird es entscheidend von der zukünftigen Integrationspolitik abhängen, ob die eingewanderten Muslime in Europa mehr Chancen für eine
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Integration nach islamischen Mustern finden oder ob in Zukunft Konfrontationen und destruktive Konflikte mit einer zunehmend islamistisch geprägten Minderheit zur Regel werden. Michael Epkenhans u. a.: Geschichte/Geschehen, Ernst Klett Verlag, Leipzig 2003, S. 213 f.
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1.5 Der Islam zwischen Integration und Fundamentalismus […] Die Islamisierung der Muslime in Deutschland ist hauptsächlich eine Reaktion auf die ablehnende Haltung der deutschen Gesellschaft ihnen gegenüber. Deshalb war sie nicht von Anfang an vorhanden, sondern das Ergebnis einer Entwicklung, die man in drei Phasen aufteilen kann. In der ersten Phase, die vom Beginn der Anwerbung bis zum Anwerbestopp geht, entsprach ihre Haltung den Erwartungen der Deutschen […] Schließlich wollten sie hier kurz bleiben, viel Geld sparen, um sich in der Heimat eine bessere Existenz aufbauen zu können. Mit der Verlängerung der Aufenthaltsdauer änderte sich diese Haltung, damit kommen wir zur zweiten Phase, die mit dem Anwerbestopp beginnt. Der Familiennachzug vor allem der Kinder deutete darauf hin, daß die Muslime beabsichtigten, sich für eine längere Zeit in Deutschland zu etablieren. Sie verwandelten sich von rotierenden Arbeitskräften in Einwanderer. Entsprechend waren auch ihre Erwartungen. In dieser dritten Phase, die Mitte der 80er Jahre beginnt, trat die zweite Generation auf den Plan. Anders als ihre Eltern waren sie hier geboren und aufgewachsen und genossen in unterschiedlichem Maße eine deutsche Sozialisation. Ihre Bereitschaft, eine Ausgrenzung zu akzeptieren, war viel geringer als bei ihren Eltern. Entsprechend stark war ihre Reaktion. Ein Teil dieser zweiten Generation wandte sich den Islamisten zu, wo sie eine kulturelle Identität suchten, die ihnen, wie sie meinten, von der deutschen Gesellschaft vorenthalten wurde. […] Ralph Ghadban
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1.6 Muslime in Europa 1 Der Islam gehört seit seinem Entstehen zu Europa, als Eroberer wie in Spanien oder später auf dem Balkan, als konkurrierende Religion der Nachbarstaaten um das Mittelmeer, als im Austausch befruchtende Kultur und in den letzten Jahrzehnten als vorherrschende Religion von Arbeitsmigranten und Zuwanderern, Asylbewerbern und Flüchtlingen. Heute leben ca. 30–40 Millionen Muslime in den europäischen Ländern, 15 Millionen davon allein innerhalb der EU. Vor einer Generation waren es noch weniger als vier Millionen. In Frankreich beträgt der Bevölkerungsanteil der Muslime ca. 8 Prozent, in den Niederlanden und Großbritannien ca. 5 Prozent, in Deutschland 4 Prozent und in Österreich und Belgien ca. 3 Prozent. Seit Jahrhunderten sind Völker auf dem Balkan oder im russischen Imperium Muslime. Wolfgang Böge
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1.7 Integration
Die muslimische Bevölkerung Europas wird weiter zunehmen; denn muslimische Familien sind kinderreicher und die Zuwanderung hält an. Östlich und südlich des Mittelmeeres gibt es einen erheblichen Migrationsdruck in Richtung Europa. Millionen warten auf eine Chance, legal oder illegal nach Europa zu gelangen. Der mögliche Beitrittskandidat zur Europäischen Union, die Türkei, hat ca. 70 Millionen Einwohner, die zu 99,8 Prozent Muslime sind. Wolfgang Böge
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1.8 Muslime in Europa 2 Die muslimische Bevölkerung in den Ländern Europas ist nicht von einheitlicher Herkunft. Auch unterscheiden sich die Anteile an der Gesamtbevölkerung deutlich. Weitgehend werden keine Statistiken nach der Religionszugehörigkeit der Bevölkerung geführt, so daß Schätzungen notwendig werden. Solche Schätzungen sind aber in der Größenordnung recht verläßlich, weil die zugewanderten Muslime meist aus Ländern stammen, in denen Muslime den größten Teil der Bevölkerung ausmachen – der Rückschluß von der Nationalität auf die Religionszugehörigkeit ist also sinnvoll.
© Greser & Lenz (aus Focus 11/2004, S. 12)
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In Deutschland leben annähernd drei Millionen Muslime. Gestützt auf die neuesten statistischen Angaben zum 31.12.1998 sind darunter fast 2,1 Mio. Muslime türkischer Staatsangehörigkeit, also ca. 2/3 der Gesamtzahl. Hinzu kommen jeweils ca. 100 000 bosnische und iranische Muslime, 80 000 marokka-
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70 000 afghanische, einige 10 000 libanesische ` nische, und palästinensische und 25 000 tunesische Muslime; eine weitere beträchtliche Zahl stammt aus der verschiedenen anderen nahöstlichen und afrikanischen Staaten. Die Zahl der albanischen Muslime schwankt aufgrund der aktuellen Entwicklung sehr stark. Von den Muslimen deutscher Staatsangehörigkeit sind mehrere Zehntausend bis 100 000 deutscher Herkunft. Hinzu treten mehr als 200 000 in den letzten Jahren eingebürgerte Muslime. Mit der erfolgten Änderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts ist damit zu rechnen, daß die Zahl deutscher Muslime in wenigen Jahren die Millionengrenze überschreiten wird. Der Anteil der Türken ist also sehr gewichtig, die übrigen Muslime sind aber eine keineswegs zu vernachlässigende Größe. Zudem wird der Anteil türkischer Nationalität voraussichtlich durch Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit erheblich abnehmen. Das Bild wird noch bunter dadurch, daß die Muslime unterschiedlichen Glaubensrichtungen innerhalb des Islam angehören. Unter den türkischen Staatsangehörigen mag ca. 1/5 bis 1/4 der schiitisch-alevitischen Richtung angehören (es gibt keine verläßlichen Zahlen), die Mehrheit zu den Sunniten unterschiedlicher Präferenzen zwischen strengem Schriftglauben und eher mystischen Richtungen zu zählen sein. Die iranischen Muslime sind fast ausschließlich Schiiten, die übrigen ganz überwiegend Sunniten, abgesehen von den Libanesen, bei denen ein größerer schiitischer Anteil zu vermuten ist. Eine beträchtliche Zahl von Muslimen pflegt eine eher lose religiöse Bindung, Atheisten mit islamischem kulturellem Hintergrund sind allerdings selten. Der Anteil religiös orientierter Muslime steigt nach neuesten Erkenntnissen gerade in der nachwachsenden Generation. Dies ergibt z. B. eine jüngst vorgelegte Untersuchung der Ausländerbeauftragten des Senats von Berlin. So wird einerseits ein gerade in der jüngeren Generation ansässiger Türken wachsendes Interesse am Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit festgestellt; andererseits führt breit vorhandene Integrationsbereitschaft nicht zum Verzicht auf religiöse Bindungen. Die Berliner Ausländerbeauftragte John deutet diese Erkenntnisse überzeugend so, daß hierin kein Rückzug ins kulturelle
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oder religiöse Ghetto liege, sondern eine Form autonomer Lebensgestaltung von Menschen, die in der deutschen Gesellschaft integriert sind, die ihre Identität aber auch in der Weiterführung kultureller Traditionen finden wollen. Dies schlägt sich beispielsweise darin nieder, daß der regelmäßige Moscheebesuch in der Altersgruppe unter 30 Jahren binnen 6 Jahren von 28,3 Prozent auf 37,9 Prozent angestiegen ist.
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Parallelen zur Situation in Deutschland finden sich etwa in Frankreich (ca. 3,5 Mio. Muslime), Spanien (ca. 400 000 Muslime), dem Vereinigten Königreich („Großbritannien“; ca. 2,5 Mio. Muslime), den Niederlanden (ca. 700 000 Muslime), Belgien (ca. 300 000 Muslime) und Österreich (ca. 200 000 Muslime). Dort repräsentieren die Muslime zwischen ca. 3 und 7 Prozent der Bevölkerung. Ähnlich wie in Deutschland ist der größte Teil der Muslime in Belgien und Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Türkei, in Spanien in den letzten Jahren aus Nordafrika zunächst zur Arbeitsaufnahme zugewandert. In den ehemaligen Kolonialstaaten finden sich starke Anteile an Muslimen aus den vormaligen Kolonien, so vor allem Muslime vom indischen Subkontinent im Vereinigten Königreich, Muslime aus Nord- und Westafrika in Frankreich sowie Muslime aus dem heutigen Indonesien in den Niederlanden. Zu erheblichen Teilen besitzen sie die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltslandes. In ganz Europa leben mehr als 30 Millionen Muslime. Teilweise stellen sie seit vielen Jahrhunderten die Bevölkerungsmehrheit, so in Albanien, im tatarischen Siedlungsgebiet Rußlands, in der Türkei und in Teilen von Bosnien-Herzegowina. Summarisch ist festzustellen, daß in Deutschland und den Mitgliedstaaten der EU bemerkbare muslimische Bevölkerungsanteile erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts existieren und daß sie im Schnitt weniger als 5 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Entwicklung der letzten 10 Jahre läßt den Schluß zu, daß eine nennenswerte Steigerung des Anteils durch dauerhafte Zuwanderung (also abgesehen von Kriegsflüchtlingen wie den überwiegend wieder zurückgekehrten Bosniern und Kosovo-Albanern) nicht zu erwarten ist. Einer gesicherten Erkenntnis aus der Migrationsforschung zufolge pflegt sich auch die Kinderzahl den in der Umgebung vorherrschenden Ver-
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anzupassen, nicht zuletzt dem nach dem ` hältnissen herrschenden Niveau von Bildung und sozialer Absicherung. Einziger „Unsicherheitsfaktor“ insbesondere aus der Sicht Deutschlands, Österreichs, der Niederlande und Belgiens ist die seit dem Beschluß von Helsinki am 10.12.1999 im Grundsatz mögliche Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU. Sollte hier in absehbarer Zeit die Freiheit zur Arbeitsaufnahme und zur Niederlassung eingeräumt werden, ist eine erhebliche Zahl von Zuwanderern in Länder mit jetzt schon starkem Anteil an Türken zu erwarten. Dies könnte Folgen für die Integration der bereits ansässigen Türken haben. Die Gefahr einer Ghettobildung würde dadurch nicht eben geringer. Auch hier scheint das Erfordernis geregelter Zuwanderung noch an Bedeutung zu gewinnen. So wenig es im Interesse Deutschlands und anderer europäischer Staaten liegen kann, sich einer (geregelten) Zuwanderung zu verschließen, so wenig ist es angebracht, den Integrationsprozeß durch zahlenmäßige Überforderung zu behindern oder gar auszuschließen. Dabei ist zu bedenken, daß ein erheblicher Teil der von den Ansässigen zu erbringenden Integrationsleistungen auf die finanziell und sozial eher schlechter situierten und weniger gebildeten Bevölkerungsanteile in den Großstädten entfällt. Mathias Rohe: Der Islam – Alltagskonflikte und Lösungen, © Verlag Herder, Freiburg im Breisgau
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DITIB (rund 800 Vereine) Die 1984 gegründete Ditib („Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion“) ist der größte türkisch-islamische Verband in der Bundesrepublik. Er hat eine enge Bindung an die Behörde für religiöse Angelegenheiten der Türkei, welche auch die Imame nach Deutschland entsendet. Ditib vertritt einen gemäßigten und staatlich kontrollierten Islam.
VIKZ (Dachverband von über 300 Gemeinden) Die überwiegend türkischstämmigen Mitglieder des hierarchisch organisierten „Verbands der islamischen Kulturzentren“ gehören der sunnitischen Glaubensrichtung an. Angestrebt werden die Rückkehr des Islam in das öffentliche Leben und die religiöse Unterweisung von Kindern und Erwachsenen.
AABF (86 Mitgliedsvereine in Deutschland) Die „Förderation der Aliviten-Gemeinden in Europa“ betreibt keine Moscheen oder Korankurse. Die Aliviten befürworten den demokratischen, laizistischen Staat und gelten als Vorreiter eines aufgeklärten Islam. (Aliviten = Aleviten – Red.)
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1.9 Islamische Verbände in Deutschland ISLAMRAT für die Bundesrepublik Deutschland (600 Moscheegemeinden, rund 185 000 Mitglieder) Der Islamrat wird von Organisationen und Tarnorganisationen der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs“ (26 500 Mitglieder) dominiert. Milli Görüs wird von Verfassungsschützern als islamistisch eingestuft, setzt sich für die Errichtung eines islamischen Staats in der Türkei ein und steht für einen politisch geprägten Islam.
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ZENTRALRAT der Muslime in Deutschland (19 Verbände mit etwa 200 Gemeinden) Der Vorsitzende Nadeem Elyas galt lange als geschätzter Dialogpartner christlicher Kirchenoberer. Doch der Verband mit dem repräsentativ anmutenden Namen vertritt nach Ansicht von Experten allenfalls 10 Prozent der organisierten Muslime. Im Zentralrat sind Organisationen unterschiedlicher Nationalitäten und konfessioneller Ausprägungen vertreten. Neun der Mitgliedverbände gehören laut Verfassungsschützern der radikalen Muslimbruderschaft an. Der Spiegel 40/2003
Hinweis: Zu Großbritannien vgl. 3.6; zu Frankreich vgl. 4.3; zu den Niederlanden vgl. 5.4. Red.)
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Quellen: Statistisches Bundesamt; Walter M. Weiss: Islam, Köln 1999; Harenberg Aktuell 2005 – Das Jahrbuch Nr. 1, Dortmund 2004; FOCUS; National Geographic; Lemmen, Thomas: Islamische Vereine und Verbände in Deutschland, Bonn 2002. Anm.: Aufgrund unterschiedlicher Datenquellen können statistische Angaben voneinander abweichen. © isoplan I2004, 3. Auflage
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1.10 Das Verbreitungsgebiet des Islam
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vorliegenden Angaben handelt es sich um statistische Angaben aus einer islamischen Quelle. Sie müssen mit den Quellen aus der Isoplan-Übersicht und dem Fischer Weltalmanach verglichen werden. Zum Teil enthält die Quelle etwas ältere Angaben, daher ist die Veränderung sehr interessant.
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1.11 Muslime in Europa Statistische Angaben zur Religionszugehörigkeit sind außerordentlich schwer zu erheben. Je nach Zuordnungsweise können sie stark differieren. Bei den
http://saif_w.tripod.com/explore/fastest/ muslimcountrywise.htm
Ausgewählte Staaten Bosnien und Herzegowina
1.062.496 40 % 1.205.786
Bulgarien Deutschland
14 % 2.840.228 3,4 % 4.082.222
Frankreich Gibraltar (GB) Griechenland Großbritannien
7% 2.301 8% 158.079 1,5 % 1.579.229
Anzahl der Muslime in der Bevölkerung
2,7 % Prozentanteil an der Bevölkerung
Italien
574.603 1% 631.211
Mazedonien Malta Niederlande Norwegen
30 % 52.581 14 % 467.041 3% 66.578 1,5 % 4.331.432
Rumänien
20 %
Russland
26.672.127 18 % 2.016.766
Serbien und Montenegro Slovenien Schweden Zypern (Nord und Süd)
19 % 19.514 1% 320.000 3,6 % 245.721 33 %
Türkei % 0
62.359.509 99,8 % 10
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30
40
50
60
60
80
90
100
Zusammenstellung: Wolfgang Böge
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1.12 Die Ursprungsländer der Muslime in Deutschland Ausgewählte Staaten Pakistan
Anzahl der Muslime 35.000
Libanon
49.000
Afghanistan
71.000
andere arabische Länder
74.000
Irak
77.000
Marokko
80.000
Sonstige
94.000
Iran
160.000
Bosnien und Herzegowina
164.000
Türkei
1.912.000
Illegale *
300.000
davon in Deutschland geboren
800.000
Muslime mit deutschem Pass
26.672.127 732.000
Tsd. 0
50
100
150
200
250
300
350
400
450
500
550
600
650
700
750
800
850
* Schätzung. Quellen: Statistisches Bundesamt, Islam-Archiv, AiD
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Einleitung Der Streit in Medien, Publizistik und Politik wird in aller Schärfe ausgetragen. Auf der einen Seite stehen warnende Autoren wie Hans Peter Raddatz und Bassam Tibi, auf der anderen Seite jene, die keinerlei Probleme sehen, wahrzunehmen bereit oder in der Lage sind. Politiker scheuen sich meist, über das nichtssagend politisch Korrekte hinaus Stellung zu beziehen oder ihrerseits klare konkrete Forderungen zu stellen. Verwaschen wurde meist von Rechten geredet, wenig von Pflichten. Schon der Satz „Integration ist eine Bringeschuld der Zuwanderer“ oder der Satz „Mit Zuwanderern muss sich auch eine Mehrheitsgesellschaft verändern“ löst auf der einen wie der anderen Seite heftige Debatten aus. Die deutsche Politik hat es lange versäumt, Richtlinien für eine geordnete Zuwan-
derung aufzustellen und Anforderungen zu formulieren. Die Parteilager blockieren sich gegenseitig. Lange Zeit suchte man sich hinter dem Idealbild einer multikulturellen Gesellschaft zu verstecken, bis das Scheitern des Nichtstuns nur zu offensichtlich wurde und das aktivierbare Protestpotential bei Wahlen erheblich anstieg, wie insbesondere Frankreich und die Niederlande, aber auch Belgien, Österreich und Italien zeigten. Mit der neuen Politik und dem Zuwanderungsgesetz 2004 (www.bundesregierung.de/anlage258092/zuwanderungsgesetz.pdf) ergibt sich die Notwendigkeit, das eigene staatliche Verständnis, das Verhältnis zu den Zuwanderern und zu der Möglichkeit einer eigenständigen europäischen Richtung im Islam auch staatlicherseits näher zu bestimmen. Wolfgang Böge
Materialübersicht 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12 2.13 2.14
Kann sich der Islam in Europa europäisieren? ............................................................................................................20 Die westliche und die islamische Welt haben unterschiedliche Werte ............................................................20 Welcher Islam? ........................................................................................................................................................................21 Reformtheologie und Modernisierung..........................................................................................................................23 Die Diskussion um die unveränderliche Vollkommenheit der Aussagen des Koran ...................................23 Einem europäischen Islam entgegen?...........................................................................................................................23 Chancen eines Euro-Islam ..................................................................................................................................................24 Voraussetzungen für Modernisierung und Integration ..........................................................................................24 Der Euro-Islam ist eine Wunschkonstruktion..............................................................................................................26 Das Scheitern eines Traums – Multikulturalismus ist eine Illusion .....................................................................26 Die Grundlagen des europäischen Menschenbildes ...............................................................................................28 Staat und Religion in den europäischen Staaten ......................................................................................................29 Religionsfreiheit .....................................................................................................................................................................29 Europa vor schwerwiegenden Entscheidungen........................................................................................................30
Arbeitshinweise 1. Arbeiten Sie aus den vorliegenden Materialien heraus, welches Verständnis die Verfasser von einem europäischen Islam haben (2.2 bis 2.8). 2. Was wird von Scheffers über den Multikulturalismus gesagt? (2.10) 3. Welche Widersprüche ergeben sich bei der Analyse von 2.2 bis 2.8? 4. Fassen Sie zusammen: Welche Erwartungen und Befürchtungen bezüglich der zukünftigen Entwicklung werden von den verschiedenen Verfassern artikuliert oder wiedergegeben? Stellen Sie beide Ansätze einander systematisch gegenüber.
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5. Welche Grundlagen werden für eine europäische Identität in 2.11 angenommen? Welche Prinzipien fordert Tarik Ramadan in 3.16? Vergleichen Sie beide Texte. 6. Versuchen Sie die Modernisierungsprobleme in einem Schaubild darzustellen. Ziehen Sie dazu aus dem Modul „Politik und Religion im Islam“ das Schaubild „Konfliktpunkte“ heran (1. Lieferung dieser Reihe „Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen“, Dokument 25, Material 2.1.1.1, S. 36) 7. Welche Ansichten werden in den Texten zur Reformfähigkeit des Islam vertreten? Welche Vorstellungen haben die Autoren von einem sich öffnenden Islam? Welche Voraussetzungen werden in den Texten dafür genannt und welche Veränderungen werden für notwendig erachtet? Welche Faktoren werden von den Autoren als hinderlich angesehen? Unterscheiden Sie dabei systematisch die Einschätzungen und Argumente der optimistischen und der pessimistischen Position. 8. Um eine größere Übersichtlichkeit zu erreichen, können Sie eine Mind-Map zu den Fragen im Arbeitshinweis 5 erarbeiten. 9. Vergleichen Sie diese Erwartungshaltung (Arbeitshinweise 5 und 6) mit den Auffassungen fundamentalistischer islamischer Vordenker im Modul „Politik und Religion im Islam“ (1. Lieferung dieser Reihe „Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen“, Dokument 31, S. 41; Dokument 32, S. 41 f.; Dokument 33, S. 42 f.; Dokument 34, S. 43; Dokument 50, S. 62; Dokument 58, S. 73). Setzen Sie die Grundsätze einander jeweils gegenüber, arbeiten Sie die Gegensätze z. B. in einer Tabelle heraus. 10. Versuchen Sie, in Ihrem Umfeld Gesprächspartner zu finden, mit denen die Ergebnisse Ihrer Arbeit zu 9. diskutiert werden können (Moscheevereinsvorsitzende, Pastoren, Politiker). 11. Befragen Sie Mitschülerinnen und Mitschüler nach ihren Meinungen zur Integrationsfrage, sammeln und analysieren Sie die Begründungen für Positionen. Unterscheiden Sie dabei Urteile und Vorurteile. 12. Entwickeln Sie Sprechblasen wie die auf S.33 mit weiteren Fragen. 13. Stellen Sie sich die Mehrheitsgesellschaft und die Zuwanderer als zwei Gruppen vor (dies ist im Grundsatz falsch, da beide in vielfältige Teilgruppen zerfallen – aus methodischen Gründen soll hier aber so vereinfachend verfahren werden). Nehmen Sie die beiden unterschiedlichen Perspektiven ein, stellen Sie einen gegenseitigen Forderungskatalog auf, und diskutieren Sie ihn. Welche Wünsche, Erwartungen, Forderungen werden die eine oder die andere Seite vorbringen? Unterscheiden Sie zwischen Maximalforderungen und Kompromissformeln. Stellen Sie das Ergebnis in einem Schaubild dar. 14. Mit den Ergebnissen aus dem Arbeitshinweis 11 können Sie kleine Dialoge, größere Rollenspiele oder ganze Szenen entwickeln. 15. Suchen Sie Kontakt zu einer Moschee in Ihrer Nähe, versuchen Sie einen Vertreter des Moscheevereins einzuladen oder besuchen Sie mit einer Gruppe die Moschee und diskutieren Sie Ihren Katalog. 16. Entwickeln Sie eine Wandzeitung mit Thesen zur Frage der Integration. 17. Recherchieren Sie auf den Internetseiten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (www.bamf.de) das dortige Verständnis von Integration. 18. Die Bilder auf S. 22 rechts oben und S. 27 enthalten Aussagen, Botschaften. Welche Botschaften werden durch die Bilder transportiert? Wie passt das Bild auf S. 22 rechts unten dazu? Auf Bild S. 22 rechts oben und Seite 27 sind Situationen in einer Schule dargestellt. Wie ist die vergleichbare Situation an Ihrer Schule, in Ihrem Umfeld?
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2.1 Kann sich der Islam in Europa europäisieren? Die Auseinandersetzung zwischen islamischen Erneuerern und Konservativen wird in einigen islamischen Ländern, z. B. dem Iran, viel intensiver geführt als in Europa. In der Diskussion trifft man immer wieder auf die Frage, wo eigentlich innerhalb des religiösen Teils der Muslime die modernen, liberalen, demokratischen europäischen Muslime sind, die durch eine breite Diskussion und moderne Lebensweise und Bildungsaufgeschlossenheit Beispiele geben und auf die sich die Hoffnungen der Vertreter eines Euro-Islam richten. Die Gründung der nicht an islamische Glaubensrichtungen gebundenen, an keine Moscheevereinigungen angeschlossenen und nicht von ausländischem Geld abhängigen muslimischen Akademie in Berlin ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung.
Material
und Staat (din-wa-daula) ist, war prägendes Element muslimischer Gesellschafts- und Staatsverhältnisse von der Urgemeinde Medina, als dem Leit- und Zielbild muslimischer UMMA [der Gemeinschaft aller Muslime – Red.] und ist dies bis heute geblieben. [...] Unsere Frage lautet [...]: Kann der Islam, dessen Religion das alles, auch Staat und Gesellschaft durchdringende und bestimmende Gesetz ist, auf dem Weg in Europa sich selbst so transformieren, daß er auf Dauer auf das zentrale Element seiner Religionsidentität verzichtet – oder es zumindest substanziell so verändert, daß es mit der Religionsneutralität des säkularen Staates und dem prinzipiellen Pluralismus westlich-liberaler Gesellschaften vereinbar ist? Eine weitere zentrale Frage sei [...] [außerdem] benannt: Kann der Islam auf seinem Weg nach und in Europa jenen Antrieb aufgeben, der ihm von Anfang an eingewurzelt ist, nämlich: der Antrieb zur Eroberung und Herrschaft.
Wolfgang Böge Gottfried Küenzlen: Die Wiederkehr der Religion. Olzog-Verlag, München 2003, S. 189 f.
[...] Eine der zentralen Fragen lautet: Kann der Islam jenes elementare Fundament aufgeben, das ihn von Anfang an prägt und trägt, nämlich: Der Islam ist das Gesetz und das Gesetz ist der Islam? Hier hilft wohlgemerkt auch jene von gutmeinenden, vor allem von westlichen „Dialogikern“ vorgenommene Aufspaltung in einen „eigentlichen“, tolerant-reformbereiten und damit modernitätsverträglichen Islam und in einen fundamentalistisch verirrten Islam nicht weiter. [...] Den „göttlichen Gesetzen kommt [...] im islamischem Glauben eine zentrale Stellung zu: Da die Gesetze unmittelbar als Gottes Wille verstanden werden, ist ihre Befolgung Gottesdienst im wahren Sinne des Wortes – sie ist nicht Bestandteil des Islam unter anderem, sondern das Leben nach den Gesetzen ist der ganze Islam [...] Aus dieser zentralen Stellung des Gesetzes folgt, daß es idealerweise das gesamte Rechtswesen der Gemeinschaft diktiert. Das gottgemäße Leben wird in der Gemeinschaft der Muslime geführt, eine Trennung von Staat und Kirche wie im Christentum ist deshalb nicht möglich." Nicht fundamentalistische Verirrung, sondern der Vollzug des Grundsatzes, nachdem der Islam Religion 20
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Hinweise: Die iranische Diskussion wird ausführlich im Modul „Islam im Iran“ (in dieser Veröffentlichungsreihe) dargestellt. Sie ist für die Diskussion der europäischen Entwicklung eine wichtige Ergänzung. (Red.) Interessante weitere Informationen und Links zum Dialog finden sich in den Internetseiten des Portals „Qantara“ – „Die Brücke“ – (www.qantara.de), welches gemeinsam von der Deutschen Welle, der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Goethe-Institut betrieben wird, sowie auf der Internetseite des Instituts für Auslandsbeziehungen (www.ifa.de). (Red.)
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2.2. Die westliche und die islamische Welt haben unterschiedliche Werte Tarik Ramadan hat großen Einfluss bei der jungen Generation der Muslime in Europa. In seinem Buch „Der Islam und der Westen“ grenzt er die muslimische Welt vom Westen ab. Es spricht der abendländischen
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(europäischen) Kultur ab, den Menschen einen Lebenssinn geben zu können, und betont, dass der Islam die Grundlagen der abendländischen Welt nicht teilt (S. 274). Anders als liberale Islam-Reformer sieht er ein islamisches Wertesystem außerhalb rationaler (aus dem Denken, der Vernunft abgeleiteter) und liberaler (die Freiheit des Individuums betonender) Maßstäbe. Er fordert von Europa die Anerkennung einer Konzeption des Islam jenseits der Rationalität und des Liberalismus (S. 320). Tarik Ramadan wendet sich dabei auch gegen muslimische Denker und Religionsgelehrte, die in alten überkommenen Traditionen verharren und sich rückwärtsgewandt gegen jeden sozialen oder wissenschaftlichen Fortschritt wenden. Wolfgang Böge, nach: Tarik Ramadan: Der Islam und der Westen, MSV-Verlag, Köln 2000
„Die Muslime müssen sich den Herausforderungen ihrer Zeit stellen; nichts im Islam spricht gegen ein individuelles Engagement, gegen soziale Reform, gegen Fortschritt und Wohlergehen. Vielmehr besagt ein [...] [theologischer Grundsatz – Red.], dass jede soziale Reform und jeder wissenschaftliche Fortschritt, die zu einer Verbesserung im Leben der Menschen beitragen können, erlaubt sind, wenn sie nicht in ihrer Realisierung gegen den Sinn der allgemeinen, sich aus den Quellen ergebenden Orientierungen verstoßen. Die allgemeine Orientierung bleibt, die Schritte auf dem Weg hängen von den Umständen ab.“ Tarik Ramadan: Der Islam und der Westen, MSV-Verlag, Köln 2000, S. 353
Anm.: Tarik Ramadan lehrt Islamwissenschaft an der Universität in Fribourg/Schweiz. Er ist einer der bekanntesten jüngeren religiösen Modernisierer des Islam in Europa. Allerdings sind seine Thesen umstritten, sie werden von einigen Islamwissenschaftlern als nicht eindeutig und widersprüchlich angesehen; einige Kritiker werfen ihm sogar geistige Nähe zum Fundamentalismus vor. Tarik Ramadan wurde 2004 aus diesem Grund sogar die Einreise in die USA verwehrt (vgl. Jürg Altwegg: Prediger ohne Visum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.8.2004). Hinweis: zu Tarik Ramadan vgl. auch 2.6 (Red.)
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2.3 Welcher Islam? [...] Auf die Frage etwa, ob der Islam mit der Moderne kompatibel sei, will mir keine bündige Antwort einfallen. Welche Moderne? Welcher Islam? Der saudische Wahhabismus, der Frauen vom Autofahren abhält, oder die Ideologie Ajatollah Chomeinis, die an Stelle des Menschen Gott zum Souverän des Staates erklärt, stehen zweifellos im Widerspruch zur Demokratie, zur Toleranz und zu den Menschenrechten, Ideen also, die gemeinhin der Moderne zugeschlagen werden. Denke ich jedoch an zahlreiche andere muslimische Denker, Schulen, Richtungen oder einfach nur an den Islam, den ich aus meiner Kindheit kenne, an den Islam meiner Verwandten, Freunde und des Mullahs von nebenan, dann fällt mir daran nichts Unmodernes auf. Weder wirken sie als Subjekte entmündigt noch sonderlich aggressiv gegenüber ihren anders- oder nichtgläubigen Nachbarn, und ihr Glaube hält sie auch nicht ab, sich eine weltliche Demokratie und technischen Fortschritt für ihr Land zu wünschen. Diese Muslime sind friedfertig, mündig und freiheitsliebend, nicht trotz, aber auch nicht wegen ihres Glaubens. Beides hieße, den Islam, der zunächst einmal eine Religion und auch im Leben von Gläubigen keineswegs die einzig relevante Größe ist, zu überschätzen. Man mag einwenden, die Verwandten und Freunde und der Mullah seien verwestlicht, und nicht einmal für den letztgenannten wäre das zu bestreiten. Aber dennoch und gleichzeitig empfinden sie sich als Muslime. Dass darin ein Widerspruch liegt, dürfte bislang keinem von ihnen in den Sinn gekommen sein. Wer behauptet, dass der Islam unvereinbar mit der westlichen Moderne ist, müsste solche „aufgeklärten“ Muslime konsequenterweise exkommunizieren [aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausschließen – Red.], um auf dem eigenen Standpunkt beharren zu können. Anders ausgedrückt, müsste er den Frommen unter meinen Verwandten also belehren: Euer Glaube ist ja schön und gut, aufgeklärt, tolerant und säkular, aber echte Muslime seid ihr nicht, denn der Islam kennt keine Aufklärung und verlangt die Einheit von Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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und Religion. Das wäre so anmaßend, wie es ` Staat umgekehrt bequem wäre, nur jene Muslime für wahre Repräsentanten ihrer Religion zu halten, die der westlichen Öffentlichkeit sympathisch sind, und also zu folgern, dass Islam und Europa sich bestens ergänzen. So hilft es wenig, die Friedfertigkeit der islamischen Botschaft zu versichern, um zu erklären, warum in ihrem Namen gegenwärtig so häufig gemordet wird. Der Koran ist das einzige Dokument, das alle Muslime als autoritativ anerkennen, doch ist auch er „nur eine Schrift zwischen zwei Buchdeckeln, die nicht spricht“, wie der vierte Kalif des Islam und Urvater der Schiiten, der 661 ermordete Imam Ali, wusste; „es sind die Menschen, die mit ihm sprechen“. Und diese Menschen – die Muslime – sprechen seit der Frühzeit verhältnismäßig wild durcheinander, zumal die islamische Welt keine der Kirche vergleichbare Institution kennt, die das letzte Wort hat. Im Gegenteil: Die Vielfalt möglicher Interpretationen wurde in der islamischen Theologiegeschichte fast immer als göttliche Gnade und Beleg für den inneren Reichtum der Offenbarung hervorgehoben. [...] Navid Kermani: Islam in Europa – neue Konstellationen, alte Wahrnehmungen, in: Thomas Hartmann/Margret Krannich (Hrsg.): Muslime im säkularen Rechtsstaat, Verlag Das Arabische Buch, Berlin 2001, S. 11 ff.
Zobei und Christopher sind Freunde. In den Pausen sind sie meist beieinander. Schularbeiten machen sie oft zusammen. Am Nachmittag spielen sie zusammen Fußball. Freitags geht Zobei in das afghanische Gemeindezentrum, wo auch die Moschee ist, zum Koranunterricht. Am Sonnabend lernt er in einer anderen Moschee Arabisch. Im Geschichtsunterricht interessierte sich Zobei für alle Erkenntnisse der modernen Geschichtswissenschaft über den Islam und seine Entstehung. Wenn Zobei vom Arabischunterricht zurückkommt, trifft er sich mit Christopher und seinen Klassenkameraden. Beide setzen sich für ihre Schule ein und sind respektierte Kameraden in ihrer Klasse. Foto © Wolfgang Böge
Anm.: Navid Kermani hat einen deutschen und einen iranischen Pass, er ist Islamwissenschaftler, Publizist und Vertreter eines modernen europäischen Islam. Kermani lebt in Berlin. (Red.) Hinweis: Zur Frage der Vielfalt im Islam und der Diskussion um Modernität und Reformfähigkeit sollten auch Mohibur Rahman (3.9) und Ahmed Jaballah (4.6.2) herangezogen werden. (Red.)
Islamunterricht auf türkisch in einer Hauptschule in Köln Foto © Picture Alliance, Wolfgang Radtke
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2.4 Reformtheologie und Modernisierung Warum, fragt man sich, kommen eigentlich aus dieser Ecke, eben von Seiten der organisierten Muslime Deutschlands, nicht mehr Ansätze, den Islam neu und modern zu interpretieren? Kann man denn im Ernst verteidigen, dass Männer ihre Frauen schlagen dürfen? Oder nehmen wir die Strafe der Steinigung, die ja nicht einmal koranisch ist. Warum hat niemand den Mut, sich zu distanzieren? Sogar in der Islamischen Republik Iran ist diese Strafe inzwischen offiziell ausgesetzt worden – und zwar von Ayatollah Haschemi Schahrudi, der nicht eben für seine Liberalität bekannt ist. Andere, auch nicht gerade als moderat verschrieene Geistliche begründen in ausführlichen Rechtsgutachten, warum es solch eine Strafe im 21. Jahrhundert nicht mehr geben kann und auch nicht geben muss. Und in Deutschland gehen Muslime – wie die deutsche Konvertitin Eva Shabassy – hin und verteidigen solche unsäglichen Strafen. „Vielleicht werden ja tausende von Ehen gerettet, wenn einmal in hundert Jahren eine Frau gesteinigt wird.“ Na prima. [...] Heutzutage gibt es im angeblich fundamentalistischen Gottesstaat, in der Islamischen Republik Iran, hunderte von Reformtheologen – Männer und Frauen. Sie alle versuchen zu begründen, warum der Islam nicht im Widerspruch stehen muss zu den Menschenrechten, zur Demokratie, zum religiösen Pluralismus. Katajun Amirpur: Zu streng genommen, Süddeutsche Zeitung 30.3.2004
Anm.: Katajun Amirpur ist deutsche Islamwissenschaftlerin iranischer Abstammung. Sie lehrt an der Universität Köln. (Red.)
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2.5 Die Diskussion um die unveränderliche Vollkommenheit der Aussagen im Koran [Manche Reformtheologen untersuchen,] in welchem historischen Zusammenhang ein Vers offenbart
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wurde. Davon ausgehend wird dann bestimmt, ob ein Gebot für alle Zeit gültig ist oder nur in einem besonderen Kontext. Andere Reformtheologen argumentieren, man müsse den Geist der Gesetze betrachten. Der Geist des Korans sei eindeutig gewesen, die Stellung der Frau zu verbessern. Analog dazu müsse man Frauen heute weitere Rechte geben, gerade weil sich die Zeiten geändert haben. Wieder andere argumentieren, Bestimmungen wie die so genannten hadd-Strafen, zu denen das Handabhacken gehört oder das Kopftuchgebot, seien nur die Haut, die die Religion nach außen hin zusammenhält. Die Essenz der Religion seien sie hingegen nicht, deshalb müssten sie auch nicht angewendet oder befolgt werden.
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[...] Man fragt sich also: Wenn im angeblich fundamentalistischen Gottesstaat solche Diskussionen geführt werden, warum dann nicht auch unter den Muslimen hier? Denn verteidigen kann man solche Bestimmungen nicht. Außer man hat tatsächlich nicht vor, im 21. Jahrhundert anzukommen. Katajun Amirpur: Zu streng genommen, Süddeutsche Zeitung 30.3.2004
Hinweis: Zur Diskussion über die Vollkommenheit des Koran als unmittelbares Wort Gottes vgl. „Religion und Politik in der islamischen Moderne“ im Modul 1 der ersten Lieferung dieser Reihe „Politik und Religion im Islam“, S. 36 ff. (Red.) Anm.: Vgl. hierzu auch Navid Kermani (2.3). (Red.)
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2.6 Einem europäischen Islam entgegen? Viele Muslime wenden sich gegen den Ausdruck „europäischer Islam“, weil damit scheinbar ausgedrückt werde, man akzeptiere ein „Zugeständnis“ und wolle einen „neuen Islam“ fördern. Tatsächlich ist das Risiko groß, in neuen Formulierungen alte assimilatorische Reflexe wiederzugeben, indem man den Muslimen vorschlägt, „weniger muslimisch“ zu sein, um europäisch zu werden. Man muss sich daher klar über die benutzten Ausdrücke und die zu untersuchenden Zielsetzungen sein. Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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man unter „europäischem Islam“ die Tatsa` cheWenn verstünde, dass die Muslime auf wesentliche Elemente ihrer Religion verzichten sollten, dann scheint es klar zu sein, dass das Projekt in der muslimischen Bevölkerung Zurückweisung und tief gehende Verärgerung hervorrufen wird. Heutzutage handelt es sich nicht darum, diesen Gemeinschaften vorzuschlagen, sie sollten sich ihrer Identität berauben, sondern eher den Weg vorzuzeichnen, der den Muslimen erlaubt, wirklich sie selbst zu bleiben und sich in Europa zu Hause zu fühlen. Der europäische Islam sollte also ein gelebter, einer leidenschaftslos ausgeübten Staatsbürgerschaft zutiefst vermählter Islam sein. Tarik Ramadan: Die europäischen Muslime – Wandlungen und Herausforderungen, in: Thomas Hartmann/Margret Krannich (Hrsg.): Muslime im säkularen Rechtsstaat, Verlag Das Arabische Buch, Berlin 2001, S. 93.
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lichen Interpretation des islamischen Rechts weitgehend gelöst hat. Von daher darf ein vergleichsweise hohes Maß an Offenheit gegenüber westlichen Rechtsgrundsätzen erwartet werden [...] Ein deutscher oder auch europäischer Islam ist möglich. Die Integration in die Grundlagen einer freiheitlichen demokratischen Ordnung ist mit dem Instrumentarium der Scharia zu bewältigen. Die muslimische Seite ist aufgerufen, dieses Instrumentarium konsequent zu nutzen. [...] Mathias Rohe: Was lernt ihr eigentlich in der Koranschule? Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.10.2000
Anm.: Mathias Rohe ist Richter und lehrt Recht an der Universität Nürnberg-Erlangen. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Islam. (Red.)
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2.7 Chancen eines Euro-Islam Der Gedanke an einen deutschen oder europäischen Islam ist [...] nicht so exotisch, wie er auf den ersten Anschein wirken mag. In Deutschland leben knapp drei Millionen Muslime überwiegend, aber nicht ausschließlich türkischer Staatsangehörigkeit. Mit der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts dürfte die Zahl deutscher Muslime deutlich ansteigen. Die übergroße Mehrheit der anwesenden Muslime wird voraussichtlich auf Dauer ansässig bleiben. [...] Die Türkei als Herkunftsland der meisten hiesigen Muslime hat bereits in den Zwanzigerjahren die rechtlichen Teile der Scharia [islamisches religiösweltliches Recht – Red.] weitestgehend durch westliche Kodizes [Rechtssysteme – Red.] ersetzt, die mittlerweile auch in weitem Umfang rechtskulturell akzeptiert sind. So verstößt die grenzüberschreitende Anwendung klassisch-islamrechtlicher Vorschriften, welche aus heutiger Sicht Frauen benachteiligen, sogar gegen den (türkischen) Ordre public [Staatsordnung – Red.]. Für den erheblichen Teil der Aleviten – eine „liberale“, schiitisch geprägte Richtung des Islam – spielen die teils restriktiven Rechtsvorschriften der Scharia ohnehin keine Rolle. Ein erheblicher Teil der Muslime in Deutschland entstammt also einem rechtskulturellen Umfeld, das sich von der mittelalter24
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2.8 Voraussetzungen für Modernisierung und Integration Ein Spiegelinterview mit Tahar Ben Jelloun Ben Jelloun: [...] Der Islam ist nicht nur eine spirituelle, sondern auch eine politische Religion, eine moralische Anleitung des gesamten menschlichen Handelns im Alltag. Das ist seine verführerische, aber auch gefährliche Besonderheit – seine Tendenz zum Totalitären. SPIEGEL: Demokratie, wenigstens nach westlichem Verständnis, beruht entscheidend auf dem Prinzip des Laizismus, der Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion. Ist dieses Konzept für den Islam ein Widersinn in sich? Ben Jelloun: Im Grunde ja. Trotzdem liegt die einzige Entwicklungschance der islamischen und arabischen Welt darin, diesen Ganzheitsanspruch aufzulösen. Der Islam muss in den Herzen und in den Moscheen bleiben, er darf sich nicht mit Politik, dem absolut Zeitlichen, vermengen. Ich weiß, wie schwierig es ist, eine Religion zu reformieren, denn der Glaube beruht seinem Wesen nach auf irrationalen Über-
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Aber die laizistische islamische Gesell` zeugungen. schaft muss das Ziel bleiben. SPIEGEL: Und wie lässt es sich ohne Reformationskriege erreichen? Ben Jelloun: Durch Bildung und wirtschaftlichen Fortschritt. Analphabetentum und Armut schaffen den Nährboden für den religiösen Extremismus. Beide sind in der arabischen Welt unglücklicherweise weit verbreitet. Die Islamisten suchen ihre Anhänger unter den Enttäuschten, den Zu-kurz-Gekommenen und Frustrierten. Die Menschen müssen sich weiterentwickeln, dann verliert der Islam seine Aggressivität, denn im Koran kann man Argumente für und gegen die Demokratie finden. SPIEGEL: Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass es vorher zum Zusammenprall der Kulturen kommt? Ben Jelloun: Kulturen sind keine monolithischen, keine geschlossenen Blöcke, die aufeinander stoßen. Europa und die mediterrane Welt sind gleichermaßen durchdrungen von Abendland und Orient, von Christentum, Judaismus und Islam. Was ich viel mehr befürchte, ist ein Zusammenstoß der gegenseitigen Ignoranz, der Vorurteile und der Verachtung. SPIEGEL: Ist diese Entwicklung nicht schon in vollem Gang? In Europa wächst der Fremdenhass, die islamischen Glaubensgemeinschaften verlangen Sonderrechte und schließen sich in Ghettos ein – Abschottung statt Integration. Ben Jelloun: Ja, in Frankreich, Deutschland und Großbritannien entscheidet sich, ob die friedliche Koexistenz der Kulturen möglich ist. Die Integration ist gefährdet. Frankreich hat seine maghrebinischen Kinder seit Jahrzehnten vernachlässigt. Kein Wunder, dass die terroristischen Rattenfänger hier Gefolgschaft finden. SPIEGEL: Frankreich hat den im Land geborenen Einwandererkindern immerhin anstandslos die Staatsbürgerschaft gegeben. Integration kann doch keine Einbahnstraße sein?
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Ben Jelloun: Mit der Staatsbürgerschaft ist es das Gleiche wie mit der Demokratie: Sie ist kein technischer, formaler Vorgang. Der Besitz eines Ausweises genügt nicht, um jemanden zum vollen Bürger der Republik zu machen, zum bekennenden Mitglied einer Wertegemeinschaft. SPIEGEL: Das beste Instrument der Integration ist die Schule. Gerade dort aber droht in Frankreich der nächste Glaubenskampf auszubrechen. Sind Sie persönlich dafür, das islamische Kopftuch in öffentlichen Schulen zu dulden? Ben Jelloun: Das Kopftuch ist die Ablehnung des Laizismus. Duldet man es, sagt der Vater oder der Bruder der Schülerin am nächsten Tag: Du nimmst nicht am Musik- und Malunterricht teil, denn das verdirbt die Sitten. Du darfst bestimmte literarische Texte nicht lesen, denn sie sind anstößig. Und so fort. Das ist unerträglich. Das Kopftuch ist alles andere als harmlos. Gelingt dagegen die Integration, entsteht ein laizistischer Islam in Frankreich und in Deutschland, kann das ein Beispiel mit großen Rückwirkungen für die ganze arabische Welt werden. [...] Jelloun: Der Islam neigt zum Totalitären – Interview mit Tahar Ben Jelloun, in: SPIEGEL special, 2/2003, S. 20 ff.
Anm.: Tahar Ben Jelloun, 58, ist der erfolgreichste Autor des Maghreb. Geboren in Fes, lebt er seit 1971 vorwiegend in Paris. Seine Romane, etwa „Die Nacht der Unschuld“ (1987), spiegeln die konfliktreiche Erfahrung kultureller, religiöser und nationaler Vielfalt.
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inferiore Stellung der Frau wäre ohne Wenn und Aber die ewige Geltung abzusprechen.
2.9 Der Euro-Islam ist eine Wunschkonstruktion [...] So wenig die gesellschaftlich-soziale Integration der muslimischen Zuwanderer bislang jedenfalls gelang, deren Zuzug vielmehr in Parallel- und Ghettogesellschaften sich einrichtete, so zeigt auch die religiöse Präsenz des Islam bei uns kaum Neigung zu Veränderung und Verwandlung. Die Vorstellungen eines „Euro-Islam“ sind bislang eine intellektuelle Wunschkonstruktion geblieben, die der beobachtbaren Wirklichkeit nicht Stand hält. Kein „liberaler“ Islam kommt bei uns an, sondern ein orthodoxer und teilweise „fundamentalistischer“ Islam, wie die Analyse der Organisationen, Gruppen und „Zentren“, in Deutschland jedenfalls, deutlich zeigt. [...] In dem Buch „Kreuzzug und djihad“ habe ich historisch nachgewiesen, wie die hidschra mit dem djihad als Mittel der islamischen Mission/Da wad verbunden wurde. Einige Verbände des organisierten Islams in Europa übertragen dieses hidschra-Vorbild aus dem siebten Jahrhundert auf die Gegenwart. Mit einem solchen Verständnis von Einwanderung ist keine Integrationspolitik verträglich. Mit dem Glauben an den Islam als überlegene Religion ist die religiöse Pflicht verbunden, ihn weltweit zu verbreiten. Überall dort, wo Muslime leben, beansprucht der Islam unbedingte Geltung für sich. Das hat nichts mit Fundamentalismus zu tun, sondern ist Inhalt der Doktrin von der Verbreitung des Islams als Politik der Islamisierung, zu der die hidschra, also die Migration, gehört. [...] Tilman Nagel [stellt] illusionslos fest: Um eine Übereinstimmung zwischen den fundamentalen Aussagen des deutschen Grundgesetzes und des Islams herzustellen, „müssten wesentliche Partien des Korans und der Prophetenüberlieferung für nicht mehr gültig erklärt werden; insbesondere den zahlreichen Koranstellen und Prophetenworten, die zur Gewaltanwendung gegen Andersgläubige auffordern [...] und den absoluten Geltungsanspruch des Islam verfechten, sowie den ebenfalls zahlreichen Belegen für die 26
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Küenzlen a. a. O. S. 192 f.
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2.10 Das Scheitern eines Traums - Multikulturalismus ist eine Illusion Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Illusion. Der Aufstieg von Populisten wie Haider, Fortuyn und Berlusconi zwingt, über die Grenzen des offenen Europas nachzudenken. Es gibt zu denken, wenn in einer offenen Gesellschaft wie der niederländischen ein Aufstand der Bürger rasch um sich greift, zumal nach Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs. Offenbar gibt es ein Unbehagen in der Demokratie, das eher sozial-kulturelle als ökonomische Ursachen hat. [...] Nach all den Jahren, in denen Bürgerrechte betont wurden, ist es nicht verkehrt, jetzt den Bürgerpflichten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Und nach all den Jahren, in denen die Selbstentfaltung des Einzelnen im Vordergrund stand, schadet es nicht, wenn wieder einmal der Gemeinschaftssinn thematisiert wird. [...] Vor allem unser Umgang mit Migranten [Zuwanderer – Red.] hält uns dabei einen Spiegel vor. Warum ist es keine Haltung, von den Menschen, die sich bei uns niederlassen, so wenig zu erwarten? Unsere multikulturelle Toleranz ist in Wirklichkeit eine Form der Gleichgültigkeit, denn jeder weiß, wer Forderungen stellt, geht gleichzeitig auch Verpflichtungen ein. Die Ansprüche, die man an die Einwanderer stellt, fallen unweigerlich auf die Einheimischen zurück. Wer Einbürgerung anstrebt, muss erklären, was die Grundlagen der eigenen Gesellschaft sind. Wer die Rechtsordnung weitervermitteln will, muss selbst diese Regeln kennen. [...] Doch weil wir unsere eigene Kultur des Bürgertums, man könnte auch sagen unsere „Leitkultur“, haben verwahrlosen lassen, gelingt es uns nicht in ausreichendem Maße, die Migranten zur Teilnahme in ihrer neuen Umgebung zu bewegen.
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aber ändert sich allmählich. Wir beobachten ` seitDas einigen Jahren, dass sich der Konsens verschiebt, von der Relativierung zur Bestätigung der eigenen Kultur. Dies kann eine Veränderung zum Guten sein, wenn ein neues Gleichgewicht gefunden wird zwischen dem Streben nach Selbstrelativierung, das berechtigte Fragen aufwirft, und dem Verlangen nach Selbstbestätigung, das eine verständliche Reaktion auf eine unübersichtlicher gewordene Welt darstellt. [...] Uns steht also eine [...] Suche bevor, der sich niemand entziehen kann. Viele befürchten, dass wir langsam, aber sicher unser Recht auf Selbstbestimmung verlieren und dass der Kern unserer Demokratie aufgeweicht wird. Dazu trägt auch der ohnmächtige Eindruck bei, den viele unserer heutigen Politiker machen. Die Fähigkeit, die Gesellschaft – unter Einbeziehung der Einflüsse von außen – nach eigenem Gutdünken zu formen, steht auf dem Spiel. Die Sorge für Bildung, öffentliche Ordnung und soziale Sicherheit im eigenen Land kann nicht delegiert werden. Was immer man auch von der Protestbewegung gegen die Globalisierung denken mag, sie ist ein prägnanter Ausdruck dieses Ringens um Selbstbestimmung.
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Nicht umsonst ist die Immigration in dieser Situation zu einem so wichtigen Thema in Europa geworden. Das Bild einer Völkerwanderung, die niemand aufhalten kann, steht für etwas Allgemeineres. Es ist zum Symbol für die Vermutung geworden, dass wir in einer nicht mehr beherrschbaren Welt leben. Wenn die populistischen Politiker sagen: „Das Boot ist voll“ – und aus Umfragen geht hervor, dass ungefähr [...] zwei Drittel der Bürger der Europäischen Union schon seit längerem der Ansicht sind, dass die Obergrenze der Aufnahmefähigkeit von Migranten erreicht ist – , dann wird damit mehr ausgedrückt als ein „Nein“ zu Asylbewerbern, Arbeitsmigranten oder Familiengründern. Damit wird ein tiefer liegendes Gefühl der Unsicherheit und des Unbehagens in Worte gefasst, das man ernst nehmen muss.
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[...] Eine offene Gesellschaft möchte die demokratischen Umgangsformen fördern. Wer nun ohne jede nähere Erläuterung behauptet, wir müssten der ganzen Welt gegenüber offen stehen, der vergisst zu erwähnen, dass wir dann auch extreme Armut, religiösen Fanatismus und ethnische Kriege innerhalb unserer Grenzen willkommen heißen. Dazu gehören zum Bei-
Klassenkameraden: Hier ist es gleich, ob jemand Ali, Kevin, Ramyar, Klaus, Ole, Can, Petra, Aysel oder Nele heißt.
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auch jene Imame, die Hass auf unsere Gesell` spiel schaft predigen, an der teilzuhaben man eigentlich von ihnen erwartet. Die Verschiedenheit, die häufig beschönigend als „kulturelle Bereicherung“ bezeichnet wird, umfasst auch die Schrecken, vor denen wir uns so gerne schützen wollen. Verschiedenheit ist kein Wert an sich, während Demokratie das sehr wohl ist. [...] Die gegenwärtige Politik – vor allem die sozial-liberale – ist durch ein großes kulturelles Defizit gekennzeichnet. Wer eine offene Gesellschaft in einer die Grenzen abbauenden Welt verteidigen will, der muss über die Bedingungen von Integration und Immigration in Europa nachdenken. Die Nationalstaaten werden noch lange der Fokus der Demokratie bleiben, und jede europäische Integrationspolitik, die dem nicht Rechnung trägt, wird das Gegenteil dessen bewirken, was sie eigentlich will, nämlich nationale Verkrampfung. Dasselbe gilt auch für die Immigration: Steht die Zahl der Zuwanderer nicht mehr in einem entsprechenden Verhältnis zu den Möglichkeiten einer guten Einbürgerung, dann ist die kritische Grenze dessen, was als sozial und kulturell akzeptabel empfunden wird, sehr bald erreicht. Ebendies können wir überall in Europa beobachten. Mit einem Wort: Wer die liberale Demokratie weiterentwickeln will, wird sehr viel genauer über die kulturellen Grundlagen dieser Demokratie nachdenken müssen. Das ist kein Plädoyer für Überheblichkeit, sondern dafür, dass wir uns die Verletzlichkeit bewusst machen, die jede offene Gesellschaft kennzeichnet. Wir müssen das soziale und kulturelle Kapital der früheren Generationen weitergeben, und das bedeutet, dass wir immer wieder neu formulieren müssen, was uns verbindet und was uns trennt. Die Förderung des Bürgersinns ist eine Einladung an alle, sich für diese Gesellschaft verantwortlich zu fühlen. Das heißt nicht, dass man kritiklos alles akzeptiert. Im Gegenteil, eine offene Gesellschaft lebt von der Fähigkeit ihrer Bürger, selbstständig zu denken und zu urteilen. Doch um auf produktive Weise unterschiedlicher Meinung sein zu können, bedarf es der Zusammengehörigkeit. Und die entsteht nicht von allein. Paul Scheffer: Das Scheitern eines Traums, in: Die Zeit 29/2002. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
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2.11 Die Grundlagen des europäischen Menschenbildes [...] Viele europäische Bürger legen [...] das Schwergewicht der Begründung dafür, was Europa im Kern zusammenhält, auf drei [...] Bereiche europäischer Geistesgeschichte: griechische Philosophie, römisches Recht und judäo-christliche Offenbarungsreligion. Dem Christentum – und in solch machtvoller Auswirkung zuallererst nur ihm – verdankt Europa und verdankt, von hier ausgehend, die ganze Menschheit ein Menschenbild, das ausnahmslos jedem Menschen, gleich welcher Herkunft, Kultur, welchen Geschlechts oder Alters, einen einzigartigen, unveräußerlichen und – für gläubige Menschen – von Gott gegebenen Wert, eine unantastbare Würde zumißt, die ihm individuelle, unverlierbare Rechte verleiht, auf Leben, auf dessen Unversehrtheit und auf die Freiheit, allein seinem Gewissen verpflichtet, selbst über dieses Leben zu bestimmen und dafür Verantwortung und deren Konsequenzen zu tragen. Dieses Prinzip persönlicher Autonomie gehört zweifellos zum Kernbestand dessen, was – bei allen Verdunkelungen im Lauf der Geschichte – ein wahrhaft europäisches Menschenbild genannt werden darf, und jüdisch-christliche Religion, römisches Recht und griechische Philosophie, insbesondere die Ethik der Stoa [antike griechische Philosophenschule], bildeten dafür wesentliche Fundamente. [...] Ohne es gäbe es jenes wahrhaft europa-verwurzelte Bild menschlicher Würde und menschlicher Freiheit nicht, wie wir es heute auch losgelöst von vermeintlicher Gottesebenbildlichkeit verstehen, ohne das es auch keine menschenrechtlich begründete Französische Revolution, keine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und keine entsprechenden menschenrechtlichen Verfassungsbestimmungen fast aller Nationen auf der ganzen Welt gäbe. [...] Unverkennbar ist, daß als Eckstein europäischer Wissenschaftsgeschichte die philosophische Wahrheitssuche, aus der schließlich alle Wissenschaften, die diesen Namen verdienen, entsprungen sind, be-
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werden kann. Wissenschaft, die systematische ` stimmt Praxis der Gewinnung logisch oder empirisch, also argumentativ begründeten Wissens, schafft zuverlässige Erkenntnisse über die grundsätzlich jedem Menschen zugängliche Wirklichkeit. Sie strebt nach Wahrheit, indem sie alle wissenschaftlichen Aussagen und Behauptungen, alle Hypothesen und Theorien dem Zwang zur Begründung und damit auch der Möglichkeit kritischer Widerlegung unterwirft. Damit unterscheidet sie sich von bloßem Meinen, persönlicher Überzeugung und Voreingenommenheiten, die sich einer solchen argumentativen Kritik nicht unterwerfen, und genauso von offenbartem individuellem oder gemeinschaftlichem Glauben. [...] [...] Wissenschaftliche „Wahrheit“ muß niemand glauben, der dies nicht will, sie hat aber den Vorteil, auf für jedermann zugänglichen nachweisbaren Gründen zu beruhen, die man zwar auf eigene Gefahr und eigene Kosten leugnen kann, auf deren Überzeugungskraft und Zuverlässigkeit jedoch eine funktionsfähige Lebens- und Handlungspraxis aufgebaut werden kann. Deshalb macht Wissenschaft kritisch, auch skeptisch, aber niemals gutgläubig. [...] Hubert Markl: Wo unser Herz schlägt. FAZ 27.12.2003
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lichen Ländern verbreitet: Norwegen, Dänemark, England und bis zum Jahr 2000 in Schweden.
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Diese Klassifizierung ist allerdings etwas irreführend, weil sie eine Bevorzugung bzw. Benachteiligung der Religionen suggeriert, die in diesem Fall nicht zutrifft. In Belgien und Irland, wo es keine Konkordate gibt, ist die Position der katholischen Kirche besser als anderswo. Die Church of England ist Staatskirche, bekommt aber viel weniger Unterstützung vom Staat als die Kirchen in Deutschland. Irland und Frankreich haben das separatistische System; die Iren erwähnen trotzdem die Trinität in der Verfassung, dagegen betonen die Franzosen den Laizismus in ihrer Verfassung. Im Vertragssystem und im separatistischen System genießen die Religionen doktrinale (in Lehrfragen) und organisatorische Freiheit. Die Staatskirche hat dagegen nur eine doktrinale Freiheit, ihre Organisation wird vom Staat bestimmt, wie z. B. die Ernennung der Bischöfe. Das separatistische Modell unterscheidet sich von den anderen Systemen, indem es keine Kirchenverträge kennt und mit keiner Religion vereinigt ist. Sonst unterliegt sein Verhältnis zur Religion denselben Kriterien, die auch für die anderen Systeme gelten. Ralph Ghadban
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2.12 Staat und Religion in den europäischen Staaten Man kann in Europa grob drei Typen des Verhältnisses zwischen Staat und Religion unterscheiden: 1. Das separatistische System, in dem Staat und Religion strikt getrennt sind. Dazu zählen Länder wie Frankreich, Irland, Belgien und die Niederlande. 2. Das Konkordat (Konkordat = Vertrag mit dem Vatikan/Papst/der katholischen Kirche – Red.) und das Vertragssystem, in dem die Beziehung zwischen Kirchen und Staat vertraglich geregelt sind. Das sind die Konkordate für die katholische Kirche und die Kirchenverträge für die Protestanten. Dazu zählen Deutschland, Italien und Spanien. 3. Das Einheitssystem, verkörpert in der Staatskirche, in dem das Staatsoberhaupt gleichzeitig das Kirchenoberhaupt ist. Das System ist in den nörd-
Hinweis: Zur islamistisch-fundamentalistischen Auffassung der Einheit von Religion und staatlicher Politik (din-wa-daula) vgl. „Politik und Religion im Islam“, Kap. 2.1 „Religion und Politik in der islamischen Moderne“, S. 41 ff. (Red.)
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2.13 Religionsfreiheit Die europäischen Staaten garantieren ihren Bürgern Religionsfreiheit, d. h. im Rahmen der Verfassungen einer Religionsgemeinschaft anzugehören oder auch nicht, aus einer in der Vergangenheit gewählten Religionsgemeinschaft auszutreten, die Religion zu wechseln, überhaupt fern jeder Religion zu sein. Der individuelle Wunsch ist hier ausschlaggebend. Die Religionsmündigkeit setzt dabei in DeutschIslam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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mit dem 14. Lebensjahr ein. Von diesem Zeit` land punkt an können Jugendliche ohne Zustimmung ihrer Eltern über religiöse Fragen entscheiden. (Red.) Religionsfreiheit: Sie basiert an erster Stelle auf internationalem und europäischem Recht und dann auf nationalem Verfassungsrecht, wobei das europäische Recht für das Verfassungsrecht verbindlich ist. Die nationalen Parlamente dürfen keine Gesetze verabschieden, die dem europäischen Recht widersprechen und jeder Bürger kann in bestimmten Fällen den europäischen Gerichtshof anrufen. Nicht alle europäischen Staaten haben eine kodifizierte Verfassung, Großbritannien z. B., aber alle Länder sind den Menschenrechten und der Trennung zwischen Staat und Kirche verpflichtet. Dazu zählt die Religionsfreiheit. Sie wird in Artikel 18 des „Internationalen Paktes über die bürgerlichen und politischen Rechte“ vom 19. Dezember 1966 erwähnt: Artikel 18 1. Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden. 2. Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde. 3. Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, darf nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind. Ralph Ghadban
Hinweis: Zur Frage der Religionsfreiheit in islamischen Ländern vgl. Modul „Politik und Religion im Islam“ Dokument 3.11, S. 120 ff. Nach islamischer Auffassung ist religionsgesetzlich der Abfall vom Islam ein schweres Vergehen und folglich gibt es nach der islamischen Rechtsordnung nicht das 30
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Recht auf Atheismus. In der modernen islamischen Diskussion ist dieser Grundsatz allerdings umstritten. In einigen islamischen Ländern wird dennoch eine angebliche oder tatsächliche atheistische Haltung oder auch nur wissenschaftliche Religionskritik strafrechtlich verfolgt. (Red.) Hinweis: Zum Vergleich können auch die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen, die „Europäische Grundrechtscharta“ und das Grundgesetz herangezogen werden. Zur Problematik der Kairoer Menschenrechtserklärung der Organisation Arabischer Staaten und der Rolle der Scharia, des islamischen religiösen Rechts darin, vgl. „Politik und Religion im Islam“, Dokument 54, 2.2.1.8, S. 65 f. (Red.)
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2.14 Europa vor schwerwiegenden Entscheidungen Die vielfältigen Bevölkerungsverschiebungen innerhalb Europas in den letzten Jahrhunderten haben zu sehr verschiedenartigen Integrationsprozessen geführt. Migration war immer eine europäische Erscheinung von den Vertreibungen aus Religionsgründen im 16. und 17. Jahrhundert (z. B. Salzburger Protestanten, französische Hugenotten etc.) über die europäische Auswanderung nach Amerika oder die Arbeitsmigration im 19. Jahrhundert (z. B. die Zuwanderung oberschlesischer und polnischer Bergarbeiter ins Ruhrgebiet) bis hin im 20. Jahrhundert zu der großen Welle der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen aus Ostdeutschland, der Tschechoslowakei, Ungarn und vom Balkan oder der Vertreibung der Polen aus Ostpolen. Alle Integrationsprozesse bedurften großer Anstrengungen beider Seiten, aber sie waren letztlich alle langfristig erfolgreich. Der Eingliederungsprozess gelang, ohne dass es zu einer Spaltung der Bevölkerungen kam. Die Arbeitsmigration der Südeuropäer (z. B. Italiener, Spanier, Portugiesen) in die nördlichen Industriezentren in den 1960er Jahren brachte ebenfalls keine Desintegrationstendenzen. Erst die Zuwanderung von Muslimen in großer Zahl
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den bisherigen europäischen Integrationserfah` fügte rungen eine neue Dimension hinzu: den langfristig integrationsunwilligen Zuwanderer, der trotz seiner Ablehnung der aufnehmenden Mehrheitsgesellschaft einen Platz in eben dieser Gesellschaft beansprucht. Ein kleinerer Teil der muslimischen Zuwanderer war bzw. ist nicht mehr in dem Maße bereit, sich Wertvorstellungen, Traditionen, Lebensweise, Sitten und Gebräuchen usw. der einheimischen Bevölkerung so anzupassen, wie es frühere Zuwanderer gewesen waren. Ganz falsch wäre es die muslimischen Zuwanderer als eine einheitliche Gruppe wahrzunehmen. Die islamische Glaubensgemeinschaft besteht aus sehr unterschiedlichen, z. T. kaum mit einander zu vereinbarenden Teilgemeinschaften: säkulare, religiöse, traditionsverhaftete, moderne, liberale, religiös-eifernde Muslime stehen nebeneinander und haben sich nach ihrer Herkunft zu nationalen oder nach ihrer Einstellung zu religiösen Richtungen zu Gemeinden zusammengeschlossen. Der größere Teil ist überhaupt keiner Gemeinde oder keinem Moscheeverein angeschlossen. Für Bildung sehr aufgeschlossenen Gruppen wie die meisten Iraner stehen neben bildungsfernen. Zwangsweise ins Exil geflüchtete Angehörige der geistigen Elite ihrer Heimatländer stehen neben Arbeitsmigranten mit geringer Bildung. Einerseits gehören die Kinder von Migranten heute zu den Eliten unserer Schulen, andererseits wächst die Zahl der Schulabbrecher aus Zuwandererfamilien und die Abhängigkeit solcher Familien von Sozialhilfe überproportional an. Je geringer der Bildungsgrad desto schwieriger ist oft die Integration. Für den größten Teil der muslimischen Zuwanderer ist die Integration auch in ihrer eigenen Wahrnehmung aber kein langfristig gravierendes Problem. Sie pflegen ihre Traditionen im Rahmen der jeweils gegebenen Rechts- und Gesellschaftsordnung, integrieren sich in die Lebensweise ihrer neuen Heimat und in den Arbeitsmarkt, bereichern als neue Bürger die Kultur und die Arbeitswelt ihres neuen Heimatlandes, stehen loyal zur Verfassungsordnung, engagieren sich in der Zivilgesellschaft und erwerben damit auch legitime Ansprüche, dass ihre Interessen Berücksichtigung finden. Ein kleinerer Teil beharrt über Sitten und Gebräuche des Alltags hinaus auf einer grundsätzlichen Trennung von der Mehrheitsgesellschaft, ist nicht be-
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reit, das Wertesystem und die Rechtsordnung vorbehaltlos anzuerkennen, aktiv zu unterstützen und die eigenen Vorstellungen anzupassen. Dieser integrationsunwillige Teil wird auch von der Mehrheit der muslimischen Zuwanderer mit Misstrauen gesehen, da er die eigene Position in der Gesellschaft untergräbt und sein Verhalten zu Spannungen in der Bevölkerung führt. Der Streit mit einigen Gruppen innerhalb der muslimischen Zuwanderer um gleiche Rechte und Chancen für muslimische Frauen, das Kopftuch als Symbol der Trennung, Zwangsheiraten muslimischer Mädchen, Moscheenbau, besondere islamische Friedhöfe, das Einhalten gesetzlicher Schlachtvorschriften bzw. solcher , die der Tierschutz erfordert, die uneingeschränkte Schulpflicht auch für muslimische Kinder usw. sind z. B. Ausdruck dieser Gegensätze. (Vgl. Islam – Politische Bildung und Interreligiöses Lernen: Modul „Politik und Religion im Islam“ Kap. Aktuelle Fragen an die politische Wirklichkeit: heutige Konfliktfelder des Verhältnisses von Religion und Politik im Islam, S. 101–135) Die Mehrheitsgesellschaft hat es versäumt, einerseits frühzeitig Integrationshilfen zu geben und andererseits aber auch Integration zu verlangen. Sie hat die Zuwanderer oft nicht in einer Weise akzeptiert, die Integration erleichtert hätte, sondern hat ihnen vielfach nur Randplätze in der Gesellschaft zugewiesen. Die Folge ist eine Verstärkung der Trennungstendenzen in der bereits in den europäischen Ländern geborenen und aufgewachsenen Generation junger Muslime. In diesem Spannungsfeld entwickeln sich derzeit die europäischen Gesellschaften. Hier gibt es zweifellos große Defizite auszugleichen. Die aufnehmenden Gesellschaften werden auf sehr vielfältige Weise neue Anstrengungen unternehmen müssen, um die entstandenen Probleme zu lösen. In allen europäischen Staaten stellen sich heute ähnliche Probleme. Es beginnt bei der Sprachfähigkeiten der Eltern, die oft selbst nicht hinreichend die Landessprache sprechen, um ihre Kinder zweisprachig oder in der Landessprache aufwachsen zu lassen; es setzt sich im Kindergarten und in der Schule fort, wo mangelnde Kenntnisse der Landessprache zu geringerer Bildung führen, was wiederum die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verringert. Insgesamt fördert die oft so gar Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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beabsichtigte nicht auf Integration gerichtete fa` nicht miliäre Erziehung der Kinder die Tendenz zur Trennung oder zur langfristigen Ungleichheit der Chancen. Eine stärker religiös geprägte Lebensweise führt statistisch gesehen bei muslimischen Jugendlichen zu einer geringeren Integration, Desintegration führt zu einer deutlich höheren Gewaltbereitschaft, alles zusammen zu geringeren Zukunftschancen für die Betroffenen. In den Stadtvierteln, in denen sich größere Gruppen von Zuwanderern zusammengefunden haben, besteht die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften bilden, in denen die Gesetze des Landes nur noch eingeschränkt gelten und andere, islamische, daneben Bedeutung gewinnen, so dass der Staat sein Gewaltmonopol nicht mehr vollständig durchsetzen kann und man auch langfristig leben kann, ohne die Landessprache zu beherrschen. Die erfolgreichen, integrierten Zuwanderer meiden diese Viertel, ziehen daraus weg in andere Stadtbereiche. Es entstehen so Schulen, in denen sich die Integrationsprobleme häufen, was wiederum zu geringeren Chancen für diese Schülerinnen und Schüler führt. Der grenzenlos menschenverachtende Terrorismus islamischer Fanatiker entwürdigt den Islam als Religion und löst Angstreaktionen in Europa aus. Nicht nur gewaltbereite Muslime werden als Bedrohungspotential gesehen. Die europäischen Staaten und die europäischen Gesellschaften beziehen Abwehrstellungen. Leicht wird der Islam unter ungerechtfertigten General-
Hinweis: Im Modul „Geschichte und Politik im Islam“ finden Sie weitere Materialien zu europäischen, deutschen sowie außereuropäischen Fragen: z. B. Islamischer Religionsunterricht, „Kopftuch-Frage“, Schächten, Bestattungsriten, Moscheenbau und Muezzinruf, Rolle der Frau, Körperstrafen wie Steinigung nach der Scharia, Religionsgutachten (Fatwa) und Rechtsstaat, Kunst und Intoleranz, Religionsfreiheit in islamischen Ländern, Djihad – Der „Heilige Krieg“. Diese Quellen sollten, um das Material anzureichern und zu vervollständigen, zusätzlich herangezogen werden, insbesondere wenn dieser Bereich z. B. projektorientiert oder in arbeitsteiliger Gruppenar32
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verdacht gestellt. Insgesamt stehen die europäischen Staaten vor wachsenden Problemen, zumal die legale und illegale Wanderungsbewegung aus den muslimischen Staaten rund um das Mittelmeer bis in den Vorderen Orient unvermindert anhält, obwohl die europäischen Staaten längst aufgehört haben, Arbeitskräfte anzuwerben. Für die meisten Sektoren der europäischen Gesellschaften spielen diese Fragen keine Rolle, die meisten Menschen werden im alltäglichen Leben kaum selbst mit ihnen in Berührung kommen bzw. nur als aufmerksame Leserinnen und Leser aus den Medien darüber informiert werden. In den Ballungsgebieten aber sind die Probleme bereits gravierend und der Druck auf die europäischen Gesellschaften, sich ihnen zu stellen und konstruktive Lösungen zu schaffen, nimmt beständig zu. Es ist also ein illusionsloser Realismus gefragt, bei dem die bestehenden Probleme weder blauäugig verdrängt werden noch in verängstigtem Alarmismus überzeichnet werden. Die Integrationsfrage muss als politische Aufgabe ersten Ranges im zusammenwachsenden Europa angesehen werden, dabei gilt es die sozialen politischen und vor allem auch bildungsspezifischen Seiten der Integrationsproblematik zu berücksichtigen, denn die Integrationsproblematik beruht in erster Linie nicht auf einem religiösen Gegensatz. Wolfgang Böge
beit bzw. in Form von Stationenlernen oder anderen Formen selbständigen Lernens bearbeitet werden soll. 2005 wird ein weiteres Modul zu „Integrationsfragen“ und zum „Islam in der Türkei“ in dieser Reihe erscheinen, in denen Fragen des Alltags der Muslime in den europäischen Staaten, besonders auch der türkischen Zuwanderer in Deutschland und die Entwicklung der Integrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland behandelt werden. Diese 4. Lieferung der Reihe Arbeitshilfen für die politische Bildung: „Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen“ wird voraussichtlich nach dem Sommer 2005 bei der bpb abrufbar sein.
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Jeder Zuwanderer ist willkommen. Fremdes bereichert mein Leben.
Ich will hier leben und arbeiten, aber wie ich lebe, geht niemanden etwas an. Die Traditionen meiner Religion haben Vorrang. Das muss jeder einsehen.
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Ich habe mich entschlossen Deutscher zu werden, also ist dies auch mein Staat. Ich passe mich an. Ich will nicht nur geduldeter Gast sein.
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Wer zu uns nach Frankreich kommt, soll sich so verhalten, wie wir es für richtig halten, sonst soll er wieder dahin gehen, wo er herkommt.
Wir haben so viele wenig ausgebildete Arbeitslose und die Zuwanderer haben meist doch auch keine Ausbildung, wie soll das enden? Ich fürchte mich.
Zu Haus war es sehr schlimm. England bietet so viel bessere Lebenschancen. Da ist doch jeder dumm, der sich nicht auf den Weg macht, legal oder illegal.
Die reichen Länder haben die Verpflichtung uns aufzunehmen. Wir kommen aus Not, lieber bliebe ich im Land meiner Großväter.
Jeder Mensch hat ein Recht auf Glück. Ich habe Verständnis für alle Migranten. Wir müssen das aber auch verkraften können.
Ich habe kein Problem, meine Traditionen zu wahren und in einem liberalen demokratischen Staat Bürger zusein. Der moderne Islam gebietet das nach meiner Ansicht sogar.
33 Zeichnungen: Nele Reinecke, Schülerin, Hamburg
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Einleitung Im Grundsatz gilt für alle europäischen Länder das Gleiche: eine Mehrheit der Muslime denkt wenig religiös und steht loyal zum Staat, der für sie Heimat geworden ist. Eine Minderheit lebt strenger nach religiösen Regeln und fühlt sich ihrer „Community“, ihrer Gemeinschaft, besonders verbunden und ist auch in öffentlich- und medienwirksamen Vereinen organisiert. Nur ein kleiner, oft aber sehr lautstarker Teil denkt radikal religiös oder sogar extremistisch. Mehr als andere Länder Europas hat Großbritannien aber der Teilung der Gesellschaft in Gruppen (Communities, Kommunitarismus) nachgegeben oder dies in der Vergangenheit sogar als Ausdruck von individueller Freiheit und Selbstverantwortung gefördert, insofern ist Großbritannien in der Integrationsfrage zumindest in der Vergangenheit von anderen europäischen Staaten zu unterscheiden.
Das britische Kolonialreich umfasste im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kerngebiete der islamischen Welt, z. B. Ägypten, den Sudan, den Irak, den südlichen Jemen, Oman, Kuwait, Pakistan, Bangladesch, Indien mit seiner sehr großen muslimischen Minderheit usw. Wer z. B. für die Kolonialmacht arbeitete, konnte britische Papiere erhalten, die Grenzen waren sehr offen. Migration war eher eine Geldund Mobilitätsfrage als eine Frage nationaler Zugehörigkeit, zumal englische Sprache und britische Kultur vielfach angepasst oder übernommen wurden und das Wirtschaftsleben dominierten. In der britischen Armee kämpften Soldaten aus den Kolonien. Die Verbindungen zwischen den Kolonien und Großbritannien waren eng. Der Islam in Großbritannien hat daher einzelne Wurzeln, die bis mehr als 100 Jahre zurückreichen. Wolfgang Böge
Materialübersicht 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9
3.10 3.11 3.12 3.13 3.14 3.15 3.16 3.17 3.18 3.19
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Statistische Angaben............................................................................................................................................................37 Staat und Religion .................................................................................................................................................................37 Muslime und Staat ................................................................................................................................................................38 Muslime und Gesellschaft ..................................................................................................................................................38 Moscheen .................................................................................................................................................................................39 Britische Muslimorganisationen von nationaler Bedeutung ................................................................................40 Wahlkreise mit der größten muslimischen Bevölkerung .......................................................................................40 Die Verteilung der muslimischen Bevölkerung in London....................................................................................41 Islam in Großbritannien.......................................................................................................................................................42 3.9.1 Muslime im säkularen Rechtsstaat.....................................................................................................................42 3.9.2 Hoffnungen und Probleme ..................................................................................................................................43 Integration in Großbritannien...........................................................................................................................................44 Identität.....................................................................................................................................................................................46 Wie funktioniert der britische Kommunitarismus? ...................................................................................................48 Muslime – die neue Unterklasse ......................................................................................................................................48 Islamisches Gewand in der Schule unzulässig............................................................................................................49 Schweinchen Abenteuer und muslimische Gefühle ................................................................................................50 Ein Gegenentwurf: Der Islam – die Zukunft Europas? .............................................................................................50 Zum Verhältnis der Religionen.........................................................................................................................................51 Scharfmacherei und Hetze – ein Fundstück im Internet ........................................................................................52 Reaktionen des britischen Staates ..................................................................................................................................53 3.19.1 Briten kämpfen gegen „Flut von Einwanderern“ .........................................................................................53 3.19.2 London plant Test für neue Staatsbürger .......................................................................................................53 3.19.3 Tests für Imame.........................................................................................................................................................53
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3.19.4 Einbürgerung in Großbritannien........................................................................................................................54 3.19.5 Eine neue Haltung zur Einwanderung .............................................................................................................54
Arbeitshinweise 1. Vergleichen Sie die Karte in Kapitel 1 (1.10) mit einer Karte der Kolonien am Anfang des 20. Jahrhunderts (Geschichtsatlas, Geschichtsbuch). Welche muslimischen Gebiete wurden von Großbritannien beherrscht? 2. Kopieren Sie eine Karte von Großbritannien und erstellen Sie aus den verschiedenen Materialien eine Verteilungskarte der Ballungsgebiete der muslimischen Bevölkerung. Weiteres Material könnte der Englischunterricht bereitstellen. 3. Vergleichen Sie die statistischen Angaben dieses Kapitels Großbritannien mit denen aus Kapitel 1. 4. Fragen Sie den/die Geographielehrer/in nach Karten zur Sozialschichtung in London. Vergleichen Sie das Kartenmaterial mit 3.8. 5. Recherchieren Sie im Internet die britischen Muslimorganisationen und vergleichen Sie sie mit den deutschen in 1.9 und den französischen in 4.3. 6. Welche Widersprüche lassen sich aus 3.1 (Islamic Party) und 3.17 (Anmerkung) erarbeiten? Welche werden in 3.9.2 deutlich? Welche Schlussfolgerungen legen diese Quellen insgesamt dem Betrachter nahe? 7. Schreiben Sie aus den Materialien, insbesondere 3.1 bis 3.4 und 3.9 bis 3.11, selbst eine Zusammenfassung: Der Islam in Großbritannien. 8. Welche Haltung zu dem britischen Staat und der britischen Gesellschaft spricht aus 3.9 bis 3.11, welche spricht aus 3.17 und 3.18, und vergleichen Sie diese Haltungen. Suchen Sie parallele Materialien in den anderen Kapiteln. Diskutieren Sie Ihre eigenen Vorstellungen und Zukunftserwartungen bezüglich Staat und Gesellschaft. 9. Suchen Sie in Politik-Lexika und Handbüchern nach dem Begriff „Kommunitarismus“. Suchen Sie Vergleichspunkte zwischen den gefundenen Definitionen und dem Material 3.4, 3.9 bis 3.16. 10. Recherchieren Sie die Spannungen, Unruhen, Krawalle in Oldham und Bradford im Internet unter den Städtenamen in Verbindung mit anderen Stichworten wie Islam (Islam), Muslime (Muslims), Einwanderer (immigrants), Krawalle (riots), Rassismus (racism) usw. Wenden Sie Ihre Englischkenntnisse an. Worum ging es bei diesen Auseinandersetzungen eigentlich? Was war der Anlass, was waren die Ursachen? 11. These: Eine Schulbildung aller Kinder, welcher Religion sie auch immer angehören mögen, nach gemeinsamen jeweils angepassten Bildungszielen und gemeinsamen Prinzipien in staatlichen Schulen stärkt den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Finden Sie Unterschiede in den Vorstellungen in Großbritannien (z. B. 3.14) und Frankreich (z. B. 4.18.1, 4.19). Wie lassen sich diese Unterschiede erklären? Diskutieren Sie die These des Arbeitshinweises. 12. Welche Hauptaussagen enthalten 3.16 und 3.17? Beachten Sie auch den Text zur Quellenangabe. Nehmen Sie die Perspektive eines durchschnittlichen Engländers ein (Hilfe durch den Englischunterricht): Welche Aussagen ist er wohl bereit zu akzeptieren, welche nicht? Übertragen Sie die Aussagen auf Deutschland und diskutieren Sie sie. Bewerten Sie auch die Selbsteinschätzung in der Anmerkung zu 3.17.
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13. Was wollen die islamistischen Demonstranten mit ihrem Plakat (oberes Bild) ausdrücken? Was wollte derjenige ausdrücken, der diese beiden Bilder verbunden in das Internet gestellt hat? Was ist daran nicht akzeptabel? (3.18) 14. Wie verhält sich der britische Staat gegenüber denen, die zugewandert sind und zuwandern möchten? Wie soll sich der Staat Ihrer Ansicht nach verhalten? Was sollen die Politiker, die Regierung, das Parlament (die Volksvertretung) tun? 15. Fassen Sie die neue Politik der britischen Regierung zusammen, so dass Sie sie mit der Politik anderer Länder vergleichen können.
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3.1 Statistische Angaben Die Anzahl der Muslime in Großbritannien ist schwer zu bestimmen, weil seit 1851 keine Volkszählung unter religiösem Gesichtspunkt stattgefunden hat. [...] Die überwiegende Mehrheit der Muslime kommt vom indischen Subkontinent, weitere Gruppen stammen aus den arabischen Ländern, dem Iran, Malaysia, Ostafrika, Nigeria und der Türkei. Besonders hinzuweisen ist auf eine größere Anzahl von Muslimen aus dem türkischen Teil Zyperns. Die meisten Muslime kamen aus wirtschaftlichen Gründen, um Handel zu treiben sowie als Stipendiaten. Fast die Hälfte der Muslime lebt in London oder in der näheren Umgebung der Hauptstadt. Die übrigen haben sich zum großen Teil in den westlichen Midlands, Yorkshire sowie in der Gegend um Manchester niedergelassen. Innerhalb der westlichen Midlands leben ungefähr drei Viertel der Muslime aus Pakistan und Bangladesh in Birmingham, wo sie 8 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. In Yorkshire hat vor allem die Stadt Bradford einen sehr hohen Anteil an muslimischer Bevölkerung aus Pakistan und Bangladesh. Die türkischen Zyprioten, Iraner und Araber leben größtenteils in London, mit Ausnahme der Jemeniten, die sich als gute Seeleute – von den Engländern in Aden angeheuert – in Hafenstädten wie Liverpool und Cardiff niederließen. [...] Bis zum Nationality Act von 1983 konnten Commonwealth-Bürger die britische Staatsangehörigkeit sogar ohne den danach vorgeschriebenen längeren Prozeß der Naturalisation einfach durch Registrierung erhalten. Zunächst wählten viele Muslime die LabourPartei, weil sie dort ihre Interessen besser vertreten sahen. In den 80er Jahren schwand jedoch die LabourSympathie unter anderem deshalb, weil den Muslimen die Machtkämpfe in der Partei und die allzu freien Ansichten in Fragen der Sexualethik mißfielen. Die Betonung von Familienwerten bei den Konservativen fand eher die Zustimmung der Muslime, jedoch nicht die Gesamtpolitik dieser Partei in Fragen der Einwanderung und der Minoritäten. 1982 wurde in der Nähe von Grentch die erste rein islamische Siedlung in
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Westeuropa gegründet, Moslem Village. 1989 entstand eine Islamic Party of Britain [...]. Sie akzeptiert das britische politische System, will jedoch die Grundsätze des Korans in Britannien verwirklichen. [...] Eine Möglichkeit, als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden, wie sie in Belgien, Österreich und Deutschland besteht, ist für islamische Minderheiten in Großbritannien nicht gegeben. Monika u. Udo Tworuschka (Hrsg.): Religionen der Welt, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh 1992, S. 236 f.
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3.2 Staat und Religion Für den Wiederaufbau des Landes rekrutierte Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg in seinen Kolonien massenweise Arbeitskräfte. Bis Mitte der fünfziger Jahre kamen u. a. jährlich 30 000 farbige Arbeiter, die so genannten „coloured“, aus dem Commonwealth, Christen aus der Karibik und Muslime, überwiegend aus Indien und Pakistan. Sie konnten alle nach dem „Nationality Act“ von 1948 frei ohne Einschränkungen nach Großbritannien einreisen. Großbritannien hat keine geschriebene Verfassung und daher keine dem Bundesverfassungsgericht vergleichbare Institution. Alle Gesetze des Parlaments bilden die Verfassung. Die Verfassungsprobleme werden politisch und nicht juristisch gelöst. [...] Bis 1998 gab es kein Gesetz, das die Menschenrechte nach dem internationalen Standard garantierte. Erst mit dem „Human Rights Act“ von 1998 wurde die „europäische Konvention für den Schutz der Menschenrechte und der fundamentalen Freiheiten“ in nationales Recht überführt. Zu diesen Freiheiten gehört die Religionsfreiheit. Die anglikanische Staatskirche hat keinen Einfluss auf die Politik. Sie prägt jedoch viele Aspekte des sozialen Lebens. Die Bildungsgesetze von 1944 und 1988 machen z. B. den christlichen Religionsunterricht zu einer Pflicht. Die anglikanische Eheschließung wird offiziell anerkannt. Katholiken und Juden haben ähnliche Privilegien. Der Islam wurde dagegen erst 1998 mit der Anpassung an den europäischen Standard den anderen Religionen gleichgestellt. Ralph Ghadban
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3.3 Muslime und Staat
3.4 Muslime und Gesellschaft
[...] Muslimische Einwanderer aus dem indischen Subkontinent kamen in den fünfziger Jahren als Bürger des Commonwealth und erlangten durch Registrierung die britische Staatsbürgerschaft. Sie wurden zu Staatsbürgern mit Wahlrecht, ohne dass von ihnen eine Integration verlangt wurde. Das war ein normaler Vorgang, weil die Staatsbürgerschaft in Großbritannien nicht die Zugehörigkeit zu einem auf einer gemeinsamen Nationalität basierenden Nationalstaat bedeutet, sondern die Zugehörigkeit zu einem Staat mit mehreren Nationalitäten: Schotten, Waliser, Iren und Engländer. Das britische System sucht keine Assimilation der Staatsbürger, sondern begünstigt ein Nebeneinander der politischen Identitäten. Auf diese Weise konnten die Muslime ohne jede Störung geschlossene Gesellschaften aufbauen und im öffentlichen Raum auftreten.
Die muslimischen Gemeinden haben eine recht starke Stellung. Ursache dafür ist das dezentrale System, das von dem Nebeneinander von Gemeinschaften geprägt ist. Die wenigen nationalen Gesetze des Parlaments lassen die Fragen des Alltags offen. Diese werden auf lokaler Ebene unter Berücksichtigung des Gewohnheitsrechtes gelöst. Die kommunalen Behörden haben weitgehende Befugnisse in Fragen der Bildung, der Wohlfahrt, der Wirtschaft, der Gesundheit und des Städtebaus. Viele Muslime haben sich auf lokaler Ebene in Vereinen, überwiegend in Moscheevereinen (circa 500 in den achtziger und 900 in den neunziger Jahren), organisiert. Sie konnten schon vor 1980 viele ihrer Anliegen in zahlreichen Kommunen und Städten durchsetzen, wie islamische Friedhöfe und Bestattungen. Die Moscheen gehören seit 1947 zum Stadtbild. Selbst die islamische Eheschließung wird offiziell anerkannt, wenn ein Staatsbeamter ihr beiwohnt.
Ab 1962 wurde der Zuzug aus dem Commonwealth erschwert. Gleichzeitig entstanden die ersten Gesetze zur Förderung der Minderheiten. Ethnische Minderheiten erhielten Sonderrechte, z. B. einen bestimmten Anteil an den Angestellten einer Gemeinde- oder Stadtverwaltung oder besondere Zuschüsse des Staates. Hierdurch wurde ein Aufspaltungsprozess in der Gesellschaft angestoßen, eine Spaltung in „communities“. Diese Politik band die Menschen enger an ihre Gemeinschaften und begünstigte den Aufbau von Parallelgesellschaften neben der Mehrheitsgesellschaft. Mit der Anpassung an den europäischen Standard im Jahre 1998 erfuhr die Religion mehr Anerkennung, und der Islam wurde dem Katholizismus und dem Judentum gleichgestellt. Islamische Schulen und Seelsorger wurden anerkannt. Bei der Volkszählung von 2001 wurde eine Frage über die Zugehörigkeit zum Islam eingefügt. Der Islam als Kategorie setzte sich langsam neben der Kategorie Ethnie durch. Ralph Ghadban
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In den achtziger Jahren beteiligte sich die zweite Generation der muslimischen Einwanderer an der Politik und forderte die Anerkennung einer islamischen Identität. Angehörige dieser Generation versuchten offen politischen Druck auszuüben. Diese Entwicklung fiel mit dem Aufkommen des Islamismus nach 1979 zusammen. Schon 1984 wurde eine Charta veröffentlicht, die im Familienrecht die Einführung der Scharia verlangte. Mit der Rushdie-Affäre 1989 wurde ein Teil der Muslime politisiert, und das Bewusstsein einer gemeinsamen islamischen Identität wuchs. Die öffentlich geäußerten, extrem antiwestlichen Gefühle eines Teils der Muslime, ihre Begrüßung der Fetwa (Fatwa) von Ajatolla Khomeini, die den Mord an Salman Rushdie verlangte, führte zu einer Polarisierung, die mit der Einberufung eines „islamischen Parlaments“ von einer Gruppe von Muslimen als Gegenstück zum britischen Parlament einen Höhepunkt erreichte. Das „Parlament“ beabsichtigte eine islamische kommunitaristische Enklave auf britischem Boden zu bilden, Integration und Assimilation zu bekämpfen und auf lange Sicht die Nichtmuslime zu bekehren.
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eines Teils der Muslime im Golfkrieg ` vonDie1991Haltung ließ die Briten an ihrer Loyalität zweifeln. Der Multikulturalismus, der eigentlich eine Chance für die Integration sein sollte, wurde wegen seines kom-
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munitaristischen Charakters zu einem Haupthindernis. Er stärkte den Separatismus. Mit der Verschärfung der Migrations- und Ausländergesetze näherte sich Großbritannien dem „europäischen Standard“ an. Ralph Ghadban
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3.5 Moscheen
Die Baitul Futuh Moschee in Südlondon ist die größte Moschee Westeuropas. Foto: © picture-alliance / dpa/dpaweb
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3.6 Britische Muslimorganisationen von nationaler Bedeutung ■ Muslim Council of Britain Hinweis: Unter „www.gwdg.de/~arabsem/katalog2.htm - 101 K“ findet sich im Internet eine Liste von Internetseiten, welche eine sehr umfangreiche Übersicht über die derzeitige Präsenz westeuropäischer islamischer Organisationen im Internet gibt.
■ Association of British Muslims ■ Association of Muslim Schools ■ Muslim Educational Trust ■ The Islamic Foundation Zusammenstellung Wolfgang Böge
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3.7 Wahlkreise mit der größten muslimischen Bevölkerung
(Wahlkreise) Abb: © Muslim Population data source: Muslim Council Britain Research Department, http://www.votesmart.org.uk/tentopH.htm
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3.8 Die Verteilung der muslimischen Bevölkerung in London
Abb: © Webstar’s Data Service (2001 Census), http://data.webstar.co.uk
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3.9 Islam in Großbritannien 3.9.1 Muslime im säkularen Rechtsstaat – zur Diskussion in Großbritannien Der Muslim Council of Britain (MCB – Muslimischer Rat Großbritanniens) ist eine nationale Dachorganisation, die die britischen Muslime vertritt und betreut. Er ist nicht die einzige Organisation dieser Art, sondern eine von mehreren. Der MCB hat jedoch aus zwei Gründen eine besondere Position: Erstens ist er mit seinen über dreihundert Mitgliedsorganisationen die größte Vertretung, und zweitens ist er demokratisch konstituiert. Die führenden Vertreter und die Exekutive des MCB werden gewählt, arbeiten nach festen Regeln und sind den Mitgliedern gegenüber voll rechenschaftspflichtig. Im Ergebnis ist der MCB vermutlich Großbritanniens prominenteste muslimische Vertretung. Obwohl unser Hauptanliegen das Wohl der in Großbritannien lebenden Muslime ist, glauben wir, dass wir uns für das Erreichen dieses Ziels für die gemeinsamen Werte unserer Gesellschaft als Ganzes einsetzen müssen. Es ist das Wohl aller Briten, das uns angeht, ob sie nun gläubig sind oder nicht. Unser Ansatz kann in dem Begriff „konstruktives Engagement“ zusammengefasst werden. Wir glauben, dass wir mehr erreichen können, wenn wir uns in eine offene Gesellschaft einbringen und in ihr eine aktive Rolle als verantwortliche und betroffene Bürger spielen, als wenn wir abseits stehen. Mehr noch, wir betrachten dies als eine religiöse und soziale Pflicht. Obgleich Muslime seit ungefähr vierhundert Jahren in Großbritannien leben, haben sie sich doch erst in den letzten fünfzig Jahren in großer Zahl und auf Dauer auf dieses Land eingelassen. Heute gibt es anderthalb bis zwei Millionen Muslime in Großbritannien. Genauere Angaben können vor der Veröffentlichung der Ergebnisse der letzten Volkszählung Ende des Jahres nicht gemacht werden. Zwei Drittel der britischen Muslime stammen vom indischen Subkontinent. Der Rest umfasst Menschen afrikanischer, ara42
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bischer, türkischer und zunehmend europäischer Herkunft, letztere vor allem aus der Balkanregion. Zu dieser Aufzählung muss natürlich die steigende Zahl Konvertierter hinzugerechnet werden, zu denen Menschen sowohl schwarzer als auch weißer Hautfarbe gehören. [...] Es ist [...] angemessen [...], Großbritannien als multikonfessionelle und multikulturelle Gesellschaft zu betrachten. In diesem Zusammenhang kann auch die Säkularität als eine Glaubensrichtung für Einige gesehen werden. Die Integration steht in Großbritannien gegenwärtig im Brennpunkt vieler Debatten. Obwohl dies Immigranten und Asylsuchende im Allgemeinen betrifft, liegt das Hauptaugenmerk doch auf den Muslimen. Vieles war auch eine Reaktion auf bestimmte Ereignisse, denn meiner Meinung nach wird die Diskussion um die Integration der Muslime im Vereinigten Königreich von drei kritischen Ereignissen bestimmt: die mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Geschehnisse um die Satanischen Verse, die Unruhen des letzten Sommers in einigen Städten des Nordens – Bradford, Burnley und Oldham – und schließlich der Terroranschlag des 11. September und seine Nachwirkungen. Jede dieser Krisen führte dazu, dass scheinbar gegensätzliche, die Muslime und die breite britische Öffentlichkeit trennende Werte, Glaubensvorstellungen und Praktiken ins Rampenlicht gerückt wurden. Presseberichte über britische Muslime, die an der Seite der Taliban gegen britische Truppen kämpften, erregten dabei besondere Empörung und Bestürzung. Diese Berichte stellten sich später als sehr übertrieben heraus, denn es handelte sich bei diesen Kämpfern um eine kleine Handvoll Extremisten, die auf der Grundlage einer völlig falschen Auslegung des Korans handelten. In keinem der drei genannten Beispiele ist Integration – oder ihr Fehlen – der eigentliche Grund oder ergibt eine befriedigende Lösung. Die Unruhen des letzten Sommers hatten mehr mit Armut, Diskriminierung und Rassismus zu tun als mit religiöser und kultureller Integration. Wir können jedoch davon ausgehen, dass Integration im Großen und Ganzen ein positives Phänomen ist, welches dem Zusammenhalt der Gesellschaft nützt und aus diesem Grunde unsere Unterstützung verdient. Mohibur Rahman: in: www.bpb.de/veranstaltungen/ 7M05CE,0,0,Muslime_im_säkularen_Rechtsstaat_zur_Diskussion_in_Großbritannien.html
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` 3.9.2 Hoffnungen und Probleme
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Ist der Islam unvereinbar mit einer multikulturellen Demokratie? Häufig wird darauf hingewiesen, dass nur wenige muslimische Gesellschaften demokratisch sind, und daraus wird dann der Schluss gezogen, der Islam an sich müsse undemokratisch sein. Dann wird die muslimische Rhetorik herangezogen, die voller Hasstiraden auf den Westen sei, woraus man folgert, Moslems können keine guten Bürger westlicher Demokratien sein. Großbritannien, wo ca. 1,6 Millionen Moslems bei einer Gesamtbevölkerung von 58,7 Millionen leben, ist sehr gut geeignet, um diese Ansichten zu testen. Drei Viertel der britischen Moslems stammen aus dem indischen Subkontinent, viele aus ländlichen Gegenden in Pakistan und Bangladesh. Dies ist ein wichtiger Faktor, denn nicht wenige Schwierigkeiten dieser Menschen bei der Ansiedelung sind nicht religiösen Ursprungs, sondern rühren daher, dass sie mit dem modernen Leben nicht vertraut sind. [...] die Gegenwart der Moslems in der britischen Gesellschaft bringt andere Herausforderungen mit sich. Zunächst wäre da der „Konflikt der Praktiken“, der sich ausdrückt in Forderungen, dass muslimische Schulkinder Halal-Fleisch essen müssen, im muslimischen Kleidungscode, der Gebetszeit, der weiblichen Beschneidung, Polygamie und arrangierten Hochzeiten. Die weibliche Beschneidung und Polygamie sind verboten, was von den Moslems akzeptiert wird. Moslems respektieren auch im Allgemeinen „westliche Werte“ wie Gleichheit, Redefreiheit, Toleranz, friedliche Konfliktlösung und den Respekt von Mehrheitsentscheidungen. Die Gleichheit unter den verschiedenen Ethnien hat als Wert und Praxis in der moslemischen Kultur einen hohen Stellenwert. Die Gleichheit der Geschlechter stellt das größte Problem dar – ganz besonders, weil muslimische Mädchen in Großbritannien sie immer häufiger für sich in Anspruch nehmen. Gleichermaßen haben die britischen Moslems nach einigen Debatten weitgehend akzeptiert, dass sie Großbritannien uneingeschränkte Loyalität schulden. Es ist allerdings nicht umfassend geklärt, was sie zu tun haben, wenn die Ansprüche des Staates mit
Finsbury Park Moschee, London. Bei der Durchsuchung der Moschee durch die Polizei wurden Waffen sichergestellt. In der Moschee hatte ein Imam jahrelang Hass auf alles Westliche gepredigt – Red. Foto: © AP, Richard Lewis
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der Umma (der weltweiten Gemeinschaft des ` denen Islam) in Konflikt geraten. [...] Moslems beteiligen sich mit großem Interesse an öffentlichen Debatten und ihre Wahlbeteiligungsquote unterscheidet sich nicht so sehr von der der restlichen Bevölkerung. Es gibt auf lokaler Ebene 150 muslimische Stadträte und acht Bürgermeister, etwas weniger als bei anderen ethnischen Minderheiten, aber nicht in alarmierendem Maße. Vier Moslems sind Mitglieder im britischen Oberhaus und drei im Unterhaus, das ist wiederum mehr als bei einigen anderen ethnischen Minderheiten.
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Der Islam und Europa haben lange Zeit ihre Identitäten gegenseitig geformt. Jeder ist der „andere“ für den anderen gewesen und die manchmal freundlichen, manchmal feindlichen Beziehungen haben sie tiefer miteinander verbunden, als beide wahrhaben. [...] mit der Ausnahme von Spanien und Teilen Osteuropas haben [Islam und Europa – Red.] bis vor sehr kurzer Zeit ein sehr distanziertes Verhältnis [innerhalb – Red.] und außerhalb der europäischen Grenzen gehabt. Sie müssen nun neue Wege der Koexistenz und der Kultivierung gegenseitigen Einvernehmens finden. Die britische Erfahrung zeigt, dass es gute Gründe gibt, optimistisch zu sein. Bhikhu Parekh, aus dem Englischen von Eva Breust. Projekt Syndicate/Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Juli 2003
Moschee Evington Road/Stoughton Road North. Das Bild der Städte wird verändert durch die neue Verwendung alter Gebäude oder durch neue Konstruktionen – Red. Foto: © University of Leicester, Marc Fitch Historical Institute, www.le.ac.uk/elh/pot/shstour/islam.html
Formell und informell wird der Islam immer mehr in einer Weise interpretiert, die ihn an die zentralen Werte der britischen Demokratie annähert. Ein britischer Islam ist dabei, zu entstehen, wie auch Frankreich, Deutschland, die Niederlande und Spanien ihre eigenen Formen des Islam hervorbringen. Das Hauptproblem für Moslems ist nicht die Demokratie, sondern die Einfügung in eine multikulturelle Gesellschaft. Moslems sind von der absoluten Überlegenheit des Islam überzeugt, daher beziehen sie sich fortwährend auf ihn, hegen den verzweifelten Wunsch, vergangenen Ruhm wieder aufleben zu lassen, und sind verpflichtet, die Gläubigen anderer Religionen zum Islam zu konvertieren. Moslems können nicht-moslemische Frauen heiraten, erlauben es anderen aber nicht, ihre Frauen zu heiraten, und sie erwarten von denjenigen, die in den Islam einheiraten, dass sie konvertieren. [...] Die Haltung der Moslems gegenüber der kulturellen Vielfalt ist also einseitig. 44
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Anm.: Bhikhu Parekh ist Centennial Professor an der London School of Economics, Mitglied des britischen Oberhauses für die Labour Party und Präsident der Akademie der sozialwissenschaftlichen Verbände. Diese Kolumne entstand aus einer unabhängigen Arbeitsgruppe, die vom Präsidenten der EU-Kommission, Romano Prodi ernannt wurde, um die langfristigen geistigen und kulturellen Perspektiven des erweiterten Europa zu untersuchen.
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3.10 Integration in Großbritannien Es gibt [...] bedeutende Unterschiede in der Art und Weise, wie Integration in Großbritannien praktiziert wurde. Doch insgesamt gesehen kann man doch sagen, dass der Integrationsprozess in Großbritannien weiter fortgeschritten ist als in anderen Ländern des europäischen Kontinents. Das ist vor allem auf vier Schlüsselelemente zurückzuführen, die alle zusammen die Integration befördert haben.
Großbritannien: Vier integrationsfördernde Schlüsselelemente Das erste Element betrifft die unabdingbaren Voraussetzungen. Im Großen und Ganzen haben britische Muslime einen angemessenen Zugang zu den
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Institutionen und Diensten wie ` lebensnotwendigen z. B. Moscheen und geschächteten Nahrungsmitteln. Es gibt keine prinzipiellen Barrieren gegen die Ausübung ihrer Religion, wozu auch das Recht gehört, den „hijab“ [Kopftuch, Schleier – Red.] zu tragen. Auch in den staatlichen Einrichtungen, von Krankenhäusern bis zu Strafanstalten, ist für die religiösen Belange der Muslime gesorgt. Das zweite Element ist die starke Kultur einer von den Muslimen im Laufe der Jahre entwickelten Zivilgesellschaft. Es gibt muslimische Zeitungen – Muslim News zum Beispiel ist die am meisten gelesene unter ihnen, wobei noch eine ganze Reihe anderer Titel zu nennen wären. Es bestehen muslimische Gesellschaftsklubs, Interessenverbände, Lobbyisten-Gruppen, gemeinnützige Verbände und so weiter, die sich der materiellen und geistigen Bedürfnisse der Muslime annehmen. Außer den Institutionen existieren viele Freiwilligen-Netzwerke, die sich in den Dienst verschiedener Anliegen stellen, ob sie nun Schulkindern bei ihren Hausaufgaben helfen oder junge Menschen beim Eintritt in den Arbeitsmarkt unterstützen. Dieses reiche soziale Netzwerk wird zum größten Teil durch gemeinnützigen Einsatz und Spenden getragen und knüpft an eine Kultur der Selbsthilfe an, die den Aufbau und den Erhalt starker und lebendiger Gemeinschaften fördert und ihre Möglichkeiten vergrößert. Das dritte Element zielt direkt auf den Hauptunterschied zwischen Großbritannien und Deutschland. Die große Mehrheit der britischen Muslime sind nicht nur Bewohner, sondern Staatsbürger Großbritanniens. Die Auswirkungen dieses Unterschieds gehen über die juristischen und politischen Rechte hinaus, die eine Staatsbürgerschaft mit sich bringt. Sie bewirken, dass diese Muslime zu Großbritannien gehören – Großbritannien ist ihre Heimat. Ihre juristischen und politischen Rechte sind umfangreich, und als Wähler können Muslime mit der Aufmerksamkeit der Politiker rechnen – zumindest in Zeiten von Wahlen. Und auch wenn noch viel zu tun bleibt, gibt es doch in jüngster Zeit einige positive Entwicklungen. Seitdem 1997 die Labourpartei die Regierung gestellt hat, gibt es die ersten muslimischen Abgeordneten – gegenwärtig zwei – im Unterhaus. Außerdem haben die Konservativen auch einen muslimischen Abgeordneten ins Europaparlament entsandt. Und im [Oberhaus – Red.]
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sitzen mehrere muslimische Peers. Hinzu kommt natürlich, dass die Muslime während der langen Geschichte ihrer Mitarbeit in den verschiedenen lokalen Gremien im ganzen Land Erfahrungen sammeln konnten.
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Foto: © www.derbyshireuk.net/index.html
Muslimische Stimmen sind nicht nur in lokalen und nationalen Entscheidungsgremien zu vernehmen, sondern Regierung und Oppositionsparteien stehen ebenfalls in regelmäßigem Kontrakt mit muslimischen Organisationen und interessieren sich für ihren Standpunkt zu einem weiten Themenfeld. [...] Schließlich können auch kulturelle Faktoren eine Integration fördern. Es gibt eine ganze Reihe von muslimischen Prominenten, die Einfluss auf die Menschen haben. Denken wir nur an Yusuf Islam, den früheren Popstar Cat Stevens, an Shami Ashmed, Inhaber des bekannten Modelabels Joe Bloggs, und an all die Sportler wie den Boxer Prince Naseem Hamed und Nasser Hussain, den Kapitän der englischen Kricketmannschaft. Auch die Medien überraschen immer wieder mit ihrer fairen und ausgewogenen Berichterstattung. Sowohl die BBC als auch der Guardian (das führende Blatt der gemäßigten Linken) widmeten kürzlich den Muslimen eine Serie, die ein abgerundetes Bild von der muslimischen Gemeinschaft zeichnete und die positiven Seiten des Lebens als Muslim wie auch die vielen Hindernisse darstellten, denen Muslime begegnen und die sie in eine im Vergleich zur restlichen Gesellschaft benachteiligte Lage bringen. Dies ist bei weitem keine erschöpfende Liste, doch sie gibt hoffentlich einen Überblick über die Gründe, warum Integration in Großbritannien relativ
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war. Dennoch heißt das nicht, dass in ` erfolgreich Großbritannien alles perfekt ist. Es bestehen nach wie vor große Hindernisse für eine bessere Integration. [...] [Z. B. die fortbestehende religiöse Diskriminierung und insbesondere die relative Armut eines größeren Teils der Zuwanderer aus Pakistan und Bangladesh – Red.] Die größte Herausforderung für die muslimische Gemeinschaft ist es, aktiver zu leben und die durch ihren Glauben gesetzten Standards gewissenhafter einzuhalten. Dazu muss man die Bereiche aufzeigen, in denen die muslimische Lebenspraxis nicht ausreichend berücksichtigt wird. Das betrifft zum Beispiel die Fälle, in denen Frauen die ihnen zustehenden Rechte nicht gewährt werden, weil kulturelle Vorbehalte der religiösen Lehre entgegenstehen. Dazu gehört auch, dass man sich Extremisten offen entgegenstellt, die die Botschaft des Islam absichtlich entstellen; es muss mehr getan werden, damit die Imams die westliche Gesellschaft verstehen und aus ihr kommen. Demokratie und Toleranz müssen gestärkt und mehr Initiativen ergriffen werden, um das gegenseitige Verstehen, den Dialog und die Kooperation mit der Gesellschaft insgesamt zu fördern. Mohibur Rahman, in: www.bpb.de/veranstaltungen/7M05CE,0,0,Muslime_im_säkularen_Rechtsstaat_zur_Diskussion_in_Großbritannien.html, 18. 4. 2003
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3.11 Identität Die Herausforderung für nichtmuslimische Gemeinschaften besteht darin, Muslimen das Gefühl zu geben, sich in Großbritannien zu Hause zu fühlen. Das erfordert, dass man sein Verständnis und seine Toleranz gegenüber Unterschieden offen zeigt, die zahlreichen positiven Beiträge, die der Islam und die Muslime in Europa im Allgemeinen und in Großbritannien im Speziellen geleistet haben, anerkennt. Man muss sich darüber klar werden, dass Extremisten nur für sich selbst sprechen und nicht für die große Mehrheit der muslimischen Gemeinschaften, und zur Kenntnis nehmen, dass wir in einer zunehmend engeren Welt mit vielfältigen Identitäten leben, was uns bereichert und im Ergebnis zu einem interessanteren Volk 46
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macht. Der Integrationsprozess in Großbritannien hat sich zu großen Teilen organisch entwickelt. Wir sind in Großbritannien nicht den Weg gegangen, in einem schriftlichen Dokument eine Erklärung über unsere Loyalität und unsere Werte abzugeben. Unser Ansatz gleicht dem der englischen Verfassung - auch sie ist ungeschrieben. Wir bevorzugen die Flexibilität, die uns dieser Ansatz in einer sich immer wieder verändernden Welt gibt. [...] Staatsbürgerschaft und Integration sind nicht nur einfach gesetzlich festgelegte Rechte, sondern sie beinhalten durchaus reale und stark emotionale Komponenten. Staatsbürgerschaft bedeutet Zugehörigkeit, sie bewirkt, dass man sich als Brite oder Deutscher fühlt, unabhängig von der Frage, welches Land den Pass ausstellt. Die emotionale Verbundenheit mit diesem Land [...] lässt sich in keinem geschriebenen Dokument festhalten oder fördern. Sie muss frei entstehen und aus dem Schoß der Gesellschaft kommen. Sie ist ein Produkt des freien menschlichen Geistes. [...] Wir sind Briten, und wir sehen keinen Grund, unsere Nationalität oder Religion zu erklären oder sie zu rechtfertigen. [...] Mohibur Rahman, in: www.bpb.de/veranstaltungen/7M05CE,0,0,Muslime_im_säkularen_Rechtsstaat_zur_Diskussion_in_Großbritannien.html, 18.4.2003
Anm.: Mohibur Rahman ist Berater im Generalsekretariat des Muslim Council of Britain (MCB) und Forscher am „New Policy Institute“ in London. Von 1998–2002 war er Vorsitzender des Public Affairs Committee des MCB und von 1996–1997 Präsident der „Federation of Students Islamic Societies“ in Großbritannien und Irland. Mohibur Rahman absolvierte ein Studium der Politikwissenschaften am Queen Mary & Westfield College der Londoner Universität sowie der Ökonomie an der “London School of Economics and Political Science“ (www.mcb.org.uk).
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Englische Grundschüler in Schuluniform
Foto: © picturealliance
Muslimische Kinder in England
Foto: © AP, Ben Curtis
Prinz Charles im Gespräch mit dem muslimischen Schüler Abdullah Ozpalas, 10, während seines Besuchs der Suleymaniye Moschee in Ost-London (28.9.2001). Foto: © AP, Frank Barret
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3.12 Wie funktioniert der britische Kommunitarismus? In Dudley, einem Vorort Birminghams, [hatte] die [...] muslimische Vereinigung 1977 mit Mitteln eines kuwaitischen Spenders der Kirche von England ein Schulhaus abgekauft, das sie in eine Moschee und ein Gemeindezentrum umwandelte. Dort werden sämtliche Bedürfnisse der muslimischen Bevölkerungsgruppe, einer von der Geburt bis zum Tod zusammengeschweißten Gemeinschaft, erfüllt – vom halal-Kinderhort [halal: den muslimischen Speisevorschriften entsprechend] bis zu einem Leichenschauhaus, in dem die islamischen Normen gelten. Die eigentliche Moschee wird ebenso wie die religiöse Unterweisung der Kinder durch Spenden der Gläubigen finanziert; davon ausgenommen ist der Minibus, der die Schüler zum Unterricht bringt, und einschließlich der Entlohnung für den Chauffeur aus öffentlichen Mitteln subventioniert wird. Die karitativen Dienstleistungen des Zentrums bezahlen der Staat (zu 75 Prozent) und die Gemeinde; einer der Angestellten – der übrigens Stadtrat ist – hat die Aufgabe, den Bedürfnissen und speziellen Forderungen der muslimischen Gemeinschaft in allen Bereichen, die etwas mit der Rechtssprechung, der Einwanderung und so weiter zu tun haben, Gehör zu verschaffen. Ein anderer, für das Schulwesen zuständiger Angestellter erklärt den Lehrkräften die islamischen Regeln, an die sich die Schüler, insbesondere die Mädchen, halten müssen. Da sie sowohl die englische wie auch die jeweilige Muttersprache der Eltern beherrschen, die selbst oft kaum Englisch sprechen, kommt ihnen eine entscheidende Rolle als Vermittler zu. 1993 ist der für die Abteilung für Rassenbeziehungen in der Stadtverwaltung von Birmingham zuständige Beamte ein ehemaliger Sekretär des Komitees der Moschee von Dudley: Auf diese Weise kann die islamische Gemeinschaft direkten Einfluss auf die für die Minoritäten zuständigen städtischen Stellen nehmen. G. Kepel: Allah im Westen, Die Demokratie und die islamische Herausforderung, München 1996, S. 166.
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3.13 Muslime – die neue Unterklasse Mit Multikulti probierten es die Briten. Anfangs erfolgreich. Jetzt spüren sie schmerzhaft die Grenzen dieses Konzepts Wie ein riesiges Mahnmal stehen die Manningham Mills auf dem zentralen Hügel der 500 000-Einwohner-Stadt Bradford. Einst war die Spinnerei die größte in Nordengland, die gigantischen Backsteinbauten symbolisierten Wohlstand und Weltoffenheit. Einwanderer aus dem Grenzgebiet zwischen Pakistan und Indien, aus Bangladesch und der Karibik fanden hier Arbeit. Sie zogen in Siedlungen, wo der Weg zur Arbeit kurz, die Mieten niedrig waren. Heute gehören rund 100 000 Einwohner der Stadt zu den so genannten sichtbaren ethnischen Minderheiten, mehr als 80 000 sind Muslime aus Pakistan und Bangladesch. „Bradford war Paradebeispiel für eine multikulturelle Stadt“, sagt Police Officer Martin Baines, zuständig für Rassenbeziehungen. Hier konnte anscheinend jeder sein, konnte aussehen wie und glauben, was er wollte. Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten Schülerinnen mit Kopftuch, Streifenpolizisten tragen Turbane, wenn sie Sikhs sind, und seit kurzem Kopftücher mit Karo-Rand, wenn sie Muslimas sind. 1984 führten Schulen geschächtetes Fleisch ein, 1985 wurde der erste pakistanische Bürgermeister gewählt. Die Stadt hat zahlreiche muslimische Schulen, etwa 100 Tempel und Moscheen. Eine der größten steht vor den Manningham Mills. Doch wie die Fabrik auf dem Hügel verfällt Bradfords Image als friedliche, multikulturelle Stadt. Seit 1989 Muslime auf den Straßen den Roman „Die satanischen Verse“ des britisch-indischen Autors Salman Rushdie verbrannten, 1995 Rassenunruhen die Stadt erschütterten und sich die Szenen von Straßenschlachten, brennenden Barrikaden und geplünderten Läden im Sommer 2001 wiederholten, sind die Probleme offensichtlich. Der Ouseley-Report, kurz nach den Unruhen 2001 erschienen, zeichnet ein düsteres Bild: eine Stadt, gespalten durch rassische, ethnische, religiöse und soziale Unterschiede, in der Menschen in abgeschotteten
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Doch seit dem 11. September sei es schwieriger geworden, sagt Khaliq. Vorher spalteten Erfolg und Nichterfolg, Vermögen und Armut die Gesellschaft, jetzt gehe es um Religion. „Seit dem 11. September scheint der Islam darin zu bestehen, dass man sich selbst und andere Menschen in die Luft jagt. Die Christen sehen den Islam als Bedrohung, und die Muslime sagen, die Christen unterdrückten sie.“
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Sabine Fiedler: Muslime – die neue Unterklasse, in: Stern 15/2004
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3.14 Islamisches Gewand in Schule unzulässig Gerichtsurteil in London / „Labour wird Recht auf Kopftuch schützen“
Brennende Autowracks, aufgebrachte Jugendliche: Rassenkrawalle in Bradford Foto: © dpa, Owen Humphreys
Welten leben. Muslime rücken in Arbeitervierteln zusammen, aus denen Weiße, Hindus und Sikhs ausziehen. „In den Ghettos“, sagt Ghazanfer Khaliq, muslimischer Stadtrat, „ist die Arbeitslosigkeit dreimal so hoch wie in den weißen Vierteln. Die Muslime sind die neue Unterklasse Großbritanniens.“ Hindus und Sikhs schneiden in der Bildungsstatistik besser ab, kriegen bessere Jobs und Wohnungen, obwohl sie einst aus denselben ländlichen Gegenden kamen. Teils, sagt Khaliq, seien die Muslime selbst schuld: „Die Inder haben Ende der sechziger Jahre begriffen, dass sie hier leben. Beide Ehepartner arbeiteten, sie investierten in ihre Kinder. Sie haben Töchtern und Söhnen erlaubt, sich zu bilden. Die Muslime liegen im Vergleich zu den Indern immer noch 20 bis 30 Jahre zurück.“ Denn viele muslimische Kinder lernen erst in der Schule Englisch, dazu nachmittags arabische Koranverse und müssen die im Unterricht geforderten Fremdsprachen beherrschen – und sind überfordert. Die Stadt setzt auf Partner-Programme, in denen sich Kinder aus verschiedenen Kulturen kennen lernen, und auf massive Aufklärung.
London, 15. Juni. Eine 15 Jahre alte muslimische Schülerin, die das Recht auf ein körperlanges Schulgewand nach islamischer Vorschrift erstreiten wollte, hat ihren Fall verloren. Der High Court in London, die höchste Instanz in England und Wales unterhalb des Oberhauses, hat am Dienstag gegen sie entschieden. Ihre Anwältin sagte, man werde jetzt die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und andere Wege prüfen. Dieser Streit geht nicht um das Kopftuch wie jüngst in Frankreich, sondern um ein talarähnliches Kleidungsstück für Frauen namens Dschilbab. Es reicht bis zu den Füßen und bedeckt Arme und Beine. Das hatte die Schülerin Shabina Begum zum Unterricht in ihrer staatlichen höheren Schule in Luton tragen wollen. Als die Schulleitung das nicht erlaubte, hatte die Schülerin die Anstalt im September 2002 aus Protest verlassen und ist bis heute nicht zurückgegangen. Nach der Gerichtsentscheidung sagte ein Sprecher der Schule, jetzt sei vor allem wichtig, die Schülerin wieder in den Unterricht zu integrieren. Die „Denbigh High School“ hat rund 1 000 Schülerinnen und Schüler, 80 Prozent von ihnen sind Muslime. Während der gerichtlichen Auseinandersetzung hatte die Schule den Vorwurf der Diskriminierung zurückgewiesen. Sie biete muslimischen Schülerinnen schon eine geänderte Schuluniform, die ihren kulturellen Vorstellungen entspreche. Das volle Dschilbab sei zu-
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3.15 Schweinchen-Abenteuer und muslimische Gefühle
Schülerin verliert im Prozess um ihr islamisches Gewand: Shabina Begum wollte einen langen Hijab-Schleier und ein völlig einhüllendes Gewand in der Schule tragen Foto: © BBC
dem ein „Sicherheits- und Gesundheitsrisiko“. In Großbritannien gibt es ungefähr 80 muslimische „Konfessions“-Schulen in privater Trägerschaft; fünf von ihnen haben sich für staatliche Finanzierung qualifiziert. Vor einer Woche hatten muslimische Erziehungsfachleute wieder einmal gefordert, das Erziehungssystem müsse sich mehr den Bedürfnissen muslimischer Schüler anpassen. Sie meinten nicht nur Änderungen der Lehrpläne, etwa die Einführung eines auf islamische Interessen zugeschnittenen Abschlusses und Sprachunterricht in Arabisch, Bengali, Hindi oder Urdu, sondern auch eine Abkehr von der Koedukation, Verzicht auf Schweinefleisch in der Kantine und besseren Schutz der Privatsphäre in Umkleideräumen. Nach den Rassenunruhen der letzten Jahre hatte ein Parlamentsausschuß befunden, muslimische Schulen verhinderten die gesellschaftliche Integration. Hr: Islamisches Gewand in Schule unzulässig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.6.2004
Anm.: In Großbritannien gibt es Polizistinnen mit Kopftuch, Krankenhaus-Ärztinnen mit Kopftuch und Sonderregelungen für Sikhs.
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In einer englischen Grundschule dürfen keine Schweinchen-Geschichten mehr vorgelesen werden: Denn die Direktorin befürchtet, dass die Gefühle muslimischer Kinder verletzt werden könnten. Nach ihren Erfahrungen betrachten Muslime Schweine als unrein. Doch selbst der Dachverband der britischen Muslime setzt sich nun für Schweine-Abenteuer ein. Die Schulleiterin hatte den Lehrern verboten, im Unterricht etwa Geschichten von den drei kleinen Schweinchen oder dem „Schweinchen namens Babe“ zu lesen. „Alles was wir versuchen, ist, sicherzustellen, dass alle unsere Schüler mit Respekt behandelt werden“, sagte die Direktorin. Inayat Bunglawala vom Dachverband der britischen Muslime sagte, das Verbot sei gewiss „gut gemeint“. Doch aus dem Koran lasse sich ein Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch gar nicht ableiten. Viele Geschichten von Schweinen vermittelten Werte, die alle großen Religionen gemein hätten. Deshalb könne das Verbot aufgehoben werden. Britische Schule verbietet Schweinchengeschichten, in: Südwest Presse, 5.3.2003
Anm.: Traditionsbewusst lebende muslimische Gläubige verzehren kein Schweinefleisch, da es als unrein gilt. (Red.)
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3.16 Ein Gegenentwurf Der Islam – die Zukunft Europas? Der Verfasser des nachfolgenden Textes, Musa Salim, leitet in London ein (islamistisches) „Islam-Zentrum“ Die Öffentlichkeit [der europäischen Länder] hat vom Islam nichts zu befürchten. Denn unter seinem Einfluss wird die Kriminalitätsrate sinken, der Zinswucher aufhören, das AIDS-Risiko verschwinden, werden
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3.17 Zum Verhältnis der Religionen Abdal-Hakim Murad, aus einer Rede:
An Hizb ut-Tahrir (The Liberation Party) Islamic political party's International Conference entitled „Beyond September 11th : The Role of Muslims in the West“ is in session at the London Arena, Docklands, London, Sunday, Sept. 15, 2002 Foto: © AP, Sang Tan
sich Recht und Ordnung durchsetzen – alles wird besser werden. Deutlich schlechter geht es nur Geldverleihern, Steuerflüchtlingen und jenen Politikern, die vorgeben, den Massen zu dienen, aber sie für dumm verkaufen. Man darf mich nicht missverstehen – der Islam ist kein Utopia. Aber er bietet ein um ein Vielfaches sicheres und besseres System an Werten und politischer Führung. Das westliche System von Demokratie, moralischem Abstieg und dem Kult des Individuums hat seinen Höhepunkt überschritten. Die Lebensphilosophie, die es vertritt, kann niemals zu einer sicheren und erträglichen Welt führen. Wie das kommunistische System, dessen Untergang schneller als erwartet kam, wird auch das westliche System untergehen. Und ich kenne kein anderes System als den Islam, das es ersetzen könnte. Immer schneller werden islamische Werte und Ideale die westliche Kultur durchdringen und schrittweise die Regierungen verändern. Ich sage voraus, dass dies innerhalb der nächsten 25 Jahre geschehen wird. [...] Soweit es in unseren Kräften steht, werden wir einen erbarmungslosen Krieg gegen den Westen und sein verrottetes System führen – aber selbstverständlich nur mit unseren Parker-Kugelschreibern. Musa Saleem: The Muslimes and the New World Order, Übersetzt von Musa Saleem, London 1993, S. 3f.
[...] Erstens ist der Islam eine universale (die ganze Welt umspannende) Religion. Trotz ihrer Herkunft aus dem Arabien des 7. Jahrhunderts ist sie überall erfolgreich, das allein ist ein Zeichen ihrer wunderbaren und göttlichen Herkunft. Zweitens sind die britischen Inseln viele hundert Jahre lang die Heimat von Leuten gewesen, deren religiöse und moralische Gesinnung dem Islam sehr nahe steht. Vom Christentum zum Islam überzutreten ist also für einen Engländer oder eine Engländerin kein riesiger Sprung, wie ein Unwissender annehmen möchte. Es ist vielmehr ganz einfach der logische nächste Schritt in der langen Geschichte unseres Volkes. Das Christentum, ursprünglich eine griechische Geheimnisreligion, die ein Verhalten gegen das natürliche Recht fordert, ist unserer nationalen Veranlagung fremd. Das Christentum ist ein exotischer Glaube, der sich zudem tödlich dadurch kompromittiert hat, dass er die unreligiöse Moderne begrüßt. Wenn wir einmal erst mit dem Islam bekannt geworden sind und uns in ihm eingerichtet haben, ist der Islam der passendste Glaube für die Briten. [...] Abdal-Hakim Murad: British and Muslim?, in: www.islamfortoday.com/murad05.htm, Übersetzung: Wolfgang Böge
Anm.: Abdal-Hakim Murad wurde 1960 in London unter einem anderen Namen geboren. Er studierte Islamwissenschaften in Cambridge und Kairo und trat zum Islam über. Heute ist er u. a. Sekretär des Muslim Academic Trust. Die Organisation „Islam for Today“ betreibt islamische Missionsarbeit. Der Text ist aus „Islam for Today“ übersetzt. Das Internetportal versteht sich selbst als Medium, „um muslimischen Extremismus zu bekämpfen“, und als „Plattform eines moderaten, die Hauptströmung der Muslime umfassenden Islam“ (About this site – www.islamfortoday.com). Prüfen Sie den Text. Vgl. Arbeitsaufgabe 6.
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3.18 Scharfmacherei und Hetze – ein Fundstück im Internet Wir sind ständig umgeben von Beeinflussung. Das ist normal und notwendig zur Meinungsbildung. Demonstranten tragen Plakate, Kommentatoren sagen uns ihre Meinung in der Zeitung, im Rundfunk oder Fernsehen. Die Schule beeinflusst, wir diskutieren untereinander usw. Zunehmend gewinnt das Internet auf diesem Feld Bedeutung. Das folgende Beispiel gilt es zu analysieren. Was wollten die Demonstranten bei der Britain Islamic Conference in London 2002 ausdrücken? Dieses Bild und andere von der Veranstaltung stehen im Internet. Warum haben Sie diese provozierenden Plakate gedruckt? Was will derjenige mit seiner Seite erreichen, der das Plakat mit dem Bild darunter verbunden hat? Welche Bedeutsamkeit haben die Worte über dem Bild? Wolfgang Böge
Das obere Bild ist ein Pressefoto (AP), das untere Bild steht nur im Internet. Im Internet findet sich diese Zusammenstellung beider Bilder Foto oben: © Press Association, London Foto unten: © www.StrangeCosmos.com , Registered@aol.com
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3.19 Reaktionen des britischen Staates 3.19.1 Briten kämpfen gegen „Flut von Einwanderern“ Für Asylsuchende aus aller Welt hatte Großbritannien lange den Ruf des gelobten Landes. Auf der Insel waren die Sozialleistungen besser, die Arbeitsmöglichkeiten günstiger und die Gefahr, abgeschoben zu werden, geringer. In einem Land, in dem es keine Personalausweise gibt, war die Chance, unterzutauchen und auf dem boomenden Schwarzmarkt Arbeit zu finden, allemal größer als anderswo. Doch die Regierung ist längst dabei, die von der konservativen Presse so bezeichnete „Flut“ einzudämmen. Unter dem Druck der Opposition, vor allem aber unter dem Eindruck der Erfolge von Rechtspopulisten in Holland und Frankreich hat die Labour-Regierung von Tony Blair damit begonnen, die einschlägigen Bestimmungen zu verschärfen. [...] sk: Briten kämpfen gegen ein Flut von Einwanderern, in: Süddeutsche Zeitung, 22.6.2002
Anm.: Die britische Regierung will die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber erleichtern und die Berufungsmöglichkeit gegen einen Ablehnungsbescheid abschaffen. (Red.)
3.19.2 London plant Test für neue Staatsbürger Ausländer, die britische Staatsbürger werden wollen, müssen künftig zumindest grundlegende Kenntnisse der englischen Sprache haben. Sie sollen in einer Prüfung auch beweisen, dass sie wenigstens in groben Umrissen über das Land Bescheid wissen, dessen Bürger sie werden. Und die Staatsbürgerschaft wird künftig in einer feierlichen Zeremonie im Standesamt verliehen, wo die neuen Bürger zuvor ein Treuegelöbnis auf den Staat, dessen Gesetze und die Königin ablegen müssen. Dies sind die wesentlichen Punkte einer neuen Einwanderungspolitik, die der britische Innenminister David Blunkett im Parlament in London vorgestellt hat. [...]
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Mit der geforderten Beherrschung der englischen Sprache begibt sich Blunkett auf Konfliktkurs vor allem mit der asiatischen Bevölkerung aus den Ländern des indischen Subkontinents. In Großbritannien leben offiziellen Angaben zufolge rund 1,8 Millionen Asiaten, vor allem aus Indien, Pakistan und Bangladesch. In vielen Fällen sprechen vor allem Ehefrauen, die im Zuge arrangierter Hochzeiten nach Großbritannien gekommen sind, kein Wort Englisch. Die Regierung sieht darin auch einen Ausdruck des Bemühens der Männer, diese Frauen im Zustand völliger Abhängigkeit zu halten. Der britische Innenminister kündigte in diesem Zusammenhang auch an, die Probezeit bis zur Anerkennung von Hochzeiten auf zwei Jahre zu verdoppeln. Von den rund 38 000 Aufenthaltserlaubnissen, die im Jahr 2000 wegen Eheschließung erteilt wurden, beruhen schätzungsweise 10 000 auf Scheinehen.
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London plant Test für neue Staatsbürger, in: Süddeutsche Zeitung/dpa, 8.2.2002
3.19.3 Tests für Imame Britische Muslime begrüßten gestern den Antrag des Innenministers David Blunkett, dass ausländische Imame und Priester einen einfachen Englischtest bestehen müssen, bevor sie die Genehmigung erhalten, in Großbritannien zu predigen. [...] In zwei Jahren soll der Test, der zur Einreise berechtigt, noch deutlich schwerer gemacht werden. Imame werden dann nachweisen müssen, dass sie auch schwierigere Texte auf Englisch lesen und schreiben können. Außerdem möchte der Innenminister sie nach einem Jahr überprüfen lassen, ob sie sich in der britischen Gesellschaft engagiert haben und ob sie sich mit anderen Glaubensvorstellungen vertraut gemacht haben. [...] Der Muslim Council of Britain [MCB] befürwortet die Einführung der Tests. „Es ist wichtig für jeden, der sich in diesem Land niederlassen möchte, auch für Imame, Kenntnis der englischen Sprache zu haben, das erleichtert nicht nur ihre Integration, sondern hilft ihnen auch im Kontakt mit der neuen Generation der in Großbritannien geborenen Muslime“, sagt Inayat Bunglawala vom MCB [...] Alan Travis: Basic tests for foreign priests, The Guardian 23.7.2004, Übersetzung Wolfgang Böge
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` 3.19.4 Einbürgerung in Großbritannien [...] Bürgerschaftsprüfungen sollen in Großbritannien im kommenden Herbst [2004] zum ersten Mal abgenommen werden. Damit werden sie zum Abschluß eines neuen Prozesses der Einbürgerung, den Innenminister Blunkett 2002 entworfen hat. Wenn die vorgeschriebenen Aufenthaltsfristen erfüllt sind und auch die Polizei nichts einzuwenden hat, kann der Einwanderer nach bestandener Prüfung den Eid ablegen. Entgegen bisheriger Tradition, nach welcher dieser Schicksalsschritt so derb und nüchtern wie möglich in Szene gesetzt wurde – die Einschwörung fand in irgendeinem Hinterzimmer statt, und der neue Untertan Ihrer Majestät bekam später mit der Post einen hektografierten Vordruck auf billigstem Papier –, soll das nun in einer feierlichen Zeremonie geschehen. Dieser Teil der Reform erschien offenbar so dringlich, daß das Innenministerium das Pferd von hinten aufgezäumt hat und noch vor Beginn der Einbürgerungskurse und der zugehörigen Abschlußprüfungen die feierliche Vereidigung und Übergabe der Zeugnisse einführte. Im Februar wohnte Prinz Charles der ersten Veranstaltung in einem Londoner Randbezirk bei. Wohl nicht zuletzt, weil sich das Englische in der Welt größerer Verbreitung erfreut als der dänische, niederländische oder deutsche Zungenschlag, begnügt sich der Plan des britischen Innenministers Blunkett mit Einbürgerungsunterricht von nur zehn Sitzungen von je zwei Stunden. Dabei sollen fünf Schwerpunkte abgearbeitet werden. Der Entwurf stammt von Professor Crick, dem früheren Tutor des damaligen Studenten Blunkett: britischer Alltag, das Gesundheitswesen, Schulen und Sozialbehörden; Arbeit in Großbritannien, Rechte eines Arbeitnehmers, Mindestlohn; Grundzüge des englischen oder schottischen Rechtswesens, Rechte und Pflichten des Bürgers; Grundzüge der Geschichte britischer Institutionen wie Monarchie, Parlament und Regierung; Großbritanniens modernes Gesicht, also multikulturelle Gesellschaft, Gleichheitsprinzip, das Konzept von Fairness und Gerechtigkeit. Die englischen Sprachkenntnisse müssen bei der Prüfung so ausgeprägt sein, daß man sich ohne Schwierigkeiten mit Briten unterhalten kann. Die Auf54
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gaben für das Examen in Britishness sind zwar noch nicht formuliert, vermutlich wird man aber fragen: Wie heißt der Premierminister? Wie bezahlt man eine Telefonrechnung? Wann war die Schlacht von Hastings? Was fällt Ihnen zu der Stadt Dünkirchen ein? Wie hoch ist der gesetzliche Mindestlohn? Wer durchfällt, darf den Test wiederholen. Das Arrangement soll der Führerscheinprüfung nachempfunden werden. Anfangs soll der Unterricht noch von Amts wegen gehalten werden, dann hofft man – auch das ist britisch –, daß „der Markt“ übernehmen wird. [...] Bernhard Heinrich, Robert von Lucius, Andreas Ross: Was fällt Ihnen zur Stadt Dünkirchen ein? Einbürgerungskurse – ein Spiegel nationaler Kulturen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.8.2004
3.19.5 Eine neue Haltung zur Einwanderung Prinz Charles, der britische Thronfolger, übergab in einer aufwändigen Zeremonie 2004 19 britischen Neubürgern ihre Staatsbürgerurkunden. Damit sollte der Stellenwert betont werden, welchen Großbritannien der Zuwanderungsfrage neuerdings beimisst. Der Innenminister David Blunkett hatte die Zeremonie konzipiert. Als Erste erhielten zwei Frauen indischer Herkunft die Urkunden. Prince Charles sagte: „Ich hoffe sehr, dass diese Zeremonie die Bedeutsamkeit, die britische Staatsbürgerschaft zu erlangen, für Sie erhöht und dass sie den Glauben in Ihnen – wenn überhaupt eine Verstärkung nötig ist – gestärkt hat, dass Sie hierher gehören und hier willkommen sind. [...] Ich hoffe, dass es für Sie eine besondere Quelle des Stolzes und der Stärkung für den Rest Ihres Lebens sein wird, ein britischer Bürger oder eine britische Bürgerin zu sein.“ Wolfgang Böge
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Einleitung Auch Frankreich beherrschte wie England große Gebiete mit muslimischer Bevölkerung in seinem Kolonialreich. Hauptsächlich lagen sie in Nordafrika bis in Landstriche im Süden der Sahara. Die französischen Kolonien übernahmen die französische Sprache neben den einheimischen Sprachen als allgemeine Verkehrssprache und orientierten sich mehr oder weniger freiwillig bis heute an der französischen Kultur, so wie die britischen Kolonien das Englische neben den lokalen Sprachen übernahmen. In den Weltkriegen kämpften Hunderttausende von muslimischen Soldaten aus den Kolonien auf Seiten der Franzosen, ein kleinerer Teil blieb oder kam nach Frankreich zurück. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte Frankreich zudem eine beträchtliche Arbeitsmigration aus den Kolonien. Bis zum Ende des von beiden Seiten sehr brutal geführten und bis heute nachwirkenden Krieges gegen die Unabhängigkeitsbewegung in Algerien träumte ein Teil der Franzosen davon, Algerien mitsamt seiner muslimischen Bevölkerung dauerhaft in den französischen Staat mit einzubeziehen. Ein Teil der Algerier arbeitete für und mit der Kolonialverwaltung. Als Algerien 1962 unabhängig wurde, verließen viele das Land mit der abziehenden Kolonialverwaltung Richtung Frankreich. In den 1950er und 1960er Jahren gab es eine erhebliche illegale, wegen Arbeitskräftemangels still geduldete Einwanderung nach Frankreich. So gibt es verschiedene Ursachen der Einwanderung. Die engen Verbindungen, die gemeinsame französische Sprache machten es für Bewohner der französischen Kolonien leicht, sich in Frankreich anzusiedeln. Sie wurden Franzosen. Der höhere Lebensstandard, Arbeitschancen und die Freiheit in Frankreich lockten. Die Gren-
zen zwischen Frankreich und seinen Kolonien waren zudem ziemlich offen, so dass die Zahl der Muslime in Frankreich ständig anstieg. Die Muslime traten in den Nachkriegsjahren in der Öffentlichkeit kaum auf. Sie siedelten konzentriert in Stadtvierteln größerer Städte, drangen aber als Minderheit kaum in das Bewusstsein der Mehrheitsbevölkerung. In den oft vernachlässigten Wohnvierteln der Zuwanderer konzentrierten sich schlecht bezahlte, häufig wegen der Illegalität nicht in das französische Sozialsystem integrierte Menschen, so dass diese Viertel schnell zu sozialen Brennpunkten und ständigen Unsicherheits- und Unruheherden wurden. Da die meisten Bewohner dieser Viertel Muslime waren, prägten sie für die Mehrheit der Bevölkerung vielfach auch das Bild des Islam insgesamt. Der französische Staat, der Religion als kulturelle Eigenheit und reine Privatsache ansieht, die im öffentlichen Raum nichts zu suchen hat, kümmerte sich genauso wenig wie die anderen europäischen Staaten um diese Entwicklung. Er ging und geht von dem Grundsatz aus, dass alle Bürger des Landes gleiche Franzosen sind, dass die französische Nation und die französische Kultur – ohne die Religion – das von allen anzuerkennende einigende Band aller ist und dass Gruppenbildung von Minderheiten gegen eben diese Einheit der Nation und damit gegen Frankreich gerichtet ist. Wolfgang Böge
Hinweis: Ziehen Sie für die Arbeit auch das Modul „Politik und Religion im Islam“ heran. Dort finden sich weitere für die Arbeitshinweise oder andere Aufgaben parallel zu nutzende Materialien.
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Materialübersicht 4.1 4.2
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Staat und Religion .................................................................................................................................................................59 Frankreich – ein laizistischer Staat ..................................................................................................................................59 4.2.1 Laizismus in Frankreich ..........................................................................................................................................59 4.2.2 Was ist Laizität? .........................................................................................................................................................60 Muslimische Organisationen in Frankreich..................................................................................................................60 Die Schwierigkeiten der Statistik .....................................................................................................................................61 Statistiken und geographische Verteilung ..................................................................................................................62 4.5.1 Statistik.........................................................................................................................................................................62 4.5.2 Islam in Frankreich ...................................................................................................................................................62 4.5.3 Die Verteilung der Moscheen und muslimischen Beträume in Frankreich........................................63 Islam und Gesellschaft .........................................................................................................................................................64 4.6.1 Muslime in Frankreich ............................................................................................................................................64 4.6.2 Muslime im säkularen Rechtsstaat – zur Diskussion in Frankreich........................................................64 4.6.3 Leitkultur à la française ..........................................................................................................................................66 4.6.4 Tauziehen (Karikatur) ..............................................................................................................................................68 Wohin entwickelt sich die französische Gesellschaft?.............................................................................................68 4.7.1 Sozialer Aufstieg und Religiosität – Eine Vergleichsstudie.......................................................................68 4.7.2 Integration und Desintegration..........................................................................................................................69 4.7.3 Pfiffe für die Marseillaise........................................................................................................................................69 4.7.4 Gettoisierung .............................................................................................................................................................69 4.7.5 Aufbruch aus dem Ghetto ....................................................................................................................................70 4.7.6 Eine ARD-Weltspiegel-Reportage aus Lyon....................................................................................................71 4.7.7 Paris fürchtet Islamisierung ..................................................................................................................................73 4.7.8 Karikatur.......................................................................................................................................................................73 4.7.9 Der importierte Konflikt.........................................................................................................................................73 4.7.10 Europa wird den Islam haben, den es verdient (Interview)......................................................................73 Alltagsfragen ...........................................................................................................................................................................75 4.8.1 Alltag 1 .........................................................................................................................................................................75 4.8.2 Alltag 2 .........................................................................................................................................................................76 4.8.3 Die Rolle der Moschee-Vereine ...........................................................................................................................77 4.8.4 Die Imam-Frage 1.....................................................................................................................................................77 4.8.5 Die Imam-Frage 2.....................................................................................................................................................78 Ein französischer Zentralrat der Muslime .....................................................................................................................78 4.9.1 Der Conseil français du culte musulman.........................................................................................................78 4.9.2 Der Ausgang der Wahlen ......................................................................................................................................78 4.9.3 Frankreichs Muslime bekommen einen Zentralrat .....................................................................................79 4.9.4 Scharfmacherei und Meinungsmache – ein Fundstück aus dem Internet.........................................80 Die Kopftuch-Frage in Frankreich – ein prinzipieller Gegensatz .........................................................................80 4.10.1 Gegen die Unterwanderung der Republik .....................................................................................................80 4.10.2 Aufruf von Moslems gegen das Kopftuch ......................................................................................................82 4.10.3 Emanzipation .............................................................................................................................................................82 4.10.4 Kopftuch und Arbeitgeberrechte.......................................................................................................................82 4.10.5 Zwischen Paris und Orient....................................................................................................................................83
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Reaktionen der französischen Regierung.....................................................................................................................84 4.11.1 Das Kopftuchverbot in Frankreich als Versuch, fünf Millionen Muslime zu integrieren ...............84 4.11.2 Kurzer Prozess............................................................................................................................................................85 4.11.3 Leitlinien zur Ausländerintegration...................................................................................................................86 4.11.4 Geiselnahme und Kopftuchverbot ....................................................................................................................86 Die französischen Muslime und die französische Republik...................................................................................87 4.12.1 Französische Muslime solidarisieren sich mit ihren Landsleuten und dem französischen Staat........................................................................................................................................87 4.12.2 Muslime für die Republik.......................................................................................................................................87 4.12.3 Karikatur.......................................................................................................................................................................87 4.12.4 Frankreich macht mobil gegen die Geiselnehmer im Irak........................................................................88 Eine neue Entwicklung? ......................................................................................................................................................88 „Sie müssen sich integrieren“............................................................................................................................................89
Arbeitshinweise 1. Vergleichen Sie die Karte in Kapitel 1 (1.10) mit einer Karte der Kolonien am Anfang des 20. Jahrhunderts (Geschichtsatlas, Geschichtsbuch). Welche muslimischen Gebiete wurden von Frankreich beherrscht? 2. Was bedeutet in Frankreich Laizismus nach Kap. 4.2? 3. Stellen Sie z. B. aus den Materialien 4.1, 4.1–2, 4.6.1–3, 4.9.1–3, 4.11, 4.11.1–4, 4.12, 4.12.1, 4.14 die französische Integrationspolitik und ihre Entwicklung dar. 4. Welche grundsätzlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich zumindest für die Vergangenheit zwischen Frankreich, England und Deutschland finden? 5. Erarbeiten Sie aus den Materialien die ungefähre geographische Verteilung der Muslime in Frankreich, tragen Sie die Ergebnisse in eine Karte ein und vergleichen Sie sie mit thematischen Karten zur Industrieverteilung (Atlas, ziehen Sie den Geographieunterricht und den Französischunterricht zur Hilfe heran). 6. Suchen Sie mit Hilfe der Internethinweise bei Material 4.3 nach Äußerungen der muslimischen Organisationen in Frankreich und versuchen Sie die Organisationen im religiösen Spektrum einzuordnen und auch politisch zuzuordnen. 7. Warum sind alle Statistiken auf diesem Feld so schwer zu erstellen und zu interpretieren? 8. Stellen Sie die zentralen Thesen Ahmed Jaballahs zusammen. Vergleichen Sie Ihr Ergebnis zu Frankreich mit 3.10 und 3.11 von Mohibur Rahman bezüglich Großbritannien. Welche Widersprüche oder Gegensätze zu europäischen Rechtsvorstellungen werden deutlich? 9. Vergleichen Sie die Kopftuch-Debatte in Frankreich 4.10.1–4, 4.11.1 und 4.11.4 mit der in England 3.14 und der in Deutschland (Vgl. Modul: „Politik und Religion im Islam“, Dokumente 82, 3.2, S. 103–105. Beachten Sie die Gesetzgebung in Deutschland seit 2003 dazu.). Wo wird vergleichbar argumentiert? Wie lassen sich Unterschiede erklären? Diskutieren Sie die Argumente in Form einer Fish-bowl-Diskussion mit den Ländervertretern und zwei Vertretern für pro und contra im inneren Ring.
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10. Stellen Sie zwei Szenarien in einer Präsentation (Wandzeitung, Schaubild, Tafelbild) einander gegenüber: eines, das einen positiven Verlauf der Integration vorsieht, und eines, das eine Desintegration der Gesellschaft darstellt (Kap. 4.7 und Kap. 4.8). Welche konkreten Erscheinungen, Entwicklungen wären jeweils mit ihnen verbunden? Entwickeln Sie jeweils dazu unterstützende oder verhindernde Strategien (Maßnahmen). 11. Vergleichen Sie die von Ihnen erarbeiteten Maßnahmen mit dem, was die Regierungen tun oder beabsichtigen (u. a. Großbritannien 3.19.1–3, Frankreich 4.11.1–3). Stellen Sie einen realistischen (finanzierbaren) Katalog möglicher staatlicher Maßnahmen (Angebote, Hilfen, Leistungen, Verbote, Anforderungen, Beschränkungen etc.) auf. Diskutieren Sie, was davon eine Integration in Deutschland befördern und eine Desintegration der Gesellschaft verhindern kann. Ziehen Sie gegebenenfalls die Ergebnisse ähnlicher Aufgaben der anderen Kapitel heran. 12. Die Rolle der Schule (staatlich, privat), der Organisationen (staatsloyal, staatsfern) und der Imame (integriert, nicht integriert) wird für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung sein. Erarbeiten Sie z. B. in arbeitsteiliger Gruppenarbeit für alle drei Bereiche eine Übersicht über die Situation in den verschiedenen europäischen Ländern aus dem Material. 13. Erarbeiten Sie in Gruppen Parlamentsreden. Debattieren Sie mit verschiedenen Rollen, wie in einem Parlament: Wie soll sich die französische Regierung in der Geisel-Frage (4.12) verhalten? Wie lassen sich einzelne Positionen begründen? 14. Recherchieren Sie das Ende der Geiselnahme (4.12) in einem Zeitungsarchiv oder im Internet. 17. Welche Hauptthese stellt Alain Finkielkraut in 4.13 auf, wie begründet er sie? Setzen Sie seine Thesen mit dem Ausblick (7) in Beziehung. Formulieren Sie eine begründete eigene Meinung.
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4.1 Staat und Religion In Frankreich gilt eine strikte Trennung zwischen Staat und Religion. Deshalb erkennt der Staat keine Religion an. Die Beziehung zur Kirche regelt ein Gesetz von 1905. Die Religionen werden durch eigene Organisationen vertreten: Die Bischofskonferenz Frankreichs, die Protestantische Föderation, das Interepiskopale Orthodoxe Komitee, der Repräsentativrat der jüdischen Institutionen und die Buddhistische Union und der zuletzt gebildete Rat der Islamischen Religion, der sich noch bewähren muss. Alle Religionen sind unabhängig von der Anzahl ihrer Mitglieder einander gleichgestellt.
Artikel 4 des Gesetzes von 1905 regelt die Organisation der Religion. Der Gottesdienst wird nach den Kultregeln der betreffenden Religion abgehalten, der Staat darf sich nicht einmischen. Die nach diesem Gesetz zugelassenen Organisationen bekommen keinerlei staatliche Unterstützung, sie dürfen aber Schenkungen und Spenden annehmen, die steuerlich absetzbar sind.
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4.2 Frankreich – ein laizistischer Staat 4.2.1 Laizismus in Frankreich In Frankreich wird ähnlich wie in Deutschland derzeit heftig über die Frage debattiert, ob ein Gesetz das Zurschaustellen religiöser Symbole wie des islamischen Kopftuchs an öffentlichen Schulen verbieten soll. Der Hintergrund der Debatte, die seit Anfang September von einem Ausschuß „zum Laizismus in der Republik“ unter Vorsitz des früheren Ministers Bernard Stasi geleitet wird, ist jedoch ein anderer als in der Bundesrepublik. Im Gegensatz zu Deutschland betrachtet sich Frankreich als laizistische Republik, in der Verfassung [...] wird auf religiöse Bezüge und die Erwähnung des christlichen Erbes bewußt verzichtet. Der Staat sieht sich als Garant der Religionsfreiheit, der keine Religion besonders fördert. Die öffentlichen Schulen sind auf der Grundlage dieses Staatsverständnisses zu religiöser Neutralität verpflichtet. Religionsunterricht ist seit der Trennung von Kirche und Staat 1905 Sache des Elternhauses beziehungsweise der religiösen Einrichtungen.
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Abb.: © Burkhard Mohr
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Dieser staatliche Säkularismus erklärt auch die ` Vorbehalte Frankreichs in der europäischen Verfassungsdebatte in bezug auf die Erwähnung der christlichen Tradition Europas. Als Staatsbediensteten ist es Lehrern in Frankreich untersagt, ein Kopftuch oder andere religiöse Symbole wie etwa die jüdische Kippa im Unterricht zu tragen. Unklarer ist die Rechtslage hingegen bei den Schülern. Ende der achtziger Jahre provozierte eine Gruppe muslimischer Mädchen, die ihr Kopftuch während der Schulstunden nicht ablegen wollten, eine kontroverse nationale Diskussion. Der Staatsrat, der schließlich angerufen wurde, entschied 1989, daß das Tragen von Kopftüchern geduldet werden könne, falls diese nicht „ostentativ“ gezeigt würden. Der Entscheid trug wenig dazu bei, die diffuse Rechtslage zu klären. Statt dessen blieb es den jeweiligen Schuldirektoren überlassen, das Verhalten des Schülers als „ostentativ“ oder nicht zu bewerten. [...] [Vgl. hierzu die neue Rechtslage – Red.] Michaela Wiegel: Nicht „ostentativ“, Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.9.2003
4.2.2 Was ist Laizität? [...] FERRY: Nehmen wir ein Beispiel, den berühmten Schleier der muslimischen Schülerinnen, über den in Frankreich so viel diskutiert wird und der bei Ihnen geduldet wird. Ich habe lange gezögert, welche Position ich einnehmen soll. Schließlich hat mich ein Argument dazu gebracht, den Schleier in der Schule zu verbieten. In den muslimischen Familien ist dieses Verbot nämlich ein sehr gutes Argument, praktisch ein Alibi, das der Familienvater benutzt, um den Imamen zu sagen: Hören Sie, wir sind keine schlechten Muslime, aber die Republik verbietet uns, unsere Töchter zu verschleiern. ZEIT: Verbieten Sie auch das Kreuz in der Schule? FERRY: Wenn wir das Kreuz verbieten, dann nicht das kleine Kreuz, das man um den Hals trägt. Man verbietet jedoch die Zurschaustellung von religiösen Symbolen wie der Kippa, dem Schleier, dem Kreuz an der Wand. Die französische Schule ist der Idee der Menschenrechte treu. Das heißt, der Mensch hat das Recht, unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu ver60
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schiedenen Gemeinschaften respektiert zu werden. ZEIT: Stellt der Begriff „Laizität“, im Deutschen nicht gebräuchlich, nicht eine Basis für alle Europäer dar, als die Definition von weltlicher, „europäischer“ Bildung? FERRY: Ja, absolut. ZEIT: Für unsere Nachbarn südlich des Mittelmeers ist die Laizität eine Herausforderung. FERRY: Das laizistische Europa, was ist das? Es bedeutet einen bestimmten Umgang mit dem Gesetz. Im Bundestag ebenso wie in der französischen Nationalversammlung gilt das Gesetz als von Menschen und für Menschen gemacht, ausgehend von ihren Interessen und Beweggründen. Das ist das Kriterium der Laizität. Die Religionen sind nicht alle gleich beim Übergang zur Laizität. Das Johannes-Evangelium sagt nicht, wie Sie sich die Hände waschen, wie Sie sich kleiden oder wen Sie heiraten sollen. Deshalb konnte die christliche Religion leicht neben der weltlichen Macht bestehen. In der Perspektive des Islam ist das fast unmöglich. Und in der Perspektive des Judentums ist es sehr schwer. Travail et Traditions – Un entretien avec Luc Ferry, Ministre de la Jeunesse, de l'Education nationale et de la Recherche. Die Fragen stellten Joachim Fritz-Vannahme und Michael Mönninger. Aus dem Französischen von Andrea Exler, in: Die Zeit 16.1.2002
Anm.: Luc Ferry ist Minister für Jugend, Bildung und Forschung in Frankreich Hinweis: Zum französischen Laizismus vgl. auch 4.14
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4.3 Muslimische Organisationen in Frankreich 2003 wurde auf Initiative der französischen Regierung der Conseil Français du Culte Musulman (CFCM) gewählt. Die Mosquée de Paris (MDP) ist traditionell die Vertretung der Muslime in Frankreich. Ihr Rektor ist Dalil Boubakeur, der auch dem 2003 gegründeten Nationalen Französischen Muslimrat vorsteht. Seine MDP erhielt 6 Sitze. Die Vereinigung vertritt einen
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liberalen Islam. Das Gebäude der Großen Mo` offenen schee in Paris gehört dem algerischen Staat. Die Pariser Moschee erhält auch weitere Hilfe aus Algerien. (www.mosquee-de-paris.org) Die Fédération Nationale des Musulmans de France (FNMF) vertritt im Wesentlichen Muslime marokkanischer Herkunft und erhält auch von dort Unterstützung. Auch sie umfasst ein landesweites Netz von Moscheevereinen. Die FNMF erhielt bei den Muslimratswahlen die meisten Stimmen (16 Sitze). Die Union des Organisations Islamiques en France (UOIF) ist ein komplexer Dachverband von mehr als 200 Einzelorganisationen (Jugend, Studenten, Frauen etc.). Der Verband ist durch sehr viele Aktivitäten im Alltagsleben der französischen Muslime verankert. Teile des UOIF vertreten eine Re-Islamisierung, ihr wird nachgesagt, dass sie islamistischen Ideen nahe steht, international mit den Muslimbrüdern zusammenarbeitet und arabische Unterstützung bekommt (14 Sitze). Sie gewann die Mehrheit in 11 von 22 regionalen Muslimräten. Daneben gibt es die L’Union turco-islamique des affaires réligieuses en France (Ditib), eine Vereinigung türkischer Zuwanderer, die wie in Deutschland von der türkischen Regierung kontrolliert wird. Zusammenstellung: Wolfgang Böge
Hinweis: vgl. Katalog islamischer Präsenz im Internet „www.gwdg.de/~arabsem/Katalog2.htm101K“. Hier finden sich die verschiedensten Seiten mit Informationen von und über Organisationen etc.
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4.4 Die Schwierigkeiten der Statistik [Im laizistischen Frankreich ist Religion reine Privatsache und wird bisher daher staatlich nicht erfasst. Statistische Abgaben und Berechnungen sind sehr umstritten. Alle Angaben, auch die in diesem Artikel, müssen genau auf ihre Bedeutung und Verlässlichkeit hin untersucht werden. Red.]
In einer Studie, deren Inhalt L’Express enthüllt, schätzt der Demograph Michèle Tribalat die Zahl der „möglichen“ Muslime auf 3,7 Millionen, das sei viel weniger als die üblichen Schätzungen. Eine aufrüttelnde Angabe zu einem Tabu-Thema in dem Augenblick, wo in Frankreich eine etwas schiefe Debatte über Islamophobie [Angst vor dem Islam – Red.] beginnt.
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Unzuverlässige Zahlen 1989 schätzte der Historiker Bruno Etienne, indem er sich auf die Angaben der Zählung von 1982 stützte, in Frankreich die Anwesenheit von Muslimen auf um 2,5 Millionen Menschen. Ein Jahr später schätzt ein Artikel von Monde die Muslime auf „6,5 % der französischen Bevölkerung, das macht 3,7 Millionen“. 1996 gibt ein vom Sekretariat der Beziehungen zum Islam veröffentlichtes Dossier eine Schätzung von 4,2 Millionen. Im selben Jahr erwähnt Charles Pasqua, Innenminister, der sich zu terroristischen Anschlägen äußert, „5 Millionen Muslime [in Frankreich], 1 Million davon praktizierende Gläubige, 50 000 Integristen [Islamisten] und wahrscheinlich 2 000 Radikale“. [...] Nicolas Sakozy [der heutige Innenminister] [...] erklärte [...]: „Es gibt 5 bis 6 Millionen Muslime in Frankreich, wovon 2 Millionen wählen können.“ Nicht zu sprechen von der Front National [eine rechtsradikale Partei], die ihre Annahme auf 8 Millionen hochschiebt [...]. [Die] Schätzung [Michèle Tribalats] der Zahl von Personen, die nach ihrer Abstammung Muslime sein könnten, [...] lässt auf spektakuläre Weise die Luft aus den „offiziellen“ Zahlen: Es gäbe in Frankreich nicht 5 oder 6 Millionen, sondern nur 3,7 Millionen Personen, die „möglicherweise Muslime“ sind, sagt Michèle Tribalat. Davon 1,7 Millionen Einwanderer, eben so viele Kinder und etwas weniger als 300 000 Enkelkinder von Einwanderern. Über 23 % der Einwohner Frankreichs – etwa 14 Millionen – sind ausländischer Abstammung (wenigstens ein Elternteil im Ausland geboren): 6,9 Millionen kommen aus Ländern der Europäischen Union, 3 Millionen aus dem Maghreb und 700 000 aus Afrika südlich der Sahara. Man erkennt, dass die Algerier und ihre Nachkommen – 1,6 Millionen – weniger zahlreich sind als die Italiener, sie kommen den Spaniern gleich – 1,5 Millionen. Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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Eine andere Besonderheit dieser [muslimischen] ` Bevölkerung: sie ist noch sehr jung. 1999 setzte sie sich hauptsächlich aus Minderjährigen zusammen. [...] Die, die wählen können, sind nicht mehr als 1,2 Millionen. Ihr religiöses Gewicht muss noch näher bestimmt werden. Insgesamt befolgen sie offensichtlich die Vorschriften des Koran nicht wortwörtlicher als [z. B.] die Italiener und ihre Nachkommen, die [auch nicht alle] [...] strenge Katholiken sind. Bei einer der seltenen Umfragen [...] zu dem Thema bezeichnete sich 1995 ein Drittel der möglichen Muslime als gläubig und besuchte die Moschee regelmäßig. Gilbert Charles, Besma Lahouri: 3,7 Millionen Muslime in Frankreich, Die wahren Zahlen, L'Express, 4.12.2003, Übersetzung Jutta Böge
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4.5 Statistiken und geographische Verteilung 4.5.1 Statistik Nach Auskunft des Innenministeriums leben in Frankreich schätzungsweise 4 115 000 Muslime. Das macht etwa acht Prozent der Bevölkerung aus. 2,9 Millionen sind algerischer Herkunft. Die anderen kommen aus Marokko, Tunesien, Schwarzafrika, der Türkei und Asien. Die meisten von ihnen leben in und um Paris. Bis auf wenige Ausnahmen praktizieren sie ih-
4.5.2 Islam in Frankreich
Abb: © Reuters (http://awal.free.fr/article_en.php3?rub=16) (http://www.liberation.com)
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Glauben in privaten Unterkünften. 1 500 Gebets` ren stätten dieser Art sind dem Innenministerium be-
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kannt. Die Regierung will informiert sein. Die Zahlen dienen der inneren Sicherheit, die gerade in den muslimisch dominierten Randbezirken der Hauptstadt mehr und mehr gefährdet ist. Es gibt heute schon Vororte, in die sich kein Polizist mehr traut. Sönke Giard: Toleranz am Arbeitsplatz ja – private Kontakte nein / Frankreich: Über vier Millionen Muslime suchen ihren Weg, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Weltreligion Islam, Bonn 2002, S. 118
Anm.: vgl. auch 4.13
4.5.3 Verteilung der Moscheen und muslimischen Beträume in Frankreich Nach einer Untersuchung der École supérieure de journalisme de Lille gab es in den französischen Départements folgende Verteilung der Anzahl von Moscheegebäuden. Davon lässt sich zurückschließen auf die Verteilung der in Moscheevereinen zusammenge-
schlossenen Muslime. Allerdings ist damit nicht die Zahl der Beträume überhaupt erfasst. In Paris allein gibt es nach einer Untersuchung des Innenministeriums 1999 bereits über 300 Moscheen und Beträume. Es handelt sich zudem um ungefähre Zahlen.
Elsaß................................................................................................5–10 Aquitanien....................................................................................5–10 Auvergne ......................................................................................5–10 Burgund ........................................................................................5–10 Bretagne........................................................................................5–10 Centre ............................................................................................15–25 Champagne/Ardennen ...........................................................5–25 Korsika ...........................................................................................5–10 Franche-Compté ........................................................................5–10 Ile-de-France (Paris) ..................................................................mehr als 50 Moscheen Languedoc-Roussillon .............................................................5–10 Limousin .......................................................................................5–10 Lothringen....................................................................................mehr als 50 Moscheen Midi-Pyrenäen.............................................................................5–10 Nord/Calais...................................................................................mehr als 50 Moscheen Basse-Normandie/West...........................................................weniger als 5 Haute-Normandie/Ost .............................................................15–25 Pays de la Loire...........................................................................15–25 Picardie..........................................................................................weniger als 5 Poitou-Charentes.......................................................................5–10 Provence-Alpes-Côte d'Azur .................................................15–25 Rhône-Alpes ................................................................................mehr als 50 Moscheen Zusammenstellung W. Böge
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in einer Transformationsphase, die durch das Auftreten neuer Generationen aus einer provisorischen Situation zu einem Zustand der Dauerhaftigkeit führte.
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4.6 Islam und Gesellschaft 4.6.1 Muslime in Frankreich Im Jahre 1981 wurde das Gesetz von 1901, das die Bildung von Vereinen regelt, geändert. Die staatliche Zustimmung zur Gründung ausländischer Vereine wurde aufgehoben, die islamischen Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden. Das Gesetz von 1901 sieht die Finanzierung der sozialen und kulturellen Tätigkeiten dieser Organisationen vor. Auch ihre religiösen Aktivitäten werden finanziert, weil in Frankreich Religion unter dem Begriff Kultur subsumiert wird. Mit dem Gesetz von 1987 konnten diese Organisationen zusätzlich Schenkungen und Spenden erhalten. Damit war die finanzielle Grundlage für die Entwicklung des organisierten Islam gesichert. Das Assoziationsgesetz von 1981, das die stärkere Präsentation des Islam in der Öffentlichkeit erlaubte, kam zu einer Zeit, in der die Integration der Muslime weit fortgeschritten war. Untersuchungen Anfang der achtziger Jahre zeigten, dass die Integration der Muslime in der zweiten Generation weitgehend realisiert war. [...] Seither gab es eine zumindest in Teilen der muslimischen Bevölkerung gegenläufige Entwicklung. Wegen ihrer anhaltenden Benachteiligung, verursacht durch ihre geringere Bildung und die hohe Arbeitslosigkeit, fand ein Teil der zweiten Generation der muslimischen Einwanderer in Organisationen, die von Islamisten dominiert sind, einen Halt. Viele Jugendliche begannen eine islamische Identität zu entwickeln [...]. Ralph Ghadban
4.6.2 Muslime im säkularen Rechtsstaat – zur Diskussion in Frankreich Die Integration der Muslime Europas als Staatsbürger säkularer Rechtsstaaten ist ein in Entwicklung begriffener Prozess. Die mehrheitlich durch Einwanderung entstandene Gruppe der (west)europäischen Muslime befindet sich 64
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Die Entwicklung zu einer staatsbürgerlichen Integration der Neuankömmlinge kann durch Schwierigkeiten behindert werden, die aus dem Umstand entstehen, dass dieser Prozess weder von den Muslimen selbst, die lange Zeit den Mythos der Rückkehr bewahrten, noch von den aufnehmenden Gesellschaften vorbereitet war, die ebenfalls nicht an eine dauerhafte Niederlassung der Muslime in den europäischen Ländern dachten. Die Akzeptanz der Muslime als Bürger in den europäischen Gesellschaften ist ein unabdingbarer Prozess. Alle Fragen, die sich heute in diesem Zusammenhang stellen, beziehen sich auf die Schwierigkeiten, die diesen Prozess aufhalten können, auf den Lösungsansatz, den es anzuwenden gilt, um den Gegensatz von Staatsbürgersein und religiöser und kultureller Identität zu vermeiden (Muss man das eine aufgeben, um das andere zu behalten?). Welche Schwierigkeiten können heute die Entwicklung einer aktiven Staatbürgerschaft der europäischen Muslime beeinträchtigen? Von Schwierigkeiten zu sprechen heißt nicht, dass es keine positiven Anstrengungen in diesem Bereich gibt. Man muss jedoch die Existenz dieser Schwierigkeiten anerkennen. Es ist interessant, sie zu studieren und sie in einem konstruktiven, lösungsorientierten Sinn zu berücksichtigen. Die auf dem Weg der Anerkennung der Muslime als Staatsbürger in den europäischen Gesellschaften auftretenden Schwierigkeiten stellen sich auf zwei Ebenen: als interne, allein die Muslime betreffenden Probleme und als externe, allgemeingesellschaftliche Fragen. I – Die Ebene der Muslime Abgesehen von den unter sozialen Schwierigkeiten leidenden Muslimen gibt es unter Muslimen im Allgemeinen die Bereitschaft zu einer staatsbürgerlichen Integration. Gleichwohl können sich im Kreis der praktizierenden Muslime – wobei die Intensität der religiösen Praxis verschieden ist – theologische Fragen bezüglich der Vereinbarkeit eines staatsbürgerschaftlichen Status mit den Forderungen nach der islamischen Identität eines Muslims stellen.
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Es ist wichtig, die großen Problemfelder der theo` logischen Debatte im Zusammenhang mit dem staatsbürgerlichen Verhalten zu kennen, denn das hilft uns, Haltungen, Meinungen und vielleicht manchmal auch Vorbehalte mancher Muslime zu verstehen. Es sei gleich vorab gesagt, dass diese theologische Frage von der übergroßen Mehrheit der Muslime nicht detailliert diskutiert wird. [...] Das Wesen dieser theologischen Debatte lässt sich in folgenden vier Punkten zusammenfassen: 1) Die Frage der Rechtmäßigkeit der Ansiedlung eines Muslims in einem nichtmuslimischen Land: - Die einen erwägen, dass diese dauerhafte Ansiedlung im Prinzip rechtswidrig und nur im Falle der Unabdingbarkeit erlaubt ist. - Die anderen geben zu bedenken, dass eine Ansiedlung erlaubt ist, solange ein Muslim seinen religiösen Pflichten nachkommen kann (was in den europäischen Gesellschaften der Fall ist, da in ihnen die Religionsfreiheit im Grundsatz respektiert wird). 2) Die Frage der Dualität im Gehorsam, d. h. in der Loyalität des Muslims gegenüber seiner Religion und der „Umma“ (Gemeinschaft der Gläubigen) einerseits und dem nichtmuslimischen Land, in dem er lebt, andererseits. Es gibt keine prinzipielle Unvereinbarkeit zwischen diesen beiden Formen der Loyalität, weil der Gehorsam gegenüber einem Land oder einer Nation nicht das Ablegen religiöser Überzeugungen beinhaltet. 3) Die Frage der Säkularisierung des Staates und des eventuellen Widerspruchs zwischen dem geltenden und dem religiösen Recht: Zu dieser Frage haben mehrere muslimische Rechtsgelehrte zwischen dem Status eines Muslim in einer muslimischen Gesellschaft und eines Muslim in einer nichtmuslimischen Gesellschaft unterschieden. Im zweiten Fall ist der Muslim dazu angehalten, die ihn als Individuum und als Mitglied einer Gemeinschaft betreffenden islamischen Vorschriften zu befolgen, während der Teil des religiösen Rechts, der sich auf die allgemeine Organisation der Gesellschaft bezieht, von ihm nicht abverlangt werden kann. Generell greift das allgemeine Recht weder in die individuelle noch in die gemeinschaftliche Sphäre im Sinne der Einschränkung der freien Religionsausübung ein.
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Im Gegenteil, der Rechtsstaat respektiert und schützt diese Freiheit. Im Falle außergewöhnlicher Schwierigkeiten ist es die Aufgabe der Rechtsorgane und Verwaltungsbehörden, in Zusammenarbeit mit den betroffenen Parteien eine Lösung zu finden, die sowohl den allgemeinen gesetzlichen Rahmen als auch die Freiheit der Religionsausübung berücksichtigt.
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4) Die Position bezüglich des laizistischen und säkularisierten Staatsprinzips gegenüber dem Prinzip der Globalität des Islam, das unter anderem auch das politische Feld aus seinen Interessensgebieten nicht ausschließt. Eine erste Antwort auf diese Frage geht auf das schon eingangs im Zusammenhang mit der allgemeinen Organisation des politischen Systems in einer multikonfessionellen nicht-islamischen Gesellschaft erwähnte Prinzip zurück, nicht in die Kompetenzen des muslimischen Rechts einzugreifen. Eine zweite Antwort besteht in der Präzisierung, dass selbst im Rahmen einer muslimischen Gesellschaft die politische Frage in einer zivilen Dimension behandelt wird, weil der Islam den theokratischen Staat nicht anerkennt, sondern wenn es um die Notwendigkeit der Sinngebung in der Politik geht, einfach nur die Respektierung islamischer Werte fordert. Die Wahl der politischen Führer und der Regierungswechsel erfolgen nach demokratischen Regeln. Die Muslime Europas haben stets zum Ausdruck gebracht, dass sie die laizistischen und säkularen Grundlagen der europäischen Gesellschaften respektieren und ihre Rechte im Allgemeinen im Rahmen des geltenden Rechts wahrnehmen. Diese theologischen Fragen werden auch weiterhin in den internen Debatten innerhalb der muslimischen Gemeinschaften eine Rolle spielen, was in Anbetracht der derzeitigen muslimischen Präsenz in einem noch neuen Kontext, in dem die Muslime nach einer neuen Identität suchen, ganz normal ist. II – Die Ebene der Gesellschaft Die staatsbürgerliche Identität der Muslime wie auch ihre Integration hängen nicht nur vom religiösen Faktor und allein von den Muslimen ab. Es gibt andere, gesamtgesellschaftliche, insbesondere soziale Faktoren, die von der Fähigkeit der sogenannten Aufnahmeländer abhängen, neue, diese Gesellschaften bereichernde Energien aufnehmen zu können. WelIslam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004 65
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Teil Verantwortung muss die Gesellschaft zur ` chen Lösung der Schwierigkeiten bei der staatsbürgerlichen Integration der Muslime übernehmen? 1) Vermeidung einer restriktiven und andere ausschließenden, auf die Einschränkung religiöser Freiheiten zielenden Lesart des Laizitätsprinzips und der lebendigen Gesetze. [...] 2) Das insgesamt negative Bild des Islam und der Muslime im kollektiven Bewusstsein der Europäer und des Westens ganz allgemein – , welches sich auf mehrere historische, kulturelle und politische Faktoren und vor allem auf die Vermittlung in den Medien zurückführen lässt. Um ein anderes, reales Bild vom Islam zu schaffen, müssen sich beide Seiten in die Verantwortung teilen: Die Muslime sollten die notwendigen Anstrengungen unternehmen, um ihre Religion bekannt zu machen, und die Gesellschaft muss Mittel und Wege finden, um ein objektives Kennenlernen des Islam und der Muslime zu unterstützen. Man muss Muslime in die europäische Religionslandschaft integrieren und sich von allen Verdachtsgefühlen gegenüber dem Islam freimachen. Das Ziel sollte ein im europäischen Kontext verankerter Islam sein. 3) Die Schwierigkeit der sozialen Integration. Eine Betrachtung der drei Indikatoren für die soziale Integration der muslimischen Bevölkerung in den Ländern Europas (Erziehung und Bildung / Schule, Arbeit und politische Partizipation) zeigt, dass es um alle Bereiche schlecht bestellt ist. Sie müssen Gegenstand einer grundlegenden Beschäftigung sein. Die Rolle als Akteure und Vermittler kann den muslimischen Staatsbürgern helfen, in den genannten Bereichen die Probleme zu lösen und Blockaden aufzubrechen. Ahmed Jaballah, in: Veranstaltungsdokumentation (Juli 2002) Muslime im säkularen Rechtsstaat – zur Diskussion in Frankreich, http://www.bpb.de/veranstaltungen/AECHSM,0,0,Muslime_im_säkularen_Rechtsstaat_z ur_Diskussion_in_Frankreich.html
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Anm.: Ahmed Jaballah ist Direktor des „Institut Européen des Sciences Humaines“ in Paris und dort Professor für Koran- und Hadith-Wissenschaften, Islamwissenschaftler mit einer Promotion an der Pariser Sorbonne zum Thema „Der Begriff der Arbeit im Koran“, Mitglied des Europäischen Fatwa- und Forschungsrates, stellv. Präsident der „Union des Organisations Islamiques en Europe“. Veröffentlichungen u. a.: „Conception de la citoyenneté européenne et ses exigences à la lumière de l’Islam“. Siehe auch: www.iesh.org
4.6.3 Leitkultur à la française Fünfmal am Tag ruft der Muezzin die Muslime in Paris zum Gebet – in einem lokalen Radiosender. Im ganzen Land haben Minarette und Moscheen, besonders in den Vororten, das Stadtbild verwandelt. Annähernd sechs Millionen Muslime gibt es in Frankreich; und weil diese Zahl weiter wächst, ist der Islam gewissermaßen die „dynamischste“ Religion. Lange hatte die Politik, aus Angst vor der fremdenfeindlichen, auch gegen Muslime gerichteten Agitation des Rechtspopulisten Le Pen, die Augen vor dieser Entwicklung verschlossen. Es galt als politisch inkorrekt, die Bekehrungserfolge islamischer Prediger überhaupt wahrzunehmen. Erst der Wahlerfolg Le Pens im April 2002 hat diese Haltung, die Wirklichkeit zu ignorieren, aufgebrochen. Jetzt, reichlich spät, versucht die rechtsbürgerliche Mehrheit mit dem Laizitätsgesetz den Auswüchsen integristisch-muslimischer Gruppen Einhalt zu gebieten. Das Gesetz [...] unterliegt dabei gleich einer doppelten Beschränkung: Es betrifft nur das äußere Erscheinungsbild, und es wird nur im öffentlichen Schulwesen zur Anwendung kommen. Ungeklärt bleibt damit die Frage, was Lehrer machen sollen, wenn muslimische Mädchen auf Elterndruck an der Teilnahme am Sport- und Biologieunterricht sowie an Klassenfahrten gehindert werden. Die Debatte über Sondermenüs in den Schulkantinen, in denen die meisten französischen Schüler zu Mittag essen, erfährt keine Antwort. Auch wenn das Gesetz nur den Anfang einer „Laizitätsoffensive“ bilden soll, wie Premierminister Raffarin angekündigt hat, bleibt unverständlich,
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der Gesetzgeber den Respekt ausschließlich im ` warum staatlichen Schulwesen einzufordern gedenkt. Schon mehrfach ist das Laizitätskonzept neuen politischen Konstellationen angepaßt worden. Es reicht in die Zeit des erbitterten Kulturkampfes zurück und wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Befriedung der Beziehungen zwischen Staat und katholischer Kirche fortentwickelt. Nach der Entkolonisierung und der massiven Einwanderung muslimischer Arbeitskräfte wurde es zum Verhaltenskodex auch für die neu Hinzugekommenen erhoben. Laizität bedeutet demnach, daß sich Religion nur auf die Privatsphäre beschränkt und aus dem öffentlichen Raum verbannt ist. Richteten sich die Neuankömmlinge aus dem Maghreb oder aus Afrika danach und zogen sie sich in Kellerräume oder leerstehende Ladenlokale zum Gebet zurück, so haben ihre Kinder und Kindeskinder andere Ansprüche an den französischen Staat. Jenseits aller Integrationsfortschritte gibt es viele Lebensbereiche, in denen die muslimische Bevölkerung ihr „Anderssein“ immer selbstbewußter durchzusetzen versucht. Kaum ein öffentliches Krankenhaus sieht sich nicht mit Forderungen muslimischer Männer konfrontiert, ihre Frauen nur von weiblichem Personal untersuchen und behandeln zu lassen. In den meisten Kommunen liegen Anfragen vor, im öffentlichen Hallenbad Badezeiten für Frauen anzubieten, damit Musliminnen sich nicht Männerblicken aussetzen müssen. Bürgermeister klagen über den wachsenden Druck, mit denen muslimische Wähler die Einrichtung eines „carré musulman“, eines abgegrenzten muslimischen Teils, auf öffentlichen Friedhöfen oder städtischen Baugrund zur Errichtung von Moscheen fordern. Unvorbereitet trifft dabei viele Kommunalpolitiker die Tatsache, daß ihnen gutorganisierte muslimische Lobbygruppen gegenüberstehen, die notfalls mit der Masse ihrer Wähler drohen. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich die Franzosen muslimischen Glaubens ihrer Staatsbürgerrechte nicht bewußt waren. Der Neogaullist Chirac war einer der ersten, die Leute aus der Partei losschickten, um die Nachfahren der Einwanderer aus dem Maghreb oder aus Afrika in die Wählerlisten eintragen zu lassen. Erfolg hatte diese Strategie im zweiten Wahlgang
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der Präsidentenwahl, als viele Angehörige der „zweiten und dritten Generation“ aus Furcht vor einem Wahlsieg Le Pens für Chirac stimmten.
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Die Ernennung zweier muslimischer Kabinettsmitglieder sowie jüngst eines „aus der Immigration stammenden“ Präfekten kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch Frankreich noch keine Antwort auf die gesellschaftliche Herausforderung durch eine gutorganisierte muslimische Minderheit gefunden hat, die einen mit den Werten der Französischen Republik nur schwer zu vereinbarenden „islamischen Lebensstil“ durchsetzen will. Die Fernsehbilder von verhüllten Mädchen und Frauen, die gegen das Kopftuchverbot protestieren, haben viele Franzosen aufgeschreckt. In einer jüngsten Umfrage stimmte eine klare Mehrheit dafür, muslimische Mädchen zumindest in der Schule vor dem Zwang strikter religiöser Auflagen zu schützen. In Frankreich wird dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau große Bedeutung beigemessen, wie auch die jüngsten, von keiner Partei in Frage gestellten Paritätsgesetze zeigen. Auch vor diesem Hintergrund ist es für viele Franzosen nicht akzeptabel, die von mehr oder minder integristisch-islamischen Predigern geforderte und von willigen Ehemännern, Vätern oder Brüdern erzwungene Verhüllung von Frauen und Mädchen hinzunehmen. Gemeinhin wird darin ein Versuch der Unterdrückung der Frauen gesehen, dem zumindest im öffentlichen Raum Einhalt geboten werden muß. So gern Frankreich sich – wie zuletzt nach den Erfolgen der Fußballnationalmannschaft 1998 und 2000 – als Einwanderungsland feiern läßt, in dem jeder, ob „blanc, beur, black“ („weiß, arabisch, schwarz“), seinen Platz finden kann, so wird von den Zugewanderten doch verlangt, daß sie das akzeptieren, was französische „Leitkultur“ ist. General de Gaulle hatte frühzeitig vor der Gefahr gewarnt, die von einem aggressivmissionierenden Islam ausgehen könne. Er wolle nicht, sagte er, daß sein Heimatort Colombey-lesDeux-Eglises irgendwann eher den Namen Colombey-les-Deux-Mosquées verdiene. Michaela Wiegel: Leitkultur à la française, Frankfurter Allgemeine Zeitung 5.2.2004
Anm.: integristisch = islamistisch-fundamentalistisch; Eglises = Kirchen; Mosquées = Moscheen. (Red.) Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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` 4.6.4 Tauziehen
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4.7 Wohin entwickelt sich die französische Gesellschaft? 4.7.1 Sozialer Aufstieg und Religiosität – eine Vergleichsstudie 36 Prozent der muslimischen Befragten erklären, dass sie „gläubig und praktizierend“ sind (gegenüber nur 27 Prozent im Jahre 1994). Andererseits sinkt die Zahl derjenigen, die sich „muslimischer Herkunft“ nennen, von 20 Prozent im Jahre 1989 auf 16 Prozent. 33 Prozent der Befragten (gegenüber 31 Prozent im Jahre 1994) beten täglich; 20 Prozent (gegenüber 16 Prozent) gehen freitags regelmäßig in die Moschee. Der Fastenmonat Ramadan wird von 70 Prozent der Befragten eingehalten (1994 und 1989: 60 Prozent), bei den Frauen von 73 Prozent. Die höchsten Werte liegen in den Altersgruppen über 55 Jahren (84 Prozent) und unter 24 Jahren (74 Prozent). Die Dauer des Aufenthaltes in Frankreich erweist sich nicht als deckungsgleich mit der Aufgabe von Glauben und religiöser Praxis. 68
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Gleichzeitig zeigt die Studie, dass in der sich herausbildenden Mittelschicht der (ehemaligen) Migranten die Zahl der praktizierenden Muslime größer ist als die der nicht Praktizierenden, sozialer Aufstieg also keineswegs parallel verläuft zu einer Säkularisierung. Die zunehmende Akzeptanz religiösen Zusammenlebens in Frankreich zeigt sich ferner an der Einstellung zum Bau von Moscheen: Die Zahl derjenigen, die dies ablehnen, ist von 38 Prozent auf 22 Prozent innerhalb der Gesamtpopulation gesunken. Und wie nehmen die Muslime ihre eigene Religion wahr in Kontexten? Gerade mit Blick auf die Identifikation der Muslime mit dem eigenen Glauben und dessen Interpretation ist die aktualitätsbezogene Frage nach der Einstellung der befragten französischen Muslime zu den Anschlägen des 11. September höchst aufschlussreich: 90 Prozent dieser Gruppe identifizieren sich mit dem Satz „Die Autoren solcher Anschläge können sich nicht Muslime nennen, denn der Islam ist eine Religion des Friedens und der Toleranz“. Und 70 Prozent der französischen Muslime
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92 Prozent der Gesamtbevölkerung) be` (gegenüber fürworten eine französische Unterstützung für die Zerschlagung terroristischer Netzwerke, obwohl gleichzeitig 68 Prozent der Muslime „verstehen können, dass die amerikanische Nahostpolitik die islamistischen Extremisten zu dieser Tat veranlassen konnte“. Werner Ruf: Die meisten Muslime in Frankreich finden Chirac und Jospin gut.
4.7.2 Integration und Desintegration Im alten Einwanderungsland Frankreich ist noch keine Integration so langsam vonstatten gegangen wie die der Nordafrikaner. Polen- und Ukrainersöhne sind Innen- und Premierminister geworden (Poniatowski und Bérégovoy), es gibt Konzernchefs aus armenischen Familien (Tschuruk, Alcatel) und einen Präsidenten der Nationalversammlung, dessen Eltern arme italienische Einwanderer waren (Forni). Mit keiner anderen Weltregion freilich verbindet Frankreich so viel neurotisch überwucherte Gemeinsamkeit wie mit Nordafrika. Der Krieg um Algerien mit den Folterkammern der einen und den Terrorbomben der andern hingegen ist im kollektiven Gedächtnis noch immer virulent. 40 Jahre nach den Verträgen von Evian sind die Erinnerungen an wechselseitige Grausamkeiten nicht als Historie abgelegt. 2,5 Millionen Franzosen haben den Krieg als junge Wehrpflichtige erlebt. Aus dieser Zeit stammen jederzeit auffrischbare Ressentiments gegen alles, was arabisch aussieht. Das war der Humus, auf dem der rechtsextremistische [...] [Front National mit Le Pen in – Red.] GroßstadtStimmbezirken mit vielen Einwanderern und sozialen Problemen Anteile von 40 bis 45 Prozent erzielt. Allerdings, in welche französische Moschee könnte ein französischer Spitzenpolitiker gehen? Die eine wird von den Algeriern, die andere von den Saudis finanziert, die dritte, die früher unter tunesischer Kuratel stand, ist inzwischen von Marokko übernommen. Es gibt Hunderte von Moscheen in Frankreich, aber kaum eine, die unabhängig ist, tausend Imame, aber darunter nur vierzig Franzosen. [...] Jadqueline Hénard: Einmal Araber, immer Araber, in: Die Zeit 41/2001
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4.7.3 Pfiffe für die Marseillaise
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[...] Im Stade de France haben sie die Nationalhymne, „die Marseillaise“, mit Pfiffen und Buhrufen übertönt. Der Premierminister saß versteinert da, und Ali fand das gut. Er hatte damals kein Geld, das Match Frankreich gegen Algerien im avantgardistischen Fußballstadion zu sehen, das gleich bei ihm um die Ecke in Saint-Denis liegt. Aber vor seinem Fernsehbildschirm fühlte sich Ali solidarisch mit den Unruhestiftern im Stadion, junge Franzosen der zweiten Einwanderergeneration wie er. „Sie haben uns einen französischen Paß gegeben. Aber damit hört ihre Großzügigkeit schon auf“, sagt Ali. Der junge Mann lebt in der Cité Gabriel Péri, einer aus einem Dutzend Hochhäusern bestehenden Sozialwohnungssiedlung in Saint-Denis im Norden von Paris. Kaputte Fahrstühle, heruntergekommene Treppenhäuser, ungepflegte Grünanlagen: Die Cité wirkt, als habe man auf jeden Fall verhindern wollen, daß sich die Mieter hier wohl fühlen könnten. Ali hat Sommerferien, wie viele der Jungen hier weiß er nicht so recht, womit er die Zeit totschlagen soll. Für Reisen, selbst für die Freizeitangebote der von den Kommunisten verwalteten Stadt fehlt ihm und seinen Eltern das Geld. [...] Michaela Wiegel: Pfiffe für die Marseillaise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.8.2004
4.7.4 Gettoisierung Eine Studie des französischen Inlandsgeheimdienstes Renseignements généraux (DCRG), die Innenminister de Villepin kürzlich vorgelegt wurde, beschreibt genau diese Entwicklung. In 300 von mehr als 630 beobachteten sogenannten „sensiblen Wohnvierteln“ in der Nähe der urbanen Ballungszentren in Frankreich haben die Geheimdienstagenten eine „Ghettobildung“ [Getto = Ghetto – Red.] festgestellt. Neben der „hohen Konzentration von Ausländern“ sei in diesen Ghettos der Fortbestand kultureller Gewohnheiten, von der Ernährungsweise mit importierten Waren bis zur Polygamie, zu beobachten, die eine Integration in die französische Gesellschaft erschwerten. In dieser in sich geschlossenen Gemeinschaft würden soziale Konflikte „parallel zu den Rechtsinstanzen“ gelöst. Die Schulen in den Vierteln stellten einen „Spiegel“ der Entwicklung dar.
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Bericht beruft sich auf befragte Lehrer, die von ` einerDer„Radikalisierung der Religionsausübung“ von jungen Muslimen sprechen, die auf Einhaltung der Fastenregeln während des Ramadan und bestimmter Nahrungsmittelverbote (nur Halal-Produkte) in den Schulkantinen bestehen. Die Mädchen würden einem Gruppenzwang zum Kopftuchtragen unterliegen. Im Geschichtsunterricht und in naturwissenschaftlichen Fächern sähen sich Lehrer mit Einwänden muslimischer Schüler konfrontiert. Mädchen wiederum weigerten sich zunehmend, am Sportunterricht und an außerschulischen Aktivitäten (Klassenfahrten, Ausflügen) teilzunehmen. Der Geheimdienst stellt fest, daß in zweihundert Wohnvierteln islamistische Prediger großen Einfluß haben. Ihre Bekehrungsversuche „tragen Früchte, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, die von islamischen Sport- oder erzieherischen Vereinen betreut werden“, heißt es in dem Bericht. Michaela Wiegel: Pfiffe für die Marseillaise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24,8.2004.
4.7.5 Aufbruch aus dem Ghetto Durch Karrierebewusstsein, aber auch durch ein neues Interesse am Koran bestimmen junge Musliminnen ihre Identität. Protestmärsche und Bomben, Prozesse und Repression: Bis vor kurzem bekämpften Staat und muslimische Extremisten sich mit allen Mit-
teln. Doch jetzt reklamiert ein kompromissbereiter Islam seinen Platz im öffentlichen Leben Frankreichs. [...] Frankreichs Muslime wollen raus aus dem Ghetto. Lhaj Thami Breze ist der Stolz anzumerken, wenn er Besucher durch eine der modernsten Moscheen des Landes führt. Schönheitsfehler stören den Präsidenten der Union islamischer Organisationen in Frankreich nicht. Seinem Prachtstück fehlen Minarette. Nicht einmal ein Schild kündet von der Weihe des Gebäudes. Obendrein steht es in einem Industriegebiet nordöstlich von Paris, nahe der Trabantenstadt La Courneuve, eingeklemmt zwischen eine Autobahn und einen Recyclinghof. Von außen sieht der verspiegelte Klotz, Breze sagt es selbst, „wie ein Postamt aus“. Aber die Moschee ist neu, und sie ist groß. 1 200 Gläubigen bietet der Gebetsraum Platz. Er hat den Charme einer Turnhalle, ist aber kein Vergleich zu jenem Keller im 18. Arrondissement in Paris, in dem Brezes Organisation vorher saß. Moscheen dieser Größe gibt es nicht mal zehn in ganz Frankreich. Das Geld für den Neubau kam vor allem aus SaudiArabien. Überhaupt steht Brezes Organisation, Dachverband von mehr als 200 Moscheen und Kulturvereinen, im Ruf, ein Ableger der islamistischen MuslimBruderschaft in Ägypten zu sein. Der joviale Bartträger im Vertreter-Outfit jedenfalls ist ein geschickter Lobbyist der islamischen Sache, der nichts so sehr bedauert wie die Zersplitterung der muslimischen Szene: Konkurrierende Netzwerke sind einander nicht grün. „Wir haben es nicht nötig, uns widerwillig tolerieren zu lassen“, unterstreicht Breze trotzig, „der Staat muss uns akzeptieren – mit unserer Identität und unserer Form der Religiosität.“ [...] Mehr aus Pragmatismus denn aus Einsicht erkennen die Verfechter muslimischer Interessen heute den Laizismus an. Aber als zweitgrößte Religionsgemeinschaft im Land nach der katholischen Kirche (und weit vor den protestantischen Kirchen) fordern sie den Staat dennoch heraus. Bei Verfechtern des Laizismus weckt das die Furcht vor einem neuen Kulturkampf, wie ihn die Politik bis 1905 mit der katholischen Kirche ausfocht. [...]
Die Trabantenstädte sind der Nährboden des Islamismus Foto: © Helmut Fricke (FAZ 24.8.04)
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Zu den Jahrestreffen der Jungen Muslime kommen bis zu zehntausend Jugendliche aus ganz Frank-
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Überall in Moscheen und Bibliotheken wird an diesem Jahrhundertprojekt gebastelt. Es ist wie eine zweite Geburt des Islam. In einem Eckhaus im Bahnhofsviertel von Bordeaux tüftelt Tareq Oubrou eine europäische Konzeption des islamischen Rechtssystems aus, der Scharia. Der Imam der Moschee El Huda hüpft fast vor Reformeifer und Energie. Ach, wenn es nur mehr islamische Literatur auf Französisch gäbe, wenn die jungen Leute endlich mitreden könnten!
Das Freitagsgebet in einer Moschee in Lyon. Die Moschee wurde 1994 gebaut, sie fasst bis zu 1 100 Betende. Das Minarett ist 25 m hoch. Fotos: © picturealliance, Pascal Deloche
reich. Der Islam mit seinem rigiden Wertesystem bietet ihnen, was sie am meisten suchen: Halt. Die Chancen junger Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt sind nicht gerade rosig. Sprachprobleme, schlechte Schulnoten, latenter Rassismus der Arbeitgeber – Tausende rutschen ab in die Drogen- und Gewaltszene der Betonvorstädte. Die Jungen Muslime dagegen sprechen von der Faszination des Islam, vom neu entdeckten Sinn ihres Lebens: „Mit 17 wusste ich nichts vom Islam. Meine Eltern hatten mir einen Ritus beigebracht, aber sie haben nichts begründet, nichts erklärt“, sagt Djounaid. [...]
Dann würde Oubrus „Islam des Möglichen“ noch rascher Gestalt annehmen, „ein dauerhaftes Experiment“, wie der Imam schwärmt. Und natürlich der Minderheitensituation französischer Muslime angepasst. Nichts, wovor der Staat sich fürchten müsste. Deshalb ist Oubrou Optimist: „Der kämpferische Laizismus – das ist doch passé. Das war nur ein Sonderweg der französischen Geschichte.“ Christian Sauer, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr. 9/1999
4.7.6 Eine ARD-Weltspiegel-Reportage aus Lyon Venissieux, die Trabantenstadt am Rande Lyons ist Unruheherd, Ghetto, Brutstätte des Terrors. 30 000 Einwohner leben hier, überwiegend Menschen islami-
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Glaubens. Vor drei Wochen wurden ein religiö` schen ser Führer und seine Familie wegen der Herstellung von Bomben festgenommen. Zwei weitere Männer von hier sitzen als Häftlinge in Guantanamo. Der Arbeitslose Patrick sagt, einer von zehn Jugendlichen ist hier bereit, den radikalen Islamisten zu folgen. [...] Ein Polizist resigniert: „Der Staat hat geschlafen und nun werden wir die kriminellen Fundamentalisten nicht mehr los.“ [...] Jeder zweite Einwohner hier ist arbeitslos, Perspektiven für Jugendliche gibt es kaum. Ein ideales Revier für islamische Fundamentalisten und ihre militanten Botschaften. Patrique zeigt uns den Boulevard Lenine 63. Der Fahrradkeller im Erdgeschoss. Spuren von Vandalismus. Jetzt ist er verschlossen. Noch vor kurzem wurde hier Hass gegen Frankreich und die westliche Welt gepredigt. Für diese Adresse interessieren sich mittlerweile alle westlichen Geheimdienste. Chellali Benschellali, der Imam aus dem Minguettes. Anfang Januar wurde er verhaftet. Französische
Terrorfahnder werfen ihm und seinen Söhnen vor, aus dem Minguettes das Terrornetzwerk von Al Quaida unterstützt sowie Giftgas und Anschläge vorbereitet zu haben. Manche Vorstädte gleichen islamischen Ghettos, die die Polizei kaum noch kontrollieren kann. Die will dazu nichts sagen. Aber ein Polizeigewerkschafter ist schließlich bereit, Auskunft zu geben. Nicht im Minguettes, außerhalb. Auch er hat Angst vor den Islamisten. Spuren der Nacht: Im Minguettes werden täglich Autos in Brand gesetzt. Allein im Januar waren es 45. Spiel, Rache oder Provokation, die Polizei ist hier ständig im Einsatz: Capitaine Pierre Boussac sagt: „Ein Ziel der Brandstifter ist es, die Polizei ständig zu beschäftigen. Währenddessen können die wirklich Kriminellen, können die Extremisten in Ruhe im Hintergrund ihre Aktivitäten vorbereiten.“ Die aber sieht man nicht. Die intellektuellen Brandstifter des heiligen Krieges, des Dschihad, bleiben meist im Verborgenen, kommen nicht in die Polizeistatistik. Die Festnahme Benschellalis war ein Erfolg – einer der wenigen. Auch die Politik findet kaum Antworten darauf, wie sie die Jugendlichen von den Fundamentalisten fernhalten soll. Bürgermeister André Guerin dazu: „Ich sage meinen Jungen aus dem Viertel: Erstens lasst Euch nicht provozieren Dummheiten zu machen, weil jedes Mal die Polizei kommt. Aber lasst Euch nicht von den radikalen Islamisten ansprechen und verführen. Und ich sage meinen islamischen Mitbürgern: Ihr müsst diese Leute bekämpfen, die den radikalen und politischen Islamismus predigen. Wenn ihr das nicht tut, werdet ihr mit denen in einen Topf geworfen. Ich reiche Euch die Hand, denn ich weiß, in Frankreich gibt es einen friedlichen Islam, der die Gesetze unserer Republik achtet.“ [...] Der Bürgermeister will [drei Wohntürme] bis Ende des Jahres abreißen. Um den Bürgern mehr Platz zu geben. Und nach 40 Jahren – so sein Ziel – müsse hier endlich eine Moschee entstehen anstelle von Fahrradkellern. Für ihn wäre das eine Maßnahme im Kampf gegen den Terrorismus – und der beginnt für ihn vor der Haustür. Marion von Haaren: Weltspiegel – Frankreich: Terrornest in der Trabantenstadt, http://www.ndrtv.de/weltspiegel/20040208/frankreich.html, 21.8.04
Die große Moschee von Paris (Institut Musulman) Foto: © AP, Francois Mori
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` 4.7.7 Paris fürchtet Islamisierung Die Umwandlung Frankreichs in eine islamische Republik ist das langfristige Ziel der islamischen Organisation UOIF. Die Organisation bekräftigte diese Absicht anlässlich ihrer Jahresversammlung. Auf den Hinweis von Innenminister Nicolas Sarkozy, dass die französischen Gesetze auch für die in Frankreich lebenden Moslems gelten, reagierten die zum fundamentalen Islam neigenden UOIF-Militanten – darunter viele Frauen – mit lautstarken Pfiffen und Protesten. Schritt für Schritt wollen sie die französischen Gesetze im Sinne des Islam korrigieren. Nicht die französischen Gesetze, sondern jene des Islam (Scharia) sollen das Leben der in Frankreich ansässigen Moslems regeln. Deren Zahl wird von Fachleuten auf über fünf Millionen geschätzt, zum Ende dieses Jahrhunderts könnten sie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bilden. Auf der Grundlage der gegenwärtigen Verfassung wäre diese Mehrheit befugt, die laizistische Republik Frankreich in eine islamische Republik zu verwandeln. In Paris ist man jedenfalls hellhörig geworden. Bildungsminister Luc Ferry plant ein striktes Verbot des Kopftuchs in den Schulen.
4.7.9 Der importierte Konflikt
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Nahost-Konflikt wird in Frankreich ausgetragen [...] Allein in diesem Halbjahr wurden in Frankreich 510 antisemitische Straftaten und Drohungen registriert. Anfang Mai wurde der Rabbiner von Creteil als „dreckiger Jude“ beschimpft und geschlagen. Ende April wurden auf einem jüdischen Friedhof nahe Colmar Grabsteine umgestürzt und mit Parolen wie „Juden raus“ oder „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ beschmiert. Die meisten Täter sind arabischstämmige Jugendliche, die ihren Frust über den Nahost-Konflikt an französischen Juden auslassen. Viele von ihnen haben sich nicht in die französische Gesellschaft integriert. Sie werden von fundamentalistischen Gruppen instrumentalisiert. „Solange das Problem zwischen Israelis und Palästinensern nicht gelöst ist, werden antisemitische Übergriffe in Frankreich zunehmen“, sagt Weintraub. Rund 600 000 Juden leben in Frankreich. Damit hat das Land nach Israel und den USA weltweit die drittgrößte jüdische Gemeinde. Außerdem gibt es dort etwa fünf Millionen arabischstämmige Menschen. Regelmäßig kommt es zu Konflikten. [...]
Uwe Karsten Petersen: Paris fürchtet Islamisierung, in: Nürnberger Zeitung 23.4.2003 Ayhan Bakirdögen, Gesche Wüpper: Scharons kalkulierter Eklat, in: Welt am Sonntag 25.7.2004
4.7.8 Karikatur 4.7.10 Europa wird den Islam haben, den es verdient – Ein Interview der „Reformierten Presse (Beilage Annex)“ mit Soheib Bensheikh [...] Marianne Weymann, Annex: Gibt es Fälle, in denen das islamische Recht mit dem positiven Recht, wie wir es hier in Europa kennen, in Konflikt gerät?
Abb.: © Ivan Steiger (FAZ 11.2.04)
Bensheikh: Ja, oft. Aber das ist keine muslimische Spezialität. Weder das katholische kanonische Recht noch der Talmud sind mit dem positiven Recht vereinbar, aber das hindert weder Christen noch Juden daran, als gleichberechtigte Partner am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Auch das islamische Recht, selbst wenn es so archaisch und obsolet bleibt, wie es ist, kann da kein Hindernis sein, denn im Konfliktfall hat das positive Staatsrecht immer Vorrang. Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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muss sich das islamische Recht ändern, ` Trotzdem denn es wurde für Situationen geschaffen, die es heute nicht mehr oder kaum noch gibt. Was in einem Jahrhundert Gerechtigkeit war, kann in den folgenden Jahrhunderten zum Unrecht werden, wenn sich das Gesetz nicht ändert. [...] Sie haben gesagt, dass das islamische Recht geändert werden muss, um zeitgemäß zu sein. Was darf denn im Islam nicht verändert werden? Der Text. Der Koran. Der Koran ist die einzige Grundlage und die einzige Autorität. Das ist wie im Protestantismus: Nur der Text zählt. Der Islam will den direkten, intimen Kontakt zu Gott ohne Umweg über eine Kirche oder einen Klerus. Es gibt keinen Papst, es gibt keine Priester, es gibt nur den Text. Aber der Koran ist doch auch in einer bestimmten historischen Epoche verfasst worden. Natürlich ist er das. Einen Text muss man lesen. Das heißt, wir müssen nach dem Sinn des historischen Textes für uns heute fragen und uns nicht an dem geschriebenen Buchstaben festhalten. Auch im Koran selbst steht, dass er interpretiert werden muss. Das ist eine Einladung an die menschliche Intelligenz, den Koran zu reaktualisieren, so dass er für jede Epoche lebendig bleibt. In Europa gibt es die Ansicht, dass der Islam unvereinbar mit den abendländischen Werten ist, weil er das Religiöse nicht vom Politischen zu trennen vermag. Was halten Sie davon? Das sind Vorurteile. Auch in Frankreich hat die katholische Kirche nicht die Trennung vom Staat gewollt. Verallgemeinert kann man sagen, dass keine Religion ihre Trennung vom Staat erfindet. Die Trennung wird ihr aufgezwungen. Die Türkei war einmal Herz des islamischen Kalifats, und trotzdem hat der Islam die drastische Laizisierung unter Mustafa Kemal hinnehmen müssen. Aber wirklich gläubige Muslime müssen jetzt auf dieser Trennung bestehen, denn nur sie kann ihre Religion von dieser unwürdigen Vereinnahmung durch die Politik befreien, die wir in den muslimischen Staaten erleben.
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In einem Beitrag zum 11. September sagen Sie, dass die europäischen Staaten die Redefreiheit oft zu wenig restriktiv auslegen. Es gibt wohl Freitagspredigten, die ziemlich politisch aufgeheizt sind. Ganz genau. Wissen Sie, Europa wird den Islam haben, den es verdient. Wenn es den Islam von Cordoba oder Toledo, Ausdruck einer großen Zivilisation und tiefen Spiritualität, fördert, wird es ihn haben. Aber wenn die Europäer nicht aufpassen und zulassen, dass der Islam weiter auf diese anarchische Art ausgeübt wird, dass Obskurantismus und politischer Radikalisierung Tür und Tor geöffnet werden, dann ist das außerordentlich gefährlich. Das Gesetz ist für alle da, und jeder Aufruf zum Hass, jede Radikalisierung, jede implizite oder explizite Verwerfung der Menschenrechte oder der religiösen Werte und Freiheiten, die die Grundlage unserer westlichen Gesellschaften bilden, muss verfolgt und bestraft werden. Das wird dem Islam nicht schaden, im Gegenteil, das wird ihn von diesen Parasiten befreien, die die Tat- und Redefreiheit ausnutzen, um der westlichen Gesellschaft, aber auch dem Islam selbst zu schaden. [...] In „Marianne et le prophète“ sagen Sie, dass der Islam es bisher versäumt hat, eine Theologie des Islam als Minderheit zu formulieren. Was ist der Unterschied von Mehrheits- und Minderheitstheologie? Eine Mehrheitstheologie war zum Beispiel die katholische Theologie in der Vergangenheit. Eine Mehrheitstheologie drückt der Gesellschaft ihren Standpunkt auf. Minderheiten können nur existieren, wenn sie von der Mehrheit in Schutz genommen werden. So wird aus einer Botschaft eine etablierte Gesellschaftsordnung. Zur Botschaft gehört die Freiheit, sie anzunehmen oder abzulehnen, und das kann nur aufgrund einer freien Gewissensentscheidung geschehen. Wir brauchen eine Theologie, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt hält, sonst wird der Islam von den Ereignissen überrollt. Eine Minderheitstheologie hieße also, den Islam als eine gleichberechtigte Religion unter vielen anzusehen. Widerspricht das nicht dem Status des Islam als offenbarter Wahrheit?
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Anm.: Soheib Bensheikh wurde 1961 als Sohn eines algerischen Diplomaten im saudi-arabischen Jidria geboren. Nach dem Studium an der Al-Ahzar-Universität in Kairo und einer Promotion in Religionswissenschaften an der Pariser Ecole pratique des hautes études wurde er 1995 vom Rektor der Pariser Moschee zum Grossmufti von Marseille ernannt. Seine wichtigste Veröffentlichung, „Marianne et le prophète“ (1998) behandelt das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen in der französischen Gesellschaft.
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Die Pariser Moschee wurde nach dem Ersten Weltkrieg in Anerkennung der Opfer gebaut, die muslimische Soldaten aus Nordafrika für Frankreich gebracht hatten. Foto: © dpa, Johanna Hölzl
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4.8 Alltagsfragen 4.8.1 Alltag 1 Youcef Makrougerass (43) hat sich bereits seine Leica M6 um den Hals gehängt und hofft hie und da ein paar gute Schnappschüsse einzufangen. „Seit 30 Jahren lebe ich in Frankreich. Aber mein Herz und meine Kultur sind fest in Algerien verwurzelt“, sagt der in Paris frei arbeitende Fotograf. Betende Muslime in Marseille. Über vier Millionen von ihnen leben derzeit in Frankreich und verrichten häufig die schlechtesten Arbeiten. Foto: © corbis, David Turnley
Ja und nein. In den Augen der Menschheit ist der Islam eine Religion so gut wie irgendeine andere, auch wenn jeder seine eigene Religion für die beste hält. Der laizistische Geist der französischen Gesellschaft lässt es nicht nur zu, dass aus den Gegnern von einst die Partner von heute werden, sondern er lässt auch die verschiedenen Weltanschauungen weiter nebeneinander bestehen. Die Juden können weiter glauben, dass sie das auserwählte Volk sind, die Christen, dass es kein Heil außerhalb der Kirche gibt, und die Muslime, dass sie die beste Religion haben. Wichtig ist nur, dass diese Überzeugung nicht das gesellschaftliche Zusammenleben behindert. Marianne Weymann: Europa wird den Islam haben, den es verdient, in: Annex – Die Beilage der reformierten Presse, 10/2002, S. 6ff.
Natürlich erziehe er seinen 13-jährigen Sohn Chahine nach den Regeln des Islam. „Das finde ich gut. Es ist doch unsere Religion. Das dürfen wir nicht vergessen“, sagt er wie viele junge Leute hier ganz selbstverständlich. Karim zum Beispiel ist kürzlich 23 geworden. Er ist von Beruf Webmaster bei einer Versicherungsfirma und stammt ursprünglich aus Marokko. Als Karim vor zwei Jahren die Geburtsstätte seines Großvaters besuchte, sei ihm klar geworden, dass dort etwas lag, was ihm Frankreich nicht bieten konnte. „Eine innere Heimat“, sagt Karim, der erst nach dem besagten Urlaub zum praktizierenden Moslem wurde. Was für ihn auch bedeutet, kein Schweinefleisch zu essen und Alkohol zu meiden. Ähnlich geht es Aissata Bokoum, die 1994 vom Senegal nach Paris kam und heute als Friseuse arbeitet. „Ich habe mein Land wegen der schlechten wirtschaftlichen Bedingungen verlassen. Meinen Glauben und meine Seele habe ich aber mitIslam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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Im Koran finde ich Ruhe und Kraft. So ` genommen. wie ein Christ dies in der Bibel findet“, sagt die 28-jährige. Ob sie sich vorstellen kann, einen Christen zu heiraten? „Klar, nur leider kenne ich kaum welche“, lächelte die zierliche Frau und zupft verlegen an ihren Haaren.
Im Alltag unter sich Genau das scheint das Problem zu sein. Bis auf die üblichen Kontakte am Arbeitsplatz bleiben Frankreichs Muslime im Alltag unter sich. „Ich weiß nicht genau, woran das liegt, aber der Islam und Frankreich, selbst wenn es nach außen unproblematisch aussieht, sind sich fremd. Als ob da noch eine Rechnung zwischen beiden offen sei. Wie soll so ein wirkliches Gemeinschaftsgefühl entstehen“, meint Arzt Ali Aissaoui (33), der vor zehn Jahren aus Palästina nach Frankreich übersiedelte. Zum einen habe Frankreich seine jüngste Geschichte noch nicht aufgearbeitet. Zum anderen interessiere sich der Franzose nicht fürs Fremde. „Man kehrt lieber unter den Teppich, als sich der Realität zu stellen. Vermutlich kratzt die am Lack des Landes“, sagt er. [...] In der Tat. Für die muslimischen Nachbarn, hört man sich unter den Franzosen um, interessierte sich bis zum 11. September 2001 kaum jemand. Daran hat sich bis heute wenig, wenn überhaupt etwas, geändert. Muslime waren und sind einfach da. Muslime wurden und werden mehr oder minder toleriert. Als Kaufmann an der Ecke, wo man sonntags und während der Woche bis gegen 23 Uhr noch eine Flasche Wein kauft. Als Fußballstar, den man für das Wohl des Landes anfeuert. „Kontakt? Warum? Die meisten leben doch eh abseits von uns“, sagt Dimitri Lefevre (30). Darüber hinaus seien sich die Kulturen zu fremd. So unbekannt und unterschiedlich sogar, dass, so Umfragen, in Paris kaum jemand wusste, was denn eigentlich der Islam als Glaubensrichtung darstellt. Sönke Giard: Toleranz am Arbeitsplatz ja – private Kontakte nein. Frankreich: Über vier Millionen Muslime suchen ihren Weg, in: Weltreligion Islam, Bundeszentrale für politische Bildug (Hrsg.), Bonn 2002, S. 117f.
4.8.2 Alltag 2 Tarik, 23, ein Wandler zwischen den Welten: eine weiße Mütze, ein lichter Bart, eine Dschellaba, das tra76
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ditionelle muslimische Gewand. Damit würde er gut nach Bab El-Oued, einem berüchtigten Stadtteil von Algier, passen. Aber modische Lederjacke und fesche Turnschuhe verraten, daß Tarik in Westeuropa, in einem Pariser Vorort lebt. „Klar bin ich Franzose – aber vor allem auch Muslim“, sagt der gelernte Koch, der seit vier Jahren einen regulären Job sucht. „Bevor ich vor einigen Monaten zum Glauben zurückfand, habe ich gelebt wie ein Gauner“, fügt er schnell hinzu, „nur noch der Islam konnte mich retten.“ Auf ein längeres Gespräch will Tarik sich nicht einlassen. Denn gleich beginnt der nächste Vortrag auf dem Kongreß des Jugendverbandes Jeunes Musulmans de France (JMF) in Le Bourget bei Paris. Und es spricht Hassan Iquioussen, der populäre JMF-Präsident. Sein Thema: „Muslim sein.“ „Habt keine Angst vor Kritik. Unsere Religion steht nicht im Widerspruch zur Vernunft“, macht Iquioussen seinen rund 3 000 Zuhörern Mut, „ihr dürft euch nicht immer als Opfer fühlen [...] wir müssen uns überall engagieren [...] es ist höchste Zeit, daß die jungen Muslime ihre Stimme erheben.“ An solche Töne werden die Franzosen sich gewöhnen müssen. Immer mehr Nachkommen der rund 2,5 Millionen Einwanderer aus Algerien, Marokko oder Tunesien entdecken den Islam. Und es ist vor allem die hoffnungslose Lage in vielen Vorstädten, welche die jungen Menschen zurück zu ihren Ursprüngen treibt. Wo Arbeitslosigkeit, Drogen und Gewalt die Identität von jungen Menschen zerstören, wollen sie „die Gemeinschaft wiederaufbauen und die Muslime um ein Lebensmodell vereinen, daß vollkommen am Islam ausgerichtet ist“, schreibt der renommierte Islamforscher Gilles Kepel in seinem Buch „Westlich von Allah“. [...] Das Vertrauen in die zahlreichen Sozialeinrichtungen haben viele Vorstadtjugendliche schon verloren, zeigt Jazouli in seiner Studie: Die einen vergreifen sich an deren Vertretern, weil sie ihnen keinen richtigen Job besorgen können. Die anderen gehen schon gar nicht mehr hin – weil das inzwischen als lächerlich gilt.
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So driften immer mehr dieser galeriens - jener, die ` ziellos umherrudern – langsam, aber sicher in den Teufelskreis von Drogen und Delinquenz. „Der Mißbrauch nimmt ständig zu – und damit die Kriminalität“. [...] Das alles macht die zahlreichen muslimischen Vereine im Umfeld der Moscheen heute um so attraktiver. Diese Vereine geben oft konkrete Hilfe – gerade in Roubaix. Jeder dritte Einwohner der Stadt ist Muslim, und die Arbeitslosenquote schlägt Rekorde. „Die Besucher der fünf Moscheen der Stadt werden immer jünger“, berichtet Xavier Delerue, stellvertretender Bürgermeister von Roubaix, „die muslimischen Vereine erreichen inzwischen mehr Jugendliche als so manche kommunale Einrichtung. Aber darüber können wir uns nur freuen.“ Schon heute ist die Moschee praktisch ein Jugendzentrum. Zwar ist da der Gebetsraum mit der minbar, der Kanzel, gespendet vom marokkanischen König Hassan II. Aber neben dem Beten scheinen die anderen Aktivitäten genauso wichtig: Drogenberatung, Bosnienhilfe, Frauensport, Religionsunterricht, Schülerbetreuung, Arabischkurse [...] Der Grund für die empfindliche Reaktion ist nicht nur Frankreichs traditionelle Angst vor dem Islam, sondern auch das Integrationsmodell, an dem das Land nach wie vor festhält: Individuen sollen sich als solche in die Gesellschaft eingliedern – und nicht als Mitglied einer ethnischen oder religiösen Gruppe. „Frankreich fürchtet, daß die Nation in viele kleine Gruppen zerfällt wie etwa in den Vereinigten Staaten“, erklärt Jazouli, „aber beim Islam funktioniert das Integrationsmodell schlecht. Helfen kann nur ein Konkordat mit dem Islam. Die zweite Religion des Landes muß so behandelt werden wie die anderen.“ Ludwig Siegele: Mit Allah gegen die Armut, in: Die Zeit 2.6.1999
4.8.3 Die Rolle der Moschee-Vereine Paris, 25. November. Der Bau der sogenannten Großen Moschee in Straßburg ist fraglich geworden. Das seit Jahren beabsichtigte Projekt kam durch ein Schreiben der Straßburger Bürgermeisterin Fabienne Keller und des Präsidenten des Umlandverbandes, Robert Grossmann, an die Vereinigung der Muslime
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von Straßburg ins Gerede. Keller und Grossmann, die beide der bürgerlichen Partei UMP angehören, binden in dem Brief ihre Bereitschaft, zehn Prozent der Baukosten zu übernehmen, an die Zusicherung der Muslime, für einen „republikanischen und französischen Islam“ einzutreten.
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Darunter verstehen die Verfasser unter anderem den Gebrauch der französischen Sprache bei religiösen Veranstaltungen sowie die Anerkennung der Gleichberechtigung der Frau in der französischen Gesellschaft. Die Vereinigung der Muslime wird zudem aufgefordert, ihre Einstellung gegenüber dem im Lande umstrittenen Tragen von Kopftüchern in Schulen zu äußern. Schließlich sorgen sich Keller und Grossmann auch um den Beitrag der Muslime zur öffentlichen Sicherheit. Einzelne Stadtviertel in Straßburg mit einem hohen arabischen Bevölkerungsanteil, zum Beispiel Neuhof, gelten seit Jahren als Brutzentren der Gewalt. Auch wenn die Vereinigung der Muslime nicht für die öffentliche Unsicherheit verantwortlich gemacht werden könne, so wäre es doch erwünscht, wenn sich ihre Vertreter stärker gegen die Gewalttätigkeiten junger Muslime einsetzen würden, heißt es in dem Schreiben. Im Großraum Straßburg leben etwa 40 000 Muslime. gb.: Bedingungen für Moscheebau in Straßburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.11.03
4.8.4 Die Imam-Frage 1 Aus einem Interview mit dem Großmufti von Marseille Soheib Bensheikh [...] Wie werden [...] zurzeit die Imame in Frankreich ausgebildet? Bensheikh: Überhaupt nicht. In Frankreich nicht, fast hätte ich gesagt: nirgendwo. Es gibt hier drei Arten von Imamen: Die besten haben zwar eine Ausbildung zum Imamat, aber sie kommen aus einer ländlichen nordafrikanischen Umgebung und finden sich plötzlich in der Hektik einer französischen Großstadt wieder. Weil sie selbst Integrationsprobleme haben, verbieten sie alles, was sie nicht kennen. Dazu kommt noch eine Sprachbarriere, weil diese Imame auf Arabisch predigen, während die Muslime hier immer Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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französisch sprechen. Dann gibt es noch Stu` mehr denten, meistens aus naturwissenschaftlichen Fächern. Die haben zwar eine bessere Allgemeinbildung, aber sie verstehen nichts vom Islam. Sie ersetzen ihre fehlende theologische Kompetenz durch einen religiösen Rigorismus, das Gesetz besteht nur noch aus Verboten. Sie haben zwar keinerlei administrativen Einfluss, aber sie sorgen bei den Gläubigen für Schuldgefühle und Komplexe. Und dann haben wir noch Imame, die einfach fanatische Extremisten sind. Das muss um jeden Preis bekämpft werden. Die Lösung ist, dass die französische Gesellschaft ihre eigenen Imame ausbildet, sie mit der französischen Gesellschaft vertraut macht, dass sie wirklich den Islam lernen und nicht irgendeine Ideologie und dass sie den Islam auf Französisch für junge Franzosen in einem französischen Rahmen predigen. Sonst wird der Islam in Frankreich immer eine Religion der Ausländer bleiben. [...] Marianne Weymann: Europa wird den Islam haben, den es verdient, in: Annex – Die Beilage der reformierten Presse, 10/2002, S. 6 ff.
Anm.: vgl. 4.11.1
4.8.5 Die Imam-Frage 2 [...] In Frankreich lehren nach amtlichen Schätzungen 1 000 bis 1 500 Imame, von denen weniger als zehn Prozent die französische Staatsangehörigkeit besitzen. Die meisten kommen aus Marokko und Algerien. Des Französischen oft nur unzulänglich mächtig, häufig ohne nachweisbare theologische Ausbildung, legen sie den Islam nach eigenem Gutdünken aus. Und ihre Predigten werden zunehmend radikaler; fundamentalistische Bewegungen wie die Salafija, die eine Rückkehr zum „reinen“ Islam fordern, gewinnen rasch an Einfluss. In den vergangenen zehn Monaten ließ die Regierung ein Dutzend Imame ausweisen, die eine „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ darstellten. Der erst vor kurzem geschaffene Rat der Muslime in Frankreich aber scheint hilflos. Roman Leik: Auf den Hintern, Der Spiegel 18/2004, S. 140
Anm.: Vgl. 3.19.3 zu Großbritannien
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4.9 Ein französischer Zentralrat der Muslime 4.9.1 Der Conseil français du culte musulman Probleme einer nationalen Repräsentanz Bis vor kurzem, bis zur Gründung des Rates der Muslime in Frankreich gab es keine repräsentativen Gesprächspartner für die französische Regierung auf muslimischer Seite. Die französische Regierung versuchte daher die Entstehung einer nationalen Vertretung zu steuern bzw. zu beeinflussen. Erschwert wird die Frage der Repräsentanz dadurch, dass aus Algerien, Marokko, der Türkei und Saudi-Arabien politisch und mit Geld sehr intensiv versucht wird, Einfluss zu nehmen auf die muslimischen Gemeinden, bis hin zu deren Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern, wie es auch in anderen Ländern der Fall ist. Außerdem nehmen weniger oder wenig gläubige Muslime seltener an den Wahlen zu einer Repräsentanz teil, so dass die streng gläubigen Muslime in den Vertretungen weit überproportional vertreten sind. Zudem ist zu fragen, wie weit es der Staat der Mehrheit der Muslime , aber auch dem Gemeinwesen insgesamt zumuten kann, dass in diesen Vertretungen Islamisten und Fundamentalisten staatlich geförderte Propagandamöglichkeiten erhalten. (Die Frage ist also, wie lässt sich dauerhaft eine repräsentative Vertretung aller Muslime schaffen, die als Teil der demokratischen Zivilgesellschaft verantwortungsvoll sowohl für ihre Interessen wie für das gesamte Gemeinwesen einsteht. – Red.)
4.9.2 Der Ausgang der Wahlen An den Wahlen zum obersten Ersten Verwaltungsrat aller Verbände beteiligten sich 90 Prozent der 4 000 Wahlmänner aus 995 Moscheen und Gebetshäusern. Vorsitzender soll nach den Wünschen von Staatspräsident Jacques Chirac der Rektor der Moschee von Paris, Dalil Boubakeur, werden. Er gilt als gemäßigter Islamvertreter. Der Islam ist heute die zweitgrößte Religion in Frankreich.
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Die Wahl am 6. und 13. April verlief ohne ` Zwischenfälle. Ihr Ergebnis spiegelt den Einfluss der bestimmenden islamischen Strömungen wider: Von den 41 zu vergebenden Sitzen errang die Marokko nahe stehende Nationalvereinigung der Moslems in Frankreich (FNMF) 16 Mandate. Als zweitstärkste Kraft wird die Union islamischer Organisationen in Frankreich (UOIF) mit 14 Sitzen im Rat vertreten sein. Nur sechs Plätze bekam die nach Algerien orientierte Moschee von Paris unter Boubakeur, dem als Minderheitspräsident sogleich eine schwierige Amtszeit vorausgesagt wird. Mit der Wahl des obersten Gremiums will die französische Regierung die Moslems im Land verwaltungstechnisch erfassen. Bisher teilten sich unzählige Verbände, Vereinigungen und kleinere Gruppen ihre Anhänger auf. Ein Streitpunkt war für Paris die unklare Finanzierung der Moscheen. Die neue Struktur soll mehr Transparenz bei der Finanzierung, insbesondere aus den Golfstaaten, ermöglichen. Weiter will Paris mit dem neuen Dachverband den Bau neuer Moscheen regeln. Umstritten sind riesige Moscheeprojekte in Straßburg und Marseille. Weiter geht es um den religiösen Brauch des Schlachtens von Lämmern ohne Betäubung (Schächten) und die Errichtung von islamischen Fleischereien (Halal). Auch das Tragen von Kopftüchern in den Schulen ist nicht einheitlich geregelt. Die Verbände verlangen ihrerseits Raum für islamische Grabstätten auf französischen Friedhöfen. Sorgen machen der französischen Regierung vor allem die Radikalisierung besonders junger Moslems. Fanatische Religiöse sind in allen Moscheen auszumachen. Der erste französische Moslem-Rat wurde aufgefordert, die Ausbildung von Vorbetern in den Moscheen (Imame) neu zu ordnen. Künftig sollen gemäßigte Kräfte Schlüsselstellungen besetzen. Lutz Hermann: Frankreich setzt bei Muslimen auf Integration und Kontrolle, in: Stuttgarter Nachrichten 14.4.2003
4.9.3 Frankreichs Muslime bekommen einen Zentralrat [...] Dalil Boubakeur, der neue Religionsführer der fünf Millionen Muslime in Frankreich, sieht nicht aus
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wie ein Eiferer im Namen des Herrn. Seitdem die Vertreter der insgesamt tausend muslimischen Kultstätten in Frankreich zum ersten Mal in der Geschichte der Republik einen Zentralrat gewählt haben, den Conseil français du culte musulman, muss sich der 63 Jahre alte Boubakeur sogar um besondere Mäßigung bemühen.
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Für Innenminister Nicolas Sarkozy ist die Interessenvertretung der Muslime ein Kernstück seiner Integrations- und Immigrationspolitik. Er will die zweitgrößte Religionsgemeinschaft Frankreichs aus ihren "Kellern und Garagen" herausholen, um sie dem radikalisierenden Einfluss obskurer Imame zu entwinden. Woran vier seiner Amtsvorgänger gescheitert waren, das hat Sarkozy in einem Jahr geschafft – nicht zuletzt angetrieben durch den heraufziehenden Irak-Krieg, der es umso dringlicher machte, Frankreichs unruhige Muslime durch öffentliche Anerkennung zu domestizieren. [...] Doch mit dem Ende ihres spirituellen Schattendaseins werden auch die innerislamischen Spannungen öffentlich. Denn den Zentralrat dominieren – wenig verwunderlich – jene organisierten Gruppen, die auch im Land die Mehrheit stellen: Fundamentalisten, deren strenge Sitten und Glaubensvorstellungen mit dem Grundsatz der französischen Republik kollidieren, wonach die Religionszugehörigkeit keine Rolle im öffentlichen Leben spielen darf. [...] „Ich bin kein Religionspolitiker, sondern ein Arzt, der es gewohnt ist, bei pathologischen Fällen Hilfe zu leisten“, sagt Boubakeur. Für ihn haben die Wahlen deutlich gemacht, wie fundamentalistisch der Islam in Frankreich ist. Aber in Belgien, Deutschland, Großbritannien oder Italien organisieren sich die Gemeinden ebenfalls meist um fundamentalistische Kerne. „Der europäische Islam“, seufzt Boubakeur, „geht diesen Weg, weil er das Geld der Wahhabiten bekommt, das Erdöl-Geld aus Saudi-Arabien. Wir aber haben hier keine Ölquelle.“ [...] Bis zur Harmonie der Religionen ist es für Präsident Boubakeur noch weit. „Die stärksten Gruppen nutzen systematisch die Frustrationen der Jugendlichen in den Vorstädten aus.“ Gerade in den nach 1970 eingewanderten afro-arabischen Familien neh-
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die desorientierten Kinder begierig die Lehren ` men radikaler Muslime auf, die ihnen eine Ersatzidentität als panarabische Kämpfer predigen. Vor allem seit der zweiten Intifada im Herbst 2002 spielen die Jugendlichen mit blutigem Eifer den israelisch-palästinensischen Konflikt nach, als lägen die Pariser Satellitenstädte Créteil oder Sorcelles im Westjordanland. Michael Hönninger: Fatwa adieu – Frankreichs Muslime bekommen einen Zentralrat. Er soll den Islam einbinden und den Fundamentalismus zurückdrängen, in: Die Zeit 30.4.2003
4.9.4 Scharfmacherei und Meinungsmache – ein Fundstück aus dem Internet
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4.10 Die Kopftuchfrage in Frankreich – ein prinzipieller Gegensatz 4.10.1 Gegen die Unterwanderung der Republik Von September an sind religiöse Symbole aus den Klassenzimmern verbannt. Das Gesetz sorgt für Aufruhr unter den Muslimen. Ganz Frankreich kennt die Geschichte von Alma und Lila, Geschwistern aus dem Pariser Vorort Aubervilliers, die vor fünf Monaten vom Gymnasium flogen, weil sie im Unterricht ihr Kopftuch nicht ablegen wollten. Als Kompromiss hatte der Lehrer die diskreten „bandanas“ empfohlen – flotte Tücher, die Hinterkopf und Ohren frei lassen. Aber nein, die jungen Damen, 16 und 18 Jahre alt, kamen weiter im „Hidschab“, der von den frommen Mullahs geforderten Kopfbedekkung, die Haare, Hals und Ohren völlig verhüllt. Statt auf der Schulbank sitzen die Schwestern nun in Talkshows und beteuern unter Tränen, sie seien für ihre religiöse „Überzeugung“ bestraft worden. In aller Eile ist ein Buch erschienen, in dem Alma und Lila von ihrem Märtyrerinnen-Dasein erzählen; sogar die renommierte „Le Monde“ druckte lange Passagen ab.
Titelbild einer Ausgabe der Zeitschrift „Reconquête“ aus dem rechts-nationalistisch christlich-fundamentalistischen politischen Spektrum. Abb: © http://www.chez.com/reconquete/extraits/n197/couv.htm
Alma, 16, und Lila, 18, flogen vom Gymnasium, weil sie auf dem Schleier bestanden. Foto: © Getty-Images, Jack Guez
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Muslimische Mädchen demonstrieren gegen das Kopftuchverbot. (Vgl. Arbeitsaufgabe 9) Foto: © dpa, Abaca
Kein Thema bewegt die Franzosen derzeit so sehr wie der Kopftuch-Streit. Rektoren raufen sich die Haare, Frauenblätter entfachen Debatten, und eine von Präsident Jacques Chirac einberufene Kommission kam nach 17 Anhörungen von über 100 Wissenschaftlern und Religionsvertretern zu einem klaren Votum: In den Schulen solle das Tragen von „offenkundigen Zeichen einer religiösen oder politischen Zugehörigkeit“ untersagt werden; einem dementsprechenden Gesetz stimmte am 10. Februar mit überwältigender Mehrheit die Nationalversammlung zu. Die Verbannung religiöser Symbole aus den Klassenzimmern betrifft alle Konfessionen, große Kreuze oder die jüdische Kippa sind ebenfalls tabu. Hauptadressat ist indes der islamische Fundamentalismus unter den zirka fünf Millionen Muslimen Frankreichs eine kleine, aber mächtige Bewegung. Deren Aktivisten traten zuletzt immer offensiver auf, forderten Geschlechtertrennung beim Turnen, Schwimmbäder für
Mädchen und Betpausen während der Abi-Prüfung. Jüdische Schüler wurden von arabischen Kameraden gemobbt; Väter wollten ihre Töchter nicht von „gottlosen“ Ärzten untersuchen lassen. Immer mehr Muslimviertel entstehen – an Freitagen, wenn die Gläubigen mangels Moscheen auf den Straßen beten, sieht es in manchem Pariser Bezirk fast wie in Kairo aus. „Die Republik lässt sich nicht unterwandern“, erklärte Premier Jean-Pierre Raffarin. Der Beifall ist ihm gewiss in einem Land, das die strikte Trennung von Kirche und Staat seit 1905 geradezu eifersüchtig verteidigt. Fast alle Intellektuellen befürworten diese Haltung. Tilmann Müller: Gegen die Unterwanderung der Republik, in: Stern 15/2004
Anm.: Die beiden Mädchen stammen aus einer nicht religiösen Familie, haben aber Verbindung zu islamistischen Gruppen. Der Vater ist kein Muslim und die Mutter ist christlich getauft (Red.).
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` 4.10.2 Aufruf von Moslems gegen das Kopftuch Prominente unterstützen französische Regierung Fünfzig zum Teil bedeutende in Frankreich lebende Moslems arabischer Herkunft haben sich in einem gemeinsamen Aufruf gegen das islamische Kopftuch gewandt. Sie bezeichnen es als die wahre Standarte eines politischen Islamismus, der die Laizität des französischen Staates bedroht und eine gefährliche, perverse und für die Republik sogar tödliche Gefahr verkörpert. Der Appell, der von französischen Medien abgedruckt wurde, ist unterzeichnet von moslemischen Intellektuellen, Professoren und sogar Imams. Der Prominenteste ist der Groß-Mufti von Marseille, Soheib Bensheikh, Mitglied des neu gebildeten Französischen Rates des muselmanischen Kults. Mit-Unterzeichner sind auch die stellvertretende Bürgermeisterin von Lyon, Sabiha Ahmine, der Philosoph und Schriftsteller Mezri Haddad sowie arabisch-stämmige Richter, Lokalpolitiker, Journalisten und Unternehmer. Die bisher einmalige Aktion soll die Regierung des Premierministers Jean-Pierre Raffarin und seines Innenministers Nicolas Sarkozy stützen, die das islamische Kopftuch als Verstoß gegen die gesetzlich garantierte Trennung von Kirche und Staat in Schulen verbieten wollen und dabei auf heftigen Widerstand der Fundamentalisten der zweitgrößten Glaubensgemeinschaft Frankreichs stoßen. In dem Appell wird die schweigende Mehrheit der Moslems in Frankreich aufgefordert, sich endlich den Pressionen und Einschüchterungen der Radikalen zu widersetzen. Diese wollten einen aus dem Ausland importierten moslemischen Fundamentalismus politisch instrumentalisieren, so der Vorwurf. „Wir widersetzen uns jeder Kultur der Gewalt im Namen des Islam, der eine reaktionäre Mentalität offenbart.“ Dazu gehöre auch der surrealistische Kampf für das Kopftuch. Die Unterzeichner des Appells bezeichnen sich als Avantgarde der geschätzt rund sechs Millionen Moslems in Frankreich, die die Republik, die Laizität, den Bürgersinn und die Religionsfreiheit unnachgiebig verteidigen. Lutz Krusche: Aufruf von Moslems gegen das Kopftuch, in: Berliner Zeitung 15.5.2003
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Anm.: Der angesehenste Theologe der bedeutendsten islamischen Hochschule, Mohammed Said Tantawi, der Al-Azhar-Universität in Kairo unterstützt die französische Regierung in der Kopftuchfrage.
4.10.3 Emanzipation [...] Die 42 Jahre alte Französin, deren Eltern in den fünfziger Jahren aus Algerien eingewandert waren, berät vor allem muslimische Mädchen und Frauen über ihre Rechte, hilft in Notsituationen weiter. Sie glaubt nicht an eine islamische Bekehrung der Vororte. „Der Islam wird nur als Vorwand genommen für den Fortbestand eines patriarchischen Systems, in dem der Mann alle Recht hat und der Frau die Selbständigkeit verweigert wird“, sagt sie. Mit einer religiösen Überzeugung hätten die Fälle von Unterdrückung und Mißbrauch, von Gewalt in der Ehe und von Polygamie nicht viel zu tun. „Für mich handelt es sich um einen ziemlich dumpfen Machismo, der im Gewand des Islams daherkommt.“ Das Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen, das im September in Kraft tritt, hält Sarah Oussekine für „absolut notwendig“. Das Gesetz sei das einzige Mittel, die jungen muslimischen Frauen vom sozialen Druck zu befreien, der auf ihnen laste. „In den Schulklassen sind mehr als 80 Prozent der Kinder muslimischer Herkunft. Der Druck auf die Mädchen, ein Kopftuch zu tragen, ist enorm. Das Gesetz stellt eine klare Regel für alle auf“, sagt sie. [...] Michaela Wiegel: Pfiffe für die Marseillaise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.8.2004
Anm.: Sarah Oussekine arbeitet für die Frauenvereinigung „Voix d'elles rebelles“ in St. Denis, einem Pariser Vorort (Red.).
4.10.4 Kopftuch und Arbeitgeberrechte Lyon. Frauen mit islamischem Kopftuch können in Frankreich von ihrem Arbeitgeber entlassen werden, auch wenn sie keinen direkten Kundenkontakt haben. Das Arbeitsgericht von Lyon hat Mitte Januar 2004 die Klage einer Muslimin gegen ihre Entlassung abgewiesen, die nicht auf ihre rituelle Kopfbedeckung verzichten wollte. Dies berichtete die Deutsche Presse-
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(dpa). Der Arbeitgeber habe das Recht, auf ` agentur die Kleiderordnung des Unternehmens zu bestehen,
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befand das Gericht. Die 22 Jahre alte Klägerin Fatima Amrouche war 2003 als Telefonistin von der Gesellschaft Téléperformance eingestellt worden. Bereits nach zwei Monaten wurde ihr gekündigt, weil sie sich hartnäckig weigerte, ihr die Haare, Ohren und den Hals bedeckendes Tuch abzulegen oder wenigstens im Nacken zusammen zu binden. Amrouche ging daraufhin vor Gericht, verlangte ihre Wiedereinstellung und Schadenersatz. Das Gericht bescheinigte ihr aber „eine starrköpfige Haltung“ und wies die Klage ab. (esf) http://www.isoplan.de/aid/2004-1/recht.htm 25.4.04
Anm.: In Deutschland haben Gerichte anders entschieden und dem Arbeitgeber nicht das Recht eingeräumt, über das Kopftuch einer Verkäuferin in seinem Geschäft zu entscheiden (Rechtsstreit Fadime Carol). (Red.)
6.10.5 Zwischen Paris und Orient
Ja zum Schleier. Muslimische Schülerinnen demonstrieren gegen das Kopftuchverbot an Frankreichs Schulen. Text: © AP, Francois Mori
Viele Muslime betrachten sich als Brüder der Palästinenser und ziehen gegen die Politik Israels zu Felde. Focus 32/2003
Festtag und Demonstration: Muslime beten vor der großen Moschee in Paris am Ende des Fastenmonats Ramadan.
Foto: © Getty-Images, STEPHANE DE SAKUTIN/Stringer
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4.11 Reaktionen der französischen Regierung 4.11.1 Das Kopftuchverbot in Frankreich als Versuch, fünf Millionen Muslime zu integrieren Nichts ist in Frankreich heiliger als die Republik und ihre Werte. Die „Freiheit des Gewissens, die Gleichheit der religiösen und geistigen Überzeugungen und die Neutralität der politischen Macht“ sind die Pfeiler, auf denen das laizistische Frankreich ruht. Schleier, Kopftuch, jüdische Kippa und das große, vor der Brust getragene Kreuz in den Schulen des Landes sind deshalb in Zukunft verboten, weil sie nicht das Bekenntnis zum Glauben, sondern die demonstrative Ausgrenzung Andersdenkender bewirkten, heißt es im Text der Regierungskommission, die das jetzt angekündigte „Gesetz über Laizismus“ vorgeschlagen hatte. „Laïcité, liberté, égalité“ lautet der programmatische Titel eines Zeitungsartikels des früheren Premierministers Alain Juppé, immer loyal zum Präsidenten, mit bewußter Erinnerung an die Grundprinzipien der Französischen Revolution von 1789. Diese Fundamente des französischen Staates schienen durch einige fundamentalistische Muslime, die zwar längst einen französischen Paß haben, aber nie wirkliche Citoyens zu werden scheinen, ins Wanken zu geraten. „Es gibt Kräfte in Frankreich, die die Republik zu destabilisieren beabsichtigen“, heißt es bedrohlich im Bericht der zwanzig Sachverständigen, die fünf Monate lang in Anhörungen und Diskussionen eine Lösung für das Problem zu finden versucht hatten. Schon vor dem jetzt vorgelegten Kommissionsbericht war ein Parlamentsausschuß unter dem Vorsitz des Präsidenten der Nationalversammlung, Jean-Louis Debré, für ein völliges Verbot jeglicher religiöser Symbole in den Schulen, in der Verwaltung und in allen öffentlichen Betrieben eingetreten. Das jetzt vorgestellte Gesetzesvorhaben geht weit weniger weit, denn kleine, private und zurückhaltend getragene Glaubensinsignien wie ein christliches Taufmedaillon oder das Hugenottenkreuz, ein kleiner Davidstern 84
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oder auch eine unscheinbare Hand von Fatima sollen zugelassen sein. Sie dürfen jedoch nicht „ostensible“, also sichtbar getragen werden. [...] Die fast ein Jahrhundert alte strikte Trennung von Staat und Kirche, welche die Republik seinerzeit vor katholischer Vereinnahmung schützen sollte, bedeutet heute längst nicht mehr, was sie 1905 meinte. Daran läßt auch Staatspräsident Chirac keinen Zweifel. In seiner Rede in Valenciennes hat er das laizistische Prinzip als doppelten Schutz für jeden Staatsbürger gedeutet: Der Laizismus garantiere nicht nur jedem einzelnen Bürger, daß seine Auffassungen respektiert würden, er schütze jeden einzelnen auch davor, daß ihm die Meinungen anderer aufgezwungen würden. Dieser Respekt muß nach französischer Auffassung unweigerlich dazu führen, alle religiösen Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. [...] Und wohlgemerkt: Es geht in Frankreich nicht etwa um Lehrerinnen, die mit Kopftuch zu unterrichten begehrten, sondern um Schülerinnen, die das Kopftuch in der Schule nicht ablegen wollten. Die Religion ist und bleibt in Frankreich also Privatsache, Präsident Chirac glaubt auf diese Weise das friedliche Zusammenleben der Nation zu sichern. Denn im Unterschied zur deutschen Debatte, wo die entscheidende Wendung in der Deutung des Kopftuchs erst durch die Gesetzesvorlage Baden-Württembergs mit dem Kopftuchverbot eintrat, wird das Kopftuch in Frankreich schon lange nicht mehr als religiöses, sondern als politisches Symbol verstanden. Ganz undenkbar wäre freilich eine der Landestradition der christlichen Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg vergleichbare Regelung, die zwar christliche Symbole zuläßt, das Kopftuch aber verbietet. In Ordenshabit unterrichtende Nonnen und Mönche an öffentlichen Schulen wären in Frankreich undenkbar. Doch 30 Prozent der katholischen und jüdischen Kinder besuchen in Frankreich ohnehin private Schulen, an denen die neuen Bestimmungen nicht gelten. Das Kopftuch, das auch in Frankreich die Gesellschaft spaltet, gleichwohl eine wesentlich rationalere Diskussion als in Deutschland entfesselt hat, gilt als sichtbares Zeichen für die Unterdrückung muslimischer Frauen, die in striktem Widerspruch zum Gleichheitsprinzip der Französischen Revolution steht. Es
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das Leid der Mädchen, „die uns gebeten haben, ` gebe das Tragen des Kopftuchs zu verbieten“, sagt der Berichterstatter der Kommission ausdrücklich. [...] Innerhalb des laizistischen Prinzips in Frankreich ist das Kopftuchverbot nur konsequent, daß es die geistige Einbürgung fundamentalistisch geprägter Muslime erleichtert, darf indessen eher bezweifelt werden. Wenn strenggläubige muslimische Mädchen nun vom Schulbesuch ausgeschlossen würden, hätten die Fundamentalisten einen Sieg errungen, denn sie waren schon immer dagegen, daß Frauen überhaupt eine Schul- und Berufsausbildung beginnen. Wäre das Kopftuchtragen aber ausdrücklich erlaubt worden, hätten die Fundamentalisten noch viel mehr Grund zu triumphieren. Mit dem berechtigten Kopftuchverbot allein ist es nicht getan: Gerade hat eine Kleinstadt bei Lille die separaten Öffnungszeiten für muslimische Frauen in einem Hallenbad wieder abgeschafft. Was hierzulande im Streit um die Teilnahme muslimischer Mädchen am schulischen Schwimmunterricht zutage trat, wird in Frankreich längst nicht nur in Schulen, Turnhallen und Schwimmbädern sichtbar, sondern auch in den Krankenhäusern und vor Gericht. So konsequent das Kopftuchverbot ist, es beantwortet nicht die Frage, wie mit einer Bevölkerungsgruppe umzugehen ist, die sich ganz offenkundig jeglichen Integrationsversuchen verweigert. Heike Schmoll: Im Sinne des Laizismus, Das Kopftuchverbot in Frankreich als Versuch, fünf Millionen Muslime zu integrieren, Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.12.2003
Anm.: Citoyen = Bürger; Konkordat = Vertrag mit der katholischen Kirche
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Um ein Exempel zu statuieren, wies der französische Innenminister den Imam Ende April im Schnellverfahren aus. Kaum war der Prediger jedoch in Algier gelandet, hob ein Verwaltungsrichter in Lyon die Ausweisungsverfügung auf. Begründung: Eine „akute Gefährdung für die Landessicherheit“ gehe von Bouziane nicht erkennbar aus. Nach französischem Recht kann ein Ausländer, der wie Bouziane seit mehr als 20 Jahren in Frankreich lebt, aber nur ausgewiesen werden, wenn eben diese kapitale Gefahr vorliegt. Seit der mittlerweile berühmte Imam im Blitzlichtgewitter nach Frankreich zurückkam, spukt er – ähnlich wie sein Kölner Glaubensbruder Kaplan – als lebendes Symbol für die Schwächen des Rechtsstaats gegenüber Extremisten durchs Land. Mit etwa fünf Millionen Muslimen hat Frankreich die größte muslimische Gemeinde in Europa. Fünf der mehr als 1 500 Imame hat der Innenminister seit Jahresbeginn erfolgreich ausgewiesen und abgeschoben. [...] Die richterliche Ohrfeige im Fall des Imams von Vénissieux schmerzt den Innenminister. Auch auf Druck von Staatspräsident Jacques Chirac bringt die Regierung am 17. Juni in Rekordzeit ein Gesetz ins Parlament, das die Ausweisung extrem erleichtert. Sie soll künftig schon dann möglich sein, wenn Ausländer „explizit zu Hass, Gewalt und Diskriminierung aufrufen.“ Wer in Wort oder Tat „die universellen Werte der Republik verletzt“, darf im Eilverfahren abgeschoben werden. [...] Kurzer Prozess, in: Focus 25/2004
Härte gegen islamische Extremisten 4.11.2 Kurzer Prozess Ein neues Gesetz soll die Ausweisung von islamistischen Hasspredigern erleichtern [Der Imam von Vénissieux, der Algerier Abdelkader Bouziane, hatte 25 Jahre lang gegen die Gesetze der Republik gepredigt und war kürzlich aufgefallen, weil er Ehemännern nach islamischem Recht erlaubte, ihre Frauen zu prügeln, vgl. „Auf den Hintern“, Der Spiegel 18/2004. – Red.]
Seit dem vergangenen Juli hat Frankreich insgesamt zwölf Imame ausgewiesen; etwa fünfzig Moscheen stehen unter ständiger Beobachtung durch Geheimdienstagenten, weil sie radikal eingestuften Imamen eine Tribüne bieten. Bisher sind alle Versuche von staatlicher Seite gescheitert, auf die Auswahl und Ausbildung der muslimischen Vorbeter Einfluß zu nehmen. Innerhalb des neuen Repräsentativrates ist die Imam-Ausbildung Quelle starker Spannungen. „Der Islamrat hat einen Ausschuß gebildet, der seine Empfehlungen dem Premierminister übergeben hat. Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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wir haben noch keine Einigung über die Frage ` Aber der Ausbildung gefunden“, sagte Boubakeur. Die Trennung von Kirche und Staat stelle ein großes Hindernis dar. „Wir können keine öffentliche Finanzmittel in Anspruch nehmen“, bedauert Boubakeur. Deshalb finanzieren Staaten wie Saudi-Arabien oder Pakistan die Ausbildung von Imamen, die in Frankreich predigen. Michaela Wiegel: Härte gegen islamische Extremisten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 4.5.2004
4.11.3 Leitlinien zur Ausländerintegration Die andere Identitätskrise spielt sich unter den Muslimen selbst ab: Aufgeklärte und fundamentalistische Richtungen liegen im Streit miteinander, die einen fechten für den religiösen Staat, die anderen Muslime sind scharfe Anhänger des laizistischen Staates geworden, werfen sich gar auf die Seite der französischen Linken, die dieses Leitbildes wegen das Kopftuch in öffentlichen Räumen verbieten will, weil es ein religiöses Symbol sei. Die Regierung in Paris ist aufgeschreckt. Zunehmend empfinden sich die Einwanderer nicht mehr als Franzosen, leben in ihren Wohnghettos aus der überlieferten Identität ihrer Herkunftsländer. Sie pfeifen die „Marseillaise“ aus, fühlen sich von Politikern vernachlässigt und ausgegrenzt. Die Regierung Raffarin versucht darauf mit „Leitlinien zur Ausländerintegration“ zu antworten. Sie ruhen auf zwei Säulen: Zum einen sollen Einwanderungswillige künftig einem „Integrationsvertrag“ zustimmen, der ihnen das Erlernen der französischen Sprache und den Erwerb von staatsbürgerkundlichen Kenntnissen abfordert. Darin werden sie unterstützt von einer staatlichen Organisation (Afami), die gegenwärtig in ganz Frankreich ihre Niederlassungen aufbaut. Im Gegenzug, und das ist die zweite Säule, kümmert sich der Staat um besondere gesellschaftliche und berufliche Förderung. Er will die Schulen in ihren erzieherischen Möglichkeiten für Immigrantenkinder stärken, bietet individuellere Betreuung und Beratung bei Schullaufbahn- und Berufsfragen. Zugleich werden vor Ort Pläne zur Vermeidung von Gruppenkonflikten erarbeitet und Anlaufstellen für Gewaltopfer geschaffen. Er hilft beim Zugang zu Arbeitsplätzen 86
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und geht gegen Diskriminierung und Intoleranz entschiedener vor. Schließlich kümmert er sich besonders intensiv um die Religionsfreiheit, um kein Gefühl irgendwelcher Unterdrückung aufkommen zu lassen. Das ist auch notwendig in einem Land, in dem das „Allahu Akbar“ nun zur Tagesordnung gehört. Michael Rutz: Einwanderung – „Allahu Akbar“ im Zentrum Europas, in: Rheinischer Merkur Nr. 49, 4.12.2003
4.11.4 Geiselnahme und Kopftuchverbot [Zwei französische Journalisten werden im August 2004 von islamistischen Terroristen entführt und mit Ermordung bedroht, sollte Frankreich das für alle staatlichen Schulen geltende Verbot von Kopftüchern nicht widerrufen. – Red.]
Paris hält trotz Geiselnahme am Kopftuchverbot fest [...] Frankreich hält ungeachtet der Todesdrohung gegen die beiden Männer am Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen fest. „Das Gesetz wird angewendet“, sagte Regierungssprecher Jean-François Cope. Die Entführer hatten Paris ultimativ aufgefordert, das am Donnerstag zu Schuljahresbeginn in Kraft tretende Kopftuchverbot binnen 48 Stunden zurückzunehmen. [...] Paris hält trotz Geiselnahme am Kopftuchverbot fest, in: Hamburger Abendblatt, 31.8.2004
Zeichnungen: Nele Reinecke, Schülerin, Hamburg
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4.12 Die französischen Muslime und die französische Republik 4.12.1 Französische Muslime solidarisieren sich mit ihren Landsleuten und dem französischen Staat Paris – Nicht nur Politiker, sondern auch hochrangige Muslime kämpfen für das Leben der beiden im Irak verschleppten französischen Journalisten Georges Malbrunot und Christian Chesnot. Die islamistischen Entführer, die die Aufhebung des Kopftuchverbots an französischen Schulen fordern, verlängerten ihr Ultimatum bis gestern Abend 21 Uhr. Nach dem sunnitischen Rat der Religionsgelehrten im Irak forderte gestern auch die Bewegung des radikalen schiitischen Predigers Muktada el Sadr die Freilassung der Franzosen. Auch Papst Johannes Paul II. setzte sich dafür ein. Der französische Außenminister Michel Barnier suchte Unterstützung in Katar.
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Die französischen Muslime haben gestern eine offizielle Delegation in den Irak entsandt, um die Freilassung der Journalisten zu erreichen. Zuvor beteten die drei Vertreter des Französischen Rates der muslimischen Glaubensausübung (CFCM) in der Großen Pariser Moschee für die Befreiung der Geiseln. „Die ganze muslimische Gemeinde begleitet sie“, sagte der Rektor der Moschee. „Jeder Muslim muss sich in dieser Mission vertreten fühlen.“
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Französische Muslime solidarisieren sich mit ihren Landsleuten und dem französischen Staat, in: Hamburger Abendblatt 2.9.2004
4.12.2 Muslime für die Republik [...] Noch deutlicher war die Botschaft der französischen Muslime an die Entführer, die jene eigentlich vom Kopftuchgesetz befreien wollten. Von Anfang an haben sich islamische Gruppen an der nationalen Mobilmachung beteiligt. Zahlreiche Araber waren an den Solidaritätskundgebungen in Paris und im Heimatort eines der Journalisten zu sehen. [...] Selbst die Islamisten, die zum Ungehorsam gegen das Kopftuchverbot aufriefen, verurteilten die Tat der Terroristen. [...] Jürg Altwegg: Muslime für die Republik, Frankfurter Allgemeine Zeitung 1.9.2004
4.12.3 Karikatur
Anm.: Jean-Pierre Raffarin ist französischer Ministerpräsident (Red.)
Abb.: © Burkhard Mohr/CCC, www.c5.net
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Frankreich macht mobil gegen die ` 4.12.4 Geiselnehmer im Irak [...] Das Kopftuch-Gesetz hatte in Frankreich die Spannungen zwischen den Minderheiten verschärft. Kaum eine Woche vergeht ohne die Schändung eines jüdischen oder islamischen Friedhofs. Die Glaubensgemeinschaften bekämpfen sich gegenseitig und haben der laizistischen Republik den Krieg erklärt. Die Geiselnahme hat eine spürbare Veränderung des Klimas bewirkt. Im Fernsehen bot sich eine verschleierte Muslimin an, den Terroristen als Ersatzopfer für die entführten Journalisten zu dienen. Auch die radikalsten Gegner des Kopftuch-Gesetzes äußerten ihr Entsetzen und sprachen den Familien der beiden Opfer ihre Anteilnahme aus. Der Präsident des Dachverbands aller islamischen Organisationen und die Rektoren der Moscheen von Paris wie Marseille verurteilten die Tat der Erpresser mit scharfen Worten: Sie sei eine Schande und mit dem Islam in keiner Weise zu rechtfertigen. Sie forderten ihre Glaubensbrüder auf, für die beiden Journalisten zu beten. Die Sorge um sie bleibt groß. Das Ultimatum der Entführer, die am letzten Donnerstag den italienischen Reporter Enzo Baldoni ermordet haben (F.A.Z. vom 28. August), lief am Montag abend ab. Beeindruckend bleibt die Reaktion der französischen Bevölkerung. Der Angriff auf die demokratischen Grundwerte hat zu einem heilsamen Zusammenschluß der Minderheiten geführt. Die feigen Feinde der offenen Gesellschaft werden ihr innenpolitisches Ziel nicht erreichen: Das Kopftuch-Gesetz wird nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Auch jene, die es besonders hart betrifft und die es energisch bekämpft haben, scheinen seine Nützlichkeit und Notwendigkeit deutlicher zu erkennen als vor der Geiselnahme – wie immer diese auch ausgehen mag. Im Moment der schlimmsten Ungewißheit darf man feststellen: Um die laizistische Republik ist so etwas wie eine heilige Allianz entstanden. Jürg Altwegg: Heilige Allianz, Frankfurter Allgemeine Zeitung 31.8.2004
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4.13 Eine neue Entwicklung? Tatsächlich befinden wir uns nicht im Krieg mit dem Islam. In Wahrheit geht es um den Kampf gegen unbelehrbare Fanatiker, die unter dem Deckmantel einer an sich friedlichen Religion ihre mittelalterliche Ideologie durchsetzen wollen. Gegen solche Täter helfen weder Argumente noch schiere Gewalt. Ihrem Hass kann nur wirkungsvoll begegnet werden, wenn sich die muslimische Welt endlich zu einer klaren Distanzierung vom Terrorismus durchringen könnte. In Frankreich ist dies in den vergangenen Tagen auf eine Weise geschehen, die Hoffnung macht. Sie wolle nicht, dass ihr Schleier von Blut befleckt werde, brachte eine junge Muslimin ihr Entsetzen über die Entführung zweier Journalisten auf den Punkt. Landesweite Solidaritätsbekundungen unter den fünf Millionen französischen Muslimen zeigen, dass es möglich ist, den Geist zu isolieren, der von Osama bin Laden und seinen Spießgesellen gesät worden ist. Übrigens: Wo bleiben eigentlich die Millionen Muslime in Deutschland, die gegen das Morden im Irak, gegen das weltweite Töten Unschuldiger auf die Straße gehen? Aktionen wie die in Frankreich sind ein gutes Zeichen. Aber sie können nur ein Anfang sein. Der Islam braucht, ähnlich wie das Christentum im 16. Jahrhundert, eine Reformation. Doch wo ist ein moslemischer Martin Luther? Holger Dohmen: Wann sagen die Moslems endlich Nein zum Terror?, in: Hamburger Abendblatt 2.9.2004
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4.14 „Sie müssen sich integrieren“ Der Philosoph Alain Finkielkraut fordert von Frankreichs Muslimen, die Werte der Republik zu respektieren. FOCUS: Das Schleierverbot hat eine enorme Protestwelle ausgelöst. Hätte die Regierung das nicht voraussehen können? Finkielkraut: Vielleicht hat die Regierung die internationale Wirkung des Gesetzes unterschätzt. Aber die Alternative wäre gewesen, ein viel schwerwiegenderes Problem weiterhin zu ignorieren: dass der islamische Extremismus in die Schulen getragen wird. FOCUS: Stellen verschleierte Schülerinnen denn ernsthaft die Republik in Frage?
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können etwas fordern. Aber: Sie leben in einem Land, das ohne sie zusammengefunden hat und das sie jetzt aufnimmt. Die absolute Mehrheit der Muslime hat übrigens kein Problem mit der Republik. FOCUS: Schadet der Konflikt Frankreichs Ansehen in der arabischen Welt? Finkielkraut: In Wahrheit haben wir eine große Verantwortung. Wenn Frankreich jetzt einknickt, stärkt das die Extremisten in den muslimischen Ländern. „Sie müssen sich integrieren“, in: Focus 5/2004
Anm.: Der Philosoph und Schriftsteller Alain Finkielkraut gehört zu Frankreichs einflussreichsten Intellektuellen. Er unterrichtet an der Eliteschule Ecole Polytechnique. Die Regierung berief ihn im vergangenen Jahr in das Antirassismus-Komitee.
Finkielkraut: Die Schule ist ein besonderer Ort, hier wird die Kultur weitergegeben. Darum müssen die Regeln genau festgelegt werden. Und die sagen: Der Schleier ist als Ausdruck einer religiösen Gruppe verboten. Das gilt natürlich nicht für den privaten Raum. FOCUS: Multikulturelle Gesellschaft, ade? Finkielkraut: Es war nie das Ziel, die jakobinische Republik in ein multikulturell zersplittertes Frankreich zu verwandeln. Das Gesetz stellt klar, dass die verschleierten Musliminnen das Problem sind und nicht die Normen, die sich die Republik gegeben hat. FOCUS: Verteidigen Sie nicht eine sehr statische Republik, die sich Veränderungen verweigert, zumal gefordert von der zweitgrößten Religionsgemeinschaft des Landes? Finkielkraut: Zunächst gilt für alle Einwanderer die Notwendigkeit, sich zu integrieren – in eine andere Welt, deren Gebräuche und Regeln: Sie müssen die Prinzipien einer Gesellschaft akzeptieren. Erst wenn das gewährleistet ist, kann man vieles zulassen. Eine Gemeinschaft innerhalb einer Nation existiert nicht dadurch, dass sie Rechte beansprucht. Die Muslime wollen dies und das, und deshalb gehören sie zu Frankreich? Nein. Sie wohnen in Frankreich, und sie
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Einleitung Seit Jahrhunderten sind die toleranten Niederlande (Holland) ein Ziel von Einwanderern und Flüchtlingen gewesen, von Juden nach der Vertreibung aus Spanien Anfang des 16. Jahrhunderts, über aus Frankreich vertriebene Hugenotten (calvinistische Protestanten) im 17. Jahrhundert bis zu Flüchtlingen aus Belgien im Ersten Weltkrieg und Deutschland während der NS-Herrschaft. So gab es schon immer verschiedene Gruppen in der niederländischen Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es aber erstmalig eine Zuwanderung nicht-europäischer Migranten, zumeist aus den ehemaligen Kolonien der Niederlande. Während und nach der Dekolonisation Indonesiens 1946 zogen holländisch-indonesische Familien und Indonesier, die mit der Kolonialverwaltung zusammengearbeitet hatten, mit der Kolonialverwaltung zurück nach Europa. Unter ihnen gibt es eine größere Gruppe von Muslimen. Eine andere Gruppe Einwanderer kam aus der Karibik (Niederländische Antillen) und Surinam (Niederländisch Guayana) in Südamerika. Während der Kolonialzeit war dort, weil man von weit her Plantagenarbeiter ins Land holte, eine Bevölkerung hauptsächlich indischer und auch indonesischer Herkunft entstanden. Bis 1980 hatten die Surinamer das Recht, sich in den Niederlanden ohne Beschränkungen niederzulassen. Heute leben fast so viele Menschen surinamischer Herkunft in den Niederlanden wie in Surinam. Ein Teil der Surinamer sind Muslime. Seit den 1960er Jahren kam es zu einer verstärkten Arbeitsmigration aus dem Mittelmeerraum. Die größten muslimischen Gruppen stellten bis 2004 Zuwanderer aus der Türkei (ca. 300 000), Marokko (ca. 260 000) und Tunesien. Muslimische Asylbewerber, deren Antrag stattgegeben wurde, kamen vornehmlich aus Bosnien, dem Iran, dem Irak, Somalia und Afghanistan (1991–2000 ca. 150 000). Der Wunsch, aus den Herkunftsländern Ehepartner nachziehen zu lassen, lässt diese Zahlen stetig weiter wachsen, obwohl Familiennachzug und Arbeitsmigration offiziell weitgehend beendet sind.
Grundprinzip des Zusammenlebens von Bevölkerungsgruppen verschiedener Religionen in den Niederlanden war lange Zeit in der Vergangenheit das Prinzip der „Versäulung“. D. h. die Gesellschaft bestand aus verschiedenen nebeneinander stehender, aneinander gelehnter Säulen. Jede Säule (z. B. Calvinisten, Katholiken, verschiedene protestantische Gruppen) bestand unabhängig voneinander, hatte eigene Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, Sportvereine, Medien usw., man heiratete untereinander und hatte seine Kontakte auch weitgehend innerhalb der eigenen Gruppe. Alle zusammen aber hatten wiederum eine feste gemeinsame nationale Bindung als Niederländer. Seit den 1950er Jahren brach dieses System zwar langsam auf, die Gruppen schlossen sich weniger gegen einander ab, es blieben aber doch Elemente der „Versäulung“ erhalten. Dies hatte dann einen Einfluss auf die Zuwanderungspolitik. Die Zuwanderer bildeten einfach weitere Säulen neben den bestehenden. Die Niederlande entwickelten daher schon in den 1970er und 1980er Jahren eine sehr offene Zuwandererpolitik mit sehr eigenständigen Gruppenbildungen. Unter dem Einfluss der Zuwanderer schienen die Niederlande zu einem Beispiel multikulturellen Zusammenlebens zu werden mit einem Geflecht rechtlicher Bestimmungen, um das Zusammenleben zu fördern und Diskriminierung zu unterbinden. Aber die schwer oder nicht zu lösenden Probleme wurden wie in den anderen europäischen Ländern schnell deutlich. Auch in den Niederlanden entstanden Zuwanderergettos mit all ihren Problemen, auch hier entwickelte sich die Tendenz zu Parallelgesellschaften und Radikalisierung. Die Bevölkerung machte ihre Unzufriedenheit in der Wahl rechtspopulistischer Politiker deutlich. Die Politik sah sich gezwungen, die Realitäten stärker in Betracht zu ziehen und selbst einen aktiveren Kurs in der Einwanderungsfrage zu steuern. Wolfgang Böge
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Materialübersicht 5.1
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Statistiken und geografische Verteilung ......................................................................................................................94 5.1.1 Einwanderungsstatistik 2000...............................................................................................................................94 5.1.2 Einwanderungsstatistik 2003...............................................................................................................................94 5.1.3 Bevölkerungsanteile................................................................................................................................................95 5.1.4 Geografische Verteilung ........................................................................................................................................95 5.1.5 Schülerverteilung .....................................................................................................................................................96 5.1.6 Lehrerverteilung .......................................................................................................................................................96 5.1.7 Die wichtigsten drei Herkunftsländer der Asylbewerber 1991–2000...................................................96 Staat und Religion .................................................................................................................................................................97 Das Säulenmodell..................................................................................................................................................................97 Muslimische Organisationen in den Niederlanden ..................................................................................................97 Die Zuwanderungspolitik seit den 1970er Jahren ....................................................................................................98 5.5.1 Maßnahmen zur Verbesserung der Situation für Einwanderer zwischen 1970 und 1994 ...........98 5.5.2 Die Entwicklung der Integrationspolitik..........................................................................................................98 5.5.3 Ursachen des Umschwungs .................................................................................................................................99 5.5.4 Zweifel am Vorbild Holland ...............................................................................................................................100 5.5.5 Gesellschaft zwischen Angst und Aggression ............................................................................................101 5.5.6 Der Umschwung ....................................................................................................................................................102 Integrationspolitik...............................................................................................................................................................103 5.6.1 Doch Holland als Vorbild? ..................................................................................................................................103 5.6.2 Das Gesetz über die Einbürgerung von Neuankömmlingen ................................................................103 5.6.3 Die Entwicklung der Integrationspolitik .......................................................................................................104 Probleme der Integrationspolitik ..................................................................................................................................105 5.7.1 Sie kamen, um wieder zurückzugehen, doch sie blieben ......................................................................105 5.7.2 Integration und soziale Fragen.........................................................................................................................106 5.7.3 Das Problem separater Schulen .......................................................................................................................106 5.7.4 Ein neuer Antisemitismus – ein importierter Konflikt – Ein Beispiel aus Belgien ..........................107 5.7.5 Die Imam-Frage in den Niederlanden............................................................................................................108 5.7.5.1 Der Staat und die Imame....................................................................................................................108 5.7.5.2 Imame und Integration ......................................................................................................................109 Wie reagiert der Staat?......................................................................................................................................................110 5.8.1 Die Auseinandersetzung um Demokratie und Werte..............................................................................110 5.8.2 Ein neues Ausländerrecht...................................................................................................................................111 5.8.3 Abschiebung abgelehnter Asylbewerber.....................................................................................................111
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Arbeitshinweise 1. Stellen Sie aus den Materialien z. B. Einleitung, 5.1.1, 5.1.2 u. a. eine Statistik der muslimischen Zuwanderung und ihrer Entwicklung zusammen. Ermitteln Sie eine ungefähre Gesamtzahl. Welche weiteren Erkenntnisse lassen sich aus 5.2.3 und 5.1.6 ableiten? 2. Kopieren Sie eine Karte der Niederlande und stellen Sie darin die geographische Verteilung der Zuwanderer auf der Grundlage der Materialien 5.1.4–5.1.6 dar. 3. Analysieren Sie Reiseprospekte und Tourismusunterlagen. In welcher Weise wird darin auf die multikulturelle Szene in den Niederlanden eingegangen? 4. Wenden Sie sich an die niederländische Tourismusvertretung in Deutschland oder an die niederländische Botschaft in Berlin und bitten Sie um Material zur Zuwanderungsfrage in den Niederlanden, speziell zur Frage der muslimischen Zuwanderung. 5. Fassen Sie die Entwicklung der ersten Phase der niederländischen Zuwanderungspolitik zusammen (5.2, 5.3, 5.5.1–5.5.4). Arbeiten Sie dabei die Bedeutung des „Säulenmodells“ heraus. 6. Versuchen Sie dieses Modell graphisch/künstlerisch darzustellen. 7. Recherchieren Sie die muslimischen Organisationen in den Niederlanden. Versuchen Sie sie Herkunftsländern und religiös-politischen Richtungen zuzuordnen. 8. Welche Ursachen werden in den Materialien für die Änderung der Politik in 5.5.2–5.5.6 angeführt? 9. Vergleichen Sie die Veränderungen in den Niederlanden mit denen in Großbritannien, Frankreich. 10. Stellen Sie die genauen Bestimmungen des Zuwanderergesetzes aus den Materialien (5.6.1, 5.6.2) zusammen. 11. Diskutieren Sie die Frage der Regierungsmaßnahmen. Auch in Deutschland gibt es seit 2004 ein Zuwanderungsgesetz. Wie sollten die Kurse zur besseren Eingliederung von Zuwanderern aussehen? Was sollte eine Regierung tun, anbieten, verlangen? Was könnten Gemeinden tun? Wie sollte die Gesellschaft insgesamt reagieren? 12. Entwickeln Sie Rollenspiele: a) Ich bin muslimischer Computerspezialist mit Hochschulabschluss aus Indien. Ich spreche drei Sprachen. Ich möchte nach Holland einwandern. Was sind meine konkreten Bedürfnisse/Ansprüche an den Integrationskurs? b) Ich bin ein irakischer Asylbewerber mit wenig Schulbildung. Ich habe einer von Terroristen entführten holländischen Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation geholfen, den Terroristen zu entkommen. Im Irak droht mir der Tod. Ich bin nach Holland geflohen und will dort bleiben. Was sind meine konkreten Bedürfnisse/Ansprüche an den Integrationskurs? c) Erfinden Sie weitere Fälle, z. B.: Ich bin die Frau von a) oder b). 13. Welche künstlerischen Möglichkeiten gibt es, den Begriffsinhalt von Integration z. B. im Rahmen eines Kunstkurses oder in einem Fotokurs darzustellen? 14. Vergleichen Sie die in 5.7.1–5.7.4 angesprochenen Probleme (relative Armut, Arbeitslosigkeit, Schulbildung, importierte Konflikte, Rolle der Imame) mit gleichgerichteten Fragen in den Kapiteln zu Großbritannien (Kap. 3), Frankreich (Kap. 4) und Deutschland Modul „Politik und Religion im Islam“).
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15. Die europäische Bevölkerung schrumpft. Die Familien haben bei weitem nicht mehr genug Kinder, um die Bevölkerung stabil zu halten. Ohne eine beträchtliche Zuwanderung würde sich Europas Bevölkerung schnell verkleinern. Informieren Sie sich über die demographischen Probleme der europäischen Länder und mögliche ökonomische Folgen. Die muslimischen Länder um das Mittelmeer entwickeln dagegen einen großen Bevölkerungsdruck. Diskutieren Sie, wie die Politik mit diesen beiden Tatsachen umgehen soll. 16. Wie soll sich eine Regierung z. B. gegen abgelehnte muslimische Asylbewerber aus Heimatländern verhalten, in denen sie im Normalfall heute nicht mehr bedroht sind, wie Afghanistan, Irak, der Türkei oder Bosnien? Das Ablehnungs- oder Anerkennungsverfahren ist im Normalfall ein faires rechtsstaatliches Verfahren mit einem begründeten Urteil. Wie verhält sich die niederländische Regierung? Versuchen Sie bei der Diskussion, bewusst ethische, politische und wirtschaftliche Aspekte getrennt voneinander zu berücksichtigen.
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5.1 Statistiken und geografische Verteilung 5.1.1 Einwanderungsstatistik 2000 Immigranten in den Niederlanden, nach Geburtsland, Geburtsland der Eltern und Nationalität, 1. Januar 2000 Geburtsland Geburtsland der Eltern* Nationalität** Suriname 183.000 303.000 9.000 Türkei 178.000 309.000 101.000 Marokko 153.000 262.000 120.000 Indonesien 141.000 405.000 9.000 Deutschland 107.000 405.000 54.000 Ndl. Antillen (incl. Aruba) 69.000 107.000 Ehemaliges Jugoslawien 50.000 67.000 16.000 Großbritannien 41.000 69.000 39.000 Belgien 35.000 113.000 25.000 Irak 30.000 33.000 10.000 Somalia 21.000 29.000 5.000 China 20.000 30.000 7.000 Gesamt 1.431.000 2.775.000 652.000 * **
Die erste und zweite Generation wurden hier zusammengezählt. Viele Immigranten haben die niederländische Nationalität erhalten und zusätzlich ihre ursprüngliche Nationalität beibehalten; in die Zählung gehen nur Personen ein, die nur eine andere als die niederländische Nationalität besitzen. Quelle: Daten des CBS. Anita Böcker / Kees Groenendijk: Einwanderungs- und Integrationsland Niederlande. In: Länderbericht Niederlande Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004, S. 321.
7.1.2 Einwanderungsstatistik 2003 Türken Marokkanen Surinamers Antillianen Indo's Afrikaner Asiaten (inkl. Chinesen) Latinos Total
330.709 284.124 315.177 124.870 402.663 177.792 267.750 104.685 2.007.770 Bron: CBS 2003, EtnoStatz Foqz 2003. Centraal Bureau voer Statistiek, http://www.foquz.nl/allochtonen/allochtonen2.html, 9.9.04
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` 5.1.3 Bevölkerungsanteile
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Anteile der einzelnen Gruppen an der allochtonen Wohnbevölkerung in den Niederlanden Türken 17 %
Indo’s 20 %
Latino’s 5 % Surinamers 16 % Antillianen 6 %
Afrikanen 9 % Marokkanen 14 % Aziaten 13 % Anm.: Als Allochtone bezeichnen die Niederländer Zuwanderer aus dem Ausland. Autochtone sind für sie Alteingesessene, Menschen, deren Vorfahren schon Niederländer waren. © 2004 Foquz Ethnomarketing, http://www.foquz.nl/allochtonen, 9.4.04
5.1.4 Geografische Verteilung Anteil der nichtwestlichen allochtonen (aus dem Ausland zugewanderten) Wohnbevölkerung (erste und zweite Generation) in niederländischen Gemeinden, 2001
Quelle: Verändert nach: CBS, in: Anita Böcker/Kees, Groenendijk a.a.O., S. 319
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` 5.1.5 Schülerverteilung
5.1.6 Lehrerverteilung
Anm.: Die Karte zeigt 1. den Anteil an Grundschulen in einem Landesteil, die zu mehr als 50 % von Kindern mit Migrationshintergrund besucht werden, und 2. den Prozentsatz an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in dem betreffenden Landesteil insgesamt. (Red.)
Anm.: Der Anteil der Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund auf Regionen bezogen in %. (Red.) © Ministerie van Binnenlands Zaken en Koninkrijksrelaties, Personeelsenquête 2003, http://www.minocw.nl/werkinonderwijs/nota2004/05.html, 9.9.04
© Trouw: Michel van Elk, http://www.trouw.nl/8761026915153.html
5.1.7 Die wichtigsten drei Herkunftsländer der Asylbewerber, 1991–2000 Jahr 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 Gesamt
Asylanträge 21.600 20.300 35.400 52.600 29.300 22.900 34.400 45.200 42.700 43.900 348.300
Wichtigste Herkunftländer 1. Ex-Jugoslawien 2. Sri Lanka 1. Ex-Jugoslawien 2. Somalia 1. Ex-Jugoslawien 2. Somalia 1. Ex-Jugoslawien 2. Iran 1. Ex-Jugoslawien 2. Somalia 1. Irak 2. Afghanistan 1. Irak 2. Afghanistan 1. Irak 2. Afghanistan 1. Ex-Jugoslawien 2. Afghanistan 1. Afghanistan 2. Ex-Jugoslawien 1. Ex-Jugoslawien 2. Irak
3. Iran 3. Iran 3. Irak 3. Somalia 3. Iran 3. Ex-Jugoslawien 3. Ex-Jugoslawien 3. Ex-Jugoslawien 3. Irak 3. Irak 3. Afghanistan
Anm.: „Ex-Jugoslawien“ bedeutet meist Bosnien oder Kossovo, d. h. Muslime. Quelle: Justizministerium, in: Anita Böckler/Kees Groenendijk a.a. O., S. 315
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5.2 Staat und Religion Wie in Frankreich sind auch in den Niederlanden Staat und Religion getrennt. Ähnlich verhält es sich mit der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften sowie ihrer Gleichbehandlung unabhängig von ihrer Größe oder Existenzdauer im Lande. Alle diese Bestimmungen sind in der Verfassung verankert. Anders als in Frankreich kann der niederländische Staat aus Erwägungen des öffentlichen Interesses die religiösen Gruppen beim Ausbau und Erhalt ihrer Infrastrukturen unterstützen. Einzige Bedingung ist die Wahrung des Prinzips der Gleichbehandlung bezüglich anderer Gruppen. Dies wird als Säulensystem bezeichnet.
30 islamischen und einigen Hindu-Primarschulen, deren Status dem der zahlreichen christlichen Konfessionsschulen entspricht. Die Nationalstaatsideologie entwickelte sich entsprechend unterschiedlich zu Deutschland. Wo Homogenität und Einheit weniger betont wurden, musste der Einwanderer nicht ein Fremder auf Dauer bleiben. Die Einbürgerungsquote lag im Jahr 2000 mit 7,6 % deutlich über dem EUDurchschnitt (4,1 %). Die ohnehin schwach verankerte exklusive Ideologie des Nationalstaates wurde zudem seit den 1950er Jahren überlagert von der inklusiven Ideologie des Wohlfahrtsstaates: Das materielle Gleichheitsideal des Versorgungsstaates garantierte auch den ethnischen Minderheiten einen erträglichen Lebensstandard. Großzügig subventionierte der Staat ihre Selbstorganisationen und Wohlfahrtsvereine. Uwe Berndt: Das strenge Gesicht von Frau Antje. http://www.diezeitschrift.de/42002/positionen1.htm (Oktober 2002).
Ralph Ghadban
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5.3 Das Säulenmodell Die Niederlande wurden in den 1980er Jahren mit einer umfassend konzipierten „Minderheitenpolitik“ zum Musterfall des institutionalisierten Multikulturalismus in Europa. Dass der Multikulturalismus in den Niederlanden Fuß fassen konnte, hängt mit ihrer politischen Kultur zusammen. Die Niederlande sind selbst ein Land von Minderheiten. Ihre Geschichte ist geprägt vom Nebeneinander so genannter „Säulen“. Zunächst bildeten Katholiken und Protestanten, später auch Liberale und Sozialisten in sich geschlossene Teilgesellschaften mit jeweils eigenen Schulen, Vereinen, Zeitungen usw. Diese als „kollektive Emanzipation“ bezeichnete Tradition erlaubt es, in den Kategorien kultureller Vielfalt zu denken und zu handeln. Noch in den 1980er Jahren, während die Gesellschaft durch fortgeschrittene Säkularisierung und Individualisierung längst „entsäult“ war, erschien das Entstehen einer islamischen Säule als keineswegs abwegig. Statt Zwangsassimilierung sollte die Förderung und Bewahrung der Migrantenkulturen zu einer sanften Landung der Zugewanderten führen. Die Schulgesetzgebung erlaubte etwa die Gründung von nunmehr etwa
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5.4 Muslimische Organisationen in den Niederlanden • • • • • • • • •
Nederlandse Moslim Raad (NMS) Islamitische RAAd Nederland (IRN) Islam Institut Moslim Informatie Centrum (MIC) Diyanet / Stichting Nederland Unie van Marokkaanse Moslim Organisaties in Nederland (UMMON) Landelejke Islamitische Vrouwenorganisatie Nederland (LIVON) Nederlandse Islamitische Bond vor Ouderen (NISBO) Muslimischer Radiosender: Nederlandse Moslim Omroep (NMO) Zusammenstellung: Wolfgang Böge
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5.5 Die Zuwanderungspolitik seit den 1970er Jahren 5.5.1 Maßnahmen zur Verbesserung der Situation für Einwanderer zwischen 1970 und 1994 Es gibt seit 1971 eine umfangreiche Strafgesetzgebung in den Niederlanden, die eine Diskriminierung verhindern soll. Im Rahmen der liberalen niederländischen Minderheitenpolitik erhielten Ausländer, die mindestens fünf Jahre in den Niederlanden lebten, 1986 das aktive und passive Kommunalwahlrecht. Die meisten Beschränkungen für Ausländer, in den Staatsdienst eingestellt zu werden, fielen weg. Ausweisungsmöglichkeiten wurden eingeschränkt und der Erwerb der niederländischen Staatsbürgerschaft wurde vereinfacht. In den Niederlanden Geborene erwarben sie durch eine einfache Erklärung. Die Möglichkeit, eine Mehrfachstaatsbürgerschaft zu besitzen, wurde 1992 geschaffen, 1997 allerdings wieder etwas eingeschränkt. Private muslimische Schulen werden vom Staat finanziert, ohne dass er Einfluss nimmt auf das, was dort gelehrt wird. Schulen mit vielen Migrantenkindern erhalten zusätzliche Finanzmittel, die sogar nicht an Bedingungen hinsichtlich der Sprachförderung gebunden sind. Arbeitgeber wurden 1994 durch Gesetz verpflichtet, wenn sie über 35 Mitarbeiter beschäftigten, eine bestimmte Anzahl von Immigranten anzustellen. Zusammenstellung Wolfgang Böge
5.5.2 Die Entwicklung der Integrationspolitik Muslime und Staat Mit der fortschreitenden Säkularisierung hat das System viel an Relevanz eingebüßt, weil berufliche und politische Zugehörigkeiten den Vorrang hatten. [...]
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Das Säulensystem gilt nur für die Glaubensgemeinschaften. Die Migrationspolitik des Staates aber erkennt nur die ethnischen Gruppen als Ansprechpartner an. Auf diese Weise verhandelt der Staat nicht mit muslimischen, sondern mit ethnischen Vertretungen – Türken, Marokkaner – unter Beteiligung u. a. von Vertretern muslimischer Organisationen. Im Jahre 1995 gab es 22 islamische Schulen, besucht von nur 3,6 Prozent der türkischen und marokkanischen Kinder. Das zeigt, wie wenig die Muslime an diesen Schulen interessiert sind. [...] Außerdem besteht die Möglichkeit, an öffentlichen Schulen einen Religionsunterricht einzurichten, wenn die Eltern von zehn Kindern es verlangen, das ist aber 1995 nur an zwei Schulen passiert. [...] 1989 gab es circa 300 Moscheen. Die muslimischen Geistlichen, die Imame der Moscheen, kamen aus den Herkunftsländern. Im Jahre 1986 erhielten sie denselben Status wie Priester und Rabbiner. Die verschiedenen Belange der Muslime in Fragen der Ernährung, Geschlechtertrennung im Sport- und Schwimmunterricht sowie [...] Fragen der Friedhöfe und islamischen Bestattung wurden auf kommunaler Ebene gelöst, aber manchmal auch erst vor den Gerichten. Und schließlich verhinderte die Uneinigkeit unter den Muslimen ihre Vertretung auf nationaler Ebene. Die ethnischen Unterschiede scheinen in den Niederlanden eine größere Rolle zu spielen als anderswo. In ihrem Programm über die Minderheiten von 1983 greift die niederländische Regierung auf den Bericht des Wissenschaftlichen Rates von 1979 zurück, um die Notwendigkeit einer multikulturellen Gesellschaft zu verkünden. Die Politik müsse den kulturellen Hintergrund von Minoritäten, also auch der Muslime, berücksichtigen; dazu gehöre die Religion. Diese würde die Selbstachtung fördern, was zur Emanzipation der Mitglieder einer ethnischen Gruppe führe, meinte die Regierung. Anerkennung des kulturellen Pluralismus und Förderung der ethnischen Minderheiten waren die Leitlinien der Politik. [...] 1987 stellte der damalige Ministerpräsident Ruud Lubbers fest, dass die niederländische Politik keine Fortschritte erbracht habe, und forderte vom Wissenschaftlichen
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einen zweiten Bericht. Dieser sprach sich 1989 für ` Rat mehr soziale und ökonomische Integration aus, ein Integrationsmodell sollte das Minderheitenmodell ersetzen. Die Wende kam 1994 mit der Forderung, die Einwanderer müssten sich stärker integrieren. [...] Ab 1994 begannen die Niederlande, sich langsam zu bewegen, von einem multikulturellen Ansatz hin zu einem Staat, der mehr Gewicht auf Integration und gemeinsame Kernwerte der Gesellschaft legt. Stimmen wurden laut, dass für die Integration wenig getan werde. [...] Ralph Ghadban
5.5.3 Ursachen des Umschwungs
scheen, Kindergärten, Schulen sowie einen TV- und Rundfunksender. Der Islam ist die zweitstärkste Religionsgruppe im Land. Die Mehrheit der Niederländer ist inzwischen konfessionslos.
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Doch Innenminister Hans Dijkstal äußerte sich jüngst besorgt darüber, daß ausländische Staaten und die Drogen-Mafia immer mehr Einfluß auf die Muslime in Holland bekommen. Eine mißglückte Integration führe zu wachsendem Fundamentalismus und Radikalismus, warnte Dijkstal. Die hohe Arbeitslosigkeit und Kriminalität unter türkischen und marokkanischen Jugendlichen hat immer wieder Konflikte zwischen der Regierung und den Vertretern der muslimischen Gemeinschaft zur Folge.
In dem Amsterdamer Stadtteil Bos en Lommer herrscht Aufregung: Auf dem zentralen Platz will die islamistische Gemeinschaft eine Moschee und ein Kulturzentrum bauen. Eine Anlage soll es werden, so groß und eindrucksvoll wie die Sultan-Ahmet-Moschee in Zaandam vor den Toren der niederländischen Hauptstadt. Mit 3 000 Plätzen ist sie die größte in Westeuropa und gilt als ein Symbol für die Eingliederung der mehr als 500 000 Muslime in die niederländische Gesellschaft. Sie besitzen etwa 350 Mo-
Im Jahresbericht 1996 des inländischen Sicherheitsdienstes (BVD) heißt es, innerhalb der muslimischen Organisationen in den Niederlanden gewännen anti-westliche Strömungen und Auffassungen an Einfluß. Radikale Muslime fänden hier einen Zufluchtsort. „Enttäuschung über den sozial-wirtschaftlichen Niedergang und die Aussichtslosigkeit, in der sich große Gruppen von Ausländern befinden, sind die wichtigste Ursache für die zunehmende Abwendung“, so der Bericht. Treibende Kraft der anti-westlichen Tendenz ist nach Einschätzung des BVD die orthodoxe Milli-Görüs-Bewegung, die auch in Deutschland sehr aktiv ist. Milli Görüs kümmert sich um die religiösen, sozialen, kulturellen und politischen Belange ihrer Anhänger und gilt als sehr vermögend. Auch die islamistische Schulorganisation ISBO wird nach Ansicht des BVD von „sehr traditionellen Kräften beherrscht, die von SaudiArabien finanziert werden“.
Sultan Ahmet Moschee in Zaandam
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Der Innenminister fordert, daß die Imame, die ` muslimischen Vorbeter, in den Niederlanden ausgebildet werden. Außerdem sollen die Muslim-Verbände mehr für die Integration ihrer Glaubensgemeinschaft tun und das straffe Band zum Herkunftsland lösen. Auch der Imam und niederländische Staatsbürger Abdulwahid van Bommel meint, den Moscheen stehe die Ablösung von der Heimat noch bevor. Dijkstal will sich dafür einsetzen, daß der Islam ein Bestandteil der Gesellschaft werde. Die Muslim-Verbände haben aber jede Einmischung der Regierung in Den Haag empört zurückgewiesen. Siggi Weidemann: Anti-Westler gewinnen an Einfluss, in: Süddeutsche Zeitung 19./20.7.1997
5.5.4 Zweifel am Vorbild Holland Etwa drei Millionen Menschen ausländischer Herkunft leben gegenwärtig in den Niederlanden – deren Gesamteinwohnerzahl gegenwärtig circa 16 Millionen beträgt – fast 1,4 Millionen von ihnen sind Muslime. In Großstädten wie Den Haag und Rotterdam ist der Islam mittlerweile stärkste Religion. Viele Jahrzehnte waren die Holländer stolz auf ihre scheinbar erfolgreiche Integrationspolitik. Die Nieder-
lande galten als vorbildlich in Europa, auch weil sie gemessen an ihrer geringen Einwohnerzahl die meisten Asylbewerber aufnahmen. Sie förderten die Sprache und Kultur der Einwanderer mit Subventionen in Milliardenhöhe und sorgten dafür, dass muslimische Kinder an bestimmten Schulen in Türkisch oder Arabisch unterrichtet wurden. Besondere Integrationsleistungen oder Zugeständnisse wurden von den Immigranten nicht erwartet. Vielmehr glaubte man, die eigene christliche Kultur dürfe nicht zu dominant werden. Ein Fehler? Diese „Integration unter Beibehaltung der eigenen Identität“, so urteilt der niederländische Soziologe Paul Scheffler, sei einer der „größten Fehler“ gewesen, den der Staat habe machen können. Lange jedoch wurde diese Politik mehrheitlich toleriert. Die europäischen Nachbarn schauten neidvoll auf das kleine, friedliche Land ohne nennenswerte Minderheitenprobleme. Doch die Stimmung kippt. [...] Die viel beschworene Duldsamkeit der Holländer scheint ausgereizt. Heftig wird nun über die Schließung von Moscheen gestritten, über „Ausländer-Kriminalität“ und infolge über radikale Ausweisung von Asylbetrügern. Erstmals wird allerdings auch deutlich, dass sich islamistische Kräfte über Jahre eine Parallelwelt aufbauen konnten, weitgehend ungestört von Staat und Justiz. Seit Monaten rufen einige Imame in ihren Gotteshäusern zum Dschihad gegen „Juden und Kreuzfahrer“ auf. Zusätzlich lastet die schwerste Wirtschaftskrise seit über 20 Jahren auf dem sozialen Sicherungssystem. Viele Einwanderer sind auf staatliche Hilfen angewiesen. Die Arbeitslosigkeit in den Einwan-
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ist hoch, mit ihr steigt die Kriminalität. ` derermilieus Weiterer Zündstoff in der Debatte. Im Jahre 2003 stellen sich in Frau Antjes buntem Biotop immer mehr Menschen die Frage, wie ihre freiheitlichen Ideale mit dem gewachsenen Sicherheitsbedürfnis in Einklang gebracht werden können. Der Blick für die Schattenseiten der multikulturellen Gesellschaft ist geschärft. Während über Jahre Spannungen verdrängt wurden, beherrschen nun Stigmatisierungen und Übertreibungen die Diskussion. Viele Eltern lehnen es ab, ihre Kinder mit „Farbigen“ gemeinsam in die Schule zu schicken. Sind dies Zeichen einer verfehlten Ausländerpolitik? Oder war die Vorstellung von einer multikulturellen Gesellschaft von vornherein eine Illusion? Nicht nur die Niederlande, ganz Europa steht zu Beginn des 21. Jahrhunderts am Scheideweg, wie und mit wem man zukünftig zusammen leben will.
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Frauen, die bespuckt und muslimische Männer, die zusammengeschlagen werden, Flugblätter „Tod den Muslimen“, Brandanschläge auf islamitische Einrichtungen wie Schulen oder Moscheen: Die Niederlande, so die „Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, stehen innerhalb der Europäischen Union an der Spitze, wenn es um Übergriffe auf Muslime geht. Kurz nach den Anschlägen in den Vereinigten Staaten hatte die in Wien ansässige Europa Behörde Berichte über islamfeindliche Vorfälle in 14 Staaten der EU gesammelt. Neben Holland wurden dabei auch in Großbritannien und Schweden besonders viele antiislamische Ausschreitungen registriert.
5.5.5 Gesellschaft zwischen Angst und Aggression
[...] Sultan Gün, eine junge Türkin, erzählte, dass ihr nach dem New Yorker Drama deutlich geworden sei, dass sie eigentlich nie akzeptiert worden sei, sondern nur geduldet. Sie frage sich, was sie denn noch tun müsse, um zu beweisen, dass sie integriert sei: „Ich spreche gut Niederländisch, studiere, gehe aus, fühle mich frei. Muss ich etwa mein Kopftuch ablegen, mich assimilieren? Das nicht!“
Botterdam – Busfahrer, die Mädchen mit Kopftüchern an Haltestellen stehen lassen, muslimische
Gutes Gesetz, schlechte Praxis
Johanna Metz: Holland als Vorbild, in: ZDF Kultur, 7.11.2003
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Die Öffentlichkeit ist verunsichert, wie sie mit der multiethnischen Gesellschaft umgehen soll. Soll man über den Brandanschlag auf eine katholische Kirche in Amsterdam berichten oder nicht? Muss man tolerieren, wenn marokkanische Austräger sich weigern, ein Magazin, auf dem der Koran abgebildet ist, in die Briefkästen zu werfen? Darf man akzeptieren, wenn ein Imam verkündet, Homosexuelle seien weniger wert als Tiere? Siggi Weidemann: Anti-Westler gewinnen Einfluss, in: Süddeutsche Zeitung 17./18.11.2001 Süleymaniye Moschee in Tilburg
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` 5.5.6 Der Umschwung Jahrzehntelang sind die Niederlande in Deutschland als Musterbeispiel für Toleranz gegenüber Minderheiten betrachtet worden, ihr Multikulturalismus galt als eine Art „ideelles Exportprodukt“. Die niederländische Regierung selbst würdigte ihre multikulturelle Integrationspolitik in einem [...] Dokument 1994 als „offensichtlich erfolgreich“ und konstatierte, die Niederlande seien „in mehreren Bereichen allen anderen europäischen Ländern weit voraus“. Der Bürgermeister von Amsterdam feierte 1997 „Toleranz, Nichtdiskriminierung und Respekt gegenüber Diversität als unseren kostbarsten Kulturbesitz“. In den neunziger Jahren bezeichneten sich die Niederlande gern als gidsland, als wegweisendes Land, und meinten damit den Multikulturalismus ebenso wie [...] [die] Sozialund Wirtschaftspolitik. [Seither hat Deutschland neue Richtlinien für Integration und Einbürgerung. Es kam zu einem Konsens über die Zuwanderungsgrundsätze und die Integration zwischen den Bundestagsparteien, und rechtspopulistische Parolen von Splitterparteien hatten wenig Erfolg. Red.] Die Entwicklung in den Niederlanden verlief gegensätzlich. Im Jahr 2002 brach innerhalb weniger Monate eine alarmistische Stimmung über Unsicherheit auf den Straßen, unzureichende staatliche Dienstleistungen und das Scheitern der multikulturellen Politik durch, die der neugegründeten Bewegung Leefbaar Nederland bei den Kommunalwahlen in Rotterdam im März einen sensationellen Erfolg von 34,7 Prozent brachte. Nach diesem Erfolg in der Vorzeigestadt des Multikulturalismus verschärfte der Parteiführer Pim Fortuyn seine [Angriffe – Red.]. [...] Holland sei „voll“, und es solle keine weitere Einwanderung mehr geben, insbesondere nicht von Moslems. Fortuyn wurde wegen seiner Radikalität von Leefbaar Nederland ausgeschlossen und gründete daraufhin seine eigene Lijst Pim Fortuyn (LPF), die trotz knapper Vorbereitungszeit bei den Parlamentswahlen im Mai 2002 sensationelle 17,0 Prozent der Stimmen erreichte. Weitere 1,6 Prozent gingen an Leefbaar Nederland. Fortuyns Ermordung durch einen Tierschutzrechtler kurz vor der Wahl erschütterte 102
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das niederländische Selbstbewusstsein und machte ihn einige Wochen lang zu einer Art politischem Heiligen, was auch der Akzeptanz seiner Aussagen zugute kam. Multikulturalismus gilt [seither – Red.] als politisch diskreditiert. Die Andersartigkeit und Rückständigkeit der „nichtwestlichen“ Gruppen wird immer wieder hervorgehoben. Mehr und mehr werden sie als „schwarz“ bezeichnet, wie es in der Kolonialzeit üblich war. Geschah das im Jahr 2001 meist noch mit Anführungszeichen, so sind diese im Jahr 2002 entfallen. Zeitungen und selbst offizielle Dokumente sprechen regelmäßig von „schwarzen Schulen“, „schwarzen Straßen“ und „schwarzen Stadtvierteln“, wenn es um Menschen türkischer, marokkanischer oder surinamesischer Herkunft geht. Damit hat sich auch terminologisch ein radikaler Wandel vollzogen, denn jahrzehntelang hatte man in den Niederlanden offiziell die neutral klingenden Kunstbegriffe „Allochthone“ [aus anderen Ländern Stammende – Red.] und „Autochthone“ [Alteingesessene, Eingeborene – Red.] verwendet. [...] Gleichzeitig verzeichnete die Wiener Beobachtungsstelle gegen Rassismus in den Niederlanden seit dem 11. September 2001 eine stärkere Zunahme von Aggressionen gegen Moslems als in allen anderen EU-Staaten. Anita Böcker / Dietrich Thränhardt: Erfolge und Misserfolge der Integration – Deutschland und die Niederlande im Vergleich, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte (B 26/2003), S. 3ff.
Hinweis: Recherchieren Sie im Internet unter Ayaan Hirsi Ali. (Vgl. auch: Dirk Schümer: Ayaan Hisi Ali – Gewaltbekämpferin, in Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.10.2004) Recherchieren Sie auch den Mord an dem kritischen Filmemacher Theo van Gogh durch einen islamischen Fanatiker Anfang November 2004 in Amsterdam. Van Gogh arbeitete zusammen mit Ayaan Hirsi Ali an einen Film über die Unterdrückung der Frau im Islam.
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grationsangebot zeigten jedoch, dass nur 10 bis 15 Prozent aller Absolventen ein Sprachniveau erreicht hatten, das für den Arbeitsmarkt ausreichend war.
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Anita Böcker / Dietrich Thränhardt: Erfolge und Misserfolge der Integration – Deutschland und die Niederlande im Vergleich, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte (B 26/2003)
5.6.1 Doch Holland als Vorbild? Als Reaktion auf diese diskrepanten Entwicklungen wurden im Winter 2002/2003 in den Niederlanden Stimmen derer laut, die nun gerade Deutschland als Vorbild sehen – angesichts der vorherigen Einschätzungen ein gewisser Tabubruch. Deutschland habe mit einer Nichtpolitik bessere Ergebnisse erzielt als die Niederlande mit ihrer Minderheitenpolitik, schrieb der in Berlin forschende niederländische Soziologe Ruud Koopmans. Er begründet das mit der Tatsache, dass die Diskrepanzen zwischen Einwanderern und Einheimischen in Deutschland wesentlich kleiner sind als in den Niederlanden, insbesondere in Bezug auf Bildungserfolge, Arbeitslosigkeit und Segregation in den Städten. [...] In Deutschland wird dagegen nach wie vor das niederländische Integrationsmodell als vorbildlich empfunden. [...] Überhaupt hat das niederländische Integrationsmodell inzwischen europaweit eine Vorbildrolle und überlagert andere Traditionen auch in Ländern wie Frankreich, Österreich und der Schweiz. Gegenüber den neuen deutschen Bemühungen hat es einen zeitlichen Vorlauf, das Integrationsgesetz wurde schon 1998 verabschiedet. Alle Einwanderer sind durch einen „Vertrag“ verpflichtet, sich einem Integrationstest zu unterziehen. Zielgruppen sind hauptsächlich Flüchtlinge, nachziehende Familienangehörige insbesondere aus der Türkei und aus Marokko sowie Niederländer aus den Überseegebieten Aruba und Antillen. Sie erhalten etwa 600 Stunden Sprachunterricht und werden außerdem über die niederländische Gesellschaft und über berufliche Möglichkeit informiert. Zur Teilnahme verpflichtet sind auch Sozialhilfeempfänger, die vor 1998 in die Niederlande eingewandert sind. Wer mehr als ein Fünftel der Stunden versäumt, kann mit finanziellen Sanktionen belegt werden, was bisher allerdings nur selten praktiziert worden ist. Erste Evaluationen zum Sprach- und Inte-
5.6.2 Das Gesetz über die Einbürgerung von Neuankömmlingen Schon seit 1990 war in ausgewählten Kommunen mit einer systematischen „Empfangspolitik“ für neu eingetroffene Zuwanderer experimentiert worden. Hieraus entwickelte die „violette“ Regierung Kok (eine Koalition aus Sozialdemokraten, Rechtsliberalen und Sozialliberalen) ein umfassendes Programm der Erwachsenenbildung und Zivilintegration. Seit dem September 1998 ist ein „Gesetz über die Einbürgerung von Neuankömmlingen (WIN)“ in Kraft. „Inburgering“ bedeutet im Niederländischen zwar auch Naturalisierung im juristischen Sinne, gemeint ist aber so viel wie Eingewöhnung oder Einleben. Sie wird als erster Schritt zur Integration verstanden. Entsprechende Orientierungskurse sollen bei Neuzuwanderern die Fähigkeit zur Selbsthilfe fördern und neue rückständige Gruppen gar nicht erst entstehen lassen. Zielgruppe sind Neuankömmlinge, die im Wege des Familiennachzuges und aus humanitären Gründen aus Staaten außerhalb der EU kommen und eine Aufenthaltsperspektive auf Dauer haben. Das Gesetz gilt auch für Antillianer, die als Reichsbürger einwandern können. Weitere Adressaten sind Seelsorger. Ein aus dem Ausland „importierter“ Imam oder Pandit muss sich im ersten Jahr seines Aufenthalts in den Niederlanden zur Teilnahme an einem Spezialprogramm verpflichten. Von „Integrationsverträgen“ ist mittlerweile nicht mehr die Rede. Durch das WIN-Gesetz wurden die Integrationskurse obligatorisch. Die unter das Gesetz fallenden neuen Immigranten (nieuwkomers), die 18 Jahre und älter sind, werden im ersten Jahr ihres Aufenthalts zum Besuch eines individuell abgestimmten Kurses verpflichtet, der mit einer Prüfung und einem Zertifikat abschließt. Die Regierung subventioniert 600 Pflichtstunden in Niederländisch. Parallel dazu werden die Teilnehmer mit allen Fassetten der Gesellschaft (sogar Kurse in der holländischen Kulturtechnik des Fahrradfahrens) und den beruflichen MöglichkeiIslam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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Der damalige niederländische Premier Kok beim Besuch der Al Kabir-Moschee in Amsterdam
ten vertraut gemacht. Hinzu kommt eine individuelle Sozialbetreuung, die der „warmen“ Überleitung in den Arbeitsmarkt dienen soll. Jährlich gibt die Regierung für die Integrationskurse von 22 000 Neuankömmlingen 150 Millionen Euro aus. Inzwischen mehrt sich die Kritik an einer behäbigen Bürokratie und der unzureichenden und wenig maßgeschneiderten Unterrichtsqualität. Ein Viertel der Teilnehmer bricht den Kurs ab, weil es entweder an Kinderbetreuung fehlt oder weil die boomende Wirtschaft sie mit ungelernten Jobs fortlockt. Negative Sanktionen wie Bußgelder und Kürzung öffentlicher Leistungen wurden bisher eher selten verhängt. Das ehrgeizige Programm der Zivilintegration wurde auch auf so genannte Altankömmlinge (oudkomers) ausgedehnt, hier vor allem Frauen mit kleinen Kindern und Arbeitslose. Rund zehntausend Personen aus dieser Gruppe stehen freiwillig auf einer Warteliste. Uwe Berndt: Das strenge Gesicht von Frau Antje, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte (B 26/2003)
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5.6.3 Die Entwicklung der Integrationspolitik Während in Deutschland in einem Modellversuch die ersten Integrationskurse nach holländischem Vorbild anlaufen, rücken die Niederlande teilweise schon wieder von ihrem Konzept der einheitlichen Sprachund Kulturkurse ab. Die 600-stündigen Standardprogramme, die für nach 1998 in die Niederlande eingereiste Ausländer verpflichtend sind, werden von Lehrern, Verwaltungen und Migranten als nur begrenzt wirksam gesehen. Eine Untersuchung im Auftrag des niederländischen Innenministeriums hatte den jährlich rd. 250 Millionen Euro teuren Kursen unlängst ein peinliches Zeugnis ausgestellt. Laut der Untersuchung sprechen 60 Prozent der Ausländer nach 600 Unterrichtsstunden nicht einmal genug niederländisch, um nach dem Weg zu fragen oder beim Arzt zu schildern, was ihnen fehlt. Rund 20 Prozent brechen den Kurs ab, obwohl das durch eine deutliche Kürzung ihrer Beihilfen bestraft werden kann, oder sie fallen durch die abschließende Prüfung.
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daran sind nicht so sehr die 17 000 Migran` ten,Schuld die jährlich an den Kursen teilnehmen, sagen Verwaltungen und Sprachlehrer einhellig. „Die Kurse gehen zu wenig auf die Bedürfnisse der Einzelnen ein“, kritisiert Meus van der Poel, Sprecher der im Juni 2000 vom Ministerium für Minderheiten in Den Haag gegründeten Taskforce Inburgering, die den Unterricht verbessern soll. In den Unterrichtsstunden sitzen Analphabeten neben Akademikern. Auf seine Kosten kommt so keiner. Gut ausgebildete Einwanderer sehen sich durch die langwierigen Kurse bei einer schnellen Arbeitssuche behindert und brechen ab. Wer nie oder nur wenig zur Schule gegangen ist, fühlt sich überfordert, beschreibt Gerhard te Voortwis, der seit Jahren Ausländer unterrichtet: „Eine Afrikanerin mit guter Schulbildung, die herkommt, um einen Niederländer zu heiraten, ist in rasendem Tempo durch mit den Lerninhalten. Für jemanden mit zwei Jahren Grundschule in Afghanistan sind die Anforderungen nicht zu erfüllen.“ Nun sollen die Sprachkurse umgekrempelt werden: Weniger Einheitsprogramme und Theorie, mehr Anbindung an den Alltag der Einwanderer. Bisher gingen die Migranten zwar zu Beginn des Kurses zusammen auf den Markt oder übten gemeinsam U-Bahn-Fahren, was in Deutschland lange als vorbildhaft galt. Die Sprache jedoch lernten sie später in isolierten Kursmodulen – und sprachen außerhalb des Kurses so gut wie kein Niederländisch, weil sie häufig in Vierteln mit hohem Ausländeranteil leben. Sprach- und Gesellschaftsunterricht sollen deshalb stärker miteinander verknüpft werden. Außerdem müssen nicht mehr alle Migranten dasselbe lernen. Hausfrauen sollen Hilfe für Alltagssituationen wie Arztbesuch, Elternsprechtag oder Einkaufen bekommen; wer arbeiten will, lernt Vokabeln, die in Unternehmen und beim Arbeitsamt wichtig sind. Der Kontakt zu niederländisch Sprechenden außerhalb der Kurse soll unter anderem durch die von Migranten ohnehin dringend gewünschten Kontakte zu Unternehmen gewährleistet werden. „Wir streben ein duales System in Zusammenarbeit mit Betrieben an“, sagt Meus van der Poel von der Taskforce Inburgering.
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Zudem werden die Migranten fester an die Hand genommen. In Heerlen muss sich seit neuestem jeder Kursteilnehmer einmal im Monat mit einer Betreuerin treffen. Die regelmäßigen Gespräche haben die Abbrecherquote von fast 30 auf fünf Prozent gesenkt, sagt Carola van Iersel, die in der Gemeinde für Integration zuständig ist.
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Dass Kurse bei der Integration helfen, bezweifelt trotz aller Kritik niemand – auch die neue konservativrechtspopulistische Regierung nicht, die sich derzeit in Den Haag zusammenfindet. „Der Regierungswechsel wird keine Auswirkungen auf unsere Arbeit haben“, sagt Carola van Iersel, „dass man die Ausländer integrieren muss, weiß einfach jeder.“ Judith Weber: Peinliches Zeugnis für Einbürgerungskurse in den Niederlanden, in: Süddeutsche Zeitung 8.6.2002
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5.7 Probleme der Integrationspolitik 5.7.1 Sie kamen, um wieder zurückzugehen, doch sie blieben [...] Der dritte große Storm waren dann die so genannten Gastarbeiter, vor allem aus der Türkei und Marokko. Sie kamen, um wieder zurückzugehen, doch sie blieben. Und bis heute holen sie ihre Frauen und ihre Kinder, ihre Bräute und ihre Ehemänner aus der gleichen anatolischen Hochebene oder aus dem gleichen Rifgebirge, von wo einst ihre Eltern und Großeltern abgeworben wurden. Sie wohnen fast alle in den großen Städten, wo sie, etwa in Amsterdam und Rotterdam, demnächst die Mehrheit der Bevölkerung stellen werden. Mehr als die Hälfte der Türken und der Marokkaner hat keine nennenswerte Schulausbildung, jedenfalls keine, die sie wenigstens für die niederen Regionen des Arbeitsmarkts geeignet machen würde. Mehr als ein Viertel von ihnen lebt von Sozialhilfe. Die Enquetekommission kommt zu dem Schluss, dass ihr ökonomischer Beitrag, alles in allem, negativ sei: Sie hätten mehr gekostet, als sie erwirtschaftet haben. Das finden Niederländer niemals erfreulich.
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Es gibt auch sehr erfolgreiche Türken ` undNatürlich: Marokkaner. Ärzte, Autoren, Dozenten, Unternehmer. Aber als Gruppe stellen sie eine Unterklasse dar, die in den großen Städten in immer mehr Wohngebieten Farbe und Ton angibt. Die einheimische Reaktion ließ sehr lange auf sich warten. Es gab zwar nie eine Einwanderungspolitik, aber dafür Integrationspolitik im Überfluss. Da musste Integration doch einfach gelingen? Sie gelang nicht, und langsam sah dies jeder ein – außer den verantwortlichen Politikern. Die derzeitige Heftigkeit in der niederländischen Minderheitendebatte lässt sich auch so erklären: Sie ist eine Kritik an der politischen Elite, die jahrein, jahraus die Probleme ignoriert und fest an die Segnungen der eigenen Beschlüsse geglaubt hat. Die niederländische Debatte wird nicht bestimmt durch den ziemlich aussichtslosen, aber nicht sofort sichtbaren sozialen Rückstand der muslimischen Minderheit, sondern durch ihre sichtbar andere Religion. Unter den niederländischen Muslimen ist eine auffallende Rückkehr zum Glauben zu beobachten. [...]
Gerard van Westerloo: Gott zitiert Suren, in: Tageszeitung 15.4.2004, Übersetzung aus dem Niederländischen: Ulrike Herrmann
5.7.2 Integration und soziale Fragen Auf den größeren Abstand zwischen Einheimischen und Zuwanderern in den Niederlanden auf dem Arbeitsmarkt wurde erstmals 1998 hingewiesen. Während die Arbeitslosigkeit von Ausländern in Deutschland etwa doppelt so hoch war wie die von Deutschen, war die Diskrepanz hier beträchtlich höher. „Die Mehrheit der Türken und Marokkaner zwischen 15 und 64 Jahren stand außerhalb des Arbeitsmarktes. Von den verbleibenden 44 Prozent bei den Türken bzw. 42 Prozent bei den Marokkanern war ein Drittel arbeitslos gemeldet.“ Inzwischen hat sich die Relation etwas verbessert. Die Arbeitslosigkeit der „nichtwestlichen“ Zuwanderer liegt bei zehn, die der Einheimischen bei drei Prozent. Die Vollbeschäftigung in den Niederlanden eröffnet den Zuwanderern neue Chancen, auch wenn sich dieser Prozess langsam vollzieht. Andererseits hat die steigende Arbeits106
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losigkeit in Deutschland für die Zuwanderer besonders negative Auswirkungen, vor allem soweit sie weniger gut ausgebildet und weniger in Netzwerke einbezogen sind als Deutsche. Auch die Diskrepanzen im Bildungsbereich sind in den Niederlanden größer, wenn man die offiziellen Schulstatistiken heranzieht. 1996 verließen 8 Prozent der Kinder einheimischer, aber 35 Prozent der Kinder türkischer und 39 Prozent der Kinder marokkanischer Herkunft die Schule ohne Abschluss. Auch hier zeigen sich in den vergangenen Jahren Verbesserungen, insbesondere schneiden die in den Niederlanden geborenen Kinder günstiger ab. Insofern ist die Situation weniger dramatisch als vor zehn Jahren. Eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zeigt in den Niederlanden eine stärkere Diskriminierung bei Einstellungen durch Unternehmen, berechnet wurde eine Diskriminierungsrate von 33 Prozent in Deutschland und 56 Prozent in den Niederlanden. Dieses Muster stimmt mit den Ergebnissen einer psychologischen Untersuchung überein, die in Deutschland Mitte der neunziger Jahre eine höhere offene, in den Niederlanden dagegen eine höhere subtile Vorurteilsbereitschaft konstatierte. Angesichts dieser Daten ist die Krise des niederländischen Multikulturalismus nicht überraschend, sie findet Parallelen in Schweden, Australien und Großbritannien. [...] Anita Böcker / Dietrich Thränhardt: Erfolge und Misserfolge der Integration – Deutschland und die Niederlande im Vergleich, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte (B 26/2003), S. 10 f.
5.7.3 Das Problem separater Schulen „Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet.“ Das islamische Glaubensbekenntnis ist täglich an den 32 muslimischen Schulen in den Niederlanden zu hören. Aber offenbar nicht nur das. In manchen dort verwendeten Lehrbüchern wird unumwunden der Hass gegen Israel und die Juden gepredigt und der Neid gegen die westliche Gesellschaft geschürt. Das hat das TV-Magazin Nova herausgefunden. Die niederländische Staatssekretärin für Unter-
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Karin Adelmund, hat nun die Schulinspektion, ` richt, den inländischen Nachrichtendienst (BVP) und die Staatsanwaltschaft angewiesen, eine „tief greifende Untersuchung“ an den islamischen Grundschulen durchzuführen. Diese werden wie andere Bekenntnisschulen in den Niederlanden vom Staat finanziert. „Kinder zum Hass zu erziehen geht entschieden zu weit“, sagte die sozialdemokratische Politikerin als Reaktion auf die Ausstrahlung der Sendung. „Das hat nichts mehr mit der Freiheit von Religionsausübung zu tun. Schulen, die die Grenzen überschreiten, können sich auf etwas gefasst machen.“ Nach den Recherchen des Magazins unterhält mindestens jede dritte der islamischen Schulen enge Beziehungen zu Saudi-Arabien. Das muslimische Königreich soll die Schulen bisher mit insgesamt mindestens 300 000 Dollar unterstützt haben. Die Vorsitzenden der in der Dreier-Koalition vertretenen Parteien in den Niederlanden befürworten das Vorgehen der Staatssekretärin. Thom de Graaf vom linksliberalen Koalitionspartner D66 fordert sogar, dass die Lehrkräfte, die das fundamentalistische Unterrichtsmaterial benutzen, strafrechtlich verfolgt werden müssen. Ad Melkert, Spitzenkandidat der Arbeiterpartei (PvdA) für die Parlamentswahlen im Mai, sagte, „diese Vorfälle werden nicht akzeptiert. Wenn nötig, drehen wir den Geldhahn zu.“ Die rechtsliberale VVD verurteilte die Vorgänge als „verbrecherisch“. Mohammed Douiyeb, Vorsitzender der Dachorganisation der islamischen Schulen (ISBO), indes nennt die Vorwürfe, Kinder würden in muslimischen Lehranstalten zum Hass auf den Westen erzogen, „einfach lächerlich“. Die Lehrbücher mit den extremistischen Ideen seien mindestens zwölf Jahre alt und würden heute gar nicht mehr benutzt. Beim Institut für multikulturelle Entwicklungen (Forum) ist man erstaunt über die Reaktion des ISBO-Vorsitzenden. Anstatt sich zu beklagen, so ein Sprecher des Forums, sollten Douiyeb und seine Organisation aktiv an der angestrebten Untersuchung mitarbeiten. Kein Zeichnen, keine Musik Es ist nicht das erste Mal, dass islamische Schulen in den Niederlanden in die Schlagzeilen geraten. Im Dezember wurde bekannt, dass weder Zeichnen noch
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Musik wie vorgeschrieben an allen Schulen unterrichtet wird. Texte mit antichristlichem und antijüdischem Inhalt sowie Aufrufe gegen das Feiern von christlichen Festen waren zum Beispiel im Oktober an der As-Siddieq-Schule in Amsterdam aufgetaucht. Die Staatsanwaltschaft untersucht Videobänder, in denen zum Hass gegen Juden aufgerufen wird. In dieser Woche wird der BPV-Bericht, der die extremistischen Vorfälle an den Schulen untersucht, erwartet.
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Siggi Weidemann: Bücher voller Hass und Neid, in: Süddeutsche Zeitung 21.2.2002
5.7.4 Ein neuer Antisemitismus – ein importierter Konflikt – Ein Beispiel aus Belgien [Abu Jahja, der Chef der von ihm selbst gegründeten Arab European League (AEL), hat großen Einfluss unter muslimischen Jugendlichen in Belgien. Red.] [...] Abu Jahjah polemisiert vehement gegen Israel und wettert gegen vermeintliche „zionistische Lobbys“. [...] Die Schätzungen über die Zahl der Antwerpener Juden schwanken; 20 000 dürfte der Wahrheit am nächsten kommen. Antwerpen hat eine der großen jüdischen Gemeinschaften in Europa mit einer bedeutenden Gruppe orthodoxer Gläubiger. Immer wieder hat es in jüngster Zeit Übergriffe auf Mitglieder der jüdischen Gemeinde gegeben, bei denen junge Muslime als Täter identifiziert oder verdächtigt wurden. Die Übergriffe gipfelten Ende Juni in einem Überfall auf einen 16 Jahre alten jüdischen Schüler, der von maghrebinischen Angreifern mit Messerstichen lebensgefährlich verletzt wurde. Der städtische Beigeordnete Van Campenhout schätzt, daß rund neunzig Prozent der Attacken auf das Konto von Muslimen gehen. Die Zahl der gemeldeten Angriffe im Jahr bewege sich im zweistelligen Bereich, sagt Van Campenhout, verweist allerdings auf eine Dunkelziffer. Die Juden zögerten lange, bevor sie derartige Vorfälle meldeten. [...] Die Christliche Demokratin Nahima Lanjri, Gemeinderätin und selbst marokkanischer Herkunft, sagt, in der muslimischen Gemeinschaft der Stadt gehe nun die Angst um, daß wegen der Übergriffe und der Schlagzeilen auf alle Muslime mit dem Finger gezeigt werde. [...] Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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Das multikulturelle Zusammenleben in Antwerpen vergiftet zunehmend die Atmosphäre
Nach Beginn der zweiten Intifada im Oktober 2000 hätten junge radikalisierte Muslime den Konflikt in die Straßen von Antwerpen getragen, sagen der liberale jüdische Gemeinderat Claude Marinower und Eli Ringer, der Vorsitzende des Forums der jüdischen Organisationen in Flandern. Die Angriffe zielten auf die strenggläubigen Juden, die mit ihrer traditionellen Kleidung, den hohen Hüten und Schläfenlocken klar erkennbar seien, richteten sich also gegen Juden, einfach, weil sie Juden seien, klagt Marinower. Ganz pauschal setzten radikale junge Araber die Antwerpener Juden mit Israel und seiner Palästinenserpolitik gleich. [...] Andrea Schneider: Jeder fühlt sich vom anderen bedroht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.8.2004
Anm.: Auch in anderen Ländern Europas, insbesondere in Frankreich, kommt es zu antisemitischen Straftaten radikaler muslimischer Jugendlicher. Zu Frankreich vgl. 4.7.9, „Der importierte Konflikt“ 108
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Foto: © Rainer Wohlfahrt, aus: FAZ, 14.8.2004, S. 3
5.7.5 Die Imam-Frage in den Niederlanden
5.7.5.1 Der Staat und die Imame Minister Dijkstal hat angekündigt, niederländische Dozenten an die Imamhochschulen nach Marokko und in die Türkei zu schicken, um die zukünftigen islamitischen Geistlichen in niederländischer Sprache, Kultur und Gesellschaftskunde zu unterrichten. Die marokkanische Regierung hatte zuvor noch erklärt, keine Lehrer aus den Niederlanden an ihren Schulen zu dulden. Sollte es bei der Weigerung bleiben, sagte Dijkstal, würden die Imame, die künftig in den Niederlanden arbeiten wollten, die Einbürgerungsprozedur durchlaufen müssen. Der Staat und die Imane, in:Süddeutsche Zeitung 7./8. 12. 1996
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Den Haag – Jan Peter Balkenende, der wahr` scheinlich neuer Ministerpräsident der Niederlande wird, will „nicht länger akzeptieren“, dass in Moscheen des Landes Imams häusliche Gewalt gegen Frauen verteidigen, den islamistischen Kampf verherrlichen und zu Hass gegen den Westen aufrufen. Ebenso wie Balkenende plädiert eine Mehrheit der Abgeordneten dafür, dass diese Imams ausgewiesen und jene Moscheen, in denen sie predigen, zeitweise geschlossen werden. [...]
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Den Haag hat zwar mit Sanktionen gedroht: ohne Einbürgerungskurs keine Aufenthaltsgenehmigung. Trotzdem bezweifeln selbst Befürworter der Kurse, ob die Zielgruppe überhaupt erreicht wird. „Es gibt in den Niederlanden sicher mehr Imame aus Marokko als diese fünf“, meint Dozent Üstüner. „Der Rest trickst sich um die Kurse herum. Die, die es am meisten nötig haben, fühlen sich nicht angesprochen.“
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Kerstin Schweighöfer: Knigge für Imame, in: Focus 1/2003
Der inländische Nachrichtendienst BPV hatte bereits vor fünf Jahren erstmals auf radikale Imams aufmerksam gemacht und auch in seinem jüngsten Jahresbericht entsprechende Vorfälle gemeldet. Die Politiker in Den Haag reagierten jedoch nicht. Erst als das Fernsehmagazin Nova Tonband-Aufnahmen veröffentlichte, in denen zu häuslicher Gewalt gegen Frauen, Hass gegen den Westen, Juden und Christen aufgerufen wurde, reagierte Den Haag. Siggi Weidemann: Den Haag erwägt Ausweisung von Imamen, in: Süddeutsche Zeitung, 22.6.2002
5.7.5.2 Imame und Integration Die Stimmung im Klassenzimmer ist ziemlich eisig. Vorn steht Pater Gerard Claassens, rund um den Konferenztisch sitzen fünf bärtige Imame in weißen Kaftanen. Unterrichtsfach: „Religionsfreiheit und Toleranz“. Die islamischen Gelehrten aus Marokko scheint's nicht sonderlich zu interessieren. „Wir wollen verhindern, dass ihr in den Niederlanden isoliert bleibt“, erklärt Claassens. Keine Reaktion. Doch als der katholische Priester auf Urvater Abraham zu sprechen kommt, nicken einige der Schüler. „Muslime und Christen sind Brüder“, sagt Pater Claassens. Pflichtunterricht für Imame: Zwei Wochen lang studieren die Religionsgelehrten in einem Konferenzzentrum in der Nähe von Utrecht die Besonderheiten ihres Gastlandes. Bislang gibt es in den Niederlanden keine Möglichkeit, sich zum Imam ausbilden zu lassen. Deshalb werden die Vorbeter von muslimischen Nationen ausgeliehen – und wissen oft so gut wie gar nichts über das Land, in dem sie vier Jahre bleiben sollen. [...]
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5.8 Wie reagiert der Staat? 5.8.1 Die Auseinandersetzung um Demokratie und Werte [...] [In den Niederlanden – Red.] hat eine Debatte begonnen, die jahrzehntelang trotz wachsender Zuwanderung und Einbürgerung von Muslimen nicht geführt wurde: Ob die Wertehierarchie des Islam mit der einer liberalen Demokratie wie der niederländischen, mit Frauenemanzipation, Gleichberechtigung von Homosexuellen und säkularisiertem Staatswesen vereinbar ist. Anlässe dazu hat es genug gegeben. Die Phase von der multikulturellen Gesellschaft sei eine Ausrede gewesen, die es erlaubt habe, die eigenen Vorurteile und das heimelige Bild der Niederlande beibehalten zu können, ohne auf die Anzeichen einer Krise reagieren zu müssen, schrieb ein Journalist. Einer derjenigen, der die Niederländer aus ihrem multikulturellen Dornröschenschlaf weckte, war Osama bin Laden. In einem seiner Videos freute er sich, die Anschläge am 11. September hätten in den Niederlanden eine Bekehrungswelle zum Islam ausgelöst. Man schüttelte verwundert den Kopf, doch bald erwies sich, dass er so Unrecht nicht hatte. In seinem Bericht für 2001 ging der niederländische Verfassungsschutz auch zum ersten Mal auf die Bedrohung durch fundamentalistische Muslime ein: Eine zweistellige Zahl von Muslimen sei in den Niederlanden für den heiligen Krieg im Nahen und Fernen Osten angeworben worden. Dies geschehe in einer Eindhovener Moschee – eine Information, die deutsche Geheimdienstkreise bestätigten. Reporter des Fernsehsenders Nova zogen in einige niederländische Moscheen, zeichneten die Predigten auf und ließen sie übersetzen. „Allah, rechne ab mit deinen Feinden und wirf sie hinaus, sende deinen Blitz herab auf die Ungläubigen, mache ihren Tag zur Hölle“, hörten erstaunte Fernsehzuschauer aus dem Mund eines Amsterdamer Imams. [...] Der Tilburger Imam Ahmad Salam rief dazu auf, notfalls ungehor110
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same Frauen zu schlagen. [...] Die härteste Kritik kommt dabei meist von Frauen, die sich mit ihrer Integration in die niederländische Gesellschaft von den patriarchalischen Fesseln ihrer Herkunftsländer befreien konnten. Selbst auf der politischen Linken angesiedelt, werfen sie vor allem Sozialdemokraten, Sozialisten und Linksliberalen vor, durch die Tabuisierung des Multikulturellen und die Verabsolutierung der Toleranz gegenüber Fremden die Unterdrückung islamischer Frauen und Mädchen mitten in dieser toleranten Gesellschaft ignoriert, ja ermöglicht zu haben. Nun stellen die Niederländer ihr oft als vorbildlich dargestelltes Integrationsmodell auf den Prüfstand. Da hat die Abschaffung der Subventionen für Unterricht in der Sprache des Herkunftslandes geradezu Symbolcharakter. Es zeigt sich, dass das Problem nicht darin liegt, dass Immigranten aus islamischen Ländern ihre kulturellen Wurzeln verlieren, sondern darin, dass sie diese auf Kosten ihrer Integration in den Niederlanden stärken, wo es nur geht, und sich damit selbst in Gettos verbannen. [...] Aus islamischen Ländern nach Holland eingewanderte Intellektuelle sehen im Streit um Einwanderung und Immigration die Chance, Bündnispartner zu werben im Kampf gegen Intoleranz und patriarchalische Strukturen in den Minderheitengettos, aus denen sie ausbrechen wollen oder ausgebrochen sind. Die „Debatte über die heiligen Kühe des Islam“ müsse weitergehen, fordert der Schriftsteller Abdelkader Benali. Sie biete die Chance, [...] eine mit niederländischen Werten zu vereinbarende Spielform des Islam [zu etablieren – Red.]. Daher gibt es nun auch Pflichteinbürgerungskurse für Imame. Gemäßigte Muslime, so Benali, müssten so weniger Furcht vor radikalen Glaubensbrüdern haben. Und der Islam insgesamt könne daraus sogar gestärkt hervorgehen. Klaus Bachmann: In den Niederlanden wird über die multikulturelle Politik diskutiert, in: Stuttgarter Nachrichten 4.1.2003
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` 5.8.2 Ein neues Ausländerrecht [2001 wurde das Ausländerrecht bereits verschärft. Red.] [...] Die niederländische Regierung will ihre Ausländerpolitik weiter verschärfen. Ziel ist es insbesondere, die Abschiebung illegal im Land lebender Ausländer zu erleichtern. Ihre Anzahl wird derzeit auf 70 000 bis 150 000 geschätzt. Schon zu Jahresanfang hatte die Koalition aus Christlichen Demokraten, Rechts- und Linksliberalen beschlossen, 26 000 abgelehnte Asylbewerber abzuschieben. Auch die Zuwanderung durch Heirat mit Bürgern aus Drittländern will die Regierung weiter erschweren. Anwärter sollen künftig Kenntnisse der niederländischen Sprache und der gesellschaftspolitischen Verhältnisse des Landes nachweisen können. Gegen die geplante Abschiebung von Asylbewerbern hatten zu Monatsanfang mehrere tausend Demonstranten in Amsterdam protestiert. Die regierungskritische Zeitung „De Volkskrant“ schrieb am Freitag über die Niederlande: „Von einem gastfreundlichen, vorbildlichen Land bei Toleranz und Duldungspolitik wurde es zu einem Land mit einer Gesetzgebung für Zuwanderung und Eingliederung, die zu den strengsten der Welt zählt.“ Die Haager Asyl- und Ausländerpolitik stößt auch außerhalb der Landesgrenzen auf Kritik. Der Europarat wird sich in der kommenden Woche unter anderem mit dem Beschluß zur Abschiebung der Asylbewerber befassen.
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Kritik ficht die Regierung nicht an. Künftig will sie den abgelehnten Asylbewerbern eine Frist von acht Wochen für eine „freiwillige“ Abreise einräumen. Wer dem nicht Folge leistet, kommt nach Ter Apel, um noch einmal „zwischen acht und zwölf Wochen zu haben, um seine Ausreise zu organisieren“, wie Projektleiterin Ankie Eleveld erläutert. Wer dort nicht mit den Behörden zusammenarbeitet, kommt in Haft oder wird zwangsabgeschoben. Die ersten Ankömmlinge werden Mitte August im „Abreisezentrum“ erwartet. Angesichts der rigiden Vorkehrungen könnten sich die Flüchtlinge schon in Ter Apel wie Häftlinge fühlen: Zweimal am Tag müssen sie antreten und per Fingerabdruck nachweisen, dass sie noch nicht geflohen sind. Wird ein Bewohner als vermisst gemeldet, leitet die Polizei umgehend die Fahndung ein. Die vier Wohnblocks sind spartanisch eingerichtet: Eisenbetten, Matratzen mit Plastikbezug, an der Wand schmale Spinde aus Metall. Im Aufenthaltsraum stehen orangefarbene Plastikstühle und ein Fernseher. Die Projektleitung rechnet schon jetzt damit, dass sich etliche Einwanderer den Weg ins „Abreisezentrum“ ersparen und frühzeitig abtauchen werden, wie es hinter vorgehaltener Hand heißt. Einwanderungsministerin Verdonk gibt sich trotzdem optimistisch. [...] Isabelle Weselingh: Abschiebung ohne Gnade, © AFP
Den Haag verschärft Ausländerpolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.4.2004
5.8.3 Abschiebung abgelehnter Asylbewerber [...] Die Baracken stehen auf dem platten Land. Ringsumher ist freies Feld, und ähnlich trostlos wie seine Lage ist auch das Lager selbst. Wie in einer neu gebauten Kaserne stehen die zweigeschossigen Langbauten mit den kleinen Fenstern und den roten Dächern stramm. In der Mitte ein paar Spielgeräte und einige Bänke, die sich um eine Rasenfläche verteilen: Das ist das neu erbaute niederländische „Abreisezentrum“ nahe der Ortschaft Ter Apel. Die Mitte-RechtsRegierung in Den Haag will in den kommenden dreieinhalb Jahren 26 000 abgelehnte Asylbewerber abschieben. [...]
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Einleitung Auf dem Balkan gibt es seit dem ausgehenden Mittelalter muslimische Bevölkerungsgruppen. Die größten Gruppen leben in Albanien, Bosnien, Mazedonien und im unter internationaler Verwaltung stehenden serbischen Kosovo. Alteingesessene Minderheiten wohnen ebenfalls in Bulgarien, Rumänien und Griechenland. Anders als in allen anderen europäischen Ländern außer Albanien stellen die Muslime in Bosnien die größte Bevölkerungsgruppe. Ihre Alltagskultur ist geprägt von Elementen des sunnitischen Islam. Es hat sich aber anders als in den anderen muslimischen Ländern ein spezifisch europäischer unorthodoxer Islam herausgebildet. Dieser „europäische Islam“ unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von islamischen Vorstellungen in anderen islamischen Ländern. Die Ursachen dieser Entwicklung liegen sowohl in der eigenen Tradition begründet als auch in der historisch-politischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts, welche die Muslime Bosniens erst unter der katholischen Herrschaft Österreichs, dann unter der ser-
bisch-orthodoxen Herrschaft des Königreichs der Serben und Kroaten Jugoslawiens, dann unter dem atheistisch-kommunistischen Nachkriegs-Jugoslawien leben ließ. Die Muslime wie die anderen Bevölkerungsgruppen lebten ursprünglich im ganzen Land mit einem Siedlungsschwerpunkt im Südwesten. Der mit großer Brutalität geführte Bürgerkrieg zwischen muslimischen Bosniern, orthodoxen Serben und katholischen Kroaten nach 1992, der auch als Vernichtungskrieg gegen die jeweils andere Kultur geführt wurde, hat die politische und psychologische Landschaft schwerwiegend verändert. Die Bevölkerung wurde durch Vertreibung und Mord entmischt, es entstanden vielfach religiös einheitlich geprägte Siedlungsgebiete. Das Land muss seit dem Friedensschluss erst noch einen langen Weg zu einer Normalität und einem kooperativen Miteinander der Bevölkerungsgruppen, wie es in der historischen Vergangenheit sehr wohl herrschte, zurückfinden. Wolfgang Böge
Materialübersicht 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10 6.11 6.12 6.13 6.14 6.15
Der historische Hintergrund ...........................................................................................................................................114 Die Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg ..............................................................................................................115 Sarajevo – ein Symbol? .....................................................................................................................................................115 Bosnien und Herzegowina – Bevölkerung ................................................................................................................116 Ethnische Struktur nach geographischen Regionen im ehemaligen Jugoslawien ...................................116 Der bosnische Islam ...........................................................................................................................................................117 Geschichte – eine Übersicht............................................................................................................................................118 Nationale und religiöse Gegensätze............................................................................................................................119 Der Bürgerkrieg....................................................................................................................................................................119 Mujahedin in Bosnien-Herzegowina?..........................................................................................................................120 Bosnien und Herzegowina gemäß Dayton-Abkommen ......................................................................................121 Nach dem Bürgerkrieg ......................................................................................................................................................122 Auf Seelenfang in Bosnien...............................................................................................................................................123 „Der Islam ist das Beste, aber wir sind es nicht.“ .....................................................................................................125 Der Islam in Bosnien heute..............................................................................................................................................126
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Arbeitshinweise (Achten Sie bei der Arbeit im Internet darauf, dass Sie auf einem Gebiet arbeiten, das besonders stark perspektivischen Verzerrungen ausgesetzt ist.) 1. Wenden Sie sich an die serbische, die kroatische, die bosnische Botschaft in Berlin, bitten Sie um Material zum Land und zur Geschichte. Vergleichen Sie die Materialien bezüglich der Rolle der Religionen in den Auseinandersetzungen der jüngsten Geschichte und ihrer Rolle heute. 2. Stellen Sie aus den Materialien (6.1, 6.2, 6.7, 6.8, 6.9) insgesamt die Geschichte des Islam in Bosnien zusammen. 3. Untersuchen Sie mit Hilfe einer größeren Atlaskarte die ethnische Struktur Bosniens nach den Regionen und übertragen Sie die Ergebnisse in eine vergrößerte Kopie der Atlaskarte. 4. Überlegen Sie, wie man Auseinandersetzung und Frieden bildlich in Symbolen darstellen kann. Recherchieren Sie die hier nicht behandelte Symbolhaftigkeit der alten Brücke von Mostar. 5. Erarbeiten Sie aus den Materialien (6.6, 6.14, 6.15) die Besonderheit des bosnischen Islam. 6. Recherchieren Sie zu Alija Izetbegovic und seiner Entwicklung als muslimischer Politiker im Internet. 7. Welche Beziehung zu anderen islamischen Ländern und anderen islamischen Gruppen lässt sich aus den Materialien (6.10, 6.13, 6.15) herausarbeiten? Wie ist das Ergebnis im Licht der Ergebnisse des Arbeitshinweises 5 zu interpretieren? Gehen Sie genau auf die Ansichten des Präsidenten Izetbegovic und des Reis-ul-Ulema Ceric ein. 8. Verarbeiten Sie alle Ergebnisse und die Materialien des Kapitels zu einer großen Wandzeitung: Islam in Bosnien. 9. Suchen Sie Kontakt zu bosnischen Vereinen in Ihrer Region oder zu passenden Einzelpersonen, vielleicht gibt es auch Schülerinnen und Schüler aus Familien aus Bosnien. (Hilfestellung bei der Suche von passenden Gesprächspartnern können vielleicht Ausländerämter, Sozialbehörde oder Arbeitsamt geben). Diskutieren Sie Ihre Ergebnisse mit den Zeitzeugen. 10. Versuchen Sie die Aufgabe, die vor Europa liegt, symbolisch bzw. zeichnerisch zu erfassen. Füllen Sie in einem ersten Zugriff die Sprechblasen (Kopiervorlage am Ende des Moduls) (was sollte Ihrer Ansicht nach a) an Vorsätzen gefasst werden oder b) geschehen?). Suchen Sie dann eine eigenständige Lösung für die Darstellung. Beziehen Sie den Kunstunterricht (Bild, Plastik, Foto) ein.
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6.1 Der historische Hintergrund Anders als in Westeuropa ist der Islam auf dem Balkan bereits ein halbes Jahrtausend verwurzelt und nicht an Zuwanderer, sondern an die einheimische Bevölkerung gebunden. Die im frühen Mittelalter eingewanderte südslawische Bevölkerung stand erst unter byzantinischer und später unter ungarischer Herrschaft. Eine eigenständig bosnische Herrschaft bestand nur kurze Zeit im Mittelalter. 1463 eroberten die Türken Bosnien und 1483 die Herzegowina von den Ungarn. Ethnisch gehören die Bewohner dieses gesamten Raums auf dem Balkan im Wesentlichen zu den Südslawen, insofern sind die verschiedenen religiös-kulturell geprägten Bevölkerungsgruppen Bosniens auch kaum oder nicht ethnisch zu unterscheiden. Die Religionsverteilung unter den christlichen Kirchen in diesem Raum war vor der türkischen Eroberung unübersichtlich: Im Norden und an der Küste dominierte katholischer Einfluss, im Binnenland im Süden und Osten die orthodoxe Kirche. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung gehörte zudem den Bogumilen an, einer mehr in Bulgarien beheimateten christlichen Sonderentwicklung, welche von den großen Kirchen verfolgt und unterdrückt wurde. Die Islamisierung durch die Türken erfolgte einerseits durch sozialen Druck, denn Nicht-Muslime wurden diskriminiert: Christen mussten Sondersteuern leisten und waren im Normalfall von allen führenden Positionen ausgeschlossen. Die unterdrückten BogumilenNachfahren sahen andererseits in dem wenig strengen, ihren Glaubensvorstellungen nicht fernen Islam der Türken, die eher auf Beherrschung denn Bekehrung setzten, einen Freiraum.
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Glauben und lokalen christlichen Traditionen und Glaubensvorstellungen breiten Raum ließ. Die bisherige Oberschicht der Landbesitzer fand in den Türken, wenn sie sich anpassten, zudem einen Garanten ihrer Privilegien. So bedurfte es keiner großen Machtmittel, um schnell Bekehrungserfolge zum Islam zu erreichen. Erst im 17. und 18. Jahrhundert nahm der Islamisierungsdruck zu. In dieser Zeit war die türkische Herrschaft aber schon sehr brüchig geworden. Endgültig wurde diese Entwicklung dann gestoppt durch die Besetzung Bosniens und der Herzegowina durch Österreich 1878 und die österreichische Annexion 1908. Österreich-Ungarn bemühte sich um die ca. 500 000 neuen Muslime des österreichisch-ungarischen Reiches. In der Konstantinopler Konvention hatte Österreich-Ungarn 1879 bereits allen Kulten und insbesondere den Muslimen religiöse Freiheit zugesagt und die Respektierung ihrer Sitten und Gebräuche durch die Verwaltung garantiert. Die 1880er Jahre brachten eine Stärkung der Autonomie. Das Amt eines Reis-ul-Ulema, das Amt eines muslimischen religiösen Oberhaupts wurde wieder geschaffen, damit konnte die autonome Verwaltung die Religions-, Stiftungs-, Rechts- und Schulangelegenheiten weitgehend einheitlich selbst regeln. Das Islam-Gesetz von 1912 erkannte den Islam offiziell als gleichberechtigte Religion an, es wird bis heute von Muslimen als für die damalige Zeit vorbildlich anerkannt. Wolfgang Böge
Der Islam wurde außerdem auf dem Balkan von türkischen Derwisch-Orden verbreitet, die einen „Volksislam“ vermittelten, der sich nicht an strenge Glaubensregeln gebunden fühlte und der individuellem Abb: © Zahlenbilder 832 110, Erich Schmidt-Verlag
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6.2 Die Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen die orthodoxen Serben die Vorherrschaft in Bosnien. 1918 bis 1941 gehörte Bosnien zum Königreich Jugoslawien. Ein neuer Druck auf die muslimische Führungsschicht ergab sich aus der serbischen Vorherrschaft, die z. T. mit Enteignungen durchgesetzt wurde, was zu einer Auswanderungsbewegung in die Türkei führte.
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schaft durch Präsenz einer Friedenstruppe, durch internationale Polizei und politische Vertreter im Land ist weiterhin sehr groß. Insgesamt ist es schwierig, von einem historischen bosnischen Volk zu sprechen, da der Raum ein Heimatland vieler Völker ist. Die Gruppen unterscheiden sich im Grunde trotz des offiziellen Gebrauchs der Begriffe „ethnische Gruppe“ und „Völker“ im Wesentlichen kulturell. Weitere Minderheiten des bosnischen Raumes, die es sehr wohl auch noch gibt, sind hier aus Vereinfachungsgründen weggelassen.
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Wolfgang Böge
Bosnien gehörte nach 1941, nachdem deutsche Truppen Serbien besetzt hatten, bis 1945 zum faschistischen Kroatien. In den grausamen Kämpfen zwischen den serbischen Widerstandsbewegungen, den kroatischen Faschisten und den deutschen Besatzungstruppen geriet der muslimische Bevölkerungsteil zwischen die Fronten. Wieder kam es zu Vertreibungen und Auswanderungswellen.
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6.3 Sarajevo – Ein Symbol?
1945 bis 1991 war Bosnien Teil des kommunistischen Jugoslawien. Religiöse Einrichtungen, muslimische Schulen und Moscheen wurden vielfach geschlossen, die Derwisch-Orden wurden verboten. Der jugoslawische Staat erkannte allerdings jetzt die Bosniaken als eigenständige Gruppe neben den Serben und Kroaten an, was 1963 auch in der Verfassung der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina verankert wurde. Nach dem Tode Josip Titos, der 1945 Jugoslawien zu einer später sich mäßigenden kommunistischen Diktatur gemacht hatte, zerfiel der Staat in seine ethnisch-kulturell bestimmten Teile. Die Teilung wurde in teils schweren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem orthodoxen Serbien, dem katholischen Slowenien und dem katholischen Kroatien erkämpft. 1992 bis 1995 verheerte ein erbitterter Bürgerkrieg zwischen den Muslimen Bosniens, den Serben Bosniens, die die Unterstützung Serbiens hatten, und den Kroaten Bosniens, die Hilfe aus Kroatien erhielten, das Land, bis die Nato eine Vertragslösung zwischen den kriegführenden Parteien erzwang. Dieser Vertrag von Dayton führte zur Staatsgründung Bosnien-Herzegowina und zur Schaffung des jetzigen Staates. Der Einfluss der internationalen Gemein-
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Foto: © Sarajevo-Vision.de
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6.4 Bosnien und Herzegowina – Bevölkerung Die Einwohnerzahl von Bosnien und Herzegowina liegt bei etwa 4,01 Millionen (2004). Dies ergibt eine Bevölkerungsdichte von 78 Einwohnern je Quadratkilometer. Das jährliche Wachstum der Bevölkerung beträgt im Mittel 0,45 Prozent (2004). Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 69,8 Jahren für Männer und bei 75,5 Jahren für Frauen (2004). Die Zusammensetzung der Bevölkerung basiert auf Schätzungen, da während des Bürgerkrieges starke Wanderungsbewegungen stattfanden. Neben mehr als einer Million Binnenflüchtlingen flohen mehr als 900 000 weitere Bewohner des Landes während des Bürgerkrieges in andere Länder, vor allem in die Bundesrepublik Jugoslawien, aber auch nach Kroatien, Österreich, Deutschland, Slowenien und andere Staaten. Die Bosnier stellen mit einem Anteil von etwa 44 Prozent die stärkste ethnische Gruppe dar. Sie bekennen sich zum Islam (überwiegend Sunniten) und sind
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Nachfahren der Türken und Slawen, die zum Islam konvertierten, als die Region unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches stand. Die Serben sind mit rund 31 Prozent zweitgrößte Volksgruppe; etwa 17 Prozent der Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina sind Kroaten. Vor dem Krieg lebten rund zwei Drittel der Bevölkerung in ländlichen Gebieten. Mittlerweile hat sich der Anteil der städtischen Bevölkerung von ungefähr einem Drittel auf etwa 44 Prozent erhöht (2002). Ein Großteil der Stadtbevölkerung lebt in den drei größten Städten Sarajevo, Banja Luka und Zenica. © Microsoft Encarta, http://de.encarta.msm.com/text_761563626_3/Bosnien_und_Herzegowina.html, 01.09.04
6.5 Ethnische Struktur nach geographischen Regionen im ehemaligen Jugoslawien Die Karte zeigt die Bevölkerungsverteilung (Größe der Kreise) und die ethnische Struktur (Sektoren) auf dem Hintergrund der geographischen Regionen und Subregionen. Es gilt die Regel: Je dichter die Bevölkerung, umso stärker die ethnische Mischung – und umso größer auch die sozialen Probleme.
Kartographie: © W. Dillmann, aus: Adolf Karger: Jugoslawien in der Zerreißrobe. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 41. Jg., H. 3, 1991, S. 156
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6.6 Der bosnische Islam [...] Wichtig ist der Zeitpunkt der bosnischen Konversion: Das Osmanische Imperium war auf dem Höhepunkt seiner Macht und entsprechend liberal. Daraus resultiert das „bosnische Paradoxon“, d.h. der extreme Konservatismus der bosnischen Muslime, die mit dieser Haltung die Liberalität des Anfangs ihres Islam bewahren wollten und konsequent nahezu alle seitherigen Veränderungen des Islams (in Lehre, Kleidung, Vorschriften zu Essen und Trinken etc.) ignorierten: „Im ganzen Koran gibt es keine einzige Stelle, die den Frauen vorschreibt, ein feredze (Kopftuch) zu tragen“ (Hasan Karachi 1961). Hinzu kam die sozusagen koexistenzielle Glaubenspraxis, die seit Jahrhunderten in Bosnien durch ein Sprichwort ironisiert wird: Do podne Ilija, od podne Alija (Bis mittag der Heilige Elias, nachmittags Allah). Eben diese (scheinbare) Lässigkeit im Umgang mit dem eigenen Glauben hat dem bosnischen Islam einen verheerenden Ruf in der islamischen Welt eingebracht. Für das restliche Europa ist genau das aber ein großer Vorteil und eine Chance: Man kann mit wenig Mühe die geringen fundamentalistischen Abweichun-
Die Gazi-Husrevbeg-Moschee in Sarajevo
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gen in Bosnien, die fremdbestimmt und kriegsbedingt waren, beseitigen, um dann Bosnien nicht als europäische Speerspitze des fundamentalistischen Islam zu verkennen, sondern es als europäisches Land und als potentiellen Vermittler zum Islam zu erkennen. Ein Land wie Bosnien, wo junge Muslime bis 1948 eine eigene Zeitschrift Mudzahid besaßen und das gegenwärtig fest in der antiterroristischen Allianz steht, bietet jede Gewähr, daß seine Muslime niemals Mujahedin waren oder sein werden.
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Wolf Oschlies: Die Welt nach dem 11. September, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Der bosnische Wissenschaftler Smail Balic schreibt mitten im Bürgerkrieg: „Der Islam in Bosnien kann auf eine 115jährige Erfahrung im Umgang mit dem aufgeklärten Europa zurückblicken; er ist weltoffen, liberal und tolerant im Sinne der Deklaration der allgemeinen Menschenrechte. Geographisch, geschichtlich, ethnisch und kulturell gehört dieser Islam zu Europa.“ Wolfgang Böge
Anm.: Vgl. auch Modul „Politik und Religion im Islam“, Dokument 2.3.10, S. 93.
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Foto: © AP, HIDAJET DELIC, Stringer
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6.7 Geschichte – eine Übersicht 6./7. Jhd. 1180
Slawische Einwanderung in das Gebiet Bosnien und Herzegowina Bosnisches Fürstentum unter Ban Kulin. Er duldet religiöse Bewegung der Bogomilen, die in anderen Gebieten des westlichen Balkans als Ketzerbewegung verfolgt wird. 1353–1391 Blüte des bosnischen Fürstentums unter König Tvrtko I. 1463 Großteil Bosniens unter türkischer Herrschaft; Konversion bogomilischer Bevölkerungsgruppen zum Islam 1481 Herzegowina unter türkischer Herrschaft 1580 Vereinigung Bosniens und Herzegowinas zu einem „Paschaluk“ um 1700 Stabilisierung der Grenzen zwischen dem Osmanischen Reich („bosnischer Paschaluk“) und der Habsburger Monarchie 1839 Auflösung der Selbstverwaltung Bosniens nach anti-türkischen Aufständen der feudalen islamischen Oberschicht 1878 Besetzung Bosniens durch Österreich-Ungarn infolge des Berliner Kongresses 1908 Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn 1912/13 Balkankriege: Serbien versucht vergeblich, sich stärker in Bosnien-Herzegowina zu etablieren 28.06.1914 Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgerpaares durch den serbischen Nationalisten Gavrilo Princip in Sarajewo 1918 Bosnien-Herzegowina wird Teil des neuen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1929 Proklamation des „Königreichs Jugoslawien“; Diktatur König Alexanders 1939 „Sporazum“: Serben und Kroaten vereinbaren die Teilung Bosnien-Herzegowinas in serbisch und kroatisch dominierte Banovinas (Cvetkovic-Macek) 1941 Deutsche und italienische Truppen besetzen Jugoslawien; Bosnien-Herzegowina wird in den faschistischen „Unabhängigen Staat Kroatien“ eingegliedert 25.11.1943 Konstituierung der „Volksrepublik Bosnien-Herzegowina“ (NRBiH) 29.11.1943 Proklamierung der „Föderativen Volksrepublik Jugoslawien“ (FNRJ) 1963 Neue bosnische Verfassung: Muslime erstmals als eigenes „Volk“ aufgeführt 1971 Volkszählung: Muslime können sich erstmals offiziell als „Muslime im Sinne einer Nation“ registrieren (ca. 800.000 tun dies) 1974 Neue Bundes(SFRJ)- und Republikverfassungen: starke Tendenz zur Dezentralisierung 1980 Tod Titos Sommer 1991 Zerfall Jugoslawiens 01.03.1992 Referendum: bosnische Muslime und Kroaten mehrheitlich für Unabhängigkeit, die meisten Serben boykottieren die Abstimmung; in der Folge suchten zunächst die bosnischen Serben, ein Jahr später auch die bosnischen Kroaten (in der Herzegowina) möglichst große Landesteile unter ihre Gewalt zu bringen, um sie letztlich dem jeweiligen „Mutterland“ einzuverleiben (ca. 278.000 Tote und Vermisste, 1.325 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene) 06.04.1992 Anerkennung der Republik Bosnien-Herzegowina durch USA und EU-Mitgliedstaaten 18.03.1994 Bosniaken und Kroaten unterzeichnen in Washington den Vertrag zur Bildung einer „Föderation von Bosnien-Herzegowina“ 14.12.1995 Unterzeichnung des Daytoner Friedensvertrags in Paris: einheitlicher und politisch unabhängiger Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina (BiH), bestehend aus Föderation von BiH (FBiH) und Republika Srpska (RS); Gesamtverantwortung für die politisch-zivile Implementierung des Friedensabkommens liegt beim Hohen Repräsentanten (Bildt, Westendorp, Petritsch, seit Mai 2002 Ashdown). Dieser erhält seine politischen Richtlinien vom Lenkungsausschuss des „Peace Implementation Council“ (PIC), das Vertreter der P8-Staaten, der EU-Präsidentschaft, der EU-Kommission und der Türkei (für islamische Konferenzorganisation OIC) umfasst. Er berichtet an internationale Gremien (VN-Sicherheitsrat, EU); Trennung der Kriegsparteien und die Stabilisierung der Sicherheitslage wurde unter der Führung der NATO von Ende 1995 an zunächst durch die IFOR und ab Ende 1996 durch die „stabilisation force“ SFOR gewährleistet. Quelle: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/laenderinfos/laender/laender_ausgabe_html?type_id=9&land_id=24, 14.9.2004
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6.8 Nationale und religiöse Gegensätze Jahrhundertelang prägte Toleranz das Zusammenleben zwischen Muslimen, orthodoxen und katholischen Christen sowie einer großen sephardischen jüdischen Gemeinde. Diese Toleranz schlug jedoch während des Zweiten Weltkrieges radikal ins Gegenteil um. In Bosnien-Herzegowina fanden nicht nur die wichtigsten Schlachten der Tito-Partisanen gegen die deutschen und italienischen Besatzer statt, sondern hier spielten sich auch die schrecklichsten Grausamkeiten des Bürgerkrieges zwischen Kommunisten, königstreuen serbischen Tschetniks und der faschistischen kroatischen Ustascha ab. Die nationalen und religiösen Gegensätze lassen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung ein gleichberechtigtes Nebeneinander der drei Nationen nahezu unmöglich erscheinen. Die nationale Zugehörigkeit bestimmte auch das Wählerverhalten schon bei den ersten freien Wahlen im November und Dezember 1990. Als stärkste Partei ging die muslimische Demokratische Aktion aus den Wahlen hervor, zweitstärkste Partei war die Serbische Demokratische Partei und die dritte Kraft die Kroatische Demokratische Gemeinschaft. Gleichwohl hatten sich diese drei Parteien zunächst das Ziel gesetzt, unter Wahrung der Interessen aller drei Völker die Geschicke von Bosnien-Herzegowina gemeinsam zu bestimmen. Der muslimische Präsident des Landes, Alija Izetbegovic, war bestrebt, Bosnien-Herzegowina aus dem serbisch-kroatischen Konflikt herauszuhalten und eine neutrale Position einzunehmen. Die gegen den Willen der Serbischen Demokratischen Partei im Oktober 1991 vom Parlament verabschiedete Unabhängigkeitserklärung ließ bereits damals das Illusorische dieser Haltung erkennen. Nachdem sich eine Mehrheit der Bevölkerung in einem von den Serben boykottierten Referendum für die Unabhängigkeit ausgesprochen hatte – die u. a. auch von den EG-Staaten anerkannt wurde –, brach im März 1992 der bewaffnete Konflikt zwischen den Serben und den übrigen Volksgruppen aus. Die von Serbien dominierte Bundesarmee griff dann ebenso wie in Kroatien auf
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Seiten der Serben in den Konflikt ein.
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Hugo Danker: 30 Tage Gebet für die islamische Welt. http://www.ead.de/gebet/weitere/30/bosnier/islaminbh.htm, 28.04.2003
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6.9 Der Bürgerkrieg [Volksabstimmung in Bosnien, die von den Serben Bosniens boykottiert wurde – Red.] Ein Referendum am 29.2/1.3.1992 brachte [...] auch eine Mehrheit für die Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas. Im Vorfeld der Abstimmung konnte man von den Führern der nach nationalen Kriterien gebildeten politischen Parteien eine sich steigernde, zunächst „nur“ verbale Radikalität beobachten. Den Hetztiraden sollten dann Taten folgen, und im Sommer 1992 setzten dann Kämpfe ein: Bosnische Serben hatten Armeeeinheiten gebildet, die in weiten Teilen Bosniens mit der Vertreibung bzw. auch physischen Vernichtung von Muslimen und Kroaten begannen. Vor allem die bosnischen Muslime zählten hierbei zu den Opfern. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina brachte in Europa nach 1945 ungekannte Schrecken mit sich. Vertreibungen, Massaker und andere Gewalttaten prägten die Kriegsjahre in Bosnien von 1992– 1995, denen in erster Linie bosnische Muslime zum Opfer fielen. In den Kriegsjahren wechselten die Allianzen in Bosnien mehrfach: Serben kämpften gegen Muslime, Kroaten gegen Muslime, Kroaten und Muslime gemeinsam gegen Serben, aber auch Muslime gegen Muslime. Eine in Europa und den USA vielfach debattierte Frage betraf dabei immer wieder die Existenz des Islam und von Muslimen in dieser Region Europas, man wusste in den Staatskanzleien und Außenministerien zumeist nur wenig über diese spezifische Form des Islam in Europa. Von serbischer und kroatischer Seite wurden auch bewusst, aus Propagandazwecken, Befürchtungen vor der Entstehung eines „zweiten Iran“ in Europa geschürt. Während des Krieges wurden eine Reihe von Friedensplänen von seiten der USA und der Europäischen Union ausgearbeitet, Friedenskonferenzen fanden statt (Londoner Friedenskonferenz vom 26.-28.8.1992), Teilungspläne wurden erstellt (Sommer 1994), doch ungeachtet der
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in Bosnien selbst gab es noch kein ` Kriegsmüdigkeit Ende der Kämpfe. Das Friedensabkommen von Dayton (feierliche Unterzeichnung in Paris am 14.12.1995) bedeutete keine endgültige Befriedung BosnienHerzegowinas; das Schweigen der Waffen wird durch die Präsenz von internationalen Truppen (IFOR, SFOR) ermöglicht, von einem tatsächlichen Frieden kann aber nach wie vor nicht die Rede sein. Das Land ist de facto geteilt in die Förderation Bosnien-Herzegowina und in die Republik Srpska (Serbische Republik). Ein freier, ungehinderter Personen- und Warenverkehr ist zwischen diesen beiden Teilen nur schwer möglich. Eines der größten Probleme stellt aber die bis jetzt ungeklärte Flüchtlingsproblematik dar: Die Rückkehr in die ursprünglichen Wohngebiete ist kaum vorstellbar, da in den früheren Wohnorten nun Flüchtlinge aus anderen Teilen Bosnien-Herzegowinas leben und das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen – so wie vor Kriegsausbruch – ebenfalls nicht mehr funktioniert. Das einstige multi-religiöse und multi-kulturelle Bosnien ist jedenfalls nur mehr Vergangenheit. Valeria Heuberger: Österreichisches Ost- und Südosteuropa-Institut, Wien (AEES Konferenz, 28.02.2000, Tokyo). http://www.na.rim.or.jp/~aees/reikai/heuberger.html, 11.09.2004
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Cartoon: © Brian Duffy, Courtesy Des Moines Register
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6.10 Mujahedin in Bosnien-Herzegowina? Die Republik Bosnien-Herzegowina ist „ins Gerede“ gekommen: Im Krieg 1992–1995 kämpften auf Seiten bosnischer Muslime auch einige Mujahedin mit (0,3 Prozent von insgesamt 200 000 Soldaten), darunter auch ein paar bin Laden-Anhänger, die später bosnische Pässe bekamen. Jetzt gilt das Land als europäischer Tummelplatz islamischer Terroristen. Im Oktober wurde die US-Botschaft in Sarajevo wegen terroristischer Drohungen geschlossen, und die US-Militärbasen „Orao“ in Tuzla und „Conor“ bei Srebrenica trafen Vorkehrungen gegen Anschläge. Seither lebt Bosnien gewissermaßen zwischen Huntington und bin Laden: Als europäisches Land von partiell muslimischer Observanz kann es mit Huntingtons Konflikt-Szenarien nichts anfangen – wie es auch nicht in die kriminellen und islamisch kaschierten Aktivitäten bin Ladens involviert werden möchte (aber wird). Wolf Oschlies: in: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Der Zerfall Jugoslawiens, Politik und Unterricht, Nr. 3, 1997, S. 37.
Bosnische Muslimen-Brigade, 10.12.1995
Foto: © AP, Enric F. Marti
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leidige Geschichte mit den „Mudzahedin“, die ` ausDie „Iran, Afghanistan und Pakistan“ gekommen waren, hat jüngst in kompetenter Weise General Rasim Delic, der Oberkommandierende der bosnischen Truppen, so erklärt („Ljiljan“ vom 13.3.96): „Die Truppeneinheit El Mudzahid bestand aus insgesamt 218 Mann. Im Vergleich mit der übrigen Armee war sie verschwindend klein. Die Einheit war nicht einmal in der Lage, auf taktischem, geschweige denn auf operativem und strategischem Gebiet Wesentliches zu verändern. Wir haben im Einklang mit dem Dayton-
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Abkommen diese Leute veranlasst, das Land zu verlassen. [...] Dem mörderischen Geschehen in Bosnien haben nicht die zur Vernichtung Verurteilten den Charakter eines religiösen Krieges, schon gar nicht eines Bürgerkrieges, aufgedrückt. Dies haben jene Kräfte getan, die von allem Anfang an alles Islamische vernichten wollten. Die systematische Zerstörung aller Moscheen in den von Serben okkupierten Gebieten spricht eine eindeutige Sprache. Smail Balic, Wien, 26.3.1996, In: Glaube an die Welt, Jg. 24, http://www.chrislages.de/bosnien.htm
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6.11 Bosnien und Herzegowina gemäß Dayton-Abkommen
Aus: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Der Zerfall Jugoslawiens, Politik und Unterricht, Nr. 3, 1997, S. 37.
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6.12 Nach dem Bürgerkrieg Die nationalen und religiösen Gegensätze führten, trotz der Bemühungen des Präsidenten, des Moslems Alija Izetbegovic, Bosnien-Herzegowina aus dem serbisch-kroatischen Konflikt herauszuhalten und eine neutrale Position einzunehmen, gegen den Willen der Serben im Oktober 1991 zur Unabhängigkeitserklärung. Nachdem sich eine Mehrheit der Bevölkerung in einem von den Serben boykottierten Referendum für die Unabhängigkeit ausgesprochen hatte, brach im März 1992 der bewaffnete Konflikt zwischen den Serben und den übrigen Volksgruppen aus. Der mehr als zweieinhalbjährige Krieg wurde von allen Seiten mit großer Härte und Grausamkeit geführt. Massaker und Vertreibungen der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe („ethnische Säuberungen“) führten zu 2,7 Millionen Flüchtlingen. Diplomatische Bemühungen und Wirtschaftssanktionen zur Beendigung des Krieges blieben erfolglos, bis das Eingreifen der NATO und militärische Rückschläge der Serben 1995 den Weg frei für das Friedensabkommen von Dayton zwischen Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien machten. Bosnien-Herzegowina blieb als Gesamtstaat zwar erhalten, de facto aber geteilt in eine moslemisch-kroatische Föderation und eine Serbische Republik („Entitäten“), regiert von einem Hohen Repräsentanten der internationalen Staatengemeinschaft mit umfassenden Vollmachten und militärisch besetzt von einer multinationalen Friedensgruppe, der Stabilization Force (SFOR). Die weiter bestehenden Gegensätze zwischen den infolge des Krieges „entmischten“ Nationalitäten, sichtbar etwa an der zwischen Moslems und Kroaten geteilten Stadt Mostar, und territoriale Streitigkeiten wie über den Posavina-Korridor bei Brcko machen Bosnien-Herzegowina zu einem politisch instabilen Gebilde, das zur Wiederherstellung von Wirtschaft und Infrastruktur auf ausländische Finanzhilfe angewiesen ist. Positiven Ansätzen wie der Aufbau einer gemeinsamen Grenzpolizei 1999 oder der Wahlsieg der nicht ethnisch definierenden Sozialdemokraten (SDP) 2000 folgten wieder Rückschritte, etwa Anfang 2001 die Proklama122
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tion bzw. Wiederbelebung einer eigenen kroatischen Teilrepublik in der Herzegowina durch nationalistische Kroaten. Bei den Wahlen in Bosnien-Herzegowina im Oktober 2002 haben sich mit mehr als 90 % der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von nur 55 % die nationalistischen Kandidaten für das Dreier-Präsidium durchgesetzt. Für die bosnischen Serben wird der Präsident der bosnisch-serbischen Teilrepublik, Mirko Sarovic, in dem Gremium sitzen. Er gilt als Anhänger von Ex-Serbenführer Radovan Karadzic. Für die moslemisch-nationalistische Demokratische Aktionspartei siegte Sulejman Tihic. Die Kroaten vertritt Dragan Covic, der zur Nationalistenpartei HDZ gehört. Auch bei den Parlamentswahlen sind die Nationalisten klar an der Spitze. Das von der internationalen Staatengemeinschaft als herber Rückschlag betrachtete Wahlergebnis lässt zu Recht befürchten, dass notwendige rasche wirtschaftliche und politische Reformen nicht zustande kommen werden. Eher wahrscheinlich ist, dass sich die ethnischen Konflikte wieder verschärfen. Menschen unserer Zeit e. V. (Berlin): Länderseite Bosnien-Herzegowina http://www.muz-online.de/europe/bosnien.html, 12.09.2004
Schwierige Verständigung
Zeichnung: © LUFF/CCC, www.c5.net
Anm.: Nach der neuen bosnischen Verfassung sitzt im bosnischen Staatspräsidium je ein Vertreter der drei Bevölkerungsgruppen.
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6.13 Auf Seelenfang in Bosnien [...] Goldene Lettern über eisgrauem Marmor und Granit laden am Ende des Areals in das Kulturzentrum König Fahd Bin Abd al Aziz al Saud. Vor dem Eingang herrscht Parkverbot. Alle Plätze sind reserviert für die Saudische Hohe Kommission. Die Kommission ist eine humanitäre Hilfsorganisation, an deren Spitze ein Diplomat steht. Sie hat mehr für Bosnien gespendet als all die anderen. Und das schon seit 1993, als der Westen noch schlief. Mit großen Summen ließ sie nicht nur Moscheen aufbauen und Religionsschulen gründen, sondern auch Wohnungen wieder instandsetzen. Alle Spenden stam-
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men aus den Schatullen und Kollekten der Dynastie Al Saud in Riad. Die Fahd-Moschee ist ihr Geschenk an die bosnischen Muslime, die sie als Opfer der Christen sieht – auch wenn Serben und Kroaten bei ihren mörderischen Vertreibungsfeldzügen zur Aufteilung Bosniens alles andere als christlich handelten.
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Kein geringerer als Prinz Salman hat die KönigFahd-Moschee am 15. September 2000 eingeweiht. [...] Für Salmans Besuch versank Sarajevo am 15. September 2000 im Grün des Propheten. Doch kein Jahr sollte vergehen, seit der Prinz die Moschee mit dem Namen seines Bruders geweiht hatte, da brach das Welthandelszentrum in New York unter den Terroranschlägen zusammen. 15 der 19 Selbstmordattentäter besaßen saudische Pässe. Mit einem Mal erschienen die weltumspannenden Spenden und Moscheenbauten des Königshauses in einem ganz anderen Licht. Das Reich zwischen Rotem Meer und Golf geriet in den Ruf, nicht nur das meiste Öl, sondern auch die militanteste Manpower für religiöse und terroristische Missionen zu exportieren. Saudi-Arabiens aggressive Staatsreligion des Wahhabitentums wurde als eine Hauptquelle des Fundamentalismus entdeckt. [...]
Foto: © AP, Sava Radovanovic
Auch in Bosnien kamen die königlichen Wohltaten nach dem 11. September schnell in Verdacht. Die Gaben der Saudis, allen voran die KönigFahd-Moschee, wirkten plötzlich wie Danaergeschenke. Arabische Glaubenskämpfer, die zusammen mit bosnischen Muslimen gegen die serbischen Mordbrenner des Radovan Karadzic gekämpft hatten, gerieten ins Fadenkreuz. Die geschockte Nato-Frieden-
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und die sprichwörtlich plumpe bosnische Po` struppe lizei schoben sie schon auf bloßen Verdacht hin ab. Im Oktober beschlagnahmten amerikanische SFOR-Soldaten in der Saudischen Hohen Kommission Computerfestplatten und Dokumente. Sie nahmen sogar vier Angestellte der Hilfsorganisation vorübergehend fest. [...] Die Festplatten der saudischen Hilfsorganisation enthielten Fotos von amerikanischen Militäreinrichtungen und [...] Stadtpläne von Washington, auf denen Regierungsgebäude besonders markiert worden waren. Die Saudis wollen davon nichts gewusst haben. Aber immerhin beschäftigte die Hohe Kommission einen jener sechs Algerier, denen die Amerikaner schon im Oktober Verbindungen zu Al-Qaida vorgeworfen hatten. US-Soldaten deportierten die sechs Verdächtigen später nach Guantanamo – gegen die Entscheidung der höchsten bosnischen Rechtsinstanz. Damit sind aber auch die Bosnier selbst nach dem 11. September in den Ruf geraten, islamischen Terroristen Schlupfwinkel und fanatischen Wahhabiten Missionsstationen zu bieten. Das aber ist eine ungerechte Vereinfachung. Denn die bosnischen Muslime, die eine der tolerantesten Religionsgemeinschaften überhaupt bilden, werden damit von neuem abgestempelt. Die serbische und kroatische Kriegspropaganda hatte Bosnien als islamistischen Gefahrenherd für ganz Europa verunglimpft. Slobodan Milocevic in Den Haag und seine Presse in Belgrad halten daran bis heute fest. Der Antiterrorfeldzug mit seinen simplen Schemata bedient dieses Klischee aufs Neue. Der Alarmismus wird von ein paar bosnischen Stimmen noch verstärkt. So zitierte der Kulturreport des NDR den Obermufti von Mostar, Seid Efendi Smajkic: „Die Saudis haben Einfluss, weil sie Unmengen von Geld haben. Und wir, die Bosnier, haben keins. Deswegen können die Wahhabiten gerade die Jugend mit ihrem Geld locken. Das ist nichts anderes als Menschenkauf.“ [...] Dass sich Glaubensfanatiker überhaupt einnisten konnten im multireligiösen Bosnien – wo nicht einmal die türkischen Eroberer den Islam mit Zwangsbekeh124
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rungen verbreiteten – ist vor allem die Schuld der Europäer. Allzu lang sahen sie zu, wie die Serben Moscheen und Minarette in Schutt und Asche legten. Ungehindert durch die Blauhelme konnte der Serbengeneral Ratko Mladic Tausende Muslime aus der Schutzzone Srebrenica abtransportieren und erschießen lassen. Das Waffenembargo, das der Westen über ganz Jugoslawien verhängt hatte, lieferte die bosnischen Streitkräfte den überlegenen Waffen der jugoslawischen Armee aus. „Niemand hat das Recht zu klagen, dass wir die Araber ins Land holten“, urteilt Mohammed Filipovic, Akademiemitglied, Essayist und Bosniens erster Botschafter in London. „Sie waren die Einzigen, die uns Waffen und Hilfe anboten. Militärisch spielten die Glaubenskämpfer keine Rolle. Aber sie missionierten einige ihrer bosnischen Mitkämpfer. Warum gelang ihnen das? Weil sich unsere Muslime enttäuscht, verzweifelt, vom Westen im Stich gelassen fühlten.“ Noch heute ist gelegentlich von 3 000 Arabern zu lesen, die in Bosnien kämpften. Solche Zahlen beruhen auf Tatarenmeldungen des Radovan Karadzic. Nach den Anschlägen vom 11. September hat die bosnische Regierung rund 100 legal und illegal eingebürgerte islamische Kriegsveteranen wieder ausgebürgert und abgeschoben. Auch der Kreis der bosnischen Soldaten, die sich von Wahhabiten missionieren ließen, ist klein. Die von ihnen gegründete Aktive Islamische Jugend (AIO) zählt höchstens 2 000 Mitglieder. Die führende islamische Partei der Demokratischen Aktion (SDA), die mit dem muslimischen Antikommunisten Alija Izetbegovic lange den Gegenspieler des Serben Slobodan Milocevic und des Kroaten Franjo Tudjman stellte, ist weit weniger fundamentalistisch als die AIO. Doch selbst ihre Mitglieder feierten auf dem jüngsten SDA-Kongress den saudischen Botschafter mit stehenden Ovationen. Für seinen US-Kollegen rührten sich nur wenige Hände. Das ist nicht repräsentativ für die Bevölkerung. Sie wird der muslimischen SDA voraussichtlich wieder die meisten Stimmen geben, jedoch keinen fundamentalistischen Parolen folgen. Danilo Nikolic, Direktor der jüdischen Gemeinde von Sarajevo, hat da keine Befürchtungen: „Auf lange Sicht können die Wahhabiten hier keinen Einfluss gewinnen.“ Auch der
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Marko Orcolic, der das multireligiö` Franziskanerpater se und interkulturelle Zentrum der Stadt leitet, ist ganz sicher: „Die Saudis und ihre radikalen Anhänger sind nicht zur Diskussion bereit. Sie wollen alles im Dunkeln halten. Damit kommen sie hier nicht voran. Unser Islam ist türkischer, nicht arabischer Herkunft.“ Mohammed Filipovic, der muslimische Intellektuelle, bekräftigt: „Der Wahhabismus wird uns fremd bleiben. Kaum jemand lässt sich hier zwingen, religiöse Reglementierungen zu akzeptieren. Wir sind da wie Protestanten: Es gibt keine Mittler zwischen Allah und dem Individuum.“ Bosniens Muslime haben den höchsten Blutzoll der Balkankriege entrichten müssen. Ihre Wirtschaft liegt fast hoffungslos darnieder. Deshalb ist das eigentliche Wunder, dass sie ihre religiöse Toleranz bewahrt haben. Die können ihnen auch die Saudis jetzt nicht abkaufen. [...] Christian Schmidt-Häuer: Auf Seelenfang in Bosnien, in: Die Zeit 12/2002, http://www.zeit.de/2002/12/Politik/print_200212_saudisinbosnien.html 01.09.04
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6.14 „Der Islam ist das Beste, aber wir sind es nicht.“ [Rede des Präsidenten Alija Izetbegovic am 11.12.1997 in Teheran, Iran, beim 8. Treffen der islamischen Konferenz. Red.] [...] In dieser Woche [...] bin ich von Bosnien nach Saudi Arabien geflogen, auf eine Konferenz über Weiterbildung. Danach auf eine Konferenz in Europa über Bosnien und heute wie Sie sehen können, in Teheran auf der islamischen Konferenz. Das ist also von Osten – Westen – Osten. Ich denke, daß ich diese zwei Erdteile relativ gut kenne. Auf meiner Reise lernte ich einige neue Tatsachen kennen – gute und schlechte. Eine von den ermutigenden Nachrichten, die ich gehört habe, ist, daß es in Saudi Arabien 5 Millionen Studenten gibt, aber traurig ist dafür, daß es in einem anderen islamischen Land mehr als 68 % Analphabeten gibt. Die nächste gute Nachricht, die ich gerade gehört habe, ist daß im Iran ca. 20 Millionen Menschen eine
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von ihren Schulen besuchen, aber schlecht ist, daß fast in allen muslimischen Ländern der Analphabetismus der Frauen zu hoch ist. Die Frauen sind die andere Hälfte unseres Geschlechts. Eine ungebildete Frau kann keine Kinder groß ziehen, die imstande wären, uns ins 21. Jahrhundert zu führen. Verzeiht mir, wenn ich ganz offen spreche. Auch schöne Lügen helfen nicht, aber die bittere Wahrheit kann viel heilvoller sein. [...]
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Der Westen ist weder verdorben noch degeneriert. „Fauler Westen“ – diese Floskel hat das kommunistische System teuer bezahlt. Der Westen ist nicht verfault. Er ist stark, gebildet und organisiert. Seine Schulen sind besser als unsere und seine Städte sind sauberer als unsere. Das Niveau der Menschenrechte ist im Westen höher, die soziale Sorge für die Armen und anderen Benachteiligten ist besser organisiert. So sind meine Eindrücke und Erfahrungen mit ihnen. Ich weiß auch von der Schattenseite ihres Fortschrittes, ihrer Erziehung und dieses verliere ich auch nicht aus den Augen. Der Islam ist das Beste – das ist wahr, – aber wir sind nicht die Besten. Das sind zwei verschiedene Sachen, die wir oft verwechseln. Anstatt den Westen zu hassen, sollten wir mit ihm wetteifern. Hat der Qur'an [Koran] uns nicht angeordnet: „Wetteifert um das Gute !“? Mit der Hilfe des Glaubens und der Wissenschaft können wir auch jetzt eine Kraft schaffen, die wir benötigen. Wahr ist es schon, daß es ein langer und schwerer Weg ist – ein Erklimmen eines Berges, aber einen anderen Weg haben wir nicht. Darum sollten wir überall Stiftungen für die Weiterbildung gründen, auf daß keines unserer Kinder ohne Schulausbildung bleibt. Die reichen muslimischen Staaten sollten dabei die ärmeren unterstützen. Das sollten wir heute schon tun oder dafür eine spezielle Konferenz einberufen. [...] Ich erwähnte den Osten und den Westen. Bosnien befindet sich genau auf der großen Grenze [...]. Jeder zehnte Bosnier ist im vergangenen Krieg gefallen. Diesen großen Preis haben wir für unser Überleben und die Freiheit bezahlt. Darum laßt nicht zu, daß Bosnien ein weiteres Mal Unrecht getan wird. Teilt al-
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mit, daß Bosnien für euch ein heiliges Land ist, ` len weil es mit dem Blut unschuldiger Menschen getränkt ist, die eure Brüder im Glauben sind. Manche westlichen Länder sind unsere Freunde. Erkennen werdet ihr sie an dem, wie sie sich für den Erhalt unseres Landes einsetzen. Arbeitet zusammen mit ihnen an diesem historischen Auftrag, denn er ist unendlich wichtig – aus mehreren Gründen für uns und euch und den Rest der zivilisierten Welt. Bosnien ist ein großes Experiment, was jeden Mann und jede Frau angeht. Der unglücklichere Teil unseres Volkes ist schon seit langer Zeit außerhalb der Grenzen Bosniens verblieben, wo sie heute als Minderheiten leben, in Serbien oder Jugoslawien, in der Region des Sandzak. Ich appelliere an euch, daß ihr den bosnischen Muslimen des Sandzak einen Status einer muslimischen Minderheit auf dieser islamischen Konferenz verleiht. Am Schluß möchte ich mich bei der iranischen Regierung für die Gastfreundlichkeit bei der Konferenz bedanken, dem großen iranischen Volk speziell, das uns während unseres Krieges sehr geholfen hat und all Ihnen, die alles getan haben, um uns in der schwersten Zeit unserer Geschichte zu helfen. http://www.fro.at/sendungen/islam/izetbegovic.html 10.9.2004 (verifiziert von der Botschaft Bosnien-Herzegowina, Berlin)
2003 in Sarajevo, viele neue Friedhöfe gibt es nach dem Bürgerkrieg
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6.15 Der Islam in Bosnien heute – Ein Interview der taz mit dem Reis-ul-Ulema Mustafa Ceric, dem höchsten, allseits anerkannten Repräsentanten des Islam in Bosnien taz: Es gibt [...] einen bosnischen Islam, der sich von dem Islam Indonesiens, Afghanistans oder Arabiens unterscheidet? Mustafa Ceric: Ich möchte nicht den Begriff „bosnischer Islam“ verwenden. Aber es gibt einen bosnischen Erfahrungshorizont des Islam. In Bosnien entwickelte sich in über 500 Jahren ein Islam, der niemanden bedroht, sich also nicht gegen andere Völker wendet, sich auch nicht gegen die eigene Gesellschaft stellt. Wir stehen ein für Toleranz und Menschlichkeit und lehnen die Mentalität der Stammesgesellschaften ab. In Sarajevo gibt es eine Tradition, mit Christen und Juden zusammenzuleben. Wie man Unterschiede zwischen Katholiken in Polen, Österreich oder Frankreich sowie zu anderen christlichen Kirchen entdecken kann, so gibt es auch unterschiedliche Ausformungen des Islam.
Foto: © www.sarajevo-vision.de
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das heißt doch nichts anderes als die Behaup` tungAber der Existenz eines bosnischen oder europäischen Islam? Wenn Araber den Islam zur Durchsetzung ihrer nationalen Ziele nutzen, dann können wir in Europa dies auch tun. Wenn ein Ägypter das Recht hat, im Namen des Islam Patriot für sein Land zu sein, dann können wir europäische Muslime auch europäische Patrioten im Namen des Islam sein. Das heißt nicht den Orient zu vergessen, die Sonne geht dort auf, alle großen Religionen schauen dort hin, der Orient ist nach wie vor eine „Orientierung“, Juden, Christen und Muslime haben dort ihre gemeinsamen Wurzeln. Aber wir leben in Europa. Ich als europäischer Muslim möchte meinen Beitrag für die europäische Zivilisation leisten und als solcher ganz selbstverständlich anerkannt sein. Für die Europäer geht es dabei um die Frage, ob die Werte der europäischen Gesellschaftsordnung, im Speziellen die Rolle der Religionen im demokratischen Staat, dann auch von Seiten der Muslime anerkannt wird. Der Lackmustest für Sie ist ja Bosnien selbst. Mit dem Krieg und vor allem danach kamen islamische Extremisten ins Land, Fundamentalisten aus Saudi-Arabien, die Wahhabiten, bauten über 100 Moscheen und Gemeindehäuser und propagieren insgeheim so etwas wie eine islamische Gesellschaft. Das können Sie dann doch nicht dulden? Man tendiert jetzt in Europa dazu, diese Leute überzubewerten und dabei zu vergessen, dass von Karadzic und Mladic in Srebrenica und anderswo große Verbrechen an den Muslimen Bosniens begangen wurden. Europa sollte beschämt sein über das, was geschah und dass man es zugelassen hat. Wenn wir in Bosnien jetzt in die terroristische Ecke gestellt werden, dann hat dies etwas mit dem schlechten Gewissen uns gegenüber in Europa zu tun. Dabei gab es hier in Bosnien nach dem Ende des Krieges keine Revanche gegenüber den Tätern, obwohl es viele Gründe dafür gegeben hätte. Wir haben uns zivilisiert benommen. Während des Krieges mussten wir jegliche Hilfe annehmen, weil Europa zögerte, uns gegenüber der Aggression zu verteidigen. Deshalb kamen so genannte Mudschaheddin ins Land, die solidarisch mit uns sein wollten. Das liegt also auch in der europäischen Verantwortung. Zudem muss man sich fragen,
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was der Wahhabismus eigentlich ist. Es gibt einen politischen und religiösen Wahhabismus, der politische wurde vom Westen kreiert, um das türkisch-osmanische Reich zu schlagen. Saudi-Arabien ist nach wie vor Verbündeter des Westens. Der ideologische Wahhabismus, die Theologie, ist uns bosnischen Muslimen fremd geblieben. Wir haben ein anderes Verständnis von Staat und Gesellschaft, die bosnischen Muslime werden sich darin nicht verändern, da können sie sicher sein. [...] Erich Rathfelder "Patrioten im Namen des Islam", in: TAZ 16.4.2004, http://www.taz.de/pt/2004/04/16/a0194.nf/text.ges,1 (11.09.04)
Der Papst und Mustafa Ceric bei einem Treffen in Sarajewo 1997 Foto: © Katholische Bischofskonferenz Bosnien-Herzegowina
Friedensarbeit
Abb.: © Felix Mussil/CCC, www.c5.net
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Überall in West-, Mittel- und Südeuropa hat sich in den letzten Jahren ein Wandel in der Haltung gegenüber der Einwanderung vollzogen. Die Tatsache der massenhaften islamischen Zuwanderung wurde nun bewusst wahrgenommen und die Politik musste reagieren. Einen wesentlichen Anteil der Zuwanderer nach Europa insgesamt stellen seit 30 Jahren Muslime. Ein Teil säkularisierte sich; ein Teil blieb im Privaten religiös, damit aber meist unsichtbar; ein Teil wandte sich dem Islam zu als Halt im anfangs oder auf Dauer fremden Europa; ein Teil kam integrationsunwillig und anpassungsunfähig und blieb es oder wurde es im Verlauf des Aufenthaltes. Die aufnehmenden Gesellschaften reagierten anfangs mehrheitlich mit Nichtbeachtung der Zuwanderer oder auch mit versteckter oder offener Ablehnung. Die säkularisierten Muslime fanden Anschluss an die Gesellschaft, die traditionell-religiös lebenden blieben Randgruppen, betont islamische Gruppen wurden und werden zunehmend mit Misstrauen gesehen.
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ren dazu, dass 79 % die Abschiebung auch nur verdächtiger Asylbewerber (nach hier ansässigen eingebürgerten oder mit Aufenthaltsrecht ausgestatteten Muslimen wurde nicht gefragt) befürworten, und eine relative Mehrheit von 46 % meint, man müsse Verdächtige in Sicherungshaft nehmen können, auch wenn ihnen nichts nachzuweisen sei. Das Klima erscheint also durchaus belastet. Insgesamt empfinden die Deutschen den Islam nach dieser Umfrage als bedrohlich und assoziieren ihn mit der Unterdrückung der Frauen (93%), Terror (83 %), Fanatismus (82 %), rückwärtsgewandtem Denken (66 %). Positive Assoziationen liegen alle weit unter 50 %.
Die psychologische Situation Nach den islamistisch inspirierten Terrorakten gegen die Bevölkerung in New York und Washington, den Anschlägen islamistischer Fanatiker gegen Touristen in Tunis und auf Bali, den Attentaten von Madrid und dem Massaker islamistischer Tschetschenen an Schulkindern in Beslan steht der Islam insgesamt selbst vor der Frage, wie zwischen Gläubigen und Fanatikern glaubhaft unterschieden und wie der islamisch-religiös begründete Terrorismus von den Muslimen selbst abgelehnt und bekämpft werden kann. Aber im Islam gibt es eben keine allgemein anerkannten Autoritäten, die die geistige oder geistliche Macht hätten, Friedensideen und Modernisierung durchzusetzen. 62 % der Deutschen glauben im September 2004, dass wir zur Zeit einen „Kampf der Kulturen, einen ernsthaften Konflikt zwischen dem Christentum und dem Islam“ erleben, wobei das Massaker von Beslan die Werte deutlich verschärft hat. Immerhin 22 % der deutschen Bevölkerung rechnen mit einem schweren Terrorangriff islamistischer Terroristen in Deutschland, für die Welt allgemein sind es sogar über 50 %, die einen solchen Angriff befürchten. Die Ängste füh128
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Abb.: © Frankfurter Allgemeine Zeitung – Grafik, Niebel 15.9.2004
Selbst wenn die Zahlen mit dem Abstand zu der Tragödie von Beslan zurückgehen sollten und selbst wenn laut dem Allensbacher Institut die Deutschen besonders zu emotionalen Reaktionen neigen, halten die Gräueltaten islamischer Fanatiker im Irak das negative Bild wach. 83 % glauben nicht, dass der islamistische Terrorismus in den nächsten Jahren zu besiegen sein wird. Auch wenn in den anderen
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Staaten vergleichbare Zahlen niedriger ` europäischen sein mögen, ist das insgesamt sicherlich keine gute Ausgangsbasis für einen offenen vorurteilsfreien, auf gegenseitiges Verständnis und tolerantes Aufeinanderzugehen gerichteten Dialog in den verschiedenen europäischen Ländern (nach: Institut für Demoskopie Allensbach, Frankfurter Allgemeine Zeitung 15.9.2004). Unklar ist, wohin derzeit die Entwicklung geht.
Das Beispiel Niederlande In den Niederlanden scheinen die Zahlen einen anderen Trend zu belegen. Nur 1 % der Niederländer marokkanischer Herkunft und 7 % der Niederländer türkischer Herkunft sind in einer Moschee als Mitglieder eingeschrieben. Der Besuch der Moscheen ist stark rückläufig, auch der Besuch islamischer Schulen geht sehr zurück. Muslimische Eltern bevorzugen mehr und mehr Schulen, die nicht nach Religionen getrennt sind. Der Islam ist für viele weiterhin wichtig, aber 2/3 meinen, Religion sei Privatsache, eine deutliche Mehrheit will Politik und Religion getrennt sehen und nur 1/3 ist der Ansicht, dass Religion im öffentlichen Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. (Sociaal en Cultureel Planungsbureau: Muslime in den Niederlanden, eine Untersuchung im Auftrag des niederländischen Parlaments). Allerdings wird auch in den Niederlanden wie in den anderen europäischen Staaten die Gefahr gesehen, dass eine tatsächliche oder vermeintliche Zurückweisung durch die Mehrheitsgesellschaft junge Muslime in eine Fundamentalopposition und die Arme von radikalen islamistischen Organisationen treibt. Nur eine kleinere Gruppe neigt allerdings nach diesen Untersuchungen zu einer betonten islamistischen Abschottung und zur bewussten Errichtung einer Parallelgesellschaft in den Niederlanden; die Gegensätze haben sich auch hier verschärft. Die Tendenz zur Individualisierung und Säkularisierung unter den Muslimen und damit Integration ist aber deutlich und wird sich in Zukunft weiter verstärken, sagt der Bericht. Für Frankreich stellt eine Untersuchung des französischen Inlandsgeheimdiensts Ähnliches fest (vgl.
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Migration und Bevölkerung, pbp/HWWA, 6/2004, S.2f.), allerdings auch eine sich gleichzeitig vollziehende gegenläufige Entwicklung in Randgruppen.
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Ein Alarmruf oder Alarmismus? Der Göttinger Soziologe und Professor für Internationale Politik Bassam Tibi gehört seit Jahren zu den schärfsten Kritikern einer blauäugigen Haltung gegenüber dem Islamismus, aber auch der deutschen Nichtbeachtung der Zuwanderung: „Straßenschlachten mit jungen Muslimen werden in Deutschland bald zum Alltag gehören [...] in Berlin, Frankfurt oder Köln. [...] Noch könne dieses Horrorszenario verhindert werden: dann aber müsse Deutschland deutlich mehr in Integration investieren als bislang [...] Muslime sind nicht integrationswillig, Deutsche nicht integrationsfähig“, kritisiert Tibi und er mahnt, die Deutschen müssten zugewanderten Menschen aus anderen Kulturen das Gefühl geben, dazuzugehören, sonst, so prophezeit Tibi, wird sich eine verstärkte Hinwendung zum Islam ergeben. Er geht von ca. 10 Millionen Muslimen in 10 Jahren in Deutschland aus, wobei die meisten illegal ins Land gekommen sein werden. Bassam Tibi zeichnet ein düsteres Bild: Heute schon sieht er einen großen Teil der Muslime in Parallelgesellschaften leben. Soziale Probleme werden zunehmen und damit ein Erstarken des Fundamentalismus. Die muslimischen Jugendlichen werden , so Tibi, keine Zukunftsperspektiven in dieser als feindlich angesehenen Gesellschaft sehen und rebellieren. Allerdings sieht Tibi durchaus noch Chancen für eine friedlichere Entwicklung, wenn es in der Integration Fortschritte gibt: „Dann werden 2014 vielleicht 10 Millionen Muslime in diesem Land leben, deren Mehrheit sich als Deutsche islamischen Glaubens fühlten“ (nach: Financial Times Deutschland, 13.8.2004). Ein aktueller Bericht des französischen Inlandsgeheimdiensts stützt Tibis Befürchtungen für Teile der muslimischen Bevölkerung. Der Bericht sieht in mehr als 300 Wohnbezirken Frankreichs die Tendenzen zur Abschottung gegenüber der Gesamtgesellschaft, zur Schaffung von eigenen islamischen Strukturen parallel zu französischen Organisationen bis hin zum Ersatz staatlicher Institutionen durch eigene muslimische lokale Autoritäten (ebda.).
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– ` Integrationsanstrengungen Das Beispiel Deutschland In Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland werden von den Regierungen groß angelegte Integrationsprogramme aufgelegt. Spanien plant die Legalisierung einer großen Zahl illegal aus Nordafrika Zugewanderter, um einen neuen Anfang zu machen. Überall in den europäischen Ländern mit größeren muslimischen Minderheiten kommt Bewegung in die Politik. Deutschland hat mit dem Zuwanderungsgesetz eine Grundlage geschaffen, um verstärkt staatlicherseits auf den Integrationsprozess von Zuwanderern einzuwirken. Zuwanderung erhält in diesem Zusammenhang ein positiveres Gesicht, als einer durchaus auch wünschenswerten Entwicklung, um die demographische Balance in der Bevölkerung und die Wirtschaftskraft zu erhalten. Nach niederländischem Vorbild sollen Zuwanderer 600 Stunden Sprachunterricht und 30 Stunden speziell politischer Bildung in einem „Orientierungskurs“ absolvieren. Über 250 Millionen Euro sollen dafür ausgegeben werden. Eine gesetzliche Anmeldungs- und Teilnahmepflicht betont die Bedeutung. Die Kurse sind staatlich geför-
dert, wer von den Migranten es kann, trägt zu den Kosten bei. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (www.bamf.de) entwickelt ein Gesamtkonzept und einen Lehrplan. Eine Vielzahl von verschiedenartigen Bildungsinstitutionen in den 16 Bundesländern wird mit der Aufgabe den Unterricht abzuhalten betraut werden müssen, wodurch allerdings die Kontrolle der Erfolge sehr schwer fällt. Der Kurs soll mit einer Überprüfung der Ergebnisse beendet werden, welche auf den Einbürgerungsprozess Einfluss haben soll. Wer die gesetzlich vorgeschriebenen Kurse nicht besucht, muss mit der Kürzung der Sozialleistungen rechnen. Sprachkenntnisse sind zweifellos eine Voraussetzung für Integration, allerdings keine Garantie. Die Ergebnisse in den Niederlanden waren durchaus enttäuschend. Man darf nicht vergessen, dass Integration ein langer, vielleicht ein lebenslanger Prozess der Auseinandersetzung mit einem neuen Heimatland ist. Die größte Hilfe dabei ist es, wenn der Zuwanderer, der die Gesetze des neuen Heimatlandes achtet und sich bemüht, seine Identität in die vorgefundene Lebensweise einzupassen, gesellschaftliche Akzeptanz und seinerseits Achtung erfährt, so wie es deutsche Schulbücher bereits seit einer Generation lehren.
Abwehr islamistischer Gefahren – Kontrolle der illegalen Einreise
Karikatur: © Stephan Rürup, aus: Welt am Sonntag, 11.7.2004
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Die europäischen Regierungen haben mit einer ganzen Reihe von schwerwiegenden und weniger bedeutenden Maßnahmen begonnen, auf die verschiedenen inneren und äußeren Herausforderungen zu reagieren. Der Katalog reicht in Deutschland z.B. von geheimdienstlicher Beobachtung und verstärkter Telefonüberwachung von Islamisten und ihren Unterstützer-Organisationen bis zum Aufbau einer Islamisten-Datei und einer zentralen Koordinationsstelle für Polizei und Geheimdienste zur
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Deutsche Schülerinnen und ` Terrorismusbekämpfung. Schüler dürfen ihre Schulpflicht nicht mehr auf der von Saudi-Arabien finanzierten, durch Hass-Predigten in die Schlagzeilen gekommenen Fahd-Schule in Bonn ableisten. Muslimische Väter, die ihre Kinder von der Schulpflicht abhalten, werden mit einer Geldstrafe belegt. Funktionäre islamistischer Organisationen verlieren ihre Aufenthaltsgenehmigungen. Im September 2004 verbot der Berliner Innensenator eine Islamisten-Tagung. In Spanien, Italien und Frankreich werden radikale Imame ausgewiesen. Für Imame sollen in Großbritannien die üblichen Arbeitsgenehmigungsverfahren ebenfalls gelten. Die Niederlande und Großbritannien führten Prüfungen für Imame ein. Traditionelle oder vorgeblich islamische Frauenkleidung wird in bestimmten Bereichen, die sich von der Schule bis auf den gesamten öffentlichen Raum erstrecken können, verboten. In Italien musste eine total (Taliban afghanisch) verschleierte Frau Strafe zahlen, weil sie gegen ein Vermummungsverbot verstieß, welches vorschreibt, dass das Gesicht erkennbar sein muss. Spanien und Marokko kooperieren bei der Unterbindung von illegaler Einreise nach Spanien. Italien und Libyen wollen ebenfalls in dieser Frage kooperieren. Der deutsche Innenminister Schily macht den Vorschlag, bereits in Afrika Auffanglager für Asylsuchende zu schaffen, in denen eine vorgelagerte Überprüfung des Asylantrages stattfinden sollte. Dieser Vorschlag soll mit den anderen Innenministern der Europäischen Union in den nächsten Jahren weiter besprochen werden. Großbritannien war bereits 2003 innerhalb der EU mit dem Vorschlag gescheitert, solche Sammelstellen außerhalb der EU-Grenzen zu schaffen und auch Asylbewerber aus dem EU-Raum dorthin zu verbringen.
Konvergenz der Politik in Europa Zwischen den west-, mittel- und südeuropäischen Staaten gibt es große Unterschiede bezüglich der Ursprünge der muslimischen Bevölkerung. Auch die Konzepte der Vergangenheit zur Bewältigung von Zuwanderung und Integration waren in den verschiedenen Staaten höchst unterschiedlich. Die Erkenntnis, dass der multikulturelle Ansatz gescheitert ist, dass
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die historisch gewachsenen nationalen Gesellschaften durch Desintegrationstendenzen von Parallelgesellschaften bedroht sind und die Gefahr islamistischer Extremisten haben die Gesellschaften Europas veranlasst, über die Grenzen zu sehen und von einander in dieser Frage zu lernen. Die Politiken der einzelnen Regierungen beginnen sich einander anzugleichen, und es ist davon auszugehen, dass die Europäische Union zumindest als Diskussionsforum dienen wird, wenn sie nicht sogar Koordinierungsfunktionen wahrnehmen wird.
Islam in Europa Der Großmufti von Marseille, Soheib Bensheikh, ein führender Vertreter der Muslime in Frankreich sagte in einem Interview: „Wo sonst, wenn nicht in Europa, könnte der Aufbruch gelingen? [...] Als Minderheit müssen die europäischen Muslime Bezugspunkte in einer pluralistischen Gesellschaft entwickeln. Der Islam steht vor der Herausforderung, wieder zu einer religiösen Botschaft zu werden und nicht länger zu einem Befehl, einer Kultur oder einer Identität. Die Religion in einer pluralistischen Gesellschaft gründet auf einer Heilsbotschaft, der man zustimmen kann oder auch nicht. Wenn wir es schaffen, die Lehre des Islam der pluralistischen Gesellschaft anzupassen, wäre Großes erreicht.“ (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 16. 12. 2001) Der Reis-ul-Ulema Mustafa Ceric, Bosniens höchste muslimische Autorität, ging noch weiter: „Ich lebe für den Tag, an dem die Muslime Europas die Chance haben, erfolgreich zu sein und ihren Beitrag für das gemeinsame Europa zu leisten. [...] [Ich meine,] die Muslime in Europa müssten eine einheitliche Repräsentanz entwickeln. Das ist im Interesse Europas. Unsere religiösen Lehrer sollten in Europa ausgebildet werden und sich als europäische Muslime verstehen. Das heißt dann auch, die Werte der europäischen Gesellschaft in Bezug auf Freiheit und Rechtsstaat zu akzeptieren und weiter zu entwickeln.“ (Tageszeitung 16.4.2004) Wolfgang Böge
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Modul 6: Islam Länderbeispiel – Iran
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I. Der Islam in der Welt Impressum
Titelbilder ©: v.l.nr.: dpa, Mehri; Kurt-Michael Westermann; dpa, Kenare
Bonn 2004 Themen und Materialien © Bundeszentrale für politische Bildung / bpb Adenauerallee 86 53113 Bonn Autoren Jörg Bohn, unter Mitarbeit von Hamid Azadi und Banafsheh Nourkhiz Projektleitung, Konzeption und Redaktion Wolfgang Böge, Jörg Bohn; bpb: Franz Kiefer (verantwortlich) Visuelle Konzeption Cleeves Communication MediaPartner – UnitDrei, Meckenheim Druck Druckhaus Dresden GmbH
Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autoren die Verantwortung. Wir bedanken uns bei allen Institutionen und Personen für die Abdruckerlaubnis. Wir haben uns bemüht, alle Copyrightinhaber ausfindig zu machen und um Abdruckgenehmigung zu bitten. Sollten wir eine Quelle nicht oder nicht vollständig angegeben haben, so bitten wir um Hinweise an die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn. Die Redaktion. Diese Veröffentlichung ist nach den Regeln der neuen Rechtschreibung gesetzt. Ausnahmen bilden Texte, bei denen künstlerische, philologische oder lizenzrechtliche Gründe einer Änderung entgegenstehen. Für die Inhalte der in diesem Werk genannten Internet-Seiten sind allein deren Herausgeber verantwortlich, der Hinweis darauf und die Seiten selbst stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung, der Autoren oder der Redaktion dar. Es kann auch keine Gewähr für ihre Aktualität übernommen werden.
Redaktionsschluss: Oktober 2004 ISBN: 3-89331-565-9
Dieses Projekt wurde gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums des Innern.
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I. Der Islam in der Welt Inhalt
Brief an die Kolleginnen und Kollegen.............................................................................................................................................4
1. Die Vielfalt der heutigen Lebensumstände im Iran ...........................................................................................................7 • Materialübersicht und Arbeitshinweise.................................................................................................................................7 • Schülermaterialien (1.1–1.6).......................................................................................................................................................8 2. Geschichte und Kultur des Iran im Umriss 2.1 Die Geschichte Irans bis zum 18. Jahrhundert ...........................................................................................................17 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ......................................................................................................................17 • Schülermaterialien (2.1.1–2.1.5) .....................................................................................................................................18 2.2 Von der Kadjaren-Herrschaft bis zum Vorabend der Islamischen Revolution...........................................31 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ......................................................................................................................31 • Schülermaterialien (2.2.1–2.2.3) .....................................................................................................................................32 3. Religion und Politik im heutigen Iran 3.1 Von der Islamischen Revolution zur Gründung der Islamischen Republik..................................................40 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ......................................................................................................................40 • Schülermaterialien (3.1.1–3.1.7) .....................................................................................................................................42 3.2 Islamisierung der Gesellschaft – Religion und Politik in den ersten Jahren der Islamischen Republik ..............................................................................................................................................................53 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ......................................................................................................................53 • Schülermaterialien (3.2.1–3.2.5) .....................................................................................................................................55 3.3 Der Protest der Jugend und der Frauen ........................................................................................................................71 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ......................................................................................................................71 • Schülermaterialien (3.3.1–3.3.4) .....................................................................................................................................73 4. Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.1 Worum geht es? .........................................................................................................................................................................88 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ......................................................................................................................88 • Schülermaterialien (4.1.1–4.1.3) .....................................................................................................................................89 4.2 Gottesstaat, säkulare Demokratie oder religiöse Demokratie? ........................................................................95 • Materialübersicht und Arbeitshinweise ......................................................................................................................95 • Schülermaterialien (4.2.1–4.2.3) .....................................................................................................................................96 4.3 Islam und Moderne – oder: Wie reformierbar ist der Islam?.............................................................................105 • Materialübersicht und Arbeitshinweise....................................................................................................................105 • Schülermaterialien (4.3.1–4.3.5)...................................................................................................................................106 4.4 Exkurs: Die religiöse Mystik (Sufismus) im Iran und ihre Spuren in Dichtung, Philosophie und Religion ....................................................................................113 • Materialübersicht und Arbeitshinweise....................................................................................................................113 • Schülermaterialien (4.4.1–4.4.3)...................................................................................................................................114 4.5 Islamische Welt, Iran und Europa – Abgrenzung oder Dialog? .......................................................................121 • Materialübersicht und Arbeitshinweise....................................................................................................................121 • Schülermaterialien (4.5.1–4.5.3)...................................................................................................................................122
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I. Iran Brief an die Kolleginnen und Kollegen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Was geht uns der Iran an? Warum wird der Iran im Rahmen des Gesamtprojekts „Islam“ besonders berücksichtigt? Es gibt mehrere Gründe, ein gesondertes Unterrichtsprojekt zum Thema „Iran“ anzubieten. Der Hauptgrund könnte so formuliert werden: In kaum einem anderen islamischen Land wurde und wird so radikal und grundsätzlich über Islam und Politik, über die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie und Islam und Menschenrechten diskutiert, wie im Iran. Wer sich also für diese Fragen interessiert, kann an der Diskussion im Iran nicht vorbeigehen. Es kommt noch ein weiterer Grund hinzu: Im Iran ist mit der Gründung der Islamischen Republik Iran ein historisch, politisch und religiös einzigartiges Experiment unternommen worden. Der Versuch, einen streng und radikal islamischen Staat zu errichten. Dieses Experiment befindet sich heute in einer Krise. Die radikal-demokratische Opposition im Iran fordert grundlegende demokratische Reformen und vielleicht könnte irgendwann der Iran ein „Mutterland der islamischen Demokratie“ werden. So schrieb es die bekannte Islam-Wissenschaftlerin Katajun Amirpur. Man könnte also am Beispiel Iran konkret verfolgen, wieweit sich Islam und Demokratie in der konkreten gesellschaftlichen Praxis miteinander vereinbaren lassen. Anders gesagt: Man könnte am „lebendigen Beispiel“ lernen! Und: So fern liegt uns der Iran nicht. Viele Iraner leben in der Bundesrepublik Deutschland und unter Schülern aus islamischen Ländern bilden iranische Schüler/innen eine bedeutende Gruppe. Außerdem ist zu beachten, dass der Iran seit der Neuzeit eine besondere Brückenfunktion zwischen Europa und dem Orient ausübt und wahrnimmt. Die Unterrichts- und Studienmaterialien wollen also in der Hauptsache in die heutige religiöse und politische Situation im Iran und in den dort gegenwärtigen religiösen und politischen Diskurs einführen und so das Verständnis der gegenwärtigen politischen und religiösen Auseinandersetzungen im Islam fördern helfen. Worum geht es in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen im Iran? Lassen Sie bitte die beiden Bilder auf sich wirken.
Revolutionsführer Chamenei
Foto: © dpa, Mehri
Iranische Studenten demonstrieren am 11.11.2002 an der Modares-Universität in Teheran für den Reformer Hashem Aghajari (auf dem Poster), der am 7.11. wegen Verunglimpfung des Islam zum Tode verurteilt worden ist. Foto: © dpa, Kenare
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I. Iran Brief an die Kolleginnen und Kollegen
Das obere Bild stellt den Revolutionsführer Cha` menei dar. Als Revolutionsführer legt er nicht nur die Richtlinien der Politik fest, sondern kontrolliert auch Justiz, Streitkräfte, Geheimdienst und die staatlichen Medien. Er verkörpert in seiner Person die gegenwärtige religiöse und politische Ordnung, gegen die viele junge Leute im heutigen Iran im Namen der Demokratie rebellieren, wie es das Bild protestierender Studenten unter dem Bild Chameneis zeigt. Damit sind die beiden Pole des politisch-gesellschaftlichen Geschehens im heutigen Iran bezeichnet: Ein islamischer Staat, der seine Macht um jeden Preis behaupten will und eine Jugend, die dabei ist, sich von ihm abzuwenden, so dass der Iran auch noch ein Modellfall für eine höchst einzigartige Entwicklung in einem islamischen Land werden könnte: Für eine Entwicklung, die darin besteht, dass der Islam, nachdem er im Staat an die Macht gekommen ist, seine Macht in den Köpfen und Herzen der Menschen wieder zu verlieren droht. Die politische Alternative, um die es im Augenblick bei den politischen Auseinandersetzungen im Iran geht, könnte so formuliert werden: Soll weiterhin das bisherige Staatsmodell bestehen bleiben, das in seiner Grundkonzeption auf die Ideen des Ayatollah Khomeini zurückgeht und auf der „Herrschaft der Rechtsgelehrten bzw. Religionsgelehrten“ („welayate-faqih“) beruht oder soll dieses Modell durch einen weltlich-säkularen, demokratisch legitimierten Staat ersetzt werden oder gibt es einen dritten Weg, den einige vom Islam inspirierte religiöse Reformer vorschlagen, nämlich eine Art islamischer Demokratie bzw. eine religiös-demokratische Regierung? Dieser dritte Weg oder diese dritte Möglichkeit einer islamischen Demokratie stellt eine Besonderheit der heutigen religiösen und politischen Diskussion im Iran dar und diese Variante oder Besonderheit soll Ihnen auch in den Materialien dieser Studieneinheit vorgestellt werden. Es gibt nämlich im Iran Geistliche, die ursprünglich leidenschaftlich für die islamische Revolution Khomeinis eingetreten sind, aber die aus Enttäuschung über den undemokratischen Charakter der Politik Khomeinis und wegen des unterdrückerischen Charakters des neuen, sich islamisch nennenden Staates nach radikalen demokratischen Reformen rufen – aber nicht, um mittels dieser Reformen den Islam abzuschaffen, sondern ihn gerade umgekehrt in der
Achtung der Menschen zu erhalten, ihn also zu „retten“. Darum gibt es in der heutigen politischen und religiösen Diskussion im Iran im Grunde drei Gruppen oder Fraktionen: Die Anhänger und Vertreter der islamischen Staatsmacht bzw. des Konzepts der „Herrschaft der Rechts- bzw. Religionsgelehrten“, die Befürworter des Konzepts eines rein weltlich und radikal-demokratischen Staates und die Anhänger einer islamischen Demokratie. Um den Islam im Iran angemessen darzustellen, kann man nicht allein die gegenwärtige politische und religiöse Situation und Diskussion behandeln. Man muss auch die Geschichte und Kultur des Iran berücksichtigen. Der Iran ist mit einer Geschichte von mehr als 3 000 Jahren eines der bedeutendsten zivilisatorischen Zentren der Welt. Die überaus reiche Kultur des Iran hat auch den Islam im Iran tiefgreifend beeinflusst. Darum hat man, wenn man den Islam im Iran untersucht, immer von einem iranischen Islam auszugehen. Eine große Besonderheit des iranischen Islam besteht zum Beispiel in seiner schiitischen Prägung. Die „Schia“ als Glaubensrichtung im Islam ist zwar im Irak entstanden, stellt also keine eigentlich iranische Schöpfung dar, ist aber seit mehreren Jahrhunderten die herrschende religiöse Richtung im Iran. Und sie prägt auch bis heute die politischen und religiösen Auffassungen vieler Iraner. Bei einer Darstellung der Geschichte des Islam im Iran wird es also auch eine genauere Darstellung des schiitischen Islam im Iran geben. Was auch zumindest kurz angesprochen werden muss, sind Strömungen philosophischer oder auch literarischer Art, die die Kultur des Iran und auch die heutigen religiösen und politischen Diskussionen nachhaltig beeinflusst haben. Zwei Namen wären beispielhaft zu nennen: Hafis im 14. und Rumi im 13. Jahrundert. Beide stehen für einen freieren und verinnerlichten Islam, der bis heute im Iran seine Anhänger findet und berücksichtigt werden muss, wenn man den Islam im Iran kennen lernen will. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich folgender Aufbau: Es wird bei den Materialien zwei inhaltliche Schwerpunkte geben. Einen ersten Schwerpunkt bilden Materialen zur Geschichte und Kultur des Iran mit besonderer Berücksichtigung des Islam. Darauf folgt
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I. Iran Brief an die Kolleginnen und Kollegen
umfangreicher Materialteil zur gegenwärtigen po` ein litischen und religiösen Situation und Diskussion im Iran, wobei drei Aspekte besonders herausgestellt werden: Die Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Staat und Religion, von Islam und Menschenrechten und um das Verständnis des Koran. Diese drei Punkte bilden die Eckwerte der heutigen Diskussion! Hier schließen die Iran-Materialien an die MaterialBausteine der ersten Teillieferung (Projektübergreifende Materialien / Religion und Politik) an, die bei Bedarf zur Vertiefung herangezogen werden können und sollen.
Die Persische Sprache (Farsi) wird in Europa in verschiedenen Schreibweisen nebeneinander wiedergegeben, z. B.: Chomeini = Khomeini Chamenei = Khamenei Chatami = Khatami Qadjaren = Kadjaren = Kadscharen Pahlavi = Pahlevi = Pahlewi Reza = Resa Shah = Schah.
Die Redaktion
Die Materialien sind in der Hauptsache für die Erwachsenenbildung und den Unterricht in der Oberstufe bestimmt. Ein fächerübergreifender Ansatz legt sich fast zwingend nahe. Themen und Stoffe der Fächer Religion, Politik und Geschichte spielen eine besondere Rolle, wobei es bei Einzelaspekten auch Berührungspunkte zum literarisch-künstlerischen Aufgabenfeld gibt oder geben kann. Jörg Bohn / Hamid Azadi
Hinweis: Die anderen Module der Gesamtreihe enthalten vielfältige Materialien, die zum Verständnis beitragen. Sie sollten daher zur Arbeit mitherangezogen werden. Wenn sie nicht vorliegen, können sie über die Bundeszentrale für politische Bildung bestellt werden („Islam – politische Bildung und interreligiöses Lernen“, Module „Projektübergreifende Materialien“, „Politik und Religion im Islam“ sowie „Interreligiöses Lernen“, Teil 1 und 2). Die Redaktion
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I. Iran 1.
Die Vielfalt der heutigen Lebensumstände im Iran
Materialübersicht Einführung ...............................................................................................................................................................................................8 1.1 Erster Eindruck der Vielfalt (Dokument 1).......................................................................................................................9 1.2 Landesname und Geografie (Dokument 2) .................................................................................................................10 1.3 Der Iran als Sonderfall (Dokument 3).............................................................................................................................11 1.4 Der Iran in Zahlen (Dokument 4) .....................................................................................................................................12 1.5 Ethnische und religiöse Vielfalt – Toleranz? (Dokument 5) ...................................................................................14 1.6 Soziale und religiöse Konflikte – eine Momentaufnahme (Dokument 6) ........................................................16
Arbeitshinweise In welchen Einzelmerkmalen zeigt sich die Vielfalt des Iran? Stellen Sie eine Liste der Einzelmerkmale der Vielfalt des Iran zusammen. Stützen Sie sich hierbei auf die Einführung und auf Dokument 1 und 2. Der Iran stellt unter den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, aber auch in der islamischen Staatenwelt einen Sonderfall dar. Listen Sie bitte die Punkte auf, in denen der Iran sich deutlich von seinen Nachbarn im Nahen und Mittleren Osten unterscheidet. Ziehen Sie hierzu vor allem Dokument 3 heran. Machen Sie sich ein Bild vom „Stärkepotential“ des Iran. Vergleichen Sie dazu den Iran hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Ressourcen, der militärischen Stärke und der Einwohnerzahl mit drei anderen bedeutenden Staaten der Region (Ägypten, Syrien, Pakistan). Benutzen Sie dazu entsprechende Spezialkarten in Ihrem Atlas, den Weltalmanach, spezielle Handbücher zum Nahen und Mittleren Osten und das Internet. Für den Iran selber können Sie vor allem Dokument 4 heranziehen. Prüfen Sie kritisch, inwieweit religiöse Toleranz und religiöse Vielfalt im heutigen Iran gewährleistet sind. Benutzen Sie dazu Dokument 5 und vergleichen Sie dazu den Text von N. Kermani und M. Rashad. Stellen Sie zusammen, was beide Texte an Informationen bieten und arbeiten Sie die Tendenz der Darstellung in beiden Texten heraus. Welche sozialen Probleme im heutigen Iran – vor allem in der Jugend – lassen sich benennen? Verfassen Sie eine kurze Zusammenstellung dieser Probleme und ziehen Sie dazu Dokument 6 heran.
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Einführung
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Mit einer Einwohnerzahl von über 60 Millionen ist der Iran neben Ägypten der volkreichste Staat des Nahen Ostens. Sein Staatsgebiet ist ungefähr dreimal so groß wie das der Bundesrepublik Deutschland und weist vielfältige Landschaften auf. Wasserreiche Gebiete im Norden, wie auf der Abbildung zu sehen, wechseln sich mit Wüstengebieten im Süden und Osten ab (vgl. Abb. S. 9, u.l.). Der Iran ist ein Vielvölkerstaat. Nur rund die Hälfte der Bevölkerung gehört zum Staatsvolk der „Perser“.
Die Provinzen Irans und ihre Hauptstädte
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Material
Die andere Hälfte besteht aus verschiedenen Einzelvölkern. Dazu gehören die Kurden, die Luren und die Azarbaidjaner. Die Wirtschaftskraft des Landes hängt mit ergiebigen Erdöl- und Erdgasvorkommen zusammen. Dieser Reichtum hat den Iran seit dem 20. Jahrhundert zum Interessengebiet von Großmächten gemacht, die versucht haben, das Land von sich abhängig zu machen, so dass der Kampf für nationale Selbständigkeit ein Schwerpunkt der politischen Auseinandersetzungen im Iran in der jüngeren Vergangenheit war. Religiös und politisch spielt der Iran eine Sonderrolle. Die schiitische Form des Islam, die
Abb.: © DuMont Reiseverlag, Brendtson & Brendtson, aus: Mahmoud Rashad: Iran, Köln 2000, S. 13
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Die Vielfalt der heutigen Lebensumstände im Iran
der sunnitischen Richtung eine Minder` gegenüber heit darstellt, ist im Iran als einzigen islamischen Land die religiöse Mehrheitsrichtung. Hinzu kommt, dass der Iran sich offiziell als „Islamische Republik Iran“ bezeichnet, sich also als ein von der islamischen Religion geprägter Staat versteht. Dieser bestimmende Einfluss der Religion auf die Politik ist wiederum der Anlass zu heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen der Staatsmacht und der demokratischen Opposition. Will man den Iran genauer verstehen, muss man also die eben angesprochene Vielfalt und Besonderheit im Auge haben und gleichzeitig berücksichtigen, dass Religion und Politik sich in der Gegenwartsgesellschaft des Iran eng miteinander berühren, so dass eine genaue und eindeutige Trennung beider Bereiche gar nicht möglich ist.
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Dokument 1
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1.1 Erster Eindruck der Vielfalt Persien, das Land zwischen Innerasien und Arabien, Indien und Mesopotamien, hatte schon immer für das Abendland den Hauch von Exotik, monarchischem Glanz, kulturellem Reichtum und Schönheit. Seit der Antike zog es Reisende dorthin; wir kennen ihre Beobachtungen und Erfahrungen aus mehr als 700 Berichten und Beschreibungen. Der erste war Herodot (um 490 v. Chr.), der als Historiker sämtliche Länder der den Griechen bekannten Welt bereiste und beschrieb; der wohl berühmteste jedoch ist Marco Polo (1254–1324), der mit seinem Vater Niccolo
Jörg Bohn
Gebirgsbach in Mazandaran Foto: © A. Sheivari/SAFIR, Teheran, Iran
Geröllwüste im Osten des Landes Foto: © N. Faridani/SAFIR, Teheran, Iran
Isfahan, Stalaktitenverzierung am Eingangsiwan der Shaikh Lotfollah-Moschee Foto: © Kurt-Michael Westermann
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Venedig aus Handelsexpeditionen nach China ` von unternahm und auf dem Weg dorthin das damals von den Mongolen beherrschte Persien durchquerte. Im 16. und 17. Jh. zogen sowohl die hoch spezialisierten Kenntnisse der Perser in Wissenschaft, Kunst und Handwerk als auch die wirtschaftliche Blüte und der Reichtum des Safawidenreichs europäische Kaufleute, Diplomaten, Künstler und Wissenschaftler an. Ebenso fasziniert von der persischen Kultur waren auch alle Eroberer des Landes, von Alexander dem Großen über die muslimischen Araber bis hin zu den Mongolen und Türken. Statt den Unterworfenen ihre Lebensart aufzuzwingen, übernahmen sie große Teile der Errungenschaften und der Kultur des persischen Volkes, das seinerseits auch immer den Versuchen der Beeinflussung widerstand und sein eigenes Gesicht und Kulturgut selbstbewußt bewahrt hat. Mahmoud Rashad: Iran, DuMont Reiseverlag, Köln 2000, S. 8
Dokument 2
1.2 Landesname und Geografie Wie für einige Staaten unserer modernen Welt kennen wir auch für Iran zwei unterschiedliche Bezeichnungen: Persien und Iran. Persien leitet sich ab vom Namen der Landschaft pars, die mit der heutigen Provinz Fars identisch ist. Die Bewohner dieser Region wurden parsa = Perser genannt. Die älteste gesicherte Schriftquelle des Vorderen Orients, die die pars erwähnt, ist das Buch des Propheten Ezechiel im Alten Testament. Diesen Namen griffen die Griechen auf und übersetzten ihn ins Griechische als persis für die Region und persai für die Bevölkerung. Sowohl die altpersische Dynastie der Achämeniden (559–330 v. Chr.) als auch die Sassaniden (224–651 n. Chr.) stammen aus der Landschaft Pars. Die in dieser Gegend gesprochene Sprache, das parsi = Persische, ist seit der achämenidischen Zeit als Schrift- und Amtssprache zu belegen. Sie entwickelte sich im Lauf der Jahrhunderte zum Neupersischen. Unter dem Einfluß der arabischen Sprache, die kein „p“ kennt, änderte sich die Sprachbezeichnung von parsi zu farsi, der Name der Region von pars zu fars.
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Der Name Iran geht auf den Begriff aria = Arier zurück, der bereits in der heiligen Schrift der Zoroastrier, das Avesta, die Bevölkerung des iranischen Hochlands und die ethnisch verwandten Inder bezeichnete. Als alte Bezeichnung für die Meder erwähnt Herodot schon arya und für das Hochland den Begriff aryana. Darius I. (522–486 v. Chr.), König der Achämeniden, nannte sich selbst in einer Inschrift bei Persepolis „Perser, Sohn eines Persers, Arier vom Arierstamm“, und Ardashir I. (224–241 n. Chr.), der Gründer des Reiches der Sassaniden, bezeichnete sich als „König der Könige von Eran und Nicht-Eran“. Zu dieser Zeit war Eran der Staatsname, der sich aus arya(n) entwickelt hatte und die politische Einheit eines Vielvölkerstaats beschrieb. In Europa bevorzugt man nach wie vor die Bezeichnung Persien statt Iran für das Land, und heute noch ist jedem Schulkind Persien als Gegner und kultureller Gegenpol der Griechen eine vertraute Größe. Gerade Deutschland hat den Namen Iran nie richtig annehmen wollen, obwohl – oder vielleicht gerade weil – 1935 die Perser, letztendlich unter dem Einfluß des Nationalsozialismus, Iran als offiziellen Staatsnamen wieder einführten. Das heutige Staatsgebiet hat eine Flächenausdehnung von 1 648 000 km² und ist damit etwa vierein-
Die Embleme Persiens, Löwe und Sonne, auf einer Fliese aus dem VII./13. Jh. Abb.: Peter Bridgewater, in: Bernard Lewis (Hrsg.): World of Islam, London 1975, S. 245
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Iran in der Neuzeit
halbmal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Es erstreckt sich zwischen dem 44. und 64. Grad östlicher Länge und dem 25. und 40. Grad nördlicher Breite. Das entspricht, im Vergleich zu Europa und Afrika, dem Gebiet zwischen Madrid und der zentralen Sahara Südalgeriens. Gibraltar liegt auf demselben Breitengrad wie Teheran und Kairo auf demselben wie Shiraz. Die heutigen Grenzen des Landes bildeten sich im 18. und 19. Jh. heraus, teilweise auch nach dem Ersten Weltkrieg. Die im Norden liegenden Anrainerstaaten sind die ehemalige Sowjetunion, heute Armenien, Azarbaidjan und Turkmenistan. Im Nordwesten grenzt Iran an die Türkei, im Westen an den Iraq und im Osten an die Staatsgebiete Afghanistans und Pakistans. Aus: Monika Gronke: Geschichte Irans, C. H. Beck / Wissen, München 2003, S. 9f.
Abb: Copyright Dr. Ludwig Reichert verlag Wiesbaden
Dokument 3
1.3 Der Iran als Sonderfall In vieler Hinsicht ist Iran ein Sonderfall im Mittleren Osten. Erstens war er in älteren Zeiten eine imperiale Macht: 1971 feierte Iran sein 2 500jähriges Jubiläum im Andenken an die Gründung des ersten persischen Reiches durch Kyros den Großen 550 v. Chr. Der Felsen des Gebirges von Bisutun bei Kirmanshah hält in Keilschrift und drei verschiedenen Sprachen (Elamisch, Babylonisch und Altpersisch) die klangvollen Worte von Darius dem Großen (522–486 v. Chr.) fest: „Ich bin Darius, der König der Könige, der König von Persien [...] von der Vorzeit stammen wir ab, seit alters her war unser Geschlecht das der Könige.“ Ein starkes Traditionsbewußtsein und der Respekt vor traditionellen Institutionen auch im modernen Iran überraschen vor einem solchen Hintergrund nicht. Zweitens unterscheidet sich Iran ethnographisch von seinen unmittelbaren Nachbarn. Die Iraner sind Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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Semiten, noch gehören sie zur Familie der türki` keine schen Völker. Wie der Name ihres Landes schon sagt, haben sie einen arischen Ursprung wie die Völker Europas, und obwohl sie sich durch die Jahrhunderte mit anderen ethnischen Gruppen vermischten, gibt es einen spezifisch iranischen Menschentyp. Drittens sprechen die Iraner eine andere Sprache als ihre unmittelbaren Nachbarn. Heute wird der Terminus „arisch“ öfter zur Bezeichnung einer Sprachfamilie als einer Völkergemeinschaft benutzt. Das moderne Persisch und seine verwandten Mundarten und Dialekte leiten sich zusammen mit den indischen Sprachen wie Hindi und Bengali mit ihrem Stamm,
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dem Sanskrit, aus einer indo-iranischen Ursprache her. Dagegen gehören Arabisch und Türkisch zu ganz anderen Sprachfamilien. Viertens hängen die Iraner, obwohl meist Muslime, nicht der Sunna, also der orthodoxen islamischen Lehre, sondern der Schia an. Sie bilden die stärkste schiitische Gemeinschaft im heutigen Islam, wobei der Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten weit größer ist als der zwischen Katholiken und Protestanten. Mit anderen Worten: Die Iraner heben sich von ihren Nachbarn im Mittleren Osten durch Rasse, Sprache, Religion und historische Tradition ab, was ihre Geschichte von Grund auf beeinflußte. Bernhard Lewis (Hrsg.): Welt des Islam, Thames & Hudson Ltd, o. O. u. J.
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1.4 Der Iran in Zahlen Chronik um 1600 v. Chr. Indoeuropäische Reiternomaden wandern nach Ostiran ein 559 v. Chr. Achämeniden-Dynastie (bis 330) 224 n. Chr. Sassaniden-Dynastie (bis 624) 750 Iranische Lokaldynastien unter dem Kalifat der Abbasiden (bis 1258), u. a. die berüchtigten Assassinen (1090 bis 1256) 1501 Safawiden-Dynastie (bis 1736); Schiitisierung des Landes 1905 Konstitutionelle Revolution (bis 1911) 1925 Pahlawi-Dynastie (bis 1979) 1979 Schah Mohammed Resa verlässt das Land. Am 1. April ruft Ajatollah Chomeini die Islamische Republik aus. Am 4. November besetzen militante Iraner die US-Botschaft in Teheran; Beginn eines 444-tägigen Geiseldramas 1980 Irak-Iran-Krieg (bis 1988) 1989 Tod Chomeinis, Ajatollah Chamenei wird Revolutionsführer, Haschemi Rafsandschani Staatspräsident 1997 Mohammed Chatami ist neuer Staatspräsident 1999 Landesweite Studentenproteste gegen die Schließung liberaler Medien Aus: Spiegel Special, Allahs blutiges Land 2/2003, S. 52
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Der Iran in Zahlen
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Iran Jomhuri-ye Eslami-ye Iran – Islamische Republik Iran Fläche: 1 648 000 km² Hauptstadt: Teheran – 7,038 Mio. Einwohner Staatsoberhaupt/Regierungschef: Mohammed Chatami, seit August 1997 Religiöser Führer: Ajatollah Ali Chamenei, seit Juni 1989 Bevölkerung 64,658 Mio. Einwohner davon: 51 % Perser, 24 % Aserbaidschaner, 8 % Masandaraner, 7 % Kurden, 3 % Araber, 65 % Städter Bevölkerungsdichte: 40 Einwohner pro km² Lebenserwartung: 68 J. (m); 70 J. (w.) Bevölkerungswachstum: 1,24 % Fruchtbarkeitsrate: 2,9 Geburten pro Frau Landessprachen: Persisch (Farsi) (Amtssprache), daneben: Aseri, Kurdisch, Arabisch, Masandarani, Gilaki Religion Der Islam ist Staatsreligion. 98 % Muslime (davon 90 % Schiiten, 10 % Sunniten) Politisches System Islamische Republik seit 1979. Einkammerparlament mit 290 Abgeordneten, die alle 4 Jahre direkt gewählt werden. Wahlrecht ab 17 J. Die Vollmachten der gewählten Politiker werden eingeschränkt durch den obersten religiösen Führer Ajatollah Chamenei. Bildung Schulpflicht: 6–10 J. Einschulungsquote im Primarbereich 74 %, im Sekundarbereich 71 % (1999) Analphabeten: Männer 16 %, Frauen 30 % Militär Allgemeine Wehrpflicht: 21 Monate Streitkräfte: 520 000 Mann Militärausgaben am BIP: 4,8 % Waffenhandel: am Export 0,1 %, am Import 0,9 % Wirtschaft BSP: 108,7 Mrd. US$ Wachstumsrate BIP: 4,8 % BSP pro Kopf: 1.680 US$ Wichtige Industriezweige: Öl- und Gasindustrie Aus: Spiegel Special, Allahs blutiges Land 2/2003, S. 52
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1.5 Ethnische und religiöse Vielfalt – Toleranz? Der iranische Autor Navid Kermani hat vor kurzem die im Süden des Iran liegende Stadt Isfahan besucht. Diese Stadt ist ein berühmtes kulturelles Zentrum Irans und hier leben seit langem neben der islamischen Mehrheit auch Juden, Christen und Zoroastrier. Navid Kermani hat mit Vertretern dieser religiösen Minderheiten Gespräche geführt und beschreibt in seinem Buch „Schöner neuer Orient“ im Kapitel „Iran, Herbst 1995 und Herbst 2002“ seine Eindrücke von diesen Gesprächen.
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Volksgruppen (= Ethnien), die nicht Perser sind, wirkliche Eigenständigkeit besitzen. Jörg Bohn
Isfahans Wege beginnen am Sabbat. Vor genau 2 534 Jahren, so schreiben die Geschichtsbücher, soll der Perserkönig Kyros II. die Juden aus babylonischer Gefangenschaft befreit haben. Auf der Suche nach einer neuen Heimat zogen sie nach Norden, bis sie an der Stelle des heutigen Isfahans die Erde und das Wasser fanden, das die Sehnsucht nach Jerusalem zu lindern vermochte. Sie gründeten Jahudiya, das heute Dschubare heißt und noch immer das jüdische Viertel der Stadt ist. So entstand Isfahan. [...]
Daß viele Juden nach der Revolution Isfahan verließen, hatte in den wenigsten Fällen unmittelbar politische Gründe. Juden haben in der Islamischen Republik, ebenso wie Christen und Zoroastrier, den Status einer geschützten Minderheit. Sie dürfen ihre Religion frei ausüben, ihre Vertreter sitzen im Parlament. Aber das Umfeld hat sich für sie verschlechtert. „Wir haben keine Probleme mit unseren muslimischen Nachbarn und auch nicht mit dem Staat als solchem“, sagt einer der Juden, ein etwa sechzigjähriger Stoffhändler, nach dem Gottesdienst. „Aber Blick auf Isfahan Foto: © Coyne/Coleman Collection leider meinen bestimmte Leute in den Verwaltungen oder den Revolutionskomitees – unter Der Iran versteht sich als eine „Islamische Repudem Vorwand, wir Juden seien alle Zionisten – mit blik“, hat also als Staat eine eindeutig religiöse bezieuns umspringen zu können, wie es ihnen gefällt.“ hungsweise islamische Prägung. Gleichzeitig gibt es Ähnliche Klagen über behördliche Willkür hört man im Iran religiöse Minderheiten. Dazu gehören Juden von Muslimen zwar ebenso, aber gegenüber den Juund Christen, aber auch die Zoroastrier, Angehörige den – und den anderen religiösen Minderheiten – einer sehr alten, aus der vorislamischen Zeit stamwird sie von korrupten oder hartköpfigen Funktionämenden und im Iran entstandenen Religion, die im ren auch noch ideologisch gerechtfertigt. InsbesonKern schon den Glauben an einen Gott kennt. Zur redere unter den Jugendlichen, die Iran nur als Islamiligiösen Vielfalt kommt auch die Vielfalt der verschiesche Republik kennen, ist daher das Gefühl verbreitet, denen Völker. Beides ist ein Prüfstein für Toleranz. Anin einem fremden Land zu leben. „Die Kinder sagen, ders gesagt: Es ist im Iran von heute ein offenes daß man uns Juden hier wie Gäste behandelt, mal Problem und eine immer wieder neu sich stellende gut, mal weniger gut, aber immer als Gäste“, klagt der Aufgabe, inwieweit die freie Entfaltung des religiösen Stoffhändler. Die Verlockungen von Radio Israel im Lebens für die religiösen Minderheiten tatsächlich geOhr, die Briefe von den Verwandten in Amerika vor währleistet ist und inwieweit die verschiedenen Augen, drängen sie nach draußen. Mit jedem von ih14
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I. Iran 1.
Die Vielfalt der heutigen Lebensumstände im Iran
geht ein Stück jüdischer Zukunft in Iran und ver` nen liert Isfahan ein Stück seiner Vergangenheit. „Dabei waren es doch unsere Vorfahren, die diese Stadt begründet haben“, sagt der Stoffhändler. „Wir haben uns unsere alte persische Sprache und unsere Sitten aus der vorislamischen Zeit erhalten, wir sind iranischer als alle anderen zusammen.“ Dann hält er inne, schaut mich an und lächelt verschmitzt: „Und die echten Isfahanis, das sind doch wir.“ Die Auswanderungswelle hat alle religiösen Minderheiten Isfahans erfaßt, am schlimmsten jedoch trifft sie die zoroastrische Gemeinde Isfahans. Aufgrund der Übergriffe zur Zeit der Isfahaner Safawidenkönige sind die meisten Zoroastrier bereits im 16. und 17. Jahrhundert in andere Städte Irans oder nach Indien gezogen. Heute leben von den einst fünfzigtausend iranischen Zoroastriern gerade zweihundertfünfzig in Isfahan, und die Gemeinde sieht ihrem Verlöschen entgegen. [...] Die politische Situation nach der Revolution habe sich für die Zoroastrier nicht wesentlich verschlechtert. Die ausdrückliche Anerkennung ihrer Glaubensgemeinschaft in der iranischen Verfassung habe sich sogar positiv auf das Verhältnis zu den örtlichen muslimischen Geistlichen ausgewirkt. „Früher geschah es“, berichtet Bonschahi, „daß einfache Muslime sich weigerten, uns die Hand zu schütteln, weil man ihnen erzählt hatte, wir seien unrein; das kommt heute nicht mehr vor.“ Verwerflich seien allerdings die mittelalterlichen Scharia-Gesetze zum „Blutgeld“ (dije), die nun wieder angewendet werden. Sie legen die Summe fest, die Angehörige von Mordopfern erhalten. Einen Muslim zu töten kostet danach achtmal so viel wie der Mord an einem Juden, Christen oder Zoroastrier. Einen Baha’i zu töten ist in der Logik dieses Gesetzes nicht schlimmer als das Ausschütten eines Wassereimers. Es kostet gar nichts. Unterhält man sich mit Angehörigen der religiösen Minderheiten, kommt das „Blutgeld“ immer wieder zur Sprache. Mehr noch als die Berufsbeschränkungen, denen sie im öffentlichen Dienst ausgesetzt sind, erregt es Juden, Christen, Zoroastrier und Baha’is gleichermaßen. „Das Blutgeld ist unsere größte Qual“, ruft der armenische Landwirt Zadur Stepanian. „Es geht nicht um die Geldsumme; es geht um unser
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Selbstwertgefühl als Iraner; darum, daß wir von unseren Kindern gefragt werden, weshalb sie weniger wert sind als ihre muslimischen Freunde.“ [...]
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Navid Kermani: Schöner neuer Orient. C. H. Beck, München 2003, S. 194ff.
Seit der Zeit der Achämeniden bekennt sich der Vielvölkerstaat Iran zu all diesen unterschiedlichen Ethnien. So akzeptiert auch die heutige Regierung der Islamischen Republik Iran die traditionellen Provinzbezeichnungen, die den Namen der jeweils dort lebenden Volksgruppe beinhalten: Luristan, Baluchistan, Azarbaidjan, Turkmansahra (= Turkmenensteppe) und Kurdistan. Von den vier Staaten, in denen Kurden leben, ist Iran der einzige, der den Namen der Kurden in den offiziellen Provinzbenennungen beibehielt. Einige der vielen Volksgruppen oder Stämme spielten gelegentlich in der persischen Geschichte eine aktive und bedeutende Rolle. Die Afsharen und die Qadjaren stellten zeitweilig die Herrscherdynastien, die Bakhtiaren in der ersten Hälfte des 20. Jh. Regierungsmitglieder. Die meisten anderen Völker jedoch verfolgten ihre eigenen, in erster Linie auf den Stamm bezogenen Interessen. Zur Zeit der PahlaviDynastie wandten sich unter anderem die Qashqai und die Bani Kaab massiv gegen die Zwangsansiedlungspolitik Reza Shahs, die zum Ziel hatte, die Nomadenverbände des Landes besser kontrollieren zu können. Ebenso wie die Autonomie der ethnischen Gruppen im Lauf der persischen Geschichte immer anerkannt wurde, so förderte der Staat stets die friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Etwa 99 Prozent aller Iraner, der Stadtbevölkerung, der seßhaften und nicht seßhaften Völkerverbände sind Muslime. Die meisten sind Schiiten, die Kurden, Turkmenen, Baluchen und die im Süden und Südwesten lebenden Araber jedoch vorwiegend Sunniten. Trotz dieser Überzahl und der Verankerung des islamischen Glaubens in der Verfassung des modernen Gottesstaates leben bis heute Christen, Juden und Zoroastrier völlig undiskriminiert in Iran und können an ihrem religiösen Gemeindeleben teilhaben. Während sich die Staatsgewalt in vielen Ländern der Welt mit der Akzeptanz von Gotteshäusern anderer Glaubensgemeinschaften schwer tut, werden die HeiIslam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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der Christen, Juden und Zoroastrier in Iran ` ligtümer gleichberechtigt angesehen und geachtet. Mahmoud Rashad: Iran, DuMont Reiseverlag, Köln 2000, S. 23f.
Dokument 6
1.6 Soziale und religiöse Konflikte – eine Momentaufnahme Betrachten Sie bitte zunächst das vorliegende Photo. In dem beigegebenen Text geht Navid Kermani, ein iranischer Autor, der den Iran im Herbst 1995 und 2002 besucht hat, auf die heutige Situation des Landes ein. Hierbei betont Kermani drei Dinge.
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Erstens klaffen nach Kermani in der „Islamischen Republik Iran“ der religiöse Anspruch und die gesellschaftliche Wirklichkeit weit auseinander. Der Staat will eine vom Islam und der Religion geprägte Gesellschaft schaffen, aber ein Großteil der Jugend interessiert sich nicht für diese Dinge. Ein westlicher Lebensstil ist ihr oft wichtiger. Die Skateboards sind ein Symbol dafür. Zweitens wachsen in den großen Städten, vor allem in der Hauptstadt Teheran, die sozialen Probleme: Drogensucht und Prostitution breiten sich aus. Drittens werden nach Kermani im Parlament und in der Regierung zum Teil Diskussionen geführt, die die Bevölkerung kaum noch interessieren. Jörg Bohn
Eine Gruppe jugendlicher Skateboarder in Ekbatan, einer Hochhaussiedlung im Südwesten Teherans. Es dürfte kein Land auf der Welt geben, in dem sich das politische System so weit von der gesellschaftlichen Entwicklung gelöst hat wie Iran 23 Jahre nach der Revolution. Während sich das reformorientierte Parlament und der konservative Wächterrat noch darüber streiten, ob die Steinigung von Frauen abzuschaffen ist, breiten sich Drogen, Gewalt und Prostitution in Teheran epidemisch aus. Zugleich birgt die Hauptstadt der Islamischen Republik eine ausgedehnte Subkultur aus Dancefloor und Ecstasy, aus Alternativrock, Rap und Techno. Text: Navid Kermani: Schöner neuer Orient. C. H. Beck, München 2003, S. 193 Foto: © Kai Wiedenhöfer/Lookat
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Materialübersicht Einführung „Alte Geschichte – vorislamische Zeit“................................................................................................................18 2.1.1 Das Weltreich der Achämeniden (Dokument 7) ........................................................................................................20 Einführung „Die islamische Geschichte Irans vom 7.–18. Jahrhundert“ ........................................................................22 2.1.2 Der schiitische Islam und die Lehre vom Imanat (Dokument 8)..........................................................................23 2.1.3 Die Rolle Alis und die Ereignisse von Kerbela – die Ursprünge der Schia (Dokument 9)...........................25 2.1.4 Der Zug der „Büßer“ (Dokument 10)..............................................................................................................................28 2.1.5 Grundmuster schiitischer Frömmigkeit und schiitischen Denkens und ihr Einfluss auf Religion und Politik im modernen Iran (Dokument 11) ..................................................................................29
Arbeitshinweise Worin zeigen sich die kulturellen und politischen Leistungen der Achämeniden? (vgl. Dokument 7) Innerhalb der islamischen Staatengemeinschaft gilt der Iran oft als „Sonderfall“. Welche Gründe könnten zu einer solchen Einschätzung führen? Arbeiten Sie anhand von Dokument 8–10 die Gründe für die Entstehung des schiitischen Islams und die Hauptmerkmale seines Selbstverständnisses heraus. Ziehen Sie hierbei das Modul 1 (Projektübergreifende Materialien) heran (besonders Dokument 8 und 9). Fassen Sie das Ergebnis Ihrer Arbeit in Thesenform zusammen. Die beiden Orte Nadschaf und Kerbela im Irak spielen für schiitische Gläubige eine herausragende Rolle und stehen oft auch im Mittelpunkt der politischen Berichterstattung über den Irak. Für schiitische Gläubige im Iran gilt oft, dass sie mindestens einmal in ihrem Leben diese Orte besucht haben oder besuchen wollen. Erklären Sie die Bedeutung dieser beiden Orte und beziehen Sie sich hierbei besonders auf Dokument 9. Arbeiten Sie typische Merkmale der schiitischen Frömmigkeit heraus und stellen Sie dar, welche Auswirkungen diese Merkmale auf Religion und Politik im modernen Iran haben. Ziehen Sie dabei vor allem Dokument 11 heran.
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Der Iran gehört zu den ältesten Kulturzentren der Welt. Mit der Eroberung weiter Teile des Nahen Ostens vom Kerngebiet Persien aus und der Beherrschung Ägyptens und von Teilen Indiens schufen die Achämeniden das erste Weltreich der Geschichte (559–330 v. Chr.). Denn: Die eroberten Gebiete wurden nicht vorübergehend besetzt, sondern in ein umfassendes Rechts- und Verwaltungssystem eingebunden, das ihnen ein verhältnismäßig großes Maß an Eigenständigkeit ließ. Zu den herausragenden Leistungen des Achämenidenreiches gehört die unter Kyros II., dem Großen, realisierte religiöse Toleranz. Berühmt geworden ist das Eintreten von Kyros II. für die von den Babyloniern unterworfenen Juden. Die Babylonier hatten vor den Persern große Teile des Nahen Ostens beherrscht, Jerusalem und den jüdischen Tempel zerstört und die jüdische Oberschicht nach Babylon deportiert. Kyros bestimmte in dem sogenannten „Kyros-Edikt“, dass den Juden die von den Babyloniern geraubten Kultgegenstände aus dem Tempel zurückzugeben seien und dass den Depor-
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tierten die Rückkehr in die Heimat und der Wiederaufbau des Tempels aus Mitteln des persischen Reichsschatzes zu ermöglichen sei. Nach der Eroberung durch Alexander den Großen und der Herrschaft der Seleukiden – in dieser Zeit kommt das ehemalige Perserreich unter den Einfluss der griechischen Kultur – (331–250 v. Chr.) wird der Iran mit seinen angrenzenden Gebieten von den persisch bestimmten Großreichen der Parther (250 v. Chr. –224 n. Chr.) und der Sassaniden (224–642 n. Chr.) beherrscht. Persien ist in der vorislamischen Zeit auch nach der Herrschaft der Achämeniden ein Großreich mit „Weltgeltung“, zum einen aufgrund seiner militärischen Macht, zum anderen aufgrund seiner reichen Kultur. Persien bildet politisch und kulturell die „Brücke“ zwischen Europa und dem Fernen Osten (Indien und China). Die alten vorislamischen Religionen (die Religion Zarathustras und der Mithras-Kult) strahlen weit über den Iran hinaus bis nach Europa aus. Als der Islam mit der Eroberung Irans durch arabische Heere im 7. und 8. Jahrhundert zur beherrschenden Religion wird, trifft er auf eine alte und hochentwickelte Kultur
Die Entstehung des Perserreiches Aus: DTV-Atlas Weltgeschichte, Band 1, Deutscher Taschenbuch Verlag München, 362003, S. 44
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Das Reich der Parther Aus: DTV-Atlas Weltgeschichte, Band 1, Deutscher Taschenbuch Verlag München, 362003, S. 68
Jaspers’ Kulturen der Achsenzeit –800 bis –200 Aus: Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas, Zürch 2004, S. 51
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großer Eigenständigkeit und muss in der Ausein` von andersetzung mit dieser Kultur zu eigenen, „iranischen“ Lösungen finden. Die reiche Kultur der vorislamischen Zeit bringt für die spätere Kultur des Islam im Iran ein Problem mit sich, das man folgendermaßen beschreiben könnte: In der Geschichtssicht des Islam wird häufig die Zeit vor der Einführung des Islam als eine „Zeit der Unwissenheit“ bezeichnet, die vom Islam als einer Religion und Kultur des „Wissens“ und der „Aufklärung“ abgelöst würde. Eine solche Sicht hat bei der Betrachtung der altarabischen Kultur vor der Entstehung des Islam sicherlich ihr Recht, kann aber auf ein Land wie den Iran mit seiner hochentwickelten und eigenständigen Kultur nicht übertragen werden. Das bedeutet und bedeutete: Der Islam konnte, als er zur beherrschenden Religion im Iran wurde, nicht ohne weiteres einen kulturell-zivilisatorischen „Alleinvertretungsanspruch“ behaupten und durchsetzen, sondern musste mit der vorgefundenen Kultur und Religion in eine Auseinandersetzung eintreten und zu eigenen Lösungen kommen, die zu einer besonderen „iranischen“ Prägung des Islam führten. Welche Bedeutung hat die Alte Geschichte Irans, also Geschichte und Kultur der vorislamischen Zeit, für das Verständnis des modernen Iran? Zusammenfassend lassen sich drei Punkte benennen. Erstens: Es ist die Erinnerung an eine große Zeit. Eine Zeit, in der der Iran militärisch, politisch und kulturell Weltgeltung besaß. Beispielhaft sei das Wort des bedeutenden Philosophen Hegel zitiert, der Iran sei der erste Staat der Weltgeschichte gewesen, wobei Hegel unter dem Begriff „Staat“ einen Rechtsstaat verstand. Der in der Schweiz lehrende Philosoph Elmar Holenstein hat in seinem 2004 herausgegebenen „Philosophie-Atlas“ den Iran in seiner Alten Geschichte besonders gewürdigt. Eine seiner Karten stellt die großen kulturellen Zentren der Welt in der Zeit von 800 bis 200 v. Chr. dar und der Iran des Achämeniden-Reiches und der Religion Zarathustras gehörte ausdrücklich dazu. Vergleichen Sie bitte dazu die beigefügte Karte. Zweitens: Geschichte und Kultur Irans in vorislamischer Zeit wirken auch in der Hauptsprache Irans, dem Farsi, fort. 20
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Drittens: Seit der Zeit der Alten Geschichte bis in die Gegenwart hinein ist der Iran immer eine multinationale, aber auch multi-kulturelle und multi-religiöse Gesellschaft gewesen. Das heißt: Verschiedene Religionen, Kulturen und politische Systeme mussten miteinander auskommen – das gelang nicht immer, aber es war und blieb eine Herausforderung. Und diese Herausforderung stellt sich heute unter anderen Vorzeichen neu. Jörg Bohn
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2.1.1 Das Weltreich der Achämeniden Die Achämeniden wurden nach dem Dynastiegründer Hakhamanish (griechisch Achaimenes) benannt, der in der Region Parsumash, östlich der Susiana-Ebene, einige persische Stämme unter seiner Führung vereinigte. Seine Nachfolger Teispes (ca. 675–640 v. Chr.) und Kyros (ca. 640–600 v. Chr.) regierten das Land von der Provinz Fars aus. Eine feste Residenz ist aus dieser Zeit jedoch noch nicht bekannt. Kambyses I. (ca. 600–559 v. Chr.) gelang es durch die Heirat mit der Tochter des letzten medischen Herrschers Astyages, das verwandte, jedoch eigenständige medische Königreich an Persien zu binden. Sein Sohn Kyros II. (559–530 v. Chr.) unterwarf im Jahr 550 v. Chr. die Meder mit einem militärischen Schlag, besiegte Astyages und übernahm dessen Residenz in Ekbatana. Bald darauf zog er mit seiner medisch-persischen Armee über den Zagros und durch das nördliche Mesopotamien nach Kleinasien, wo er das lydische Königreich und die Stadt Sardes 547 v. Chr. eroberte. Nun begannen die Auseinandersetzungen mit den griechisch-ionischen Städten der kleinasiatischen Westküste. Im Osten stieß Kyros II. bis zu den Grenzen Indiens vor; im Westen eroberte er 539 v. Chr. Babylon, die Hauptstadt des spätbabylonischen Reiches, ebenso Syrien und Palästina. Von nun an führte der persische Großkönig neben dem Titel „König der Länder“ zusätzlich den Titel „König von Babylon“.
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In Babylon gab er dem dort gefangenen ` jüdischen Volk die Freiheit wieder und finan-
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zierte in Jerusalem den Wiederaufbau ihres Tempels. In den anderen eroberten Gebieten handelte er ebenso tolerant gegenüber den andersgläubigen unterworfenen Völkern und ließ die Tempel ihrer Gottheiten wieder aufbauen oder restaurieren. Diese religiöse Toleranz war das Kernstück seiner weitblickenden Besatzungspolitik, denn es gelang ihm auf diese Art und Weise, die Völker an sich und sein Königshaus zu binden. Obwohl Kyros von den übernommenen Residenzen Ekbatana und Babylon aus regierte, erbaute er in seiner Heimat Persien die erste achämenidische Residenz, Pasargadae, in der er später auch bestattet wurde. Laut Herodot fiel Kyros der Große im Kampf gegen die Saken und Massageten in Zentralasien. [...] Das Reich der Achämeniden umfaßte ein immens großes Territorium und unterschiedlichste Völker. Um es zusammenzuhalten, bedurfte es einer straffen Verwaltung, einer wohldurchdachten Hierarchie und einer funktionierenden Infrastruktur. Spätestens seit Darius dem Großen war der achämenidische Machtbereich in 20 VerwaltungseinheiRelief mit Soldaten der Unsterblichen Garde ten unterteilt, die Satrapien genannt wurden und in denen gelegentlich mehr als eine Volksgruppe zusammengefaßt war. Statthalter jeder Satrapie war der Satrap, der vom achämenidischen Herrscher, dem „König der Könige“, persönlich ernannt wurde. Der Satrap war dem König abgabenpflichtig, konnte aber weitgehend selbständig regieren. Grundsätzlich behielten die Völker ihre Sprachen in Wort und Schrift bei, die offiziellen Staatssprachen waren aber Babylonisch, Elamisch und Altpersisch, die alle drei mit Keilschrift geschrieben wurden. [...]
Foto: © Coyne/Coleman Collection
Aus: Mahmoud Rashad: Iran, DuMont Reiseverlag, Köln 2000, S. 48ff.
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I. Iran 2. Geschichte und Kultur des Iran im Umriss 2.1 Die Geschichte Irans bis zum 18. Jahrhundert Einführung Es gibt drei historische Wendepunkte in der islamischen Geschichte Irans vom 7.-18. Jahrhundert. Den ersten Wendepunkt bildet die arabische Eroberung im 7. Jahrhundert, den zweiten die Zeit der türkisch-mongolischen Fremdherrschaft von 1050 bis 1500 und den dritten das persisch-schiitische Reich der Safawiden (1501–1732). Die arabische Eroberung bringt die Eingliederung des Iran in die islamische Welt und die Islamisierung Irans mit sich. Langsam und in verschiedenen Schüben wurde die Bevölkerung Irans für den Islam gewonnen, wobei bis heute eine zoroastrische Minderheit bestehen blieb - neben jüdischen und christlichen religiösen Minderheiten im Lande. Im Zuge der Islamisierung Irans nach der arabischen Eroberung bildete sich die schiitische Glaubensrichtung oder die Schia heraus. Da diese seit dem 16. Jahrhundert von der Mehrheit der iranischen Bevölkerung praktiziert und getragen wird und die iranischen Schiiten wiederum die überwiegenden Mehrheiten der Schiiten in der islamischen Welt ausmachen, ist der Iran im Kern ein schiitisches Land und die religiöse Identität der Iraner eine überwiegend schiitische. Aus dem Grund ist bei der Untersuchung der Rolle des Islam im Iran die Klärung der Frage wichtig, was eigentlich unter der Schia bzw. der schiitischen Glaubensrichtung zu verstehen ist und welche religiösen und politischen Einflüsse auf das gesellschaftliche Leben des heutigen Iran sich aus der schiitischen Prägung des Landes ergeben. Die Unterschiede zwischen den beiden großen Glaubensrichtungen im Islam, den Sunniten und den Schiiten sind erheblich und mindestens so einschneidend wie die Unterscheide zwischen Katholiken und Protestanten innerhalb des Christentums. Während die Sunniten an dem Grundsatz festhielten, dass der Kalif, der Stellvertreter des Propheten im politischen Sinne aus dem Stamm des Propheten, den Quraisch, kommen müsse, vertraten die Schiiten die Auffassung, dass der Imam, der Führer der islamischen Gemeinde, der Umma, nur ein direkter Nachkomme Alis sein dürfe, des vierten Kalifen und Schwiegersohns Mohammeds, der als einziger durch seine Söhne Hassan und Hussein das Blut des Propheten weiterver22
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erbt habe. Auf den ersten Blick erscheint also der Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten ein dynastisches Problem, ein Streit um die legitime Nachfolge des Propheten zu sein. Bei näherer Betrachtung der schiitischen Bewegung und Glaubensrichtung ergeben sich aber sehr viel grundsätzlichere religiöse und politische Unterschiede. Als nach dem Tod Mohammeds nicht Ali zu seinem Stellvertreter und als Führer der Gläubigen (Imam) bestimmt wurde, sondern zunächst ein anderer, war in der Sichtweise der Schiiten schon eine grundsätzliche und folgenschwere Fehlentscheidung gefallen. Während für die Sunniten der Stellvertreter des Propheten, der Kalif, aufgrund sachlicher politischer Gründe in sein Amt kommt, muss nach schiitischer Auffassung der wahre Imam eine herausragende Qualifikation haben: Er muss nicht nur Blutsverwandter des Propheten sein, sondern in vollkommener Weise das Gesetz Gottes erfüllen und einen absolut selbstlosen, reinen Charakter besitzen. Ein erster Punkt des Gegensatzes zwischen Sunniten und Schiiten ist also die Frage, wer der wahre Imam, der wahre Führer der islamischen Gemeinschaft (Umma) sein darf und soll und ein erster Hauptaspekt schiitischer Frömmigkeit ist die besondere Verehrung Alis (vgl. dazu Dokument 15 und 16). Das einschneidendste Ereignis in der Geschichte der Schia, der „Partei Alis“, ist der Tod Husains bei Kerbela. Husain, ein Sohn Alis und Enkel des Propheten und nach seinem Bruder Hasan der dritte Imam, wurde bei seinem Versuch, die Kalifatswürde und das Imanat zu erlangen, von dem sunnitischen Kalifen Yazid in einen Hinterhalt gelockt und ermordet. Nach schiitischer Auffassung war Husain nicht ein im Nachfolgekampf Gescheiterter, sondern ein Märtyrer. Als absolut reiner und selbstloser Charakter starb er als Verkörperung des Guten und der Unschuld im Kampf gegen das Böse als Vorbild, aber auch als mahnendes Beispiel für alle Gläubigen. Denn: In schiitischer Sicht hat die damalige schiitische Glaubensgemeinschaft Husain nicht tatkräftig genug unterstützt. Dieses „historische Versagen“ bildet in der Sicht der schiitischen Glaubensgemeinschaft die Grundlage für Trauerrituale, das Aschura-Ritual. Hier wird des Märtyrertods Husains gedacht, aber gleichzeitig die eigene Schuld
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I. Iran 2. Geschichte und Kultur des Iran im Umriss 2.1 Die Geschichte Irans bis zum 18. Jahrhundert vergegenwärtigt und als Sühne das eigene Leiden und die Bereitschaft zum Selbstopfer angeboten. In der Ethik der schiitischen Glaubensgemeinschaft spielen also die Begriffe „Schuld“ und „Sühne“ eine zentrale Rolle, vor allem aber auch das Ideal der Selbstlosigkeit und die Bereitschaft zum Selbstopfer und zum Aufbegehren gegen Gewalt und Unrecht. Dies ist eine zweite entscheidende Besonderheit schiitischer Frömmigkeit (vgl. dazu Dokument 17 und 18). Ein drittes wesentliches Merkmal der schiitischen Frömmigkeit und Glaubensauffassung ist die herausragende Stellung der Geistlichen. Ein Geistlicher ist in der Sicht des Islam ein „Schriftgelehrter“, er kann das Heilige Buch des Islam, den Koran, verstehen und auslegen und hat sich in einer langen Ausbildung die hierfür nötigen Qualifikationen erworben. Auch in den beiden anderen „Religionen des Buches“, dem Judentum und dem Christentum, kommt der Fähigkeit des Geistlichen, die „heiligen Texte“ auszulegen, eine zentrale Bedeutung zu. In schiitischer Sicht hat der Geistliche aber auch eine besondere Verantwortung vor der Gesellschaft beziehungsweise der Masse der einfachen Gläubigen. Er ist gleichzeitig auch Rechtsgelehrter (arabisch: Fiqh), der die Rechtsüberlieferung des Islam, die Scharia, studiert hat und zu Rechtsgutachten befähigt ist, die die Gläubigen in entscheidenden Fragen des Lebens anleiten sollen. In gewisser Weise kommt damit dem Geistlichen eine Führungsrolle in der Gesellschaft zu und an diese Vorstellung, dass der Geistliche ein Modell oder Vorbild der „Nachahmung“ sei, ist in der Geschichte des Islam im Iran immer wieder angeknüpft worden. Das gilt für die Zeit der Safawiden (vgl. Dokument 20), aber auch
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für die Zeit der Islamischen Revolution und das Konzept Khomeinis von der „Herrschaft der Religionsgelehrten“ als Staatsmodell. Fragte man also nach der Bedeutung des Islam in Geschichte und Gegenwart des Iran, hat man zwei Aspekte besonders zu beachten: Seine schiitische Prägung und das enge Wechselverhältnis von Religion und Politik, das gerade die schiitische Glaubensrichtung im Iran bestimmt hat und noch heute bestimmt.
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2.1.2 Der schiitische Islam und die Lehre vom Imanat Wundern Sie sich bitte nicht über das folgende Bild. Es zeigt die heute führenden Politiker des Iran vor dem Khomeini-Mausoleum in Teheran. In der Mitte sitzt der jetzige Staatspräsident Chatami und neben ihm sein Amtsvorgänger Rafsandschani. Alle tragen das Gewand eines Geistlichen bzw. eines Religions- und Rechtsgelehrten und sie sitzen vor dem übergroßen Bild Khomeinis, der die Islamische Revolution und den Aufbau der Islamischen Republik Iran maßgeblich beeinflusst und gestaltet hat und der ebenfalls das Gewand eines Geistlichen trägt. Das übergroße Gewicht von Geistlichen im politischen Leben Irans fällt auf sowie die Neigung, an die Vergangenheit anzuknüpfen. Beides kann man genauer verstehen, wenn man sich einen entscheidenden Zug der schiitischen Religiosität im Iran bewusst macht, die Lehre vom Imanat. [...] Die Grundbedeutung des Begriffs „Imam“ ist „Führer“ oder „Leiter“. Darauf aufbauend gibt es zwei konkrete Bedeutungen des Begriffs. Einmal ist der Imam der Leiter einer Ortsgemeinde, zum anderen der Leiter aller Gläubigen, also der Leiter der Gemeinschaft aller Muslime, der „Umma“. In der schiitischen Glaubensrichtung hat der Begriff noch eine weitere Bedeutung. Der Imam ist hier der eigentliche, der besonders befähigte Führer aller Gläubigen, weil er über eine besondere Herkunft und besondere Eigenschaften verfügt. Anders gesagt: Imam als eigentlicher und legitimer Führer kann in schiitischer Sicht nur der
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Foto: © AFP, Behrouz Mehri
Herrscher sein, der Blutsverwandter Mohammeds ist und durch besondere religiöse und moralische Eigenschaften ein Vorbild, eine „Leitfigur“, für die Gläubigen darstellt. Er ist damit ausdrücklich ein „göttlich geleiteter“ Führer und eigentlich unfehlbar und sündlos. Nach schiitischer Lehre war Ali als Schwager des Propheten der erste Imam. Ihm folgte als zweiter Imam sein Sohn Hasan (661–669 n. Chr.) und als dritter ein weiterer Sohn Alis, Husain (669–680 n. Chr.), der bei Kerbela fiel. Darauf folgen weitere Imame bis hin zum zwölftem Imam, der 874 n. Chr. „in die Verborgenheit entrückt“ wurde. Das heißt, er verschwand aus der Öffentlichkeit und lebte seitdem in geheimnisvoller Weise verborgen weiter, bis er am Ende aller Tage als Imam „Mahdi“, als eine Art Messias, wiederkehren und als besonderer Beauftragter Gottes das Paradies auf Erden errichten wird. 24
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Alle Imame waren in schiitischer Sicht nicht nur absolute Vorbilder im Glauben und im Lebenswandel, sondern immer auch von einer ungerechten und unterdrückerischen Staatsmacht verfolgte Menschen, die ihre Glaubenstreue mit Leid und Tod bezahlen mussten. Sie waren also nicht nur unfehlbare Herrscher, sondern auch Glaubenszeugen, „Märtyrer“, die bis zum Tod ihrer Sache treu blieben. Daraus ergeben sich, was das Leben der schiitischen Gläubigen betrifft, ganz bestimmte Grundmerkmale schiitischer Religiosität. Drei entscheidende Merkmale lassen sich benennen: Erstens die Bereitschaft zur Revolte gegen religiöse Heuchelei und eine ungerechte religiöse und politische Herrschaft. Zweitens die Bereitschaft zum Selbstopfer im Kampf für radikale Gerechtigkeit und radikale Frömmigkeit. Drittens die enge Beziehung von Religion und Politik. Denn: Es geht nicht nur um unverfälschte Glaubenstreue, sondern auch um den Einsatz für eine gerechte Gesellschaft.
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I. Iran 2. Geschichte und Kultur des Iran im Umriss 2.1 Die Geschichte Irans bis zum 18. Jahrhundert Ein wichtiges Problem, das sich aus der schiiti` schen Lehre vom Imanat ergab und ergibt, ist das Problem einer gerechten Herrschaft bzw. einer gerechten Regierung. Denn: In schiitischer Sicht war und ist nur der Imam ein gerechter Herrscher, dem allein das Recht zusteht, die Gläubigen zu führen. Solange die Reihe der 12 Imame anhielt, war das Problem der gerechten Regierung gelöst. Das Problem trat mit dem 12., dem „verborgenen“ Imam ein, der nach schiitischem Glauben immer noch lebt, aber als Herrscher mit dem Beginn seiner „Verborgenheit“ nicht mehr präsent war und ist und erst am Ende der Zeiten als „Mahdi“ wiederkehren wird. Solange der 12. Imam noch nicht „erschienen“ ist, ist also eine legitime Regierung nicht vorhanden – es sei denn, man findet jemanden, der den verborgenen Imam in legitimer Weise vertreten kann. Nach Brauch und Herkommen haben in der Geschichte der schiitischen Glaubensrichtung die Religionsgelehrten viele eigentliche Regierungsaufgaben übernommen und sind damit in die Rolle von Vertretern des verborgenen Imam hineingewachsen. Denn: Sie galten aufgrund ihrer religiösen und juristischen Kenntnisse als „faqih“, also „Experten“. An diese aus der schiitischen Religiosität stammenden Vorstellungen hat der entscheidende Führer der Islamischen Revolution im Iran von 1979, der Ayatolla Khomeini, bewusst angeknüpft. Für ihn waren und sind die Religions- und Rechtsgelehrten, weil sie „Experten“ (faqih) sind, die legitimen Vertreter des verborgenen Imam und damit gibt es für Khomeini eine Form legitimer islamischer Herrschaft, die er im Iran propagiert und durchgesetzt hat, den Staat nämlich, in dem die „Herrschaft der Religionsgelehrten“ angestrebt und gewährleistet ist. Faktisch heißt das: Als Islamische Republik Iran ist der Iran ein Staat, in dem die Religionsgelehrten herrschen, in dem der ehemalige Begründer dieser Staatsform, Khomeini, besonders geehrt wird und dessen Regierungskonzept aus der schiitischen Lehre vom Imanat abgeleitet ist. Insofern bildet das anfangs gezeigte Foto keinen zufälligen Einstieg in die Lehre vom Imanat. Jörg Bohn (nach: Heinz Halm: Der schiitische Islam, Beck'sche Reihe, München 1994)
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2.1.3 Die Rolle Alis und die Ereignisse von Kerbela – die Ursprünge der Schia Die schiitische Glaubensrichtung hat wie andere religiöse Bewegungen so etwas wie eine „Ursprungsgeschichte“. Damit sind Ereignisse und Personen gemeint, die einer religiösen Bewegung ihr eigentliches Profil geben. Die zentralen Personen der schiitischen Glaubensrichtung sind Ali, Mohammeds Vetter und Schwiegersohn, und sein Sohn Husain. Das für das Selbstverständnis der Schia entscheidende Ereignis ist ein Gefecht bei Kerbela, in dem Husain den Tod fand und mit dem die Schia, die „Partei Alis“, zunächst eine entscheidende Niederlage erfuhr. Wer also die Grundlagen der Schia, der heute im Iran vorherrschenden Glaubensrichtung, kennen lernen will, muss sich mit Ali und Husain und den Ereignissen von Kerbela näher befassen. Jörg Bohn
Als der Prophet Muhammad im März des Jahres 632 von seiner letzten Mekka-Wallfahrt nach Medina zurückkehrte, rastete seine Karawane bei dem Teich von Khumm, etwa auf halbem Weg zwischen den beiden Städten. Hier soll sich am 16. März die folgende Szene abgespielt haben, deren die Schiiten bis heute mit einem Festtag gedenken: der Prophet sammelte seine Gemeinde um sich und sprach: „Habe ich nicht mehr Anspruch darauf, euch zu gebieten, als ihr selbst?“ und als die Gemeinde freudig mit Ja antwortete, fuhr er fort: „Allen, denen ich gebiete, soll auch Alî gebieten!“ Die beiden Aussprüche des Propheten sind im arabischen Original mehrdeutig; sie sind hier bereits so übersetzt, wie die Schiiten sie interpretieren. Ein schiitischer Kommentator erläuterte: „Indem der Prophet auf diese Weise Gehorsam gegenüber Alî verlangte und ihn zum Gebieter machte, forderte er für diesen dieselbe gebietende Stellung, die er selbst ihnen gegenüber eingenommen hatte; er befahl ihnen, diese anzuerkennen, und sie verweigerten ihre Anerkennung nicht. Dies ist eine eindeutige Designation Alîs als Imâm und Kalif“. [...]
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nicht allgemein anerkannt; er mußte ` sichAlîauswurde Medina in den Irak zurückziehen, wo die Stadt Kufa (al-Kûfa) am Euphrat, ein arabisches Heerlager aus der Zeit der Eroberung, seine Residenz wurde. Sein Gegenspieler war der Gouverneur von Syrien, Mu’âwiya aus dem Clan der Umayya, ein Verwandter des ermordeten Kalifen Uthmân, der im Namen der Blutrache gegen Alî auftrat. Neben den erwähnten Spannungen in der Umma traten in diesem Konflikt regionale Gegensätze zutage: die Araber Syriens standen gegen die des Irak, Damaskus gegen Kufa. Auf dem Schlachtfeld von Siffîn am oberen Euphrat (im Bereich des jetzigen Asad-Staudammes in Syrien) lagen sich die beiden Armeen im Sommer 657 wochenlang gegenüber, ohne daß es – trotz zahlreicher Gefechte – zu einer Entscheidungsschlacht gekommen wäre. Schließlich vereinbarte man ein Schiedsgericht, das anscheinend Anfang 659 in dem Ort Adhruh (im heutigen Jordanien, zwischen Petra und Ma'ân) zusammentrat. Was die beiden Schiedsmänner dort vereinbarten, ist heute nicht mehr genau auszumachen, da die Überlieferungen widersprüchlich sind. Jedenfalls legte der Syrer Mu'âwiya den Spruch zu seinen Gunsten aus und ließ sich im Sommer 660 in Jerusalem als Kalif huldigen; er wurde weithin anerkannt, und damit war die Spaltung der Umma besiegelt. Schon ein halbes Jahr später, Ende Januar 661,
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wurde Alî am Tor einer Moschee in Kufa von einem Bluträcher – einem gewissen Ibn Muldscham – niedergestochen und erlag zwei Tage später seinen Verletzungen, im Alter von etwa 62 oder 63 Jahren. So ist schon der erste Imam der Schiiten als Opfer gefallen – der erste in einer langen Reihe von Märtyrern der Schia. [...] Heinz Halm: Der schiitische Islam, München 1994, S. 15ff.
Schon bei Alis Lebensgeschichte fällt die Bereitschaft zum Opfertod, zum Martyrium, und der Gegensatz zwischen einer „reinen Gesinnung“ auf seiner und skrupellosem Machtwillen auf der Seite seiner Gegner auf. Beide Züge, die Bereitschaft zum Martyrium, zum Opfertod für die eigene Sache, und das selbstlose Eintreten für die Sache des Islam und der Gerechtigkeit, zeigen sich sehr deutlich auch bei seinem Sohn Husain. Der Ort, wo Ali begraben wurde, Nadschaf im Irak, wurde zu einer zentralen Wallfahrtsstelle für Schiiten aus dem Irak, aber auch aus dem Iran. Dort befindet sich auch ein riesiges Gräberfeld, wo sich Schiiten aus allen umliegenden Ländern begraben lassen, um der einen zentralen Persönlichkeit der Schia, Ali, besonders nahe zu sein. Es hat symbolische Bedeutung, dass der Führer der Islamischen Revolution und einer der Begründer der Islamischen Republik Iran, der Ayatollah Khomeini, gerade Nadschaf als Ort der Emigration wählte, von wo aus er seine entscheidenden Schriften gegen den Schah und für eine Islamische Revolution verfasste. Neben Kerbela ist also Nadschaf der „Heiligste Ort“ der Schia auch für Schiiten aus dem Iran – sozusagen das „schiitische Rom“! Jörg Bohn
Im Frühjahr 680 starb der Kalif Mu’âwiya in Damaskus, nachdem er seinem Sohn Yazîd als Kalifen hatte huldigen lassen. Mit Yazîd bestieg erstmals ein Mann den Kalifenthron, der den Propheten Muhammad nicht mehr persönlich gekannt hatte; zugleich bedeutete seine Nachfolge die Etablierung des dynastischen Prinzips: bis zum Jahr 750 sollte die Dynastie der Umayya in Damaskus regieren. Die „Heiligen Stätten“ des schiitischen Islam im Irak Aus: Spiegel special, Allahs blutiges Land, 2/2003, S. 51
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Wüste Zentralarabiens auf den Weg nach dem Irak. Ihn begleitete seine Familie und ein kleines Häuflein Getreuer – Verwandte und Freunde –, insgesamt wohl nicht mehr als etwa fünfzig Männer.
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Im Irak war man gewarnt. Der Gouverneur des Irak, Ubaid Allâh ibn Ziyâd, ließ die Wüstenrouten durch Patrouillen überwachen und die führenden Unruhestifter in Kufa – darunter al-Husains Vetter Muslim – hinrichten. AI-Husain erfuhr davon erst, als er sich dem Euphrat näherte; dennoch setzte er seinen Weg fort. Eine Patrouille des Gouverneurs hinderte ihn, nach Kufa selbst zu gelangen, und drängte seinen kleinen Trupp nach Norden ab. Von den angeblich Tausenden kufischen Parteigängern erschien nicht ein einziger, um dem Enkel des Propheten zu Hilfe zu kommen.
Der Imam al-Husain im Kampf mit seinen Feinden Aus: Heinz Halm: Der schiitische Islam, Beck’sche Reihe, München 1994, S. 23
Der Thronwechsel in Damaskus war für die irakischen Parteigänger der Aliden das Signal für einen erneuten Versuch, die Macht wieder an sich zu reißen. Alîs zweiter Sohn von Fâtima, al-Husain, der in Medina lebte, war zu diesem Zeitpunkt schon etwa 54 Jahre alt. Boten aus Kufa suchten ihn auf und bedrängten ihn, in den Irak zu kommen, an die Spitze der „Partei“ zu treten und das syrische Regime zu stürzen. AI-Husain selber schickte seinen Vetter Muslim nach Kufa, um die Lage zu erkunden, und der schrieb, die Situation sei günstig; Tausende von Parteigängern seien bereit, sich einer Erhebung anzuschließen. Obwohl er vor dem Abenteuer gewarnt worden war, verließ al-Husain daraufhin im September 680 heimlich Mekka, wohin er sich zur Pilgerfahrt begeben hatte, und machte sich auf der Pilgerroute quer durch die
Am 2. des Monats Muharram (2. Oktober 680) lagerte al-Husains Trupp bei dem Flecken Kerbelâ, 70 km nördlich von Kufa, 20 km westlich des Euphrat. Am nächsten Tag trafen größere Truppenkontingente des Gouverneurs – angeblich 4 000 Mann – unter dem Kommando des Ibn Sa'd ein, die al-Husains Leuten den Weg zum Fluß verlegten, so daß sie drei Tage lang Durst litten. Weitere Verhandlungen scheiterten, da sich al-Husain weigerte, dem Kalifen Yazîd zu huldigen. Am 9. Muharram rückten die kufischen Truppen nahe an al-Husains Zeltlager heran, und in der Frühe des folgenden Tages (10. Muharram = 10. Oktober 680) begannen die Einzelkämpfe und Scharmützel, die am Nachmittag mit der Erstürmung des Lagers endeten. AI-Husain und fast alle seine männlichen Begleiter – der Tradition nach 32 Reiter und 40 Mann zu Fuß – fanden den Tod, darunter alHusains Halbbruder al-Abbâs, sein Sohn Alî der Ältere (Alî al-Akbar) und sein junger Neffe al-Qâsim, ein Sohn al-Hasans. Die Toten wurden an der Stelle begraben, an der das Massaker stattgefunden hatte; dort erheben sich heute die Schreine von Kerbelâ. AI-Husains Kopf wurde nach Kufa gebracht, wo der Gouverneur Ubaid Allâh ibn Ziyâd ihm mit seinem Stock einige Zähne ausgeschlagen haben soll. Die gefangenen Frauen, darunter al-Husains Schwester Zainab, und der einzige überlebende Sohn al-Husains, der jüngere Alî (der vierte Imam), wurden zunächst ebenfalls nach Kufa Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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` und dann nach Damaskus gebracht, wo der Kalif sie (nach den historischen Quellen) ehrenvoll behandelte und sie dann nach Medina entließ. [...] Für den Historiker gehören die Ereignisse des Jahres 680 in den Rahmen der politischen Machtkämpfe innerhalb der zweiten Generation (al-Husain ibn Alî gegen Yazîd ibn Mu'âwiya); Kerbelâ bedeutet in dieser Sicht nur das Ausscheiden eines schlecht gerüsteten und unentschlossenen Prätendenten. Der Religionshistoriker wird konstatieren, daß al-Husains Untergang die Schia als religiöses Phänomen überhaupt erst hervorgerufen hat; vor 680 hat es eine schiitische Religiosität gar nicht gegeben; erst der Tod des dritten Imams und seiner Gefährten ist der „big bang“, der den rasch expandierenden Kosmos des Schiitentums erschafft und in Bewegung setzt. Für die Schiiten ist Kerbelâ der Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubens, Höhepunkt eines göttlichen Heilsplans, dessen Verheißungen all denen zuteil werden, die auf der Seite des gemarterten Imams Partei ergreifen.
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2.1.4 Der Zug der „Büßer“ Es gibt in der schiitischen Religiosität im Irak, besonders aber auch im Iran, ein besonders wichtiges Ritual, die Ashura-Riten (manchmal auch Aschura-Riten geschrieben). Dies sind Trauerfeierlichkeiten, die sich auf den Tod Husains bei Kerbela beziehen, aber auch noch weitere Ursprünge haben. Die Ashura-Riten werden im Monat Muharram gefeiert und eigentlich gilt den Schiiten der ganze Monat als Trauermonat. Die von Pilgern in Kerbela abgehaltenen Trauerfeiern fanden bereits wenige Jahre nach Husains Tod statt und wurden in den folgenden Jahrhunderten überall dort zelebriert, wo sich Schiiten befanden. Im Iran haben die Ashura-Riten eine besondere Bedeutung und sind stets auch mit einer großen Trauerdemonstration und vielen Menschen verbunden, die sich selbst mit
Heinz Halm: Der schiitische Islam, München 1994, S. 21ff.
Schiitische Gedenkfeier in Kerbela. (Anm.: Beim Bild ist auf dem Transparent der abgeschlagene Kopf Husains abgebildet (vgl. Dokument 16). Das Bild darüber stellt Ali dar mit dem für ihn typischen Symbol, dem Schwert, das an seine ihm vom Propheten Mohammed verliehene besondere Würde erinnert. – Red.) Foto: © Agentur Focus, Thomas Hegenbart
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Schiitische Pilger in Kerbela bei den Ashura Riten
Foto: © dpa, Srdjan Suki
Ketten und Säbeln geißeln oder an die Brust schlagen, also öffentlich Reue und Bußbereitschaft demonstrieren. Vor und während der Islamischen Revolution aber auch bis in die heutige Zeit hinein haben die Ashura-Riten neben ihrer religiösen auch eine politische Bedeutung gehabt und bekommen, als Protest gegen eine als ungerecht empfundene Obrigkeit. Jörg Bohn .
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2.1.5 Grundmuster schiitischer Frömmigkeit und schiitischen Denkens und ihr Einfluss auf Religion und Politik im modernen Iran Schiitische Frömmigkeit und schiitisches religiöses Denken ist mit einer bestimmten Vorstellung von einer gerechten Regierung und von der gesellschaftlichen Rolle der Geistlichen verbunden. Aus der Lehre vom Imanat wird die Erwartung abgeleitet, dass ein Herrscher die Gesellschaft gerecht regieren und die Gläubigen durch eine echte unverfälschte Frömmig-
keit geistig-religiös anzuleiten und zu führen habe. Dies ist eine ungeheuer hohe Erwartung an einen Herrscher, die sofort in eine scharfe Kritik am Staat und am Herrscher umschlägt, wenn beide als ungerecht empfunden werden. Schiitische Religiosität hat also einen herrschaftskritischen und im Kern durchaus revolutionären Zug. Eigentlich kann in schiitischer Sicht nur einer legitimer Herrscher sein, der jeweils letzte Imam, weshalb nach dem Verschwinden des 12. Imam dann keine legitime Regierung mehr existiert. Darum stellt sich im schiitischen Denken das zentrale Problem der Vertretung des verborgenen Imam. Eine gesellschaftliche Gruppe hat man in den darüber geführten Diskussionen als würdig und qualifiziert angesehen – die Geistlichen. Hier setzt die für die heutige Staatsform im modernen Iran entscheidende Konzeption der „Herrschaft der Rechts- bzw. Religionsgelehrten“ an, die maßgeblich vom Ayatolla Khomeini entwickelt woden ist. Hier liegt auch ein entscheidender Grund dafür, dass in den politischen Auseinandersetzungen im modernen Iran Geistliche eine entscheidende Rolle gespielt haben und spielen.
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zweiter Zug schiitischer Frömmigkeit, der in ` denEinpolitischen und religiösen Auseinandersetzungen im Iran eine große Rolle spielt, ist die Neigung zum Selbstopfer, zum Martyrium. Das große Vorbild für diese Haltung bilden in der schiitischen Frömmigkeit die beiden zentralen Persönlichkeiten der Schia, Ali und Husain, die nach schiitischer Auffassung ein kaum erreichbares, aber doch verbindliches Modell der Bereitschaft zur Hingabe des eigenen Lebens für die Sache der Gerechtigkeit und des Islam darstellen. An diese Haltung ist in den gegenwärtigen politischen und religiösen Auseinandersetzungen im Iran ebenfalls immer wieder angeknüpft worden. Dies belegt der folgende Text. Jörg Bohn
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Das Martyrium Husseins und die Trauer der Schiiten bereiteten den Boden, auf dem eine Sekte wie die Assassinen entstehen konnte. Als esoterischer Sonderkult haben sie im 11. Jahrhundert das Phänomen des Terroristen, der sich mitsamt seinem Opfer in den Tod reißt, in die islamische Welt eingeführt. Von Alamut aus, in den Bergen des nordwestlichen Irans, soll Hassan ibn Sabah seine Jünger ausgesandt haben, damit sie politische und geistliche Würdenträger vieler islamischer Länder ermordeten und sich selbst einen Platz im Paradies sicherten. Im ersten Golfkrieg hat der schiitische Märtyrerkult iranische Soldaten, darunter Kinder und Jugendliche, in die Minen der Irakis laufen lassen, den Ruf „Ya Hussein“ auf den Lippen. Der Kult hat dazu beigetragen, daß sich 1983 erstmals ein Mitglied der libanesischen Hizbollah zum Selbstmordattentat bereitfand. Navid Kermani, Dynamit des Geistes, Wallstein, Göttingen 2002, S. 19f.
Geistliche bei einer politischen Veranstaltung Foto: © Reuters/Corbis, Kieran Doherty
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I. Iran 2. Geschichte und Kultur des Iran im Umriss 2.2 Von der Kadjaren-Herrschaft bis zum Vorabend der Islamischen Revolution
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Einführung.............................................................................................................................................................................................32 2.2.1 Die Kadjaren-Dynastie, der Verlust der nationalen Selbstbestimmung und die Konstitutionelle Revolution (Dokument 12) ........................................................................................................33 2.2.2 Die Pahlavis – Geschichte ihrer Herrschaft (Dokument 13)...................................................................................34 2.2.3 Der Konflikt um den Ministerpräsidenten Mosaddegh und seine Politik der Verstaatlichung der iranischen Erdöl-Produktion aus der Sicht eines deutschen Historikers (Dokument 14)...........................................................................................................................36
Arbeitshinweise Arbeiten Sie mit Hilfe des Dokuments 12 heraus, worin sich der Verlust der nationalen Selbstbestimmung im Iran bemerkbar macht. Schildern Sie, welche Gebietsverluste der Iran erleiden musste und wie die europäischen Mächte das wirtschaftliche und kulturelle Leben des Iran beeinflussten. Schildern Sie dann, welche Widerstandsmaßnahmen es innerhalb der iranischen Bevölkerung gegeben hat und welchen Einfluss hierbei die schiitische Geistlichkeit ausgeübt hat. Ziehen Sie ergänzend Modul 1 (Projektübergreifende Materialien) heran, vor allem Dokument 28. Stellen Sie dar, wie es zur Konstitutionellen Revolution gekommen ist, welche Ziele sie verfolgte, welche Teile der Bevölkerung sie getragen hat und warum sie gescheitert ist. Ziehen Sie hierzu ebenfalls Dokument 12 heran. Versuchen Sie eine zusammenfassende Beurteilung des Regierungsprogramms der beiden Pahlavi-Herrscher, d. h. des ersten und zweiten Schahs. Ziehen Sie dazu Dokument 13 heran. Untersuchen Sie hierbei bei beiden Herrschern die Gründe für ihre Machtergreifung und ihren Sturz und legen Sie dar, welche Kräfte beide Herrscher gestützt haben und welche Kräfte ihnen Widerstand entgegengesetzt haben. Gehen Sie dabei besonders auf die Rolle der Geistlichkeit ein und vergleichen Sie die Rolle der Geistlichkeit in der Regierungszeit des letzten Schahs mit der Rolle der Geistlichkeit während der Kadjaren-Herrschaft. Wie beurteilt der in Dokument 14 zitierte deutsche Historiker Jürgen Martschukat die Regierungspolitik Mosaddeghs und welche Gründe nennt der Autor für seinen Sturz?
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I. Iran 2. Geschichte und Kultur des Iran im Umriss 2.2 Von der Kadjaren-Herrschaft bis zum Vorabend der Islamischen Revolution Einführung
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Die Geschichte Irans im 19. und 20. Jahrhundert bis zum Jahre 1979 ist von zwei Haupttendenzen bestimmt: Der Kampf um die nationale Selbstbestimmung gegen den übermächtigen Einfluss ausländischer Mächte (Russland, Großbritannien und später die USA), die den Iran beherrschen und vor allem seine reichen Ölvorräte für ihre eigenen Interessen nutzen wollten und zweitens der Kampf um grundlegende demokratische Reformen. Für den Islam bzw. die schiitische Geistlichkeit ergab sich die Notwendigkeit, zu diesen beiden Tendenzen Stellung zu beziehen. Mit anderen Worten: Während der Islam in der vorangegangenen historischen Epoche vom 7.–18. Jahrhundert eine bestimmende historische und kulturelle Rolle spielte und agierte, musste er jetzt, im 19. und 20. Jahrhundert, auf äußere Ereignisse und kulturelle Strömungen reagieren. Er musste sich mit der Machtpolitik der europäischen Großmächte und den liberaldemokratischen Ideen der europäischen Aufklärung auseinandersetzen. Historisch gab es drei große Einschnitte: Die Herrschaft der Kadjaren und deren Versuch, die eigene undemokratische Herrschaft über das eigene Volk aufrecht zu erhalten sowie sich gegenüber dem Druck der europäischen Großmächte zu behaupten. Zum zweiten die Demokratisch-konstitutionelle Revolution, den Versuch liberaler, radikal-demokratischer Kräfte, dem Iran eine demokratische Verfassung zu geben. Und drittens die Herrschaft der Pahlavi-Dynastie, die dem Land eine Militärdiktatur brachte und den Iran ausländischem Einfluss unterwarf. Der Widerstand gegen die Pahlavi-Dynastie, vor allem gegen den zweiten Pahlavi-Herrscher, Schah Mohammed Reza, führte 1979 zur Islamischen Revolution. Das 19. und beginnende 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert des fortschreitenden Verlustes der nationalen Selbständigkeit und der immer drückender werdenden Fremdherrschaft Russlands und Großbritanniens, die praktisch als Kolonialmächte im Iran auftraten. Der Iran war gegenüber beiden Staaten territorial, politisch und wirtschaftlich permanent im Rückzug. Wichtige Gebiete, die lange zum Iran gehörten, gingen dem Staatsgebiet des Iran verloren, das Kerngebiet des Iran wurde in Einflusssphären aufge32
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teilt und vor allem Großbritannien verlegte sich immer mehr darauf, den Iran wirtschaftlich auszubeuten und vor allem die reichen Ölvorkommen in die Hand zu bekommen. Der jeweilige Herrscher, der Schah, der der turkmenischen Kadjaren-Dynastie angehörte, war praktisch eine Marionette der russischen und vor allem britischen Kolonialmacht. Dagegen bildete sich eine Oppositionsbewegung, die aus der patriotisch gesinnten Bildungsschicht, den liberal denkenden Intellektuellen, sowie Teilen der schiitischen Geistlichkeit bestand. Dieser Gruppierung ging es um die nationale Selbständigkeit und vor allem um grundlegende demokratische Reformen des Landes. Vorübergehend konnte eine Verfassung sowie eine Reihe demokratischer Reformen über die „Konstitutionelle Revolution“ von 1905–1911 durchgesetzt werden. Die folgende Karikatur, die sich allerdings nicht auf den Iran bezieht, verdeutlicht die schwierige Stellung der radikal-demokratischen liberalen Intellektuellen, die auch hinter der Konstitutionellen Revolution standen: Häufig lagen sie am Boden und mussten sich dem Druck ausländischer Mächte (hier verkörpert durch den russischen Bären) und konservativ denkende Geistliche beugen. Auch die Konstitutionelle Revolution hatte keinen Bestand. Es gelang zwar vorübergehend, eine Verfassung durchzusetzen und ein Parlament zu etablieren, aber 1911 wurde das Parlament auf russischen Druck hin wieder aufgelöst. Der russische Einfluss ließ allerdings im Zuge der Oktoberrevolution und der Entstehung der Sowjetunion nach. Die Sowjetunion zog sich weitgehend zurück, so dass die Auseinandersetzung um die nationale Selbstbestimmung jetzt hauptsächlich mit Großbritannien ausgefochten werden musste. Bis 1919 beherrschte Großbritannien als einzige Kolonialmacht praktisch das ganze Land. Die darauf folgenden Jahrzehnte bis zur Islamischen Revolution von 1979 wurden durch die Pahlavi-Dynastie bestimmt, die von 1924 bis 1979 regierte. Das politische „Programm“ der Pahlavis wurde durch zwei Konstanten bestimmt: Sie wollten eine „Modernisierung“ des Landes durch wirtschaftliche Reformen, die dem Land den Anschluss an die westlichen Industrienationen sichern sollten, und sie wollten eine „Säkularisierung“ des Landes, indem der Einfluss des Islam und der Geistlichkeit weitgehend gebrochen werden sollte.
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2.2.1 Die Kadjaren-Dynastie, der Verlust der nationalen Selbstbestimmung und die Konstitutionelle Revolution
Cartoon aus: Mulla Nasreddin, Nr. 17, 1908
Vorbild für den ersten Pahlavi, Reza Schah, der bis 1941 regierte, war Kemal Atatürk, der als türkischer Staatspräsident die Säkularisierung und Modernisierung der Türkei durchgesetzt hatte. Die „Kehrseite“ dieses Programms war die brutale Unterdrückung der demokratisch-liberalen Opposition, die Verarmung breiter Volksschichten, vor allem der Landbevölkerung, sowie die Auslieferung des Landes und seiner Ölressourcen an die Großmächte, Großbritannien und später die USA, die das Land wirtschaftlich und politisch weitgehend kontrollierten. Der zweite Schah, Mohammed Reza, hatte in dieser Frage eine heftige Auseinandersetzung mit dem 1951 gewählten Premierminister Mosaddegh, der eine Verstaatlichung der britisch kontrollierten iranischen Ölförderung durchsetzte und eine Politik der nationalen Selbstbestimmung und demokratischer Reformen betreiben wollte. Der Schah floh 1953 ins Ausland, kehrte aber noch im selben Jahr zurück, nachdem Mosaddegh auf Betreiben der CIA durch einen Militärputsch gestürzt worden war. Damit konnte der zweite Schah Mohammed Reza seine Herrschaft vorübergehend konsolidieren, sah sich aber weiter einer breiten Opposition gegenüber. Zu dieser gehörten die liberal-demokratisch gesinnten Intellektuellen, große Teile der „Basaris“, der Kaufmannsschicht, und große Teile der schiitischen Geistlichkeit. Diese Opposition führte schließlich zur Revolution von 1979 und dem damit verbundenen Sturz des Schah.
Die Geschichte des 19. Jahrhunderts wird im wesentlichen durch die massive Expansion der großen europäischen Nationalstaaten bestimmt, die mit politischen und ökonomischen Mitteln ihre widerstreitenden Kolonialinteressen in der außereuropäischen Welt durchzusetzen versuchten. Unvermeidlich wurde Iran in diese Auseinandersetzungen hineingezogen: Die Dynastie der Kâdschâren (1779–1925), die Iran nach dem Zerfall des Safawidenreiches wiederum geeint und zu einer bedeutenden Machtposition im Mittleren Osten gebracht hatte, führte einen beständigen Kampf um den Erhalt der politischen Souveränität des Landes und die Bewahrung seines staatlichen Territoriums. Auf die Dauer konnten die Kâdschâren jedoch bleibende territoriale Verlust ebensowenig verhindern wie die fortschreitende wirtschaftliche Durchdringung Irans durch europäische Großmächte. Die überdeutlich gewordene militärische und technische Überlegenheit Europas regte zum Nachdenken über offenbar dringend notwendig gewordene Reformen im Innern an, führte aber auch zu stürmischen Diskussionen um die Übernahme europäischer säkularer Ideen von Staat und Nation. Der damals beginnende heftige Streit um die Angleichung Irans an die westliche Zivilisation, um die Gefahr allzu großer Verwestlichung und die Rückbesinnung auf eigene traditionelle Werte setzte sich mit unverminderter Schärfe auch im 20. Jahrhundert fort. [...] Angesichts der zunehmenden – vor allem wirtschaftlichen – Einmischung europäischer Mächte in die inneren Verhältnisse Irans fiel der schiitischen Geistlichkeit eine gewissermaßen „nationale“ Rolle zu: die des Hüters der Belange der iranischen Bevölkerung gegen ausländische Einflüsse einerseits, gegen die Konzessionsvergabe und die Modernisierungsversuche der Kâdschârenschahs andererseits. Die Geistlichen bildeten somit ein starkes konservatives Element der Gesellschaft, das sich – seinem Selbstver-
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Das Safawiden-Reich im 16. und 17. Jahrhundert
ständnis nach – im Interesse Irans und des Islams dem Einfluß des Westens wie auch der weltlichen Macht der Monarchie gleichermaßen widersetzte; eben diese Rolle spielten die Mudschtahids auch im 20. Jahrhundert unter der Pahlavi-Dynastie. [...] Monika Gronke: Geschichte Irans, C. H. Beck/Wissen, München 2003, S. 85ff.
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2.2.2 Die Pahlavis – Geschichte ihrer Herrschaft Um den Ausbruch der Islamischen Revolution von 1979 und den Aufbau der Islamischen Republik Iran zu verstehen, ist es notwendig, die Herrschaft der Pahlavis, also des ersten und zweiten Schahs, genauer zu untersuchen. Die Revolution von 1979 war eine Revolte gegen die Schah-Herrschaft und die Islamische Republik Iran sollte eine bewusste Alternative zum iranischen Staat unter dem zweiten Schah darstellen. Anders gesagt: unter der Herrschaft vor allem des letzten Schahs bauten sich Konflikte auf und wurden Probleme sichtbar, die die Revolution von 1979 be34
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Abb. aus: Francis Robinson: Der Islam, Andromeda o. O. u. J.
stimmten und auf die die Konzeption einer Islamischen Republik Iran eine Antwort zu geben versuchte. Hierbei ging es vor allem um drei Problemkreise und Fragestellungen, die bis heute das Verhältnis von Religion und Politik im Iran bestimmen. Erstens: welche Rolle soll der Islam in Staat und Gesellschaft spielen? Soll er, wie es die Pahlavis wollten, aus Staat und Gesellschaft hinausgedrängt werden, oder soll ihm ein bestimmender Einfluss eingeräumt werden? Zweitens: wie soll das Problem ausländischer Einflussnahme auf den Iran gelöst werden bzw. wie kann seine nationale Selbstbestimmung gewährleistet werden? Hier warf die demokratische Opposition dem letzten Schah vor, das Land weitgehend ausländischem Einfluss auszuliefern. Der Konflikt zwischen dem letzten Schah und seinem Ministerpräsidenten Mosaddegh machte deutlich, welch hohen Stellenwert die Frage der Gewährleistung der nationalen Selbstbestimmung für viele Iraner hatte. Dieses Problem lässt sich weitgehend auf das Verhältnis des Iran zu den USA zuspitzen.
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wie kann eine Regierungs` formDrittens: gefunden werden, die das Bedürf-
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nis nach demokratischen Freiheiten, nach einer republikanischen Verfassung erfüllt und damit den Tendenzen zum Durchbruch verhilft, die es seit der Konstitutionellen Revolution gibt bzw. gegeben hat? Auf alle drei Problemkreise ist bei der Durchsicht der Materialien zu achten. Die religiös bestimmten Kreise im Iran, vor allem die Geistlichkeit, waren sich mit der demokratischen Opposition in ihrer scharfen Ablehnung der Herrschaft des letzten Schahs, weitgehend einig. Anders gesagt: Die religiöse Opposition unter den Geistlichen – denkt Reza Schah und neben ihm sein Sohn und Nachfolger Mohammed Reza Foto: © dpa, Ali Khadem man vor allem an den Ayatolla Khomeini – lehnte die Schah-Herrschaft entschieden und ordnete innere Verhältnisse im Land schaffen und konsequent ab und genoss wegen dieser Haltung eigleichzeitig der drohenden Expansion der neuen Sone große Achtung innerhalb der Bevölkerung. Es sollwjetunion wirksam Einhalt gebieten könnte. Die Brite sich aber später, d. h. nach dem Sturz der Schahten begrüßten es daher, daß Rezâ Chân, ein Oberst Herrschaft, zeigen, dass ihre Motive zur Opposition der Kosakenbrigade, im Februar 1921 durch einen und ihre späteren religiösen und politischen ZielvorStaatsstreich einen neuen Premier einsetzte. Zum stellungen deutlich anders waren als die der demoKriegsminister ernannt, reorganisierte Rezâ Chân die kratischen Opposition. Streitkräfte und warf aufständige Bewegungen in den Provinzen Aserbeidschan, Gîlân und Chûzistân nieder. Jörg Bohn 1923 machte er sich durch einen zweiten Staatsstreich selbst zum Premierminister und konnte eine Reihe von Gesetzen durchbringen, die auf eine StärIm Ersten Weltkrieg 1914–1918 erklärte Iran offikung der Zentralgewalt hinausliefen: die Einführung ziell seine Neutralität, die von den Großmächten jeeiner allgemeinen Wehrpflicht, die landesweite Verdoch nicht respektiert wurde. Russen, Osmanen und einheitlichung von Maßen und Gewichten, die EinBriten trugen ihre Kämpfe auf iranischem Boden aus, führung von Familiennamen und Geburtsurkunden so daß die Zentralregierung fast vollständig zusamund die Verwendung der Einnahmen aus dem staatmenbrach und im Land chaotische Zustände herrschlichen Tee- und Zuckermonopol für den Bau einer ten. Die russische Oktoberrevolution von 1917 fand Transiranischen Eisenbahn. [...] viele Sympathisanten in Iran, zumal die bolschewistische Regierung versprach, künftig die territoriale SouMit dem Rückhalt der von ihm modernisierten Arveränität Irans zu achten. So blieb nach dem Abzug mee herrschte Rezâ Schah als Despot, so daß das Parder russischen Truppen Großbritannien die einzige lament, das die Maßnahmen des Schahs formell abmilitärisch und ökonomisch bedeutende Macht im segnete, lediglich eine Art demokratischen Schein Mittleren Osten. Nachdem 1919 der Versuch der Briwahrte. Im Gegensatz zur Kâdschârenzeit, in der ten, Iran zu einer Art britischem Protektorat zu madurchgreifende Reformen nur in geringer Zahl unterchen, fehlgeschlagen war, änderte Großbritannien nommen worden waren, war es Rezâ Schahs vorseine Politik und begann, den Aufbau einer starken dringliches Ziel, durch ein großangelegtes Moderniiranischen Zentralregierung zu unterstützen, die geIslam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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– ähnlich wie es Atatürk, den er ` sierungsprogramm sehr bewunderte, in der Türkei in die Wege geleitet hatte – Iran zu einem fortschrittlichen säkularen Nationalstaat nach europäischem Vorbild zu machen. Nach seiner Inthronisierung bis zu seiner Abdankung im Jahr 1941 setzte der Schah die erste wirklich bedeutende Reihe wirksamer Reformen ins Werk und nahm den Ausbau einer funktionierenden Infrastruktur in Angriff: Die Transiranische Eisenbahn vom Persischen Golf über Teheran und in die nördlichen Provinzen wurde gebaut (1926–1938); durch den zügig voranschreitenden Straßenbau wurden Kraftfahrzeuge zum neuen Haupttransportmittel zwischen den Ortschaften. Die Entwicklung von Landwirtschaft und Industrie wurde forciert, das Rechtssystem nach europäischem Muster durch neue Gesetzeswerke (1925 Handelsrecht, 1926 Strafrecht, 1928 Zivilrecht) säkularisiert, ebenso das Bildungswesen. Ein Netz staatlicher Volksschulen entstand, in Teheran wurde die erste moderne Universität Irans eröffnet (1935), das Auslandsstudium iranischer Studenten gefördert. War schon 1929 westliche Kleidung für Männer für obligatorisch erklärt worden, wurde sie 1936 für Frauen vorgeschrieben und das Tragen des Schleiers wurde verboten; letzteres ließ sich jedoch auch mit Gewalt nicht durchsetzen, so daß nach 1941 Frauen vor allem der Unterschicht den Schleier wieder anlegten. Die Muharramfeiern wurden verboten, die berufliche Tätigkeit der Geistlichen auf rein religiöse Bereiche begrenzt; der Klerus allein durfte seine traditionelle Kleidung (Kaftan und Turban) beibehalten und wurde nun auch äußerlich als gesellschaftlicher Stand definiert. Alle diese Maßnahmen verdrängten den Islam aus dem öffentlichen Leben und untergruben die Stellung der Geistlichkeit. [...] Der neue Schah (geb. 1919) arbeitete mit den Alliierten zusammen und wurde 1943 vertraglich als Verbündeter anerkannt, doch blieb seine Handlungsfreiheit bis 1946, dem endgültigen Ende der Besatzung, eingeschränkt. Zunächst befürwortete Mohammed Rezâ die konstitutionelle Monarchie, doch paralysierte sich das Parlament in diesen Jahren durch Parteikämpfe und Richtungsstreitigkeiten praktisch selbst. [...]
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In den sechziger und siebziger Jahren entfremdete sich der Schah immer mehr von der eigenen Bevölkerung, ohne daß er dies wahrzuhaben schien. Der Aufwand für die Feiern zum 2 500jährigen Bestehen der iranischen Monarchie in Persepolis (1971), der in krassem Gegensatz zu den Lebensverhältnissen eines Großteils der Bevölkerung stand, die Einführung einer neuen Zeitrechnung (1976), die vom Krönungsjahr des Achämeniden Kyros’ des Großen ausging (550 v. Chr.), und der Plan, ein internationales Symposium zur Lösung der Weltprobleme einzuberufen (1977), sind kennzeichnend für die Realitätsferne Mohammed Rezâs. Er übersah, daß nur ein Bruchteil der Bevölkerung vom Wirtschaftswachstum profitierte und daß er mit seiner Politik der Verwestlichung viele tief gläubige Iraner brüskierte, für die ihre Religion ein identitätsstiftender Faktor war. Andererseits verspielte er durch die vollständige innenpolitische Repression die Sympathien der westlich orientierten Iraner, die sich Fortschritt nicht ohne demokratische Freiheiten vorstellen konnten. Da die Möglichkeit politischer Mitbestimmung und der freien Äußerung regimekritischer Ansichten gänzlich fehlte, blieb die religiöse Opposition der einzige Weg, um Widerstand gegen die autokratische Herrschaft des Schahs zu artikulieren. Der schiitischen Geistlichkeit fiel damit wiederum ihre traditionelle Rolle zu, die Bevölkerung Irans gegen unislamische Einflüsse und eine despotische Regierung zu verteidigen. Monika Gronke: Geschichte Irans, C. H. Beck/Wissen, München 2003, S. 98ff.
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2.2.3 Der Konflikt um den Ministerpräsidenten Mosaddegh und seiner Politik der Verstaatlichung der iranischen Erdöl-Produktion aus der Sicht eines deutschen Historikers „Ich verdanke meinen Thron dem lieben Gott, meinem Volk, meiner Armee – und Ihnen!“ Als Schah Reza Pahlevi am 22. August 1953 nach wenigen Tagen Exil aus dem Irak nach Teheran zurückkehrte, hatte er allen Grund, dem amerikanischen Agenten Kermit Roosevelt mehr zu danken als den Iranern. Bei
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I. Iran 2. Geschichte und Kultur des Iran im Umriss 2.2 Von der Kadjaren-Herrschaft bis zum Vorabend der Islamischen Revolution CIA-Mann waren in den Wirren der zurückliegen` dem den acht Tage alle Fäden zusammengelaufen. Er war es gewesen, der den Sturz des iranischen Premierministers Mohammed Mosaddegh koordiniert, General Fazlollah Zahedi an die politische Spitze gebracht und den Schah zum starken Mann im Land erhoben hatte. Die „Operation Ajax“ war der erste CIA-Coup dieser Art in der Geschichte. Durch den Austausch politischer Führungsfiguren sollte das Ende einer über zwei Jahre währenden Krise herbeigeführt werden, die sich im Dreieck Teheran – London – Washington um das iranische Öl entsponnen hatte. Die größte Furcht der Amerikaner war hierbei, dass durch diese Krise der Kommunismus im Nahen Osten Fuß fassen könnte. Wie war es dazu gekommen? Seit seinen Anfängen im Jahr 1901 lag das iranische Ölgeschäft fest in britischer Hand. Nach einigen Jahren arbeitete die Anglo-Iranian Oil Company (AIOC) mit großem Erfolg und hohen Profiten. Der englische Staat besaß 51 Prozent der Anteile, die Raffinerie in Abadan am Persischen Golf wurde zur größten Raffinerie der Welt und zur wichtigsten britischen Investition in Übersee. Zwar war der Iran nie königliche Kolonie, gehörte aber dennoch fest zum „informellen Imperium“. Während das Geschäft mit dem Öl boomte und AIOC und britische Regierung Millionen Pfund einstrichen, zog der Iran kaum Gewinn aus seinen Bodenschätzen. So übertrafen etwa die Einnahmen des britischen Konzerns allein aus dem Jahr 1950 die Tantiemen, die der Iran seit Beginn der Ölförderung in seinem Land insgesamt erhalten hatte. In der Abneigung gegen die europäischen Ausbeuter ihrer Bodenschätze waren sich die ansonsten recht dispersen gesellschaftlichen und politischen Kräfte im Iran einig. Im Herbst 1947 beschloss das iranische Parlament daher, mit den Briten einen neuen Vertrag zu verbesserten Konditionen zu verlangen, obschon der bestehende noch bis 1993 gültig gewesen wäre. Es waren weltpolitisch bedeutsame Jahre. Eine globale antikoloniale Bewegung nahm das Versprechen der anglo-amerikanischen Allianz ernst, weiterhin, auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, für
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Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aller Länder zu kämpfen. Allerdings: Die Briten hatten damit ihr eigenes Empire infrage gestellt. Zudem konnte nach 1945 kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Erdöl die bedeutendste Ressource der Gegenwart und Zukunft war. Der Verbrauch stieg enorm an, auch in Friedenszeiten. Und sollte es tatsächlich einen neuerlichen Krieg geben, würden die Vereinigten Staaten nicht noch einmal den Löwenanteil der Ölversorgung aus den eigenen Quellen übernehmen können. Die Zukunft des Öls lag eindeutig im Nahen Osten: Die dortigen Reserven waren wesentlich größer und die Förderkosten deutlich niedriger als an irgendeinem anderen Ort der Welt.
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Zudem war die Nachkriegszeit vom beginnenden Kalten Krieg und einer wachsenden Angst der USA vor einer Ausbreitung des Kommunismus geprägt. Im Iran als strategisch bedeutsamem Brückenkopf zwischen Europa, Asien und Afrika fürchteten sie ein Machtvakuum, das die UdSSR nur zu gern füllen würde. Schließlich hatten die Sowjets dort ihre Truppen nach dem Zweiten Weltkrieg nur widerwillig abgezogen und außerdem um eine Ölkonzession im Norden des Landes gekämpft. In den Augen amerikanischer Experten hätte der Verlust des Irans die gesamte Region gefährdet, so wie – in den Worten des späteren Außenministers Dean Acheson – „ein einziger fauler Apfel ein ganzes Fass verdarb“. Ende 1949 gaben die kommunistische Revolution in China und der erfolgreiche erste Atombombentest der UdSSR den amerikanischen Befürchtungen weitere Nahrung. Im Frühjahr 1950 forderte ein neues Strategiepapier des Nationalen Sicherheitsrates, die USA müssten überall auf der Welt unmittelbar auf eine kommunistische Bedrohung reagieren können. Der Kalte Krieg war nun allgegenwärtig und verlangte ungewöhnliche Maßnahmen. Als Iraner und Briten im Frühjahr 1948 die Verhandlungen über eine neue Ölkonzession begannen, zeigte sich bald, dass eine Übereinkunft kaum zu erzielen war. Mit der Arroganz von Kolonialherren demonstrierten die Briten, dass eine klare Teilung der Profite, wie von den Iranern gefordert, für sie nicht akzeptabel war. Die amerikanischen Beobachter standen dieser imperialen Attitüde ablehnend gegenüIslam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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Mosaddegh war ein glühender Verfechter der Interessen seines Landes, aber alles andere als ein Kommunist. Seine Verve brachte ihm den Respekt seiner amerikanischen Verhandlungspartner ein. Man verglich ihn mit Benjamin Franklin und dessen diplomatischen Auftritten während der Amerikanischen Revolution; das Time Magazin wählte Mosaddegh im Januar 1952 gar zum „Man of the Year“. Trotz seines bisweilen exzentrischen Auftretens – Staatsverhandlungen auf höchster Ebene führte er manchmal im Schlafrock von seinem Bett aus –, durfte der iranische Premierminister nicht unterschätzt werden. Er durchschaute die amerikanischen Ängste und beschwor geschickt die drohende Hinwendung des Irans zum Kommunismus herauf, die auch er nicht mehr aufhalten könne, wenn es nicht zu einer Einigung in der Ölfrage komme. Als Verhandlungspartner war Mosaddegh auch deshalb schwierig, weil er als iranischer Nationalist agierte, nicht als Geschäftsmann, wie es die Engländer und Amerikaner erwarteten. So versicherte er etwa dem US-Botschafter im Iran Henry Grady, „dass wir die Unabhängigkeit höher schätzen als alle wirtschaftlichen Vorteile“. [...]
Mohammed Mossadegh Foto: © Ullsteinbild
ber, ja, die iranischen Forderungen stießen in Washington durchaus auf Zustimmung. So handelte der US-amerikanische Konzern Aramco im Laufe des Jahres 1950 eine beispielgebende Profitteilung mit Saudi-Arabien aus. Grundsätzlich sahen die USA in der wirtschaftlichen und sozialen Stärkung des Irans den besten und einfachsten Weg, das Land gegen Moskaus Einflussnahme zu wappnen. Und was lag hier näher, als dass der Iran endlich angemessene Einnahmen aus seinem Erdöl bekam? Andererseits war es grundsätzlich angeraten, Großbritannien zu unterstützen. Trotz seiner ökonomischen und politischen Schwäche war London immer noch der wichtigste Partner der USA im Kalten Krieg, und der Nahe Osten galt traditionell als britische Einflusszone. [...] Dabei zeigte Washington vor allem für den Premier des Irans zunächst deutliche Sympathien. Mohammed Mosaddegh, 1882 in Teheran geboren, war gebildet und geistreich, hatte in Europa studiert und eine Weile im politischen Exil verbringen müssen, bevor er im Zuge der Nationalisierungskrise als Premierminister an die Spitze der iranischen Politik vorrückte. 38
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Der Schah flüchtet in den Irak und wartet auf die Amerikaner Seit Februar 1953 arbeiteten der britische und der amerikanische Geheimdienst an entsprechenden Plänen, und am 25. Juni präsentierte der CIA-Agent Kermit Roosevelt im Büro des neuen Außenministers John Foster Dulles das fertige Szenario für die Operation Ajax: Unter Leitung Kermit Roosevelts würde die CIA die politische Opposition im Iran weiter anheizen. Gleichzeitig sollte die Unterstützung Schah-treuer Militärs gewonnen werden: General Fazlollah Zahedi wurde von Washington als neuer Premierminister ausgewählt. Vor allem aber musste man Schah Reza Pahlevi überzeugen, von seinem Recht Gebrauch zu machen, Mossadegh per Dekret seines Amtes zu entheben und Zahedi zu ernennen. Darin sah man den schwierigsten Teil der Operation, denn der 33-jährige Schah galt als wenig entscheidungsfreudig und hatte sich bislang damit begnügt, auf dem Pfauenthron eine gute Figur abzugeben. Trotzdem war Roosevelt vom Erfolg seines Plans überzeugt: „So werden wir den Irren Mossadegh los!“
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I. Iran 2. Geschichte und Kultur des Iran im Umriss 2.2 Von der Kadjaren-Herrschaft bis zum Vorabend der Islamischen Revolution Die Ereignisse der folgenden Wochen, befand Prä` sident Eisenhower später in seinen Memoiren, „glichen mehr einem Groschenroman als historischen Tatsachen“. Am 19. Juli 1953 reiste Agent Roosevelt unter einem Pseudonym in den Iran ein. Über internationale Kontaktleute sollte zunächst der Schah für die Aktion gewonnen werden. Roosevelt ließ sich auf abenteuerlichen Wegen mehrmals in den königlichen Palast hinein schmuggeln, um Reza Pahlevi unter vier Augen zu sprechen. Der Schah willigte schließlich ein, einen neuen Premierminister zu ernennen, wenn ihm Präsident Eisenhower sowie Premierminister Winston Churchill ihre volle Unterstützung zusagten. Am 15. August 1953 unterzeichnete der Schah endlich die Dekrete. Doch Mosaddegh hatte von dem geplanten Coup Wind bekommen und seinerseits ihm getreue Militärs mobilisiert, um die Übergabe des Entlassungsdekretes zu verhindern. Der Schah wurde nervös – und floh nach Bagdad; der zum neuen Premierminister erkorene Zahedi zog sich in ein CIA-Versteck zurück. Roosevelt ging neuerlich in die Offensive und ließ die Dekrete des Schahs öffentlich verbreiten. Doch auf den Straßen Teherans fand sich keine Unterstützung für Reza Pahlevi. Stattdessen erntete man Hohn und Zorn, Standbilder wurden zerstört, und vor allem der kommunistischen Tudeh-Partei schienen neue Kräfte zuzuwachsen. Allerdings handelte es sich bei den vermeintlichen Tudeh-Aktivisten zum Teil um Agents provocateurs, die von der CIA angeheuert worden waren, um eine Gegenreaktion Schah-treuer Kräfte zu provozieren.
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nun entbrannte, kamen etwa dreihundert Menschen ums Leben. Mosaddegh konnte zwar noch einmal fliehen, stellte sich aber am folgenden Tag. Nun kehrte auch der Schah nach Teheran zurück. Kermit Roosevelt hatte seine Aufgabe erfüllt. In den Tagen nach dem Machtwechsel in Teheran verhaftete die Polizei beinahe 2 000 Mitglieder der Tudeh-Partei. Mohammed Mosaddegh wurde im Dezember 1953 zu drei Jahren Haft verurteilt und danach ins Exil verbannt. Das gleiche Schicksal traf circa 270 seiner Anhänger. [...] Die Amerikaner hatten im Laufe der Irankrise im Nahen Osten das Heft in die Hand genommen – mehr als drei Jahre vor dem Konflikt um die Besetzung des Suezskanals in Ägypten. Im Iran errichteten sie das Paradebeispiel eines korrupten und brutalen Marionettenregimes. Gefüttert mit hoher Militär- und Wirtschaftshilfe sowie gestützt durch einen rücksichtslosen Geheimdienst, machten sie den Schah für die nächsten 25 Jahre zur starken Figur im Land – und zu einem der verhasstesten Diktatoren der islamischen Welt. Jürgen Martschukat: So werden wir den Irren los! Wie der amerikanische Geheimdienst CIA vor 50 Jahren den iranischen Premierminister Mohammed Mosaddegh stürzte und das Schah-Regime installierte, in: Zeit, Nr. 34, 14.8.2003, S. 7
Anm.: Der Autor ist Historiker an der Universität Hamburg
Am Ende mussten es die Amerikaner selbst machen: Für den nächsten Tag, den 19. August 1953, mobilisierte die CIA einen Demonstrationszug gegen Mosaddegh vom Teheraner Bazar zur Innenstadt. Polizei und Militär schlossen sich dem Zug an, ebenso mehr und mehr Zivilisten, die den Ausschreitungen der vorangegangenen Tage entgegentreten wollten. Die Stimmung in Teheran kippte, Anhänger des Schahs und Fazlollah Zahedis nahmen die Radiostation ein und verkündeten die Ablösung Mosaddeghs als Premierminister. Zugleich rollte Zahedi, von Gefolgsleuten umgeben, in einem Panzer auf Mosaddeghs Haus zu. Bei der mehrstündigen Schlacht, die
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.1 Von der Islamischen Revolution zur Gründung der Islamischen Republik
Materialübersicht Einführung.............................................................................................................................................................................................42 3.1.1 Der Weg Khomeinis an die Macht (Dokument 15) ...................................................................................................42 3.1.2 Die Forderung Khomeinis nach einem Islamischen Staat (Dokument 16) ......................................................45 3.1.3 Der Staatsaufbau der Islamischen Republik Iran (Dokument 17)........................................................................46 3.1.4 Ein Revolutionsplakat (Dokument 18) ...........................................................................................................................49 3.1.5 Die heutige iranische Opposition – ein Stimmungsbild (Dokument 19) .........................................................50 3.1.6 Die Entstehung der Oppositionsbewegung (Dokument 20) ................................................................................50 3.1.7 Enttäuschte Hoffnungen – der Staatspräsident Chatami (Dokument 21) .......................................................51 Hinweis: Ziehen Sie ergänzend die Materialien des Moduls Religion und Politik in der islamischen Moderne heran. Das gilt vor allem für Dokument 19–21.
Arbeitshinweise Arbeiten Sie mit Hilfe von Dokument 15 heraus, wie Khomeini an die Macht kam, und überlegen Sie, wo die Gründe für sein verhältnismäßig hohes Ansehen in der iranischen Bevölkerung liegen könnten. Stellen Sie in zusammenhängender Weise dar, wie sich Khomeini den von ihm erstrebten künftigen islamischen Staat vorstellte. Gehen Sie dabei auf folgende Einzelfragen ein: Wer hat in diesem Staat die oberste Macht? Nach welchen Gesetzen wird dieser Staat regiert und wie kommen diese Gesetze zustande? Wer soll als Regierung über das Volk herrschen? Beschreiben Sie mit Hilfe von Dokument 16, wie sich Khomeini den Kampf gegen den Schah und für einen islamischen Staat konkret vorstellte. Warum benutzte er in seinem Aufruf das Bild des schiitischen Trauerrituals (Aschura)? Analysieren Sie Dokument 17 zum Staatsaufbau der Islamischen Republik Iran, indem Sie folgende Einzelfragen untersuchen: •
Wer hat im Staatssystem der Islamischen Republik die höchste Macht? Ist es der vom Volk gewählte Präsident (heute Chatami) oder der Revolutionsführer? Begründen Sie bitte Ihre Einschätzung.
•
Ist die Legislative, also das Parlament, in seiner gesetzgeberischen Arbeit autonom, also selbständig und unbeeinflusst, wie es eine demokratische Verfassung – wie z. B. die der Bundesrepublik Deutschland – zwingend vorschreibt?
•
Gilt die Eigenständigkeit und Selbständigkeit auch für die Rechtsorgane, also die Justiz? Beachten Sie bitte, dass die Unabhängigkeit der Justiz ebenfalls ein unaufgebbarer Bestandteil einer demokratischen Verfassung ist.
•
In welchen Gremien des Staatsapparates haben die Geistlichen maßgeblichen Einfluss? Nennen Sie diese Gremien und beschreiben Sie, was diese Gremien für Machtmittel und Aufgaben haben.
•
Nehmen Sie jetzt eine zusammenfassende eigene Einschätzung vor: Entspricht der Staatsaufbau der Islamischen Republik Iran den Grundsätzen einer demokratischen Verfassung, für die gilt, dass alle politische Gewalt vom Volk ausgeht (Prinzip der Volksherrschaft) und dass die drei Gewalten Legislative, Exekutive und Justiz unbeeinflusst, d. h. autonom arbeiten können und müssen?
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Versuchen Sie eine eigene Deutung des Revolutionsplakates (vgl. Dokument 18). Beachten Sie dabei folgende Einzelpunkte: •
Welche Rolle nimmt Khomeini ein?
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Wir wird der Schah dargestellt?
•
Welche Stellung nehmen die USA, Israel und Großbritannien ein?
•
Welche politische Einstellung soll das Plakat Ihrer Einschätzung nach bei der Bevölkerung hervorrufen?
Wie sieht die heutige iranische Opposition ihre Lage und welche Ziele verfolgt sie? Wie kam sie zustande und was unterscheidet die jetzige iranische Opposition von der iranischen Opposition gegen die SchahHerrschaft? Ziehen Sie hierzu Dokument 19 und 20 heran. Klären Sie anschließend die Frage, warum der jetzige Staatspräsident Chatami an die Macht kommen konnte und warum seine Wahl mit so vielen Hoffnungen auf Seiten der iranischen Bevölkerung verbunden war (vgl. Dokument 21).
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Die heutige religiöse und politische Situation im Iran kann ohne zwei Ereignisse nicht verstanden werden, die iranische Revolution von 1979 und die darauf folgende Gründung der Islamischen Republik Iran. Beides waren und sind Ereignisse, die für sich genommen einzigartig sind. Die iranische Revolution war eine von breiten Teilen der Bevölkerung getragene Bewegung, die eines der scheinbar stabilsten Regime der Region zum Zusammenbruch brachte und die Gründung der Islamischen Republik Iran stellt ein in der Geschichte des Islam einzigartiges Geschehen dar – den Versuch, einen ganz und gar auf den Prinzipien des Islam gegründeten Staat zu schaffen. Näher betrachtet war die Revolution von 1979 eine Volksbewegung, an der sich große Teile der iranischen Bevölkerung aktiv beteiligten. An ihr wirkten radikal-demokratisch gesinnte und von westlichen Ideen geprägte Intellektuelle, aber auch wichtige Teile der Geistlichkeit mit. Zu dieser Bewegung gehörten viele „Basaris“, also einflussreiche Händler und Kaufleute, aber auf der anderen Seite auch viele Menschen, die zu den Besitzlosen gehörten, also zur verarmten ehemaligen Landbevölkerung, die das Land aus Not verlassen hatten und jetzt in den großen Städten lebten. Anders gesagt: Die Kräfte, die die Revolution von 1979 trugen, waren sowohl religiös-islamisch als auch weltlich und radikal-demokratisch gesinnt. Sie hatten sowohl Verbindungen zur Oberund Mittelschicht als auch und vor allem zur Unterschicht. Da es sich um eine Volksbewegung mit primär demokratischen Zielen handelte, die vom Willen getragen war, eine undemokratische Regierung zu stürzen, ist es eigentlich sachlich nicht angemessen, diese Bewegung eine „Islamische Revolution“ zu nennen. Auf der anderen Seite kann nicht geleugnet werden, dass in dieser Bewegung mehr und mehr die Geistlichkeit einen bestimmenden Einfluss bekam und am Ende ein Staat errichtet wurde, dessen Herrschafts- und Regierungsprinzip die „Herrschaft der Rechts- bzw. Religionsgelehrten“ war. Dies jedenfalls war das erklärte Ziel des Revolutionsführers, des Ayatolla Khomeini, der bald einen bestimmenden Einfluss in Staat und Gesellschaft erringen konnte. Wie konnte es dazu kommen, das heißt, wie ist der Umschlag von 42
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einer Volksrevolution zu einer islamischen Revolution zu erklären? Das ist die eine Frage, die genauer zu klären ist, wenn man die heutige religiöse und politische Lage im Iran verstehen will. Die andere Frage, die es auch zu klären gilt, betrifft die heutige Konfliktlage. Sie kann so formuliert werden: Welche gesellschaftlichen Kräfte stehen sich heute im Iran gegenüber und um welche religiösen und politischen Konflikte geht es konkret? Die unter 3.1 vorliegenden Materialien stellen zunächst den Weg Khomeinis zur Macht dar (Dokument 15) und gehen auf seine grundsätzlichen Ziele ein, die in der Forderung nach einem islamischen Staat ihren konkreten Ausdruck finden (Dokument 16). Dann ist zu untersuchen, wie der von Khomeini angestrebte islamische Staat in seinem Staatsaufbau heute konkret aussieht, wie sich also Anspruch und Wirklichkeit zueinander verhalten (Dokument 17). Khomeini hat in der iranischen Bevölkerung zeitweise ein sehr hohes Ansehen gehabt und es verstanden, die religiösen Gefühle vieler Menschen für sich zu nutzen. Diesem Zweck dienten auch Revolutionsplakate – Dokument 18 bietet ein Beispiel. Nach der Untersuchung der Vorgänge im Revolutionsjahr 1979 und der Zeit kurz danach leitet das folgende Dokument zur Gegenwart über, indem ein Stimmungsbild der heutigen iranischen Opposition vorgestellt wird (vgl. Dokument 19). Die darauf folgenden Materialien stellen dar, wie es zur heutigen Reform- und Oppositionsbewegung kam (vgl. Dokument 20 und 21). Jörg Bohn
Dokument 15
3.1.1 Der Weg Khomeinis an die Macht Ein Gelehrter, Ayatollah Khomeini (geboren 1902) erwies sich als der schärfste Kritiker des Regimes, obgleich er weder der älteste noch der bedeutendste der führenden Ulema [Ulema = Religionsgelehrter – Red.] war. Als Lehrer an der Faisiya-Universität in Ghom, dem intellektuellen Herzen des iranischen Islam, hatte er durch sein einfaches, frommes Leben und sein tätiges Eintreten für den Glauben beträchtliches moralisches Ansehen gewonnen. Er verwarf die
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(= zurückgezogene, unpolitische – Red.) ` quietistische Haltung vieler seiner Ulema-Kollegen und sprach sich von Anfang an gegen das Pahlevi-Regime aus, von dem er wusste, dass es dem Islam grundsätzlich feindlich gegenüberstand. „Alle idiotischen Worte, die aus dem Gehirn dieses ungebildeten Soldaten kommen“, schrieb er über Resa Schah, „sind verderbt, und es ist nur das Gesetz Gottes, das bleiben und dem Zahn der Zeit widerstehen wird [...] Jeder, der dieses Regime ehrt, ist selbst ehrlos und verdient Verachtung [...] Alle Gesetze, die während der Schreckensherrschaft von Resa Chan erlassen wurden, müssen verbrannt und vernichtet werden. Die dem Volk aufgezwungenen Abgeordneten besitzen keinerlei Legitimation, weshalb ihre Beglaubigungsschreiben vom Parlament widerrufen werden müssen.“ 1963 begann er offen, den Sohn und Nachfolger des Soldaten anzugreifen: [...] Er habe seinen Eid auf den Islam verletzt, er habe Iran fremden Mächten, namentlich den USA und Israel, ausgeliefert; er habe amerikanischen Beratern und ihrem Anhang völlige Freiheit vom iranischen Gesetz gewährt, so dass – wie Khomeini es formulierte – der Schah keine Entschädigung bekommen könnte, wenn ihn der Hund eines amerikanischen Soldaten bisse. Er rief die iranische Armee auf, sich zu erheben und die Tyrannei zu stürzen, die auf die „völlige Versklavung Irans hinarbeite“. Am 5. Juni 1963 kam es zum allgemeinen Aufstand. Die Armee antwortete mit Kugeln, und mindestens 15 000 Iraner starben. Khomeini wurde ins Exil geschickt, und von Nadschaf aus, einer der heiligen schiitische Städte Iraks, setzte er seine Angriffe fort. Seit Mitte der 80er Jahre formierte sich trotz aller Unterdrückungsmaßnahmen eine breite Widerstandsbewegung gegen den Schah. Die von Intellektuellen getragene „Nationale Front“ forderte das Ende der Diktatur und die Herstellung aller bürgerlichen und politischen Freiheiten, während die schiitische Geistlichkeit sich mit Khomeini und seiner wachsenden Anhängerschaft verbündete. 1978 begannen mit Demonstrationen für den Ayatollah und blutigen Unruhen in der heiligen Stadt Ghom die landesweiten Proteste gegen das Schah-Regime, die trotz zahlreicher Konzessionen Resa Pahlevis nicht zum Stillstand kamen. So groß war Khomeinis Autorität, der in Paris mit der „Nationalen Front“ die „Iranische-Islamische
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Ajatollah Chomeini
Foto: © dpa
Nationalbewegung“ gebildet hatte, daß er mit dem einfachen Mittel von Tonbandbotschaften, die telefonisch und durch die Ulema übermittelt wurden, die steigende Flut des Widerstandes steuern konnte. Im November waren es nach glaubwürdigen Schätzungen fünf Millionen Menschen, die auf dem riesigen Platz in Teheran, wo der Schah das Schayyad-Denkmal zur 2 500-Jahrfeier der iranischen Monarchie hatte erbauen lassen, zusammenkamen, um die Abschaffung der Monarchie und die Errichtung einer islamischen Republik zu fordern. Es war eine Kundgebung des Volkswillens, wie sie in der jüngeren Geschichte ohne Parallele ist. Der Schah wurde im Januar 1979 zur Flucht gezwungen und starb im Juli des folgenden Jahres in seinem Kairoer Exil. Khomeini kehrte zurück und proklamierte im April die „Islamische Republik Iran“. Zum Erstaunen der Menschen im Westen und der säkularisierten iranischen Elite war er offensichtlich in der Lage, die Entwicklung der Revolution nicht weniger wirksam von innen zu steuern, als er den wachsenden Protest von außen gelenkt hatte. Francis Robinson: Der Islam, Andromeda o. O. u. J.
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1928 heiratete Ruhollah Chomeini. Aus der Ehe gingen drei Töchter und zwei Söhne hervor. Der ältere Sohn Mostafa starb 1978 im Irak. Ruhollah Chomeini beendete seine Ausbildung in Gom und wurde bald Lehrer und Forscher auf den Gebieten der Philosophie, des Rechts und der Rechtsprechung im Islam. Im Juni 1963, als der Schah die Opposition im Lande niederschlug, wurde der Ajatollah verhaftet. Er verbrachte einige Monate im Gefängnis; anschließend wurde er acht Monate lang unter Hausarrest gehalten. Am 4. November 1964, nicht lange nach seiner Freilassung, hielt er eine berühmte Rede gegen die Ratifizierung des Gesetzes über den Status amerikanischer Streitkräfte, bekannt als „Kapitulationsgesetz“, durch das iranische Parlament. Noch am selben Tag wurde er in die Türkei ausgewiesen. Es folgte ein Zwangsexil im Irak, wo er von den islamischen Seminaren in Nagaf herzlich willkommen geheißen wurde. Ajatollah Chomeini machte sich einen Namen durch seine offene Unterstützung der palästiEtwa 5 Millionen Menschen demonstrieren in Teheran im November 1978 und fordern die Abschaffung der Schah-Herrschaft. Foto: © Gamma, Frank Spooner nensischen Befreiungsbewegung. Auch zu den iranischen Freiheitskämpfern im In- und Ausland unterhielt er enge Kontakte. Die Biographie Khomeinis „Der islamische Staat“ ist das Hauptwerk des iranischen Revolutionsführers Ajatollah Chomeini. 1970 im Exil entstanden, wurde diese Schrift zum programmatischen Dokument der „Islamischen Revolution“, die das Schah-Regime hinwegfegte und zur Schaffung der Islamischen Republik Iran führte. Ruhollah al-Musawi al-Chomeini wurde 1902 in Chomein (Mitteliran) geboren. Nachdem er einige Stufen seiner theologischen Ausbildung absolviert hatte, ging Ruhollah Chomeini nach Arak, um sich unter einem der größten islamischen Theologen der damaligen Zeit, Ajatollah Ha’eri, der später mehrere religiöse Schulen in Gom gründete, weiterzubilden. 1922 begleitete er seinen Lehrer nach Gom, um ihm zu helfen, die Stadt zu einem neuen Zentrum der islamischen Forschung und Kultur zu machen. 44
Im Januar 1978 begann in Iran eine neue Welle von Demonstrationen, nachdem in den meisten iranischen Tageszeitungen ein direkt aus dem Büro des Informationsministers stammender, mit einem Pseudonym gezeichneter Artikel gegen Ajatollah Chomeini veröffentlicht worden war. Der Ajatollah mußte Irak verlassen. Als die Regierung von Kuweit ihm die Einreise verweigerte, flog er nach Frankreich, wo er eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhielt. Am 1. Februar 1979 kehrte Ajatollah Chomeini nach mehr als vierzehnjährigem Exil nach Iran zurück. Millionen von Menschen bereiteten ihm einen begeisterten Empfang. Unter seiner Führung triumphierte am 12. Februar 1979 die „Islamische Revolution“, und der Ajatollah erhielt die Gelegenheit, seine Vorstellungen zu verwirklichen. Ajatollah Chomeini, Der islamische Staat, Klaus Schwarz Verlag, Berlin 1983, Klappentext Rückseite.
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Das Konzept der Herrschaft In der gegenwärtigen Etappe der Verborgenheit haben wir eine Situation, in der keine bestimmte Person von Gott, dem Allmächtigen, zur Übernahme der Staatsgewalt ernannt worden ist. Was sollen wir tun? Sollen wir auf den Islam verzichten? Brauchen wir den Islam nicht mehr? War der Islam nur für zweihundert Jahre bestimmt? Oder hat der Islam unsere Aufgabe festgelegt, und wir haben trotzdem keinen islamischen Staat? Bedeutet das Fehlen eines islamischen Staates, daß alle Normen des Islams verletzt werden dürfen und wir apathisch und tatenlos zusehen dürfen, wie man alles tut, was man will? In der Tat, wenn wir eine solche Haltung auch nicht gutheißen, so lehnen wir sie auch nicht ab. Darf das so sein? Oder ist die Gründung eines islamischen Staats notwendig? Gott hat für die Zeit der Verborgenheit keine bestimmte Person mit der Machtausübung betraut; aber sollen nicht auch nach dem Eintritt in die Etappe der Verborgenheit diejenigen Kriterien für die Regierungsfähigkeit gelten, die vom Urislam an bis zur Zeit des Wirkens des Imams der Zeit gültig waren? Diese Kriterien sind Kenntnis des Gesetzes und Sinn für Gerechtigkeit. Viele Rechtsgelehrte der Gegenwart erfüllen diese Bedingungen. Wenn sie sich einigen, sind sie in der Lage, einen islamischen Weltstaat der allgemeinen Gerechtigkeit zu schaffen. Aus: Khomeini, Der islamische Staat. In: K. Amirpur: Die Entpolitisierung des Islam, Ergon Verlag, Würzburg 2003, S. 44
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sich; ein Prediger und eine Kanzel finden sich, und Ašura bleibt im Gedächtnis der Menschen lebendig.
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Bringt den Menschen den Islam, seine Anschauungsweise, seine Grundsätze und Vorschriften und seine gesellschaftliche Ordnung nahe! Die Menschen werden sie gutheißen. Gott weiß, der Islam hat viele Anhänger. Ich habe es versucht. Wenn ein entsprechender Satz fiel, erzeugte er unter den Menschen eine Welle. Denn das Volk ist wegen seiner Lage unruhig und unzufrieden. Doch unter den Bajonetten, in einer Atmosphäre der Unterdrückung können die Menschen sich nicht äußern. Die wünschen aber, daß jemand aufsteht und furchtlos alles ausspricht. Ihr tapferen Söhne des Islams! Erhebt euch kühn und sprecht für die Menschen! Sagt den Menschen in einfacher Sprache die Wahrheit! Begeistert sie und bringt sie in Bewegung! Macht aus den Menschen von der Straße, den Arbeitern und Bauern, den Studenten wachsame Kämpfer! Alle Menschen werden zu Kämpfern werden. Alle Schichten der Gesellschaft sind bereit, für die Freiheit, die Unabhängigkeit und das Glück des Volkes zu kämpfen. Der Kampf für Freiheit und Glück bedarf der Religion. Stellt den Menschen den Islam, die Schule des Heiligen Krieges, die Religion des Kampfes zur Verfügung! Ihre Ethik und ihre Überzeugungen werden sich ändern, sie werden als kämpfende Kraft den tyrannischen und kolonialistischen politischen Apparat zerschlagen und den islamischen Staat errichten. Ajatollah Chomeini: Der islamische Staat, Klaus Schwarz Verlag, Berlin 1983, S. 151 f.
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3.1.2 Die Forderung Khomeinis nach einem Islamischen Staat Aus dem Kampfprogramm Khomeinis zur Schaffung eines islamischen Staates Bringt den Menschen den Islam nahe! Veranstaltet einen Tag wie Ašura! Wir begehen noch den Ašura! Wir haben nicht zugelassen, daß er in Vergessenheit gerät; die Menschen geißeln sich noch anläßlich des Ašura, sie versammeln sich. Die Begründer des Ašura seien gegrüßt! Tut etwas, damit eine Welle gegen die Regierung erzeugt wird; die Menschen versammeln
Anm.: Ašura oder Aschura = Trauerritual zum Gedenken an den Tod Husains bei Kerbela, vgl. Dokument 16
Der Weg zur absoluten Macht Die Islamische Revolution von 1979 gründete auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens. In den Wirren nach dem Sturz des Schahs jedoch wurden die verschiedenen linken, nationalistischen und liberal-islamischen Gruppierungen der revolutionären Front eine nach der anderen von der politischen Bühne verdrängt, ins Ausland oder in den Untergrund getrieben, physisch vernichtet. Beflügelt hat diesen Prozeß Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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3.1.3 Der Staatsaufbau der Islamischen Republik Iran
Der oberste geistliche Führer des Iran, Ajatollah Ali Chamenei (r), hinter Chamenei (l-r) Präsident Mohammed Chatami, der frühere Präsident Ali Akbar Rafsandschani, Parlamentspräsident Ali Akbar Natek-Nuri und der Oberste Richter Ayatollah Mohammed Jasdi. Foto: © dpa, Bairami
der Krieg, den der Irak 1980 mit westlicher Unterstützung gegen Iran begann, da er das beste Argument dafür lieferte, abweichende Meinungen zu ersticken, um die Reihen geschlossen zu halten. Weitgehend abgeschlossen war das Ringen, als Chomeini 1981 den mit 72 Prozent der Stimmen gewählten Präsidenten Abolhassan Bani-Sadr absetzte und dieser ins Ausland floh. Übrig blieben die Jakobiner: diejenige Fraktion, welcher der Revolutionsführer, nachdem er die liberalen Politiker vergeblich in seine Herrschaft einzubinden versucht hatte, zum Schluß sein alleiniges Vertrauen schenkte, eine Gruppe radikaler Politiker und Geistlicher, die sich damals vornehmlich in der „Islamisch-Republikanischen Partei“ (IRP) organisierten. Hinter ihnen standen ein Teil der Geistlichkeit und keineswegs geringe Teile der Bevölkerung, vor allem die ärmeren, religiös geprägten Schichten sowie die ökonomisch und kulturell bedeutsame Welt des Basars mit ihren Händlern und Handwerkern. Die neue politische Elite wollte den Staat und die Gesellschaft streng nach islamisch-schiitischen Werten ausrichten und bejahte die von Chomeini etablierte Herrschaftsdoktrin, die welâyat-e faqih, die einem einzelnen oder einem Gremium von Rechtsgelehrten absolute Machtbefugnisse verleiht. Navid Kermani: Iran – Die Revolution der Kinder, Becksche Reihe, Verlag C. H. Beck, München 2001, S. 67
Anm.: Jakobiner = hier Symbol für Radikale 46
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Nach dem Willen Khomeinis und seiner Mitarbeiter sollte nach der iranischen Revolution ein islamischer Staat entstehen. Diesen Anspruch, aus der iranischen Revolution eine islamische Revolution zu machen und auf einen islamischen Staat hinzuarbeiten, drückt auch die offizielle Bezeichnung des iranischen Staates aus. Er nennt sich „Islamische Republik Iran“. Beide Begriffe, die Worte „islamisch“ und „Republik“, drücken auch das Staatsziel aus. In diesem Staat soll das Volk herrschen und nicht mehr ein Despot wie der gestürzte Schah. Und: In diesem Staat sollen die Prinzipien des Islam bzw. die Gesetze der islamischen Rechtsordnung, der Scharia, zur Anwendung kommen. Den besonderen Charakter dieses Staates, sein „Kernstück“, bezeichnet ein bestimmter, von Khomeini und seinen Anhängern bewusst gewählter Begriff: „Herrschaft der Rechts- bzw. Religionsgelehrten“. Will man die Besonderheit des jetzigen Staatsaufbaus im Iran genauer verstehen, muss man den Begriff „Herrschaft der Rechts- bzw. Religionsgelehrten“ so genau wie möglich analysieren. Die Hauptmerkmale des Begriffs „Herrschaft der Rechts- bzw. Religionsgelehrten“ lassen sich in drei Punkte zusammenfassen: 1. Die Herrschaft in diesem Staat übt eine ganz bestimmte gesellschaftliche Schicht, die Gruppe der Rechts- und Religionsgelehrten aus. 2. Sie allein ist dazu befugt und ausersehen, weil sie über die Rechtsprinzipien oder Gesetze des Islam Bescheid weiß. Darum kann man den Begriff „velayat-e faqih“, die sprachliche Grundlage für „Herrschaft der Rechts- oder Religionsgelehrten“, auch mit „Herrschaft der Experten“ übersetzen. 3. Alle Entscheidungen der gesetzgebenden Gewalt, des Parlaments, aber auch der zweiten Gewalt, der Exekutive (Regierung), und der dritten Gewalt, der Rechtsprechung, unterliegen ausnahmslos der Kontrolle der Rechts- oder Religionsgelehrten. Faktisch gibt es also keine Gewaltenteilung, also
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keine deutliche Trennung und keine Eigenständigkeit der drei Gewalten. Sie alle unterliegen der Aufsicht durch die Rechts- bzw. Religionsgelehrten. Die heutigen politischen und religiösen Diskussionen im Iran drehen sich letztlich darum, wie diese Staatsform bzw. dieser Staatsaufbau einzuschätzen bzw. zu beurteilen ist. Hier gibt es einen grundsätzlichen Gegensatz oder Dissens: Für die einen, die herrschenden Rechts- bzw. Religionsgelehrten, ist die Staatsform die legitime und beste Verwirklichung der Idee eines islamischen Staats, für die anderen, die demokratische Opposition, ist sie eine grundsätzlich und grundlegend undemokratische Regierungsform. Jörg Bohn
Das Herzstück der iranischen Verfassung ist die welâyat-e faqih, die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“, die einen einzelnen Theologen mit absoluten Machtbefugnissen ausstattet. Staatsgründer Ajatollah Ruhollah Chomeini hat zwar der Form nach die Institutionen einer parlamentarischen Demokratie akzeptiert, aber für sich ein Amt geschaffen, das über
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allen gewählten Organen steht und damit das republikanische Element der Verfassung neutralisiert: das Amt des „Obersten Rechtsgelehrten“ (wali-ye faqih) oder „Revolutionsführers“ (rahbar-e enqelâb). Dieser legt nicht nur die Richtlinien der Politik fest, sondern kontrolliert auch die Justiz, den Geheimdienst, die Streitkräfte, die staatlichen Medien, die religiösen Stiftungen, die einen Großteil der nationalen Wirtschaft verwalten, das zentrale „Büro der Freitagsprediger“, dem sämtliche Freitagsprediger im Land unterstellt sind, sowie den „Wächterrat“, der die Wahlen im Land beaufsichtigt und die Verfassungstreue der Kandidaten überprüft. Die Büros des Revolutionsführers verteilen sich über das ganze Land und ähneln einer Parallelregierung. Gewählt wird der Revolutionsführer von einem Gremium aus 86 Theologen, dem sogenannten „Expertenrat“, der aus allgemeinen Wahlen hervorgeht und theoretisch auch das Recht hat, ihn – etwa im Falle einer schwerwiegenden Krankheit – abzusetzen. Die Kandidaten für den Expertenrat, der alle acht Jahre gewählt wird, unterliegen allerdings einer Vorauswahl durch den Wächterrat, der wiederum zur Hälfte vom Revolutionsführer ernannt wird; die übrigen „Wächter“ wählt das Parlament, dessen Abgeord-
Aus: Navid Kermani: Iran, die Revolution der Kinder, Beck'sche Reihe, Verlag C. H. Beck, München 2001, S. 47
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aber zuvor die Prüfung des Wächterrates bestan` nete den haben müssen, um überhaupt für das Parlament kandidieren zu dürfen. Falls es bei Gesetzesvorhaben dennoch zu einem Konflikt zwischen dem Wächterrat und dem Parlament kommt, schaltet sich der „Feststellungsrat“ ein, dessen Präsident – im Augenblick heißt er Ali Akbar Haschemi Rafsandschani und ist der Vorgänger Chatamis als Staatspräsident – vom Revolutionsführer berufen wird. Dank dieser Verfassungsakrobatik mit ihren Kontrollinstanzen und Rückversicherungen entsteht ein Circulus vitiosus, in dem das Volk zwar wählen darf, sich dennoch an den Grundlagen und den wesentlichen personellen Konstellationen nichts ändert, weil am Ende doch der Revolutionsführer das Sagen hat. „Der Führer ernennt die Wächter, die wiederum die Experten bestimmen, die wiederum den Führer wählen – wenn das keine Farce ist, was ist es dann?“ spottete deshalb ein Teheraner Studentenführer im Oktober 1998 anläßlich der Wahlen zum letzten Expertenrat öffentlich, nachdem der Wächterrat 241 von 396 Bewerbern, darunter einige der namhaftesten Geistlichen des Landes, „wegen mangelnder the-
Die Macht im Iran
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ologischer Qualifikation“ von den Listen gestrichen hatte, um die Kandidatur auch nur eines einzigen reformorientierten Geistlichen zu verhindern (ein Hinweis auch darauf, wie umstritten die derzeit herrschende Auslegung der Religion selbst unter iranischen Theologen ist). Weil der „Oberste Rechtsgelehrte“ über den drei Gewalten im Staat steht, ist Iran trotz demokratischer Organe wie dem Parlament und einer gewählten Regierung schon der Verfassung nach keine Demokratie. Weil er seine Autorität, zumindest in der herrschenden Lesart, von Gott und nicht vom Volk herleitet, ist das Land zudem eine Theokratie; er wird nicht gewählt, sondern nach den Worten Nateq Nuris „von den Experten entdeckt aufgrund seiner Botschaft, die Gott ihnen sendet“. Navid Kermani: Iran, die Revolution der Kinder, Beck'sche Reihe, Verlag C. H. Beck, München 2001, S. 46 ff.
Expertenrat (86 gewählte Geistliche) bestimmt, kontrolliert
Staatsoberhaupt und Geistlicher Führer bestätigt Ali Chamenei (gewählt auf Lebenszeit; Oberbefehlshaber der Armee und der Revolutionswächter) bestimmt 6 Mitglieder Legislative Parlament (290 Abgeordnete) stimmt zu
Schlichtungsrat (im Konfliktfall)
bestimmt 6 Mitglieder Wächterrat (12 Mitglieder)
prüft Übereinstimmung der Gesetze mit islamischem Recht, Vetorecht bei Kandidaten
Exekutive Minister
Staatspräsident und Regierungschef Mohammad Chatami (direkt vom Volk für 4 Jahre gewählt) Abb. nach.: © F.A.Z.-Grafik Niebel, aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 30, 5.2.2004, S. 6f.
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3.1.4 Ein Revolutionsplakat Das vorliegende Plakat stellt Khomeini und den letzten Schah dar. Khomeini wird als neuer Moses gesehen, der dem Schah als neuen Pharao den Untergang seiner Herrschaft ansagt. Khomeini als neuer Moses beruft sich dabei auf den Koran, also nach islamischer Vorstellung auf den Willen Gottes und er bekommt himmlische Unterstützung durch den über ihm schwebenden Engel. Der Schah liegt am Boden und klammert sich an die Rockschöße einer kleinen Helfergestalt, die sich schon zum Gehen wendet und die durch ihre Kleidung verrät, dass sie die Staaten USA, Großbritannien und Israel verkörpert, also die Staaten, auf die sich das Schah-Regime hauptsächlich gestützt hat. Um den Schah lodern Flammen und über ihm sind viele Folteropfer zu erkennen. Die Schah-Krone und sein Schwert, also die Herrschafts- und Krönungsinsignien, liegen zerbrochen am Boden.
Aus: The Observer Magazin
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3.1.5 Die heutige iranische Opposition – ein Stimmungsbild Die heutige iranische Opposition ist hauptsächlich eine Opposition der Jugend. Sie richtet sich gegen einen Staat, den sie nicht mehr als „ihren“ Staat empfindet. Die Mullahs, die Rechtsgelehrten, müssen gehen – sagt die Jugend und: Wir brauchen und wollen einen demokratischen Staat. Sehr viel Enttäuschung über den Staatspräsidenten Chatami ist im Spiel. Auf ihn richteten sich große Hoffnungen, als er im Mai 1997 gewählt wurde und sich gegen einen konservativen Gegenkandidaten durchsetzte. Inzwischen glauben viele Menschen, die zur iranischen Opposition gehören, kaum mehr daran, dass Chatami die versprochene Freiheit und Demokratie bringen wird. Jörg Bohn
Der Opposition fehlt eine Führungsfigur Sie nennt sich „Lady Sun“. Ihre Fans feiern sie als „die emotionale Stimme der iranischen Generation X“. „Lady Sun“ hat im Internet eine eigene Homepage, auf der sie täglich das Leben im Iran analysiert, Gedichte veröffentlicht, Diskussionen über die Rolle der Frau initiiert oder die Proteste in Teheran kommentiert: „Wer unterstützt diesen Gewittersturm, von dem wir in jeder Nacht heimgesucht werden? Warum wollen Iraner andere Iraner massakrieren?“ Antworten gibt „Lady Sun“ selten. Auch ihre wahre Identität kennt niemand. Doch ihre inzwischen über 60 000 „User“ zählende Fangemeinde stört das nicht. Die Cyberchronistin trifft ihren Nerv, wenn sie ihren „Hass auf diese Reformregierung“ digital herausschreit. Die junge Iranerin überkommt dann ein Gefühl von „Bitterkeit, Wut und grenzenloser Traurigkeit“. Ein Gefühl, dass sie mit tausenden Iranern teilt, die in den vergangenen Tagen für Frieden und Demokratie auf die Straße gingen. Wie „Lady Sun“ haben die meisten von ihnen viele Fragen, aber keine Antworten. Die 22-jährige Anglistikstudentin Miriam Alisadeaus möchte, dass „wir Iraner unser Land, einen freien 50
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Iran, selbst regieren“. Und die Mullahs? Staatspräsident Mohammed Chatami solle „endlich Stärke“ zeigen und seine Reformversprechungen verwirklichen. Revolutionsführer Ali Chamenei müsse endlich „kapieren, dass wir die Nase voll haben“, sei es, das iranische Nuklearwaffenprogramm zu stoppen, bevor es Waffenfähigkeit erreiche. [...] M. Wrase: Grenzenlose Traurigkeit, in: Welt am Sonntag, Nr. 25, 23.6.04, S. 9
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3.1.6 Die Entstehung der Oppositionsbewegung Unmittelbar nach der Gründung der „Islamischen Republik Iran“ wird der Iran vom Irak angegriffen und in einen sehr verlustreichen Krieg verwickelt, wobei der Irak von den USA und anderen westlichen Staaten unterstützt wird. Vor allem die USA erhoffen sich durch den Krieg eine Schwächung der neuen iranischen Regierung und eine Eindämmung der „Islamischen Revolution“. Der Krieg bindet alle Kräfte im Iran und es kommt kaum zu großen innenpolitischen Protesten gegen die Regierung. Das ändert sich, nachdem Ende der 80er Jahre der Krieg mit einem Waffenstillstand endet. Die 90er Jahre sind geprägt von heftigen Protesten der demokratischen Opposition gegen die Unterdrückung demokratischer Rechte und Freiheiten. Bereits seit Anfang der neunziger Jahre werden in iranischen Zeitschriften daher heftige Debatten über die Vereinbarkeit von Religion und Demokratie, von Religion und Frauenrechten geführt. Langsam, aber sicher kristallisierte sich eine Reformbewegung heraus, die breite Schichten der Gesellschaft erfasste. Und mit dem Sieg von Mohammed Chatami im Mai 1997 sollte sich zeigen, dass der Wunsch nach Reform, nach Demokratie und Wandel von einer breiten Mehrheit in der Bevölkerung getragen wird. Über siebzig Prozent der iranischen Bevölkerung sprachen sich für den Wandel aus, als sie Chatami wählten. Weil sich die Konservativen jedoch beharrlich weigern, diesem Drängen nachzugeben, gibt es seit Jahren einen Richtungskampf in Iran, in dem mit harten Bandagen gekämpft wird. Denn die Konservativen verfügen zwar über wenig Anhänger, dafür aber eben über
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.1 Von der Islamischen Revolution zur Gründung der Islamischen Republik Machtpositionen. Sie verhindern, dass ` entscheidende jene, die für Reformen in der Politik kämpfen, Veränderungen durchsetzen. Ein entscheidender Grund, warum die Reformkräfte letztlich gewinnen werden: Dem theokratischen Staatsmodell in Iran ist die Gesellschaft abhanden gekommen. Der Chomeinismus hatte Anfang der achtziger Jahre einen zwar nicht uneingeschränkten, aber starken Rückhalt in den Zentren der schiitischen Volksfrömmigkeit, also in den Klein- und Mittelstädten sowie im traditionellen Mittelstand, dem Basar und den ärmeren Vierteln der Großstädte. Im Laufe der neunziger Jahre kristallisierte sich jedoch immer deutlicher heraus, dass sogar jene Bevölkerungsschichten, auf deren Loyalität die Islamische Republik gründete, sich in Scharen von der eigenen politischen Elite abgewandt hatten. Viele sind zu den radikalsten Kritikern des Establishments geworden. Manche Ursachen sind offenkundig: das Trauma des iranisch-irakischen Krieges, die ökonomische Krise, die andauernde politische Unterdrückung, die Misswirtschaft und eine unter vielen Funktionären herrschende Korruption. Vielleicht aber reichen die Gründe für den Wandel noch tiefer. Innerhalb zweier Jahrzehnte waren die Iraner einer wohl einzigartigen Massierung historischer Ereignisse und Veränderungen ausgesetzt: einer Revolution, die zu einer vollkommenen Umkehr der politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Wertvorstellungen führte; ein Krieg, der länger dauerte als der Zweite Weltkrieg, der ganze Provinzen verwüstete und beinahe eine Million Opfer allein auf iranischer Seite forderte; es gab Naturkatastrophen apokalyptischen Ausmaßes wie das Erdbeben von 1990, eine Wirtschaftskrise, die weite Teile der Bevölkerung in ihrer Existenz bedroht, eine Absetzbewegung aus dem Land, die Iran intellektuell beinahe ruiniert hat. Dazu kam der Flüchtlingsstrom von Afghanen nach Iran, der das Land zu einem der Staaten mit den meisten Flüchtlingen der Welt gemacht hat. Besonders prägend dürfte für die Bevölkerung noch etwas anderes gewesen sein: die kollektiven Grenzerfahrungen, die Erfahrung des Todes und der Verzweiflung über seine Sinnlosigkeit. Während der Anti-Schah-Demonstrationen und dann später auf
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den Schlachtfeldern des Kriegs haben viele Menschen dem Tod ins Auge gesehen. Fast jede Familie hat Tote, so genannte „Märtyrer“ zu beklagen: Märtyrer der Revolution, Märtyrer des Krieges, Märtyrer des Widerstandes gegen das revolutionäre Regime, Märtyrer des Kampfes gegen die Konterrevolution. Und wofür? Weder geht es den meisten Iranern besser als vor dreiundzwanzig Jahren, noch sind sie freier. Umsonst all das Blut, umsonst die Opfer, umsonst gerannt, umsonst gekämpft, umsonst gelebt – so sieht heute das Lebensgefühl vieler Menschen im Iran aus.
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Aus: Katajun Amirpur: Gott ist mit den Furchtlosen, © Verlag Herder, Freiburg im Breisgau , 3. Auflage 2004
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3.1.7 Enttäuschte Hoffnungen – der Staatspräsident Chatami Die zahlreichen Proteste der demokratischen Opposition gegen die Herrschaft der Rechts- bzw. Religionsgelehrten führten zu keinem grundlegenden politischen Wandel, bis die Wahl des Staatspräsidenten Chatami durch eine breite Mehrheit der Bevölkerung im Jahr 1997 der demokratischen Opposition neue Hoffnung gab. Inzwischen gab es auch unter den Geistlichen, die Khomeinis „Islamische Revolution“ zunächst unterstützt hatten, Kräfte, die ebenfalls mit der Herrschaft der Rechts- und Religionsgelehrten unzufrieden waren und sich für demokratische Reformen innerhalb des islamischen Staates einsetzten. Zu diesen „religiösen Reformern“ gehörte auch Chatami und von ihm erhofften sich viele Menschen Unterstützung in ihrem Kampf für demokratische Freiheiten. Eine solche Unterstützung blieb aber aus, so daß die heutige demokratische Opposition lernen musste, sich auf sich selbst zu besinnen. Jörg Bohn
Wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl, so berichtete der Schriftsteller Mehdi Parham in einem Artikel für die Zeitung Ettelâát („Nachrichten“), sei seine neunjährige Enkelin zu ihm gekommen, habe sich auf seinen Schoß gesetzt und ihn gefragt, wen er wählen werde. Parhams Artikel, für den er in der konservati-
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Presse Schimpftiraden erntete, war mit „Willkom` ven men Freiheit!“ überschrieben und hatte den „großen Anteil der Schulkinder an dieser Bewegung“ zum Thema. Wie sie denn auf diese Frage gekommen sei, habe er ihr entgegnet, sie sei doch noch so klein. Dann aber habe er wissen wollen, wem er ihrer Ansicht nach seine Stimme geben solle. „Herrn Chatami.“ „Meine Süße, hat dir das deine Lehrerin gesagt oder deine Direktorin?“ „Keine von beiden. Wir Kinder haben vereinbart, alle unsere Eltern zu überreden, Herrn Chatami zu wählen.“ Als der Schriftsteller seine Enkelin daraufhin fragte, warum sie denn alle diesen und nicht einen der anderen drei Kandidaten bevorzugten, gab sie ihm eine Antwort, die ihm nach eigener Aussage die Tränen in die Augen schießen ließ: „Herr Chatami ist sowohl ein Nachfahre des Propheten als auch ein Fürsprecher der Schwachen, der Elenden und Armen, und außerdem ist er dagegen, daß man Mädchen prügelt und einsperrt. Und du sagst doch selbst immer, ich solle den armen Kindern in der Klasse helfen.“ Am 23. Mai 1997 wurde der als Außenseiter angetretene Sejjed Mohammad Chatami mit rund 70 Prozent der Stimmen, einer Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent, und gegen den entschlossenen Widerstand fast des gesamten Staatsapparates, der den Gegenkandidaten Ali Akbar Nateq Nuri favorisiert hatte, zum Präsidenten Irans gewählt. Daß die Stimmen der Jugendlichen und Frauen für den überraschenden Wahlausgang verantwortlich waren, konnte man sämtlichen Analysen entnehmen. Aber unterhielt man sich in den Wochen nach der Wahl mit Iranern, wurden einem zahllose Belege dafür geliefert, daß Chatami seinen Erfolg auch denen zu verdanken hat, die ihn gar nicht wählen durften: den Kindern. Der Chefredakteur einer religiösen Zeitschrift etwa erzählte mir, daß seine zehnjährige Tochter, die das Haus niemals ohne Tschador verläßt, ihm eines Tages verkündet habe, gemeinsam mit ihren Klassenkameradinnen auf allen Nuri-Plakaten in der Schule die Au52
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Schulkinder in Masuleh, einem Dorf im Elbors-Gebirge. Foto: © Lookat, Thomas Kern
gen ausgekratzt zu haben. Zur Begründung gab sie an, daß unter einem Staatspräsidenten Nuri alle Frauen den Tschador tragen müßten. Sie trüge doch ohnehin den Tschador, wandte der Vater ein. Aber mich zwingt ja niemand dazu, sagte die Tochter. Navid Kermani: Iran, Beck'sche Reihe, Verlag C. H. Beck, München 2001, S. 64 f.
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.2 Islamisierung der Gesellschaft – Religion und Politik in den ersten Jahren der Islamischen Republik Materialübersicht
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Einführung.............................................................................................................................................................................................55 3.2.1 Die Islamisierungspolitik Khomeinis (Dokument 22)...............................................................................................55 3.2.2 Gründe für die „Herrschaft der Geistlichen“ (Dokument 23) ................................................................................56 3.2.3 Das Kopftuch (Dokument 24)............................................................................................................................................56 3.2.4 Der Krieg (Dokument 25)....................................................................................................................................................60 3.2.5 Khomeinis Konzeption der Islamisierung von Staat und Gesellschaft – Beispiel für religiösen Fundamentalismus? (Dokument 26)..................................................................................69
Arbeitshinweise Stellen Sie dar, was unter der Islamisierungspolitik Khomeinis zu verstehen ist (vgl. Dokument 22). Klären Sie dabei folgende Einzelfragen: •
Was ist das religiöse und politische Ziel dieser Islamisierungspolitik?
•
Mit welchen Mitteln wird diese Politik durchgesetzt?
•
Warum war sie erfolgreich? Berücksichtigen Sie dabei verschiedene Aspekte (zeitgeschichtliche Umstände, die Person Khomeinis, politische und religiöse Erwartungen auf Seiten der iranischen Bevölkerung).
Überlegen Sie bitte, warum die iranische Revolution, die eine Bewegung des ganzen Volkes war, zur Herrschaft der Rechts- und Religionsgelehrten führen konnte. Ziehen sie dazu Dokument 22 und Dokument 23 heran. Machen Sie sich jetzt ein Bild davon, was „Islamisierung“ konkret im Leben der iranischen Bevölkerung bedeutete und ziehen sie dazu den Comic „Das Kopftuch“ und „Der Krieg“ heran (vgl. Dokument 24 und 25). Bei der Analyse der beiden Dokumente sollen Sie folgende Einzelfragen klären: •
Um welche historisch-politischen Ereignisse geht es in beiden Comics?
•
Wie wird die neue islamische Kleiderordnung – wozu auch das Kopftuch gehört – nach dem Bericht des Comics unter den iranischen Frauen und Mädchen durchgesetzt? Gibt es überwiegend Zustimmung oder auch Widerstand? Wie werden die Personen, die für die Durchsetzung der Kleiderordnung stehen (Lehrer, Funktionäre des Systems) im Comic dargestellt? Wie steht die Verfasserin, die ja als Kind und Mädchen im Comic auftritt, zur Religion?
•
Wie wird in der Sicht des Comics von Seiten des iranischen Staates für die Teilnahme am Krieg geworben?
•
Werden ausschließlich politische Gründe herangezogen oder gibt es auch religiöse?
•
Wie wird die staatliche Propaganda für den Krieg aus der Sicht des Comics beurteilt?
•
Welcher politischen und religiösen „Fraktion“ innerhalb der iranischen Bevölkerung würden Sie die Autorin Marjane Satrapi zuordnen? Steht sie der Regierung der „Geistlichen“ nahe oder eher der Opposition?
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Versuchen Sie jetzt eine zusammenfassende Beurteilung von Khomeinis Konzeption der Islamisierung von Staat und Gesellschaft, wobei drei Einzelaspekte zu klären wären (vgl. Dokument 26): •
Ist Khomeinis Politik als „fundamentalistisch" einzustufen?
•
Welchen politischen und religiösen Bewegungen in der islamischen Welt ist Khomeinis Konzept der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ vergleichbar?
•
In welcher Weise werden religiöse Anschauungen des Islam zur Begründung der Konzeption von Khomeinis „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ herangezogen?
•
Ist diese Konzeption mit persönlichen Grundrechten des einzelnen Bürgers (Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freie Entfaltung der Persönlichkeit), die in unserer Verfassung ausdrücklich festgeschrieben sind, vereinbar?
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.2 Islamisierung der Gesellschaft – Religion und Politik in den ersten Jahren der Islamischen Republik Einführung
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Dokument 22
Khomeini und seine Anhänger wurden von einer Massenbewegung an die Macht getragen, eine Massenbewegung, die Freiheit, demokratische Reformen und eine gerechte Gesellschaft wollte. Am Ende kam ein Staat heraus, in dem eine bestimmte Schicht regierte - die Rechtsgelehrten oder die Geistlichen und Khomeini und seine Anhänger setzten alles daran, Staat und Gesellschaft radikal umzuformen. Das Ziel sollte die vollkommene und durchgreifende Islamisierung von Staat und Gesellschaft sein, d. h. die Gesetze des Koran bzw. die Prinzipien des Islam sollten nach dem Willen der Herrschenden den Staats- und Gesellschaftsaufbau und das Leben jedes einzelnen Bürgers bestimmen. Dieses Ziel wurde mit sehr radikalen Mitteln durchgesetzt (vgl. Dokument 22), wobei zu erklären ist, aus welchen Gründen es eigentlich dazu kommen konnte, dass aus einer Bewegung des ganzen Volkes eine Herrschaft der Rechts- und Religionsgelehrten werden konnte (vgl. Dokument 23). Die Islamisierung der Gesellschaft machte auch vor der Privatsphäre des einzelnen Menschen nicht halt und veränderte radikal das Leben der Frauen. Ein Symbol hierfür ist das Kopftuch (vgl. Dokument 24). Auch der Krieg mit dem Irak war ein einschneidender Eingriff in das Leben des Volkes, wobei die militärischen Erfolge gegen den Irak, die mit hohen Opfern erkauft waren, nicht zuletzt auch deshalb zustande kamen, weil die Regierung die religiösen Gefühle der Massen nutzen bzw. instrumentalisieren konnte (vgl. Dokument 25). Die Errichtung eines islamischen Staates und die radikale Islamisierung der Gesellschaft wurden nur möglich, weil der Islam durch die Herrschenden zu einem Herrschaftsinstrument missbraucht wurde. Welches religiöse und politische Denken stand hinter diesem Konzept? Diese Frage nach dem besonderen Verhältnis von Religion und Politik, das dieses Konzept prägte, soll abschließend geklärt werden (vgl. Dokument 26). Jörg Bohn
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3.2.1 Die Islamisierungspolitik Khomeinis Der Ayatollah Khomeini war für viele Iraner am Anfang der iranischen Revolution so etwas wie eine „Lichtgestalt“, ein Mensch mit einer außerordentlichen Ausstrahlung und Überzeugungskraft, den man nicht nur als einen politischen, sondern auch als religiösen Führer empfand. Diesen politischen aber auch religiösen „Kredit“ hat Khomeini gezielt genutzt, um an die Macht zu kommen und Konkurrenten auszuschalten. Das galt auch für politische Bewegungen oder Strömungen, mit denen er nicht übereinstimmte. Opfer dieser Politik wurden vor allem die radikal demokratischen und säkular denkenden Intellektuellen, wobei hier Menschen gemeint sind, deren politische Überzeugungen nicht wie bei Khomeini religiös, sondern rein weltlich-diesseitig begründet waren bzw. die Religion und Politik deutlich voneinander trennten. Jörg Bohn
Ayatollah Homeyni [Khomeini – Red.] setzte seine Interpretation des Islam, die velayat-e faqih, allen Widerständen zum Trotz durch. Seine Gegner schaltete er aus: angefangen bei den Vertretern linker Ideologien wie der kommunistischen Tudeh-Partei über die islamisch-marxistische Gruppierung der Volksmudschahedin bis hin zu den Kritikern innerhalb der Geistlichkeit. Das berühmteste Beispiel ist Groß-Ayatollah Kazem Šari’atmadari (gest. 1986), der nach dem Tode des Ayatollah Mahmud Taleqanis (1910–1979) neben Homeyni der angesehenste und einflußreichste Geistliche auf der politischen Bühne, und damit Homeynis größter Konkurrent war. Für seine Kritik ließ Homeyni ihn unter Hausarrest stellen. Mit der Zeit wurden alle gesellschaftlichen Bereiche, vom Schulsystem über die Universitäten bis hin zum Rechtswesen, umfassend islamisiert. Das Ergebnis war ein stark restriktives System. Im Namen einer konservativen Islaminterpretation, dem sogenannten „reinen mohammedanischen Islam“ (eslam-e nab-e mohammadi), wurde die Deutungsvielfalt der Religion eingeschränkt. Es galt, „das Gute zu gebieten Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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das Schlechte zu verbieten“ (amr be ma'ruf va ` und naby az monkar); gut und böse zu unterscheiden, oblag dem Vertreter des 12. Imams auf Erden, dem valiye faqih. Kritik an Ayatollah Homeyni wurde als Abfall vom Glauben interpretiert. Auf Teheraner Hauswänden wird diese Haltung auch heute noch formuliert: Die Feinde der velayat-e faqih seien Feinde der Religion, wer nicht an Homeyni glaube, glaube nicht an die Imame. In der offiziellen religiös-politischen Rhetorik wird der Zusammenhang zwischen der Wiederkehr des 12. Imams und Homeyni häufig hergestellt. Außerdem werden die Emigration Homeynis und die des Propheten gleichgesetzt: Beide hätten im Exil gelebt, um nach ihrer Rückkehr die bestehende Ordnung zu zerstören und sie durch eine bessere zu ersetzen. Auf einer Broschüre, die im Jahre 1980 in Iran verbreitet wurde, ist ein Photo zu sehen, das Homeyni an Bord des Flugzeugs zeigt, das ihn nach Teheran brachte. Darunter steht geschrieben: „So wie die Hidschra des Propheten den Beginn der muslimischen Ära, so markiert die triumphale Rückkehr des Imams den Beginn einer neuen Epoche.“ Katajun Amirpur: Die Entpolitisierung des Islam, Ergon Verlag, Würzburg 2003, S. 4 f.
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3.2.2 Gründe für die „Herrschaft der Geistlichen“ Alle Gesellschaftsgruppen waren sich 1979 bei dem Umsturz des Schahregimes einig. Durch welches alternative Staatsmodell das umgestürzte Regime ersetzen werden sollte, stand jedoch nicht zur Debatte. Aufgrund des jahrzehntelangen Despotismus unter dem Schahregime, konnte von einer aufgeklärten iranischen Gesellschaft, die sich bewusst für Demokratie einsetzt, keine Rede sein. Jede Art politischer Aktivität wurde verhindert, oppositionelle Publikationen und sogar Bücher über soziale Bewegungen und gesellschaftstheoretische Ansätze waren verboten. Die einzigen Gruppen, die verhältnismäßig gut organisiert waren, waren die islamischen Gruppen. Dank ihrer religiösen Privilegierung genossen sie mehr Freiheiten als Liberale, Demokraten und linke Strömungen. Die Moscheen und die Theologieschulen waren die Zentren, in denen die Bevölkerung durch islami56
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sche Gruppen mobilisiert und organisiert wurde. So bekamen diese die Möglichkeit, die Führung jener populistischen Bewegung in die Hand zu nehmen. Die Revolution für Freiheit, Gerechtigkeit und politische Unabhängigkeit, gerichtet gegen den Schah und Amerika, wandelte sich in eine islamische Revolution. Banafsheh Nourkhiz: Der politisch-religiöse Diskurs im Iran, S. 2 f. (unveröffentlichtes Manuskript)
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3.2.3 Das Kopftuch Die iranische Autorin Marjane Satrapi beschreibt in ihrem Buch „Persepolis“ ihre Kindheit und Jugend im Iran unter der Herrschaft des Schah, während der iranischen Revolution und in den ersten Jahren der „Islamischen Republik Iran“. Sie wählt hierbei die Comic-Form. Der folgende Ausschnitt spielt im Jahr 1980, also im ersten Jahre der Islamischen Republik Iran und schildert die Islamisierung der Gesellschaft aus der Sicht eines Kindes bzw. eines jungen Mädchens. Zu beachten ist die starke religiöse Prägung des Mädchens, die sich in ihrem Wunsch äußert, „Prophetin“ zu werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass in islamischer Sicht ein Prophet nicht nur ein religiöser, sondern auch politischer und sozialer Reformer ist. Für nicht wenige Menschen im Iran galt und gilt, dass ihre Motivation, sich politisch und sozial zu engagieren, auch religiöse Wurzeln hat. Jörg Bohn
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Aus: Marjane Satrapi: PERSEPOLIS Eine Kindheit im Iran, © 2004 Verlag bbb Edition Moderne AG, Zürich/2000 & 2001 Marjane Satrapi & L’Association. Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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3.2.4 Der Krieg Der folgende Ausschnitt aus dem Buch „Persepolis“ von Marjane Satrapi behandelt eine Episode aus dem Iranisch-Irakischen Krieg, der wegen seiner Länge (von 1980–88) und seiner hohen Verluste unter den Soldaten und den Zivilpersonen ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte des iranischen Volkes war. Die Islamische Republik war sozusagen in ihren Grundfesten bedroht und mobilisierte alle Kräfte, um erfolgreich Widerstand zu leisten. Dazu gehörte auch die Religion, genauer bestimmte Formen schiitischer Frömmigkeit, die im Iran eine große Bedeutung haben. Jörg Bohn
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3.2.5 Khomeinis Konzeption der Islamisierung von Staat und Gesellschaft – Beispiel für religiösen Fundamentalismus? Die iranische Revolution und die Gründung der Islamischen Republik Iran sind öfter als ein Beispiel herausragender Art für religiösen Fundamentalismus im Islam bezeichnet worden. Aus diesem Grund soll jetzt versucht werden, die iranische Revolution und die Errichtung der Islamischen Republik Iran mit anderen islamistischen Bewegungen in der islamischen Welt zu vergleichen, wobei zwei Beispiele ergänzender Art herangezogen werden: Die Muslim-Brüderschaft in Ägypten und die islamistische Bewegung in Algerien. Hierbei soll die Frage geklärt werden, ob alle drei Bewegungen gleiche oder vergleichbare Grundmuster aufweisen und ob man diese als typisch für religiösen Fundamentalismus im Islam bezeichnen kann. Der folgende Text stellt den Versuch eines Vergleichs und einer Analyse zu den eben genannten Fragen dar. Jörg Bohn
Ursprung, Weltsicht und Programm des islamischen Fundamentalismus Der islamische Fundamentalismus ist eine politische und religiöse Protestbewegung. Ihr Ursprung, d. h. ihre historischen Wurzeln, liegen in Bewegungen oder Strömungen in der islamischen Welt, die den Anspruch haben, den „wahren Islam“ gegen die „Verräter des Islam“ zu verteidigen – gegen „Verräter“, die in den Augen der Islamisten die Gesellschaft nicht mehr nach göttlichen, dem Koran entnommenen Gesetzen regieren wollen, sondern nach weltlichen Gesetzen, und die mit den „Feinden des Islam“, den westlichen Staaten, „paktieren“. Konkret kann man drei politische und religiöse Bewegungen in der islamischen Welt nennen, auf die diese Merkmale besonders zutreffen und die insofern herausragende Beispiele für den religiösen Fundamentalismus im Islam darstellen. Hier wären zunächst die Muslimbruderschaft in Ägypten, dann die Islamische Revolution im Iran und die islamistische Bewegung in Algerien zu nennen. Führende Ideologen des religiösen Fun-
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damentalismus in diesen Strömungen sind im Iran der Ayatollah Khomeini, in Ägypten der „Chefideologe“ der Muslimbruderschaft, Sajjid Qutb, und in Algerien der ideologische Führer der dortigen islamistischen Opposition, Ali Benhadj.
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Geburtsstunde der islamistischen Bewegung in Algerien war die Unterdrückung dieser Bewegung, die einen deutlichen Wahlsieg errungen hatte, durch die dortige laizistisch ausgerichtete Militärregierung, die hierbei eng mit dem Westen, vor allem der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, zusammenarbeitete. Die islamistischen Kräfte in Algerien begannen sich daraufhin zu radikalisieren und nahmen zum Teil den bewaffneten Kampf auf, um die Militärregierung zu stürzen und einen islamischen Staat zu gründen. In Ägypten war der entscheidende Anstoß zur Gründung und Entwicklung der Muslim-Brüderschaft die Opposition gegen die laizistische und auf den arabischen Nationalismus ausgerichtete Herrschaft des damaligen Staatspräsidenten Nasser, der seinerseits die Muslimbruderschaft heftig verfolgte. Ein zweites „Schlüsselereignis“ in der Entwicklung und im Selbstverständnis der Muslimbruderschaft in Ägypten war das Attentat gegen den Staatspräsidenten Sadat, dem man ebenfalls „Verrat am Islam“ und das „Paktieren mit den Feinden des Islam“ vorwarf – konkret war damit der Friedensvertrag mit Israel und die Zusammenarbeit mit dem Westen gemeint. Im Iran war der dortige Islamismus eng mit der Opposition gegen das Schah-Regime verbunden, dem man wiederum auch den Verrat am Islam und die Kollaboration mit dem „gottlosen Westen“ vorwarf sowie die Ausbeutung und Unterdrückung des iranischen Volkes. Führer dieser Protestbewegung war vor allem der Ayatollah Khomeini, der später nach dem Sieg der islamischen Revolution Staatspräsident wurde und maßgeblich beim Aufbau eines „islamischen Staates“ mitwirkte – diesmal in der Form einer „Herrschaft der Religionsgelehrten“ und über eine brutale Unterdrückung der liberalen und demokratisch gesinnten Opposition, die ursprünglich im Widerstand gegen das Schah-Regime mit ihm zusammengearbeitet hatte. Die Durchschlagskraft der jeweiligen hier beschriebenen islamistischen Bewegungen lag nicht allein in ihrer festen Organisationsstruktur, sondern vor allem
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in einer bestimmten Weltsicht und einem damit ` auch verbundenen Sendungsbewusstsein, das die Führer dieser Bewegungen ihren Anhängern vermitteln konnten. An dieser Weltsicht fallen drei Elemente auf, die allen drei islamistischen Bewegungen und ihren Führern gemeinsam sind und die eng miteinander zusammenhängen: Ein erstes Element des islamistischen Weltbildes ist die Vorstellung von einer tiefen Krise der islamischen Welt. Konkret ist diese Krise verursacht durch die Bedrohung des Islam durch den „gottlosen Westen“. Diese Bedrohung ist für die Islamisten keine vorübergehende und periphere Erscheinung, sondern grundsätzlicher Art, so dass sich die Islamisten in einer Art „Schicksalsschlacht“ der Kräfte des Islam gegen die Welt der „Gottlosen“ wähnen und die Forderung erheben, in einer Art von „heiligem Krieg“ (Dschihad) alle Kräfte zu mobilisieren, um den „Feind“ zu schlagen. Der Feind wird hierbei nicht nur in den westlichen Staaten ausgemacht, sondern auch und vor allem in den eigenen Regierungen, denen man eine weltliche, d. h. laizistische Gesinnung und das Paktieren mit dem „gottlosen“ Westen vorwirft. Ein zweites Element der islamistischen Weltsicht ist also der Kampf gegen den Laizismus und gegen die mit dem Westen verbündeten eigenen Regierungen. Die Rettung in diesem Kampf kommt nach der Vorstellung der Islamisten aus der Vergangenheit. Genauer ist damit der Rückgriff auf den Islam gemeint, wie ihn Mohammed ursprünglich in Mekka und vor allem Medina begründete und wie er sich in den ersten Jahrhunderten nach seinem Tod siegreich in der damaligen Welt durchsetzte. „Modell“ einer Wiedergeburt des Islam und einer Rettung des Islam aus seiner jetzigen tiefen Krise ist der „Ur-Islam“ Mohammeds und des Koran und das „goldene Zeitalter“ des Islam, in dem dieser eine militärisch und kulturell überlegene Zivilisation begründete. Ein drittes Element im Weltbild des Islamismus ist also der Traum von der Wiedergeburt der islamischen Welt durch den Rückgriff auf den authentischen „Ur-Islam“ Mohammeds und des Koran. Das Weltbild des Islamismus ist eng mit einem politischen und religiösen Programm verbunden, das die Krise des Islam lösen und die erträumte Rückkehr zum „authentischen Islam“ gewährleisten soll. Vergleicht man die programmatischen Aussagen der verschiedenen islamistischen Bewegungen, so fallen drei Haupt70
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punkte auf, die sozusagen die „Eckpunkte“ dieser Programme bilden. Eine erste Grundforderung ist die Einrichtung eines Gottesstaates, also einer Staatsform, in der der Koran mit seinen Prinzipien die Regierungsform bestimmt. Das ideologische Schlagwort für diesen Programmpunkt lautet „din wa daula“. Dies bedeutet die Verbindung von Religion (Islam) und Politik bzw. von Islam und Staat. Um dies zu gewährleisten, müssen Männer an der Spitze des islamischen Staates stehen, die die Gesetze des Koran verstehen und allein das Recht und die Legitimation haben, die Gesetze des Koran auszulegen. Das bedeutet konkret die Herrschaft oder den maßgeblichen Einfluss der „Religionsgelehrten“ auf die Staatsgeschäfte. In der Islamischen Republik Iran ist diese Konzeption Wirklichkeit geworden. Eng mit dem ersten Programmpunkt hängt ein zweiter zusammen. Das System der Gesetze des Islam, das das gesellschaftliche Leben bestimmen soll, muss nicht erst erfunden werden. Es liegt nach der Auffassung der Islamisten bereits vor – in der Gestalt der Scharia, der islamischen Rechtsordnung, die aus den Gesetzen des Koran abgeleitet ist. Der zweite Programmpunkt ist also die Übertragung der islamischen Rechtsordnung (Scharia) auf die Gesellschaft. Sowohl die Gründung eines islamischen Staates als auch die Übertragung der Scharia auf das gesellschaftliche Leben setzen voraus, dass der Koran der alleinige Maßstab politischen Handelns ist und sein wird und dass hierbei nach Meinung der Islamisten nur eine alleinige und unanfechtbare Meinung zu gelten hat. Ein Schwanken bzw. eine Vielfalt von Meinungen kann hier aus islamischer Sicht nur Verwirrung stiften. Ein drittes Element in der Programmatik ist also nach Meinung der Islamisten die wortwörtliche und nicht hinterfragbare Geltung des Koran. Alle drei Programmpunkte bilden ein Ganzes. Kein Programmpunkt kann und darf herausgebrochen oder infrage gestellt werden, und jede Form von Opposition gegen diese drei Programmpunkte wird von den Islamisten als ein Angriff gegen den Islam selber gewertet, der eigentlich das Todesurteil bzw. die Hinrichtung nach sich ziehen müsste, da es sich aus islamistischer Sicht um eine Schädigung der islamischen Umma handeln würde. Jörg Bohn: Islam, Studienheft RELO/7c, Institut für Lernsysteme, Hamburg 22004, S. 89 f.
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.3 Der Protest der Jugend und der Frauen
Materialübersicht Einführung.............................................................................................................................................................................................73 3.3.1 Die heutige Krise im Iran (Dokument 27) .....................................................................................................................74 3.3.2 Der Protest der Jugend (Dokument 28) ........................................................................................................................75 3.3.3 Der Protest der Frauen (Dokument 29).........................................................................................................................76 3.3.4 Der Protest der Intellektuellen (Dokument 30) ..........................................................................................................80
Arbeitshinweise Beschreiben Sie so genau und konkret wie möglich die gegenwärtige Krise im Iran und gehen Sie dabei auf drei Einzelaspekte ein (vgl. Dokument 27): •
An welchen konkreten Erscheinungsformen zeigt sich die Krise?
•
Welche Gruppen der Bevölkerung leiden vor allem unter der Krise?
•
Welche politischen Forderungen werden von der Opposition gestellt?
•
Ist diese Krise Ihrem ersten Eindruck nach eine eher vorübergehende Erscheinung oder hat sie mehr grundsätzlichen Charakter, d. h. bedroht sie den Bestand des Systems?
Klären Sie anhand von Dokument 28, warum ein großer Teil der iranischen Jugend mit dem herrschenden politischen und religiösen System der „Herrschaft der Rechts- und Religionsgelehrten“ unzufrieden ist. Erstellen Sie einen Bericht in der Form eines Zeitungsartikels, in dem Sie auf folgende Einzelfragen eingehen: •
An welchen Erscheinungsformen äußerlicher Art ist der Protest der Jugend erkennbar?
•
Welche Stimmungslage herrscht unter den Jugendlichen vor? Sammeln Sie einige charakteristische Aussprüche.
•
Was wollen die Jugendlichen? Beschreiben Sie ihre Ziele.
•
Könnte diese Opposition unter den Jugendlichen das System bedrohen?
Beschreiben Sie den „Fall“ der Nobelpreisträgerin Schirin Ebadi (vgl. Dokument 29) und gehen Sie dabei auf folgende Einzelfragen ein: •
Für welche Ziele setzt sich Ebadi ein und welches Engagement hat sie besonders bekannt gemacht?
•
Welche konkreten Menschenrechtsverletzungen in Hinblick auf die Lage der Frauen im Iran werden von Ebadi besonders kritisiert?
•
Wie argumentiert Ebadi gegenüber dem herrschenden System und in welcher Weise geht sie auf den Islam ein?
•
Wie zeigt sich eine „bedingte Opposition“ der Frauen gegenüber dem System heute im Iran konkret?
Überlegen Sie, warum ausgerechnet Schirin Ebadi den Friedensnobelpreis zugesprochen bekommen hat. Sammeln Sie einige Gründe.
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Analysieren Sie Dokument 30, um sich ein Bild vom Protest der Intellektuellen im Iran zu machen und gehen Sie zunächst auf den „Fall“ Aghadscheri ein. Klären Sie dabei folgende Einzelpunkte: •
Was wirft das System Aghadscheri vor?
•
Wie geht Aghadscheri auf die Vorwürfe ein? Charakterisieren Sie seine Haltung.
•
Wie steht Aghadscheri zum Islam und welche Form des Islam findet seine Zustimmung und welche Form des Islam unterzieht er einer grundsätzlichen Kritik?
•
Was wäre Ihrer Einschätzung nach unter „Islamischer Protestantismus“ zu verstehen?
•
Welche grundsätzlichen religiösen und politischen Ziele verfolgt Aghadscheri? Sind diese Zielvorstellungen noch mit dem heutigen politischen und religiösen System im Iran vereinbar?
•
Vergleichen Sie jetzt Aghadscheris Kritik am herrschenden System und seine politischen Ziele mit den Vorstellungen Rahimis (Text 1) und arbeiten Sie grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus.
Recherchieren Sie im Internet zur gegenwärtigen politischen und religiösen Lage im Iran und nehmen Sie zu dieser Frage Kontakt mit Amnesty International auf. Verfolgen Sie die politische Berichterstattung zum Iran in den Medien.
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.3 Der Protest der Jugend und der Frauen Einführung Das heutige politische und religiöse System im Iran steckt in einer tiefen Krise. Ein großer Teil der Bevölkerung, dies gilt vor allem für die Jugend und zum Teil auch für die Frauen, ist dem System schlichtweg „abhanden gekommen“. Geistliche, Mullahs, sind heute im Straßenbild zum „Hassobjekt“ geworden und werden manchmal, weil sie durch ihr Gewand als Geistliche erkennbar sind, von Passanten offen beschimpft. Mit anderen Worten: Das System ist in eine „Legitimationskrise“ gekommen. Es Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi (r) ist am 14.10.2003 unter großer Anteilnahme in ihre Heimat Iran zurückgekehrt. Ihre Rückkehr wurde zu einer Massendemonstration. Musliminnen, sagt sie, sollten nicht dazu aufgefordert werden, den Kopf zu kann gegenüber einem gro- verhüllen, „sondern dass sie ihn benutzen müssen“. Foto: © dpa, Taherkenareh ßen Teil der Bevölkerung nicht mehr überzeugend begründen, warum und wozu es eigentlich da ist und warum es weiter die „HerrGeistlicher, die aus ursprünglichen Anhängern des schaft der Geistlichen“ geben soll und muss. Systems zu seinen scharfen Kritikern wurden. Die Ursachen der heutigen Krise sind also für viele Sehr unterschiedlich sind auch die Ziele der ProMenschen offenkundig, das Erscheinungsbild der Kritestierenden. Viele wollen einfach mehr Freiheiten se aber ist sehr vielfältig und bedarf einer genaueren und beklagen die Einschränkungen ihrer privaten und Untersuchung. persönlichen Rechte. Dies gilt sicherlich für die Mehrheit der Protestierenden. Wenn ein islamisches SysEs gibt zunächst einmal viele verschiedene Gruptem nicht für Brot, Konsum und Freiheit sorgen kann, pen, die protestieren und viele verschiedene äußere so argumentieren Viele, wozu nützt dann der Islam? Anzeichen, an denen man ablesen kann, wie tief das Das heißt: Bei nicht Wenigen ist nicht nur das politiLand in einer Krise steckt (vgl. dazu Dokument 27). sche System in die Krise geraten, sondern auch der IsVor allem die Jugend und vielfach die Frauen proteslam selber. Die liberalen und radikal-demokratischen tieren (vgl. Dokument 28 und 29). Eine öffentliche Intellektuellen wollen eine wirkliche demokratische und internationale Würdigung hat der Kampf für die Verfassung und eine Trennung von Religion und PoliRechte der Frauen und der Bürgerrechte allgemein, tik und die radikal-demokratischen Geistlichen wollen der sich im Iran heute abspielt, durch die Verleihung Demokratie, um den Islam zu retten. Hier deuten sich des Friedensnobelpreises an die iranische Anwältin Grundtendenzen des heutigen religiösen und politiund Bürgerrechtlerin Schirin Ebadi gefunden. schen Diskurses an, die hier nur angedeutet werden Neben dem Protest der Frauen und der Jugend können. gibt es auch den Protest der liberalen und radikal-deJörg Bohn mokratischen Intellektuellen (vgl. Dokument 30) und zum Teil auch liberal und demokratisch denkender
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3.3.1 Die heutige Krise im Iran Die Zeit für eine Umorientierung - weg von dem Islam, den Homeyni predigte – scheint gekommen: Die Islamische Republik ist nach über zwanzig Jahren an einem Scheideweg angelangt. Oder, um es in den Worten Robin Wrights zu sagen, Iran kann sich seine Ideologie nicht mehr länger leisten. Der iranisch-irakische Krieg (1980–1988), mit dem die politische und wirtschaftliche Rückständigkeit gerechtfertigt wurde, ist lange vorüber; der Aufschwung, den die Revolution versprochen hat, blieb aus, die wirtschaftliche Lage ist verheerend. Obschon Iran noch im Jahre 1990 fast keine Auslandsschulden hatte, beliefen sie sich im Jahre 2000 auf 12–13 Milliarden Dollar. Wenn das Land seine Infrastruktur nicht erneuert, könnte es innerhalb der nächsten 25 Jahre zu einem Rohölimporteur werden. Die jährliche Inflation liegt zwischen 40 und 200 Prozent, inoffiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei 50 Prozent. Sogar die iranische Handelskammer gibt zu, daß 40 Prozent aller Iraner unterhalb der Armutsgrenze leben, ausländische Diplomaten schätzen die Zahl auf über 60 Prozent. 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche erhalten zurzeit keine Schulbildung, weil sie ganztägig arbeiten müssen, um zum Familienunterhalt beizutragen. Auch die Urbanisierung, die in den siebziger Jahren zur Slumbildung geführt hatte und ein entscheidendes Moment in der Revolution war, hat sich weiter fortgesetzt. 1995 lebten 59 % der Iraner in Städten mit mehr als 75 000 Einwohnern. Der Anteil der ländlichen Bevölkerung des einstigen Agrarlandes sank nach der Revolution unter 50 %. Am 5. Juni 2002 präsentierte Asraf Borugerdi, Staatssekretär des Innenministeriums für soziale Fragen und kommunale Angelegenheiten, das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage über die Einstellung der Bevölkerung zum islamischen Staat. Danach seien rund 90 % der Bevölkerung mit der islamischen Republik unzufrieden, von diesen wiederum 23 % für einen grundlegenden Wandel der Staatsordnung. 66,2 % hätten sich für Reformen ausgesprochen. 39,2 % der Befragten seien der Meinung, in Iran werde das Recht mißachtet, 49 % vermißten individuelle und gesell74
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Erfüllte die Hoffnungen nicht: Präsident Mohammad Chatami Foto: © dpa, Taherkenareh
schaftliche Rechtssicherheit. 32,5 % geben an, keine Zukunftsperspektive zu haben. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß es der Masse der Bevölkerung nach über zwanzig Jahren Islamischer Republik schlechter geht als in der Schahzeit. Sogar die wichtigsten Unterstützer des islamischen Staates fühlen sich mittlerweile von ihrer Regierung allein gelassen, und selbst die mostazafin, die Ausgebeuteten, in deren Namen die Revolution gemacht wurde, sind verbittert über den Verlauf der Revolution. Katajun Amirpur: Die Entpolitisierung des Islam, Ergon Verlag, Würzburg 2003, S. 7 f.
Interview der Zeitschrift Focus „Wir wollen ein Referendum“ Der Teheraner Jurastudent Jasan, 28, sieht sich als „Stimme vieler Studenten“ im Iran. Focus: Die Angaben über die Härte, mit denen gegen die Demonstranten vorgegangen wird, widersprechen sich. Sind Sie verprügelt worden? Jasdan: Ich nicht, aber Dutzende meiner Kamera-
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.3 Der Protest der Jugend und der Frauen wurden von den Schlägertruppen auf Befehl ih` den rer Anführer zusammengeschlagen. Zwei von denen sind in einem kritischen Zustand. Einer ist anscheinend gestorben. Focus: Offizielle Stellen behaupten, dass Hooligans und amerikanische Agenten mit Ihnen demonstriert haben. Jasdan: Wenn man demonstriert, kann man sich die Leute nicht aussuchen. Da waren wir, andere Studenten, Nicht-Studenten, Monarchisten und halt auch ein paar Rowdys mit dabei. Wie bei Ihnen in Deutschland auch. Dass dabei auch mal eine Scheibe kaputtgeht, ist wohl normal. Focus: Es gibt keine Anführer und keine einheitliche Stimme, mit der die Studenten sprechen. Was wollten Sie erreichen? Jasdan: Ganz einfach: Wir wollen, dass die vom Volk gewählten Vertreter das Sagen haben und nicht eine von Religionsführer Chamenei ernannte Minderheit. Focus: Soll Staatspräsident Chatami auch weg? Jasdan: Chatami ist ein lieber Mensch. Aber wenn er sich gegen den Klerus nicht durchsetzen kann, dann muss er zurücktreten.
Material dieser Misere. Wir waren alle gute Muslime, als der noch den unverdorbenen spirituellen Status hatte. Jetzt ist der Islam in der Politik gelandet. Um ihn zu retten, müssen wir ihn da wieder rausholen.
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Focus: Wollen die Studenten die Hilfe der Amerikaner? Jasdan: Welche Hilfe? Bisher haben wir noch nicht viel davon gesehen. Wir erwarten internationalen Druck, damit Studenten wegen ihrer Proteste nicht verprügelt, Journalisten nicht verhaftet und Dissidenten nicht wegen einer anderen Meinung als Gotteslästerer zum Tode verurteilt werden. Interview: Farfan Mina, aus: Focus 26/2003, S. 183
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3.3.2 Der Protest der Jugend 70 Prozent der iranischen Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Für diese Jugendlichen gibt es zu wenig Ausbildungsplätze und keine Arbeit. Die Arbeitslosigkeit unter den 15 bis 24jährigen beläuft sich auf das Doppelte des nationalen Durchschnitts. Auf der anderen Seite stieg die Alphabetisierungsquote und damit
Focus: Immerhin hat das iranische Volk 1979 ein Referendum abgehalten und sich für diese Herrschaft entschieden. Jasdan: Diejenigen, die beim ersten Referendum 1979 für das System gestimmt haben, sind jetzt alle über 40. Aber die Leute unter 40 bilden die Mehrheit in der Bevölkerung. Ich finde, wir haben deshalb das Recht, neu abzustimmen. Focus: Wofür würden Sie denn stimmen? Jasdan: Für ein demokratisches System, das zeitbewusst ist und unser Land aus der internationalen Isolation herausholt. Focus: Welche Rolle spielt der Islam für die Demonstranten? Jasdan: Der Islam ist das Hauptopfer
Jugendliche in einem Teheraner Internetcafe Foto: © picturealliance, Taherkenareh
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Eine junge Frau schlendert über den Tajrish Bazar in Nord-Tehran, im Juni 2001 Foto: © AP, Hasan Sarbakhshian
die Möglichkeit, sich Zugang zu politischen Informationen zu verschaffen von 47,5 % 1976 auf 71,4 % im Jahre 1991. Dabei haben die Bemühungen der Erziehungsbehörden, die Jugend zu indoktrinieren, eher das Gegenteil bewirkt. Diese Generation hat keine Erinnerung an die Schahzeit. Sie ist nicht vom Widerstand gegen die Schahdiktatur geprägt, und revolutionärer Eifer hat sie nie erfaßt. Ein Beispiel: Für großes Aufsehen in Iran sorgte im Sommer 1998 die Flucht von Ahmad Reza'i nach Amerika. Ahmad ist der Sohn des ehemaligen Leiters der Revolutionsgarden (Pasdaran), Mohsen Reza'i, der für seine Radikalität gefürchtet war. In den Interviews, die sein Sohn der amerikanischen Presse gab und in denen er den Geistlichen vorwirft, das Land auszurauben, nannte er sich selbst, bei dem alle streng islamistische Indoktrination scheinbar nicht geholfen hat, „die Stimme der iranischen Jugend“. Katajun Amirpur: Die Entpolitisierung des Islam, Ergon Verlag, Würzburg 2003, S. 8 f.
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45 Jahre und älter
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20–34 Jahre
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde nach der islamischen Revolution von 1979 geboren. Quelle: Focus 26/2003, S. 1818
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3.3.3 Der Protest der Frauen Der „Fall“ Schirin Ebadi Schirin Ebadi ist keine Märtyrerin, sondern eine Pragmatikerin. Sie hat sich nie zum Opfer stilisiert, sie ist eine Frau der Tat, eine kluge Juristin, illusionslos, realistisch, die - immer am Rande der Legalität, immer die Grenzen der Legalität auslotend - das getan hat, was sie als ihre Aufgabe sieht: in den Grenzen der iranischen Realität für die Rechte von Kindern, Frauen und politisch Verfolgten zu kämpfen. Wenn Frau Ebadi spricht - ob am Abendbrottisch oder in der Diskussionsrunde - liegt ihr rundes Gesicht offen und ertönt die tiefe, kräftige Stimme mit solchem Engagement, als stünde sie im Gerichtssaal und hielte ein Plädoyer, in dem es um Leben und Tod geht.
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.3 Der Protest der Jugend und der Frauen ein politisch brisanter Fall in den vergange` nenKaum Jahren, den Ebadi nicht vertreten hat - von den sogenannten Serienmorden an iranischen Intellektuellen bis hin zum Fall der kanadisch-iranischen Journalistin Kazemi, die in diesem Sommer in Untersuchungshaft in Teheran ums Leben kam. Selbst häufig das Ziel von Morddrohungen, hat die 56 Jahre alte Mutter zweier erwachsener Töchter immer wieder ihre Furchtlosigkeit bewiesen. Aber während andere Regimekritiker Jahre im Gefängnis verbrachten, war Ebadi selbst nur einmal ganze 22 Tage inhaftiert. Das sind ihre Widersprüche: in der Flexibilität unbeugsam, in der Anpassungsbereitschaft unabhängig. Sie ist vielleicht eine Regimekritikerin, aber sie will das islamische System nicht stürzen. Ihr Ziel sind gesellschaftliche Veränderungen. Und die kann sie nur in ihrem Land und unter den Bedingungen ihres Landes erreichen. Als so viele andere nach der Revolution Iran verließen, ist Ebadi geblieben. Wer wie Wasser ist, ist schwer zu greifen. „Die religiösen Kreise in Iran halten mich für unislamisch, die linken Exiliraner finden mich zu islamisch, und die Monarchisten glauben, ich stecke mit den Islamisten unter einer Decke“, sagt Frau Ebadi. Für die einen ist
Material sie eine Kollaborateurin des islamischen Systems, für die anderen eine verkappte Agentin des Westens. Frau Ebadi sperrt sich gegen die Einordnung in bekannte Raster. Sie unterzieht sowohl die Schah-Zeit als auch die Islamische Republik der Kritik. Wie viele andere gebildete Frauen unterstützte Ebadi die Revolution, obwohl die Modernisierung der Schah-Zeit ihr persönlich große Vorteile gebracht hatte. 1974 wurde sie zur ersten Richterin Irans, eine Ernennung, deren Symbolgehalt für die islamische Welt kaum zu überschätzen ist. Erstmals saß eine Frau, die nach traditioneller muslimischer Auffassung dem Mann Gehorsam schuldet, über Männer zu Gericht. Trotz ihrer glänzenden Karriere wandte sich Frau Ebadi gegen das Schah-Regime, sie kritisierte das Fehlen demokratischer Rechte und die zwangsweise Modernisierung. „Zu meiner Hochzeitsfeier in einem Schickeria-Club in Teheran wurde meine Großmutter im Tschador nicht zugelassen.“ Die Revolution brachte in ihren Augen zwar größere politische Rechte für Männer wie Frauen, zugleich aber verloren die Frauen einen Großteil ihrer zivilen Rechte. Die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau, die unter dem Schah mühsam durchgesetzt worden war, wurde wieder rückgängig gemacht.
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„Frauen werden im Iran in bezug auf Familienrecht, Zivilrecht und Strafrecht als Menschen zweiter Klasse behandelt“, schreibt in einem Aufsatz der regimekritische iranische Geistliche Mohsen Kadivar. So macht es das iranische Scheidungsrecht dem Mann sehr leicht und der Frau sehr schwer, sich von ihrem Ehepartner zu trennen. Beim Sorgerecht für die Kinder wird der Mann zudem stark bevorteilt. Das Strafrecht ahndet den Mord an einem Mann schwerer als den an einer Frau, und der von einer Frau begangene Ehebruch wird mit dem Tod bestraft, während der Straftatbestand für Männer gar nicht existiert. Die islamische Kleiderordnung und die Regel, daß Frauen für eine Auslandsreise die Erlaubnis des Ehemannes vorweisen müssen, sind da für viele Iranerinnen fast nur noch Bagatellen. Der „Fall“ Schirin Ebadi, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 287 10.12.03, S. 3
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Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi Foto: © AP, Vahid Salemi, Stringer
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Ebadi und die Frauenrechte im heutigen ` Schirin Iran Schirin Ebadi ist fröhlich, aber bestimmt. Man merkt ihr an, dass sie einen langen Atem hat und vor allem Mut. „Rechte werden einem nicht gegeben, man muss sie sich nehmen“, sagt sie. Und: „Wer in Iran für Menschenrechte kämpft, muss lernen, mit seiner Angst zu leben“. Sie hat es gelernt. Ebadi wirkt nicht so, als hätte sie vor irgendjemandem oder irgendetwas Angst. In ihrem Büro im untersten Stockwerk ihres Wohnhauses in Teheran ist sie Ansprechpartnerin für alle, die sich mit Menschenrechten in Iran beschäftigen. Schirin Ebadi setzt sich vor Gericht für die Rechte von Frauen ein in einem Rechtssystem, das Frauen massiv benachteiligt: So werden Kinder nach einer Scheidung automatisch dem Vater zugesprochen. Außerdem kann sich eine Frau nur dann scheiden lassen, wenn der Mann einverstanden ist oder ihr vorher in einem Ehevertrag das Recht zur Scheidung übertragen hat. In zahlreichen Prozessen hat die Juristin Ebadi gegen diese Ungerechtigkeit gekämpft, aber auch, indem sie den iranischen Frauentag ausrichtete und in Kundgebungen gegen das iranische Familienrecht protestierte. Ihrer Kampagne ist zu verdanken, dass Männer sich nicht mehr scheiden lassen können, ohne eine Abfindung zu zahlen. Vor einigen Jahren gründete Ebadi außerdem eine Organisation zum Schutze von Kindern. Zudem kämpft sie vom Schreibtisch aus: Die Liste ihrer Publikationen ist lang und vor allem schreibt sie regelmäßig in der viel gelesenen Frauenzeitschrift „Zanan“ (Frauen). Bei alldem kämpft Ebadi mit einer besonderen Waffe: Sie benutzt islamische Argumente, wenn sie mehr Rechte für die Frauen fordert und legt dar, dass nicht der Koran die Verbesserung der Situationen der Frauen im Iran verhindert, sondern ein patriarchalisches Gewohnheitsrecht. Der Koran an sich sei so frauenfreundlich oder -feindlich wie jede andere Offenbarungsschrift auch. Es komme einzig darauf an, wie man ihn interpretiere. Ebadi weiß, dass sie mit dieser Aussage bei westlichen Journalisten auf Unglauben stößt: Im Koran stehe schließlich ganz klar, dass die Aussage eines männlichen Zeugen das Gewicht von zwei weiblichen habe, wird ihr oft ent78
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Material gegengehalten. Ebadi lacht dann und sagt: Viele, die meisten rechtlichen Ungerechtigkeiten würden nicht mit dem Koran zusammenhängen. Oft könne man sogar beweisen, dass der Koran nicht meine, was die iranischen Gesetzgeber verstanden hätten. „Wo steht beispielsweise im Koran, dass Frauen nicht ohne Erlaubnis ihrer Männer das Land verlassen dürfen?“, fragt sie. Auch in einer Debatte, die in jüngster Zeit die Gemüter in Iran bewegte, hat sich Ebadi als wichtige Anwältin der iranischen Frauen hervorgetan: Im August beschloss das Parlament in Teheran, einer UN-Konvention beizutreten, die jede Art der Diskriminierung von Frauen ächtet. Doch der so genannte Wächterrat legte sein Veto ein. Er wird von konservativen Geistlichen dominiert, die jedes Gesetz, das vom Parlament verabschiedet wird, auf seine Vereinbarkeit mit dem Islam prüfen. Die Konvention verstoße gegen das islamische Erbrecht und das Sorgerecht, befand das Gremium. Sie gründe auf Liberalismus, Laizismus und dem westlichen Materialismus. Der Konvention zuzustimmen, käme einem Verzicht auf die göttlichen Gesetze gleich. Ebadi hält das alles für Unsinn: Die Ablehnung der UN-Konvention könne nicht mit dem Hinweis auf den Islam begründet werden. „Es ist die herrschende patriarchale Kultur, die eine Gleichberechtigung von Frauen und Männern verhindert. Der Islam ist nur ein Vorwand“, sagt sie. „Die Hälfte der iranischen Bevölkerung sind Frauen. Frauen machen 63 Prozent unserer Studentenschaft aus. Warum soll also etwa das Blutgeld, die Entschädigungssumme an die Familie eines Ermordeten, für eine Frau halb so hoch sein wie für einen Mann? Und warum kann ein Mann seine Frau ohne jegliche Begründung verstoßen, wann immer er will ?“ All dies habe mit dem Islam nichts zu tun, sagt Ebadi. Der Islam sei die Religion der Gleichberechtigung. Die Juristin setzt sich aber nicht nur für die Rechte von Frauen ein. Sie war auch die Anwältin von Parastou Foruhar, die seit Jahren für die endgültige Aufklärung des Mordes an ihren Eltern kämpft. Diese fielen im Herbst 1998 zusammen mit anderen Intellektuellen und Oppositionspolitikern einer Mordserie zum Opfer, den so genannten Kettenmorden. Wie sich später her-
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waren sie von einer Abtei` ausstellte, lung im Geheimdienst verübt wor-
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den, die dem reformorientierten Präsidenten Mohammad Chatami schaden wollte. Der hatte im Wahlkampf mit dem Versprechen für sich geworben, in Iran Rechtssicherheit herzustellen. Zwar wurde bekannt, dass die Täter aus dem Geheimdienst stammten, die Hintermänner der Tat wurden jedoch nie zur Rechenschaft gezogen. [...] Katajun Amirpur, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 234 11/12.10.03, S. 2
Irans Mullahs warnen Frauen, sich „unanständig“ anzuziehen. Aber selbst Gefängnis schreckt nicht ab. Seit Jahrzehnten schon geht der islamische Klerus in Iran mit Macht gegen die „westliche Kulturinvasion“ an. Gefahr für die Islamische Revolution drohe nicht nur von Satellitenfernsehsendern, Büchern, Musik und Filmen, sondern auch durch die Mode aus dem Westen. Durch den Vormarsch des Internets ist es zwar großteils gar nicht mehr möglich, diese „Kulturinvasion“ zurückzuschlagen. Doch bei der Mode liegt das etwas anders.
Zwei junge Teheraninerinnen beim Einkaufsbummel
Seit 26 Jahren versuchen die Mullahs nun schon, Iranerinnen vorzuschreiben, wie sie sich in der Öffentlichkeit zu zeigen haben: in bodenlangem wallenden Gewand, das Haar vor den Blicken fremder Männer unter einem Schal versteckt. Aber selbst Auspeitschen, Geld- und Haftstrafen halfen nichts. Alles erfolglos. Nun blasen die konservativen Kräfte mit Hilfe des staatlichen Fernsehens erneut zum Kampf. „Nicht beizeiten dagegen vorzugehen, würde die gesamte islamische Gesellschaft unseres Landes in Gefahr bringen“, wetterte ein führender Ayatollah, Mohammed Kaschani. „Vielleicht besiegt die Regierung ja eines Tages den Großen Satan (Bezeichnung Teherans für den
Foto: © Getty-Images, Behrouz Mehri
Erzfeind USA)“, meint Schahrokh M., ein Teheraner Ladenbesitzer. „Aber den Frauen können sie nicht vorschreiben, was sie anziehen sollen und was nicht.“ In den Städten spazieren modebewusste Iranerinnen meist im kurzen, engen Mantel durch die Straßen. Auch die Hosen lassen Bein sehen bis zur Wade. Unter dem lässig umgeworfenen Designer-Schal wird am Make-up nicht gespart. [...] Farshid Motahari (Teheran), in: Hamburger Abendblatt, 25.8.04, S. 4
Anm.: „Mullah“ oder „Mulla“ = Geistlicher
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Text 1 Eine Rede Aghadscheris und Angaben zur Person
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3.3.4 Der Protest der Intellektuellen Beispielhaft für den Protest der Intellektuellen sollen zwei Dokumente angeführt werden. Das erste Dokument betrifft einen aktuellen Konflikt. Es ist der „Fall“ des iranischen Historikers Haschem Aghadscheri, der am 6.11.2002 zum Tode verurteilt worden war und aufgrund vielfältiger Proteste im Iran und in der internationalen Öffentlichkeit noch am Leben ist. Das „Vergehen“ Haschem Aghadscheris bestand darin, dass er die herrschende Staatsform, die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ grundsätzlich kritisierte und eine grundlegende Reform des Islam und seiner Rechtsordnung, der Scharia, forderte. Das Ziel müsste sein, den Islam und die Demokratie miteinander zu verbinden und den Rechten des einzelnen Menschen zum Durchbruch zu verhelfen. Aghadscheri stützt sich in seinen Argumenten auf den iranischen Gesellschaftswissenschaftler Dr. Ali Schariati, der zur Zeit des zweiten Schah lebte und ein scharfer und grundsätzlicher Kritiker dieses Gewaltherrschers war. Schariati forderte gleichzeitig auch eine Reform der Geistlichkeit, der er vorwarf, in einem Denken verhaftet zu sein, in dem die Verbindung von Islam und Demokratie noch nicht verwirklicht war. Beide, Schariati und heute Aghadscheri, setzen sich für einen Islam ein, der die Befreiung des einzelnen Menschen von religiöser und politischer Unterdrückung vorantreibt. Der zweite „Fall“ bezieht sich auf den iranischen Schriftsteller Mustafa Rahimi, der in der Schah-Zeit ein scharfer Kritiker von dessen Gewaltherrschaft war und sich nach der iranischen Revolution von 1979 und der Etablierung der „Herrschaft der Religionsgelehrten“ unter Khomeini scharf gegen Khomeini und dessen Konzept der „Herrschaft der Religionsgelehrten“ wandte. Jörg Bohn
Der 1957 geborene Haschem Aghadscheri ist Professor für Geschichte an der Tarbiat-ModaressUniversität in Teheran. Er ist ein Veteran des Iran-IrakKrieges, in dem er ein Bein verlor. Seine hier auszugsweise – mit Unterstützung des Memri (Middle East Media Research Institute) – dokumentierte Rede ist ein Meilenstein islamischer Selbstreflexion: Die Kritik an den sozialen Missständen und an der politischen Unterdrückung im Iran verknüpft Aghadscheri mit einer Analyse ihrer religiös-kulturellen Ursachen. Aghadscheri hielt die Rede in der Millionenstadt Hamedan im Rahmen einer Feier, die zum 25. Todestag von Ali Schariati, einem Vordenker der islamischen Revolution, stattfand. Dieser, ein scharfer Kritiker des schiitischen Klerus, starb 1977 unter ungeklärten Umständen. Aghadscheris Ruf nach einem „islamischen Protestantismus“ und einem „islamischen Humanismus“ bezieht sich auf Gedanken von Ali Schariati. Ein anonymer Zuhörer schnitt die Rede heimlich mit und stellte das Protokoll ins Internet. Am 9. Juni hatte Haschem Aghadscheri seine Rede gehalten, einen Monat später wurde er verhaftet, am 6. November erging in Hamedan das Urteil gegen ihn: Tod durch den Strang wegen „Blasphemie“ und „Beleidigung des Propheten“. Die Folge ist ein Kulturkampf, der bis heute nicht entschieden ist: Studenten protestierten wochenlang an den Universitäten, der Sprecher des Parlaments drückte seinen „Ekel“ angesichts des „schändlichen Urteils“ aus, auch Präsident Chatami kritisierte den Richterspruch. Auf der Gegenseite drohte der Revolutionsführer Chamenei, Oberhaupt der Konservativen, zunächst mit gewaltsamer Repression; als die Studentenproteste aber ungerührt fortgesetzt wurden, bot er Aghadscheri die Möglichkeit der Berufung an. Der will davon nichts wissen, weil er das ganze Verfahren für eine Farce hält. Er sei bereit zu sterben, ließ Aghadscheri seinen Richtern sagen. Sein Anwalt indes legte mittlerweile Berufung gegen das Todesurteil ein. Inzwischen haben sogar einige Konservative das Urteil kritisiert, wenn auch aus anderen Gründen: Es habe dem Reformlager eine einmalige Gelegenheit zum Protest gegeben. Es hängt nicht nur für den Iran
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.3 Der Protest der Jugend und der Frauen davon ab, wie dieser „wichtigste Prozess der heu` viel tigen Zeit“ (New York Times) ausgehen wird. Die vollständige Rede ist auf Englisch unter www.memri.org einzusehen.
Die Rede Es ist mir eine Ehre, heute – am 25. Jahrestag des Märtyrertodes meines Bruders, Freundes und Gleichgesinnten Dr. Ali Schariati – zu euch zu sprechen. Das Thema meiner heutigen Rede ist der islamische Protestantismus. Seit dem späten 18. Jahrhundert, seit der Ghadjaren-Dynastie, ist unsere Gesellschaft zweigeteilt: Ein Teil der Gesellschaft blieb zurück und entwickelte sich nicht weiter, während ein anderer Teil der Gesellschaft sich mit einer neuen Welt konfrontiert sah, in der sich Wissenschaft, Technik und Industrie entwickelten. Aus dieser Begegnung entstand die Krise der iranischen Intellektuellen: Die Frage war, woher die eigene Rückständigkeit kam und wie sie durch eine eigene Form der Modernisierung überwunden werden konnte. Dr. Schariati sah, dass das Hauptproblem des Iran kultureller Art ist. Solange die Kultur und die Denkweise der Gesellschaft sich nicht ändern, können die Regime kommen und gehen, aber kein grundlegendes Problem wird gelöst werden können. Der kulturelle Kern der iranischen Gesellschaft ist aber die Religion. Die iranische Gesellschaft hatte zu allen Zeiten eine religiöse Kultur, sowohl vor als auch nach der Bekehrung zum Islam, sowohl vor der Herrschaft der Safawiden als auch danach; als die meisten Iraner sich zur Schia bekannten. Hier setzt Dr. Schariati mit seinem Projekt des islamischen Protestantismus an. Er fragte: Was war der christliche Protestantismus? Der Protestantismus, dieser neue Zweig des Christentums, entstand zugleich mit dem Kapitalismus, und er war eine Gegenbewegung zur alten und traditionellen Auslegung des Christentums, zum Katholizismus. Die Reformatoren, jene christlichen Intellektuellen, die den Protestantismus begründeten, präsentierten eine neue Auslegung des Christentums. Sie veränderten die Sicht ihrer Gesellschaft auf die Religion.
Material Der Protestantismus war eine religiöse Bewegung im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts, und viele ihrer Protagonisten wie Calvin und Luther waren Geistliche und Priester. Aber sie waren Priester, die die Kirche und die Geistlichkeit kritisierten. Die protestantische Bewegung wollte das Christentum aus den Händen des Klerus und die Religion aus den Händen des Papstes befreien.
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Die iranischen Geistlichen und ihr Hang zum Luxus Wir Muslime brauchen keinen Vermittler zwischen uns und Gott. Zum Verständnis der Heiligen Schrift brauchen wir keinen Vermittler. Gott und sein Prophet haben direkt zum Volk gesprochen. Wir brauchen nicht zum Klerus zu gehen. Jeder ist sein eigener Priester. Das Projekt eines islamischen Protestantismus, das Dr. Schariati in seinen Abhandlungen entwirft, ist natürlich mit dem christlichen Protestantismus nicht in allen Einzelheiten deckungsgleich. Ein wesentlicher Teil des Werks von Dr. Schariati bestand darin, zwischen dem „Kern des Islam“ und dem „überlieferten Islam“ zu unterscheiden. Er lehrte, dass viele Dinge, die von den Geistlichen als religiöse Sitte des Islam bezeichnet werden, nicht zum Kern des Islam, sondern zur Tradition zählen. Der traditionelle Islam besteht aus den gesammelten Gedanken und Erfahrungen der Geistlichen und Gelehrten der letzten Jahrhunderte. Bloß weil diese Zeugnisse aus lange vergangener Zeit kommen, werden sie oft als heilig angesehen. Aber schauen wir uns einmal unsere Geschichte der letzten 100 Jahre an, zum Beispiel als die Gedanken der modernen Hygiene in Iran Fuß zu fassen begannen und die großen Bassins in den Badehäusern als unhygienisch deklariert wurden. Ein Teil des Klerus protestierte gegen die Einführung von Dusche und Wasserhahn, weil mit diesen Instrumenten die vorschriftsmäßigen rituellen Waschungen nicht möglich seien. Ausschließlich in jenen großen Bassins, hieß es, könne man sich den religiösen Gesetzen gemäß reinigen. Die Geistlichen haben allerdings inzwischen einige Zugeständnisse an die Moderne gemacht, vor allem wenn es um Fragen ihres eigenen Lebensstils geht – etwa um den Besitz von Autos.
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70 oder 80 Jahren wandte man sich im Namen ` desVor Islam gegen viele neue Errungenschaften. Man nannte sie haram (das heißt: vom religiösen Gesetz verboten). Bis vor kurzem noch war etwa das Erlernen der englischen Sprache in den islamischen Hochschulen verboten. In einer Abhandlung, die einer dieser geistlichen Herren um 1905 geschrieben hat, wandte er sich gegen moderne Wissenschaften wie Chemie und Physik, deren Studium als haram angesehen werden müsse. Die Chemie lehre, hieß es da, dass es keinen Gott gebe. Aber heute wenden sich die Herren nicht mehr gegen die Wissenschaften. Im Gegenteil. Während mein Wagen ein Peykan ist (ein billiges iranisches Modell; Anmerkung der Redaktion), fahren sie das neueste Modell einer Luxusmarke (Applaus im Saal). Ist das richtig? Sie machen sehr gerne Konzessionen, wenn die Errungenschaften der Moderne ihnen selbst nützen. Sie probieren diese Dinge aus und stellen fest, dass die Moderne keine gar so schlechte Sache ist (Lächeln im Publikum). Dr. Schariati hätte gesagt, dass dieser Klerus nicht vom Himmel herabgestiegen ist. Sie sind Menschen von heute, aber ihre Denkweise ist mittelalterlich. So lange diese Denkweise nicht verändert wird, solange diese religiösen Führer sich nicht verändern, wird die Masse der Menschen, die ihrer Auslegung folgen, glauben, dass der schiitische Islam niemals eine moderne Religion sein kann. Er wird dann weiter von diesen Fehlgeleiteten benutzt werden. Statt als Treibkraft für Fortschritt und Entwicklung zu dienen, wird er ein Hemmschuh bleiben.
Gläubige sind keine Affen, die nur nachahmen Weil Dr. Schariati gegen diese Haltung kämpfte, wollte er den überlieferten Islam vom Kern des Islam unterscheiden. Die Tradition, glaubte er, sei lediglich die Summe der Erfahrungen und Gedanken früherer Generationen und dürfe darum nicht als heilig angesehen werden. Wie die Gelehrten früherer Generationen den Islam verstanden und interpretierten, sei nicht mit dem Islam schlechthin gleichzusetzen. Es ist, so Dr. Schariati, lediglich ihre Deutung des Islam. Und so wie jene das Recht hatten, den Koran auf 82
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Material ihre Weise zu interpretieren, so haben auch wir das gleiche Recht. Ihre Interpretation des Islam kann kein Gesetz für uns sein. Wir müssen den Kern des Islam vom historisch überlieferten Islam unterscheiden, uns auf den ursprünglichen Text zurückbesinnen und diesen mit heutigen Methoden für uns interpretieren. Dr. Schariatis geistiger Kampf kreiste um das Problem, dass niemand, der im 20. und 21. Jahrhundert ein Muslim sein will, dies in schlichter Übereinstimmung mit jenem Islam tun kann, der in Mekka und Medina vor 1.400 Jahren herrschte – in Städten wohlgemerkt, die weniger Einwohner hatten als viele Dörfer im heutigen Iran. Der heutige Islam muss ein anderer sein. In allen Lebensbereichen müssen wir ein neues Verständnis des Islam entwickeln. Der Islam von heute muss zu der Denkweise und zur Wirklichkeit von heute passen. So wie die Menschen in der Morgendämmerung des Islam sich mit dem Propheten unterreden durften, so haben auch wir heute das Recht dazu. Jahrelang hatten die jungen Leute Angst davor, den Koran zu öffnen. Sie sagten sich: Wir haben nicht das Recht, den Koran aufzuschlagen. Wir müssen einen Mullah fragen, was im Koran geschrieben steht. Der Koran kam so meistens in den Moscheen und auf den Friedhöfen zum Einsatz. Den Jungen wurde das Recht abgesprochen, sich selbst dem Koran zu nähern. Man sagte ihnen, es bedürfe der Kenntnis von 101 Methoden, um den Koran zu verstehen. Dann kam Schariati und sagte den Studenten, dass diese Ideen falsch seien und sie den Koran selbst lesen und auf ihre eigene Weise verstehen könnten. Wenn ein Student mit einer wissenschaftlichen Methode den Koran liest, vermag er Dinge zu verstehen, die jene religiösen Führer, die sich anmaßen, tonnenweise Geheimwissen zu haben, niemals verstehen können (Applaus von einem Teil der Anwesenden). Die religiösen Führer haben uns gelehrt, dass es ein Verbrechen sei, den Koran auf eigene Faust auszulegen. Sie fürchteten wohl, dass ihre Zunft daran kaputtgehen würde, dass die Jungen lernten, den Koran selbst zu lesen. Wir hatten im Islam niemals eine Gesellschaftsschicht von Geistlichen. Einige religiöse Würdentitel sind kaum älter als 50 bis 60 Jahre. Wo war denn bitte die religiöse Hierarchie zur Zeit der Safwiden? Die
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.3 Der Protest der Jugend und der Frauen üblichen Titel des schiitischen Klerus sind Mo` heute dellen der katholischen Kirche abgeschaut – Bischof, Kardinal, Priester und so weiter. Ja, die heutige schiitische Hierarchie ist eine Imitation der christlichen Kirche. Bei uns gibt es nun auch eine geistliche Rangordnung – mit dem Großajatollah an der Spitze. Eine Ebene darunter gibt es dann Ajatollah, Hodschatoleslam, Saghat al Islam und was weiß ich für Islam (Gelächter im Saal).
Material Schariati glaubte, dass die Beziehung zwischen dem Klerus und dem Volk wie die zwischen Lehrer und Schüler sein sollte, nicht wie zwischen Führer und Gefolgschaft oder zwischen einem Heiligen und
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In den letzten Jahren, da die religiösen Institutionen sich in Regierungsinstitutionen verwandelt haben, ist dieses Thema natürlich ein sehr heikles geworden. Aber gibt es irgendjemanden in unserer Gesellschaft, der den Unterschied zwischen einem Hodschatoleslam und einem Ajatollah wirklich versteht? Schariati hat gesagt, dass im Islam kein Platz für eine Klasse von religiösen Führern sei. Dies entspreche nicht dem Kern des Islam. Jene aber wollen in unserem Land eine Kleriker-Klasse schaffen. Ich zweifle allerdings – wegen unserer Unabhängigkeit und der Eigenheit des schiitischen Islam – daran, dass sie damit durchkommen werden. Die Unterteilungen und Hierarchien, die sie schaffen wollen, sind katholisch, nicht islamisch. Manche Kleriker sind so angetan von dem, was sie zu tun versuchen, dass sie sich schon selbst für Ikonen halten.
Teheraner Studenten fordern die Freilassung des Professors Haschem Aghajari
Foto: © Getty-Images, Keivan
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Nachahmer. Die Leute sind keine Affen, die ` seinem nur nachahmen. Der Lernende versteht und handelt danach. Er bemüht sich, sein Wissen zu erweitern, damit er eines Tages den Lehrer nicht mehr benötigt. Die Fundamentalisten aber streben ein Verhältnis von Herr und Gefolge an. Der Herr bleibt dann immer der Herr und das Gefolge immer das Gefolge. Das ist geistige Sklaverei – wie eine Kette ums Genick. Der herrschende Klerus im Iran will die totale Macht ausüben. Schariati aber sagte den religiösen Führern: Ihr seid keine Imame, ihr seid keine Propheten, ihr könnt das Volk nicht als Untermenschen behandeln. Das Blut der Leute hat dieselbe Farbe wie eures, sie sind geboren wir ihr, sie sind Geschöpfe Gottes wie ihr. Als Muslime, als Anhänger des vollkommenen und göttlichen Islam, achten wir die Menschheit hoch. Der Mensch ist ein Mensch und zwar unabhängig von seiner Religion, auch wenn er kein Muslim ist, auch wenn er kein Iraner ist. Auch Türken, Kurden, Luren (ethnische Minderheiten im Iran, Anm. d. Red.) haben unveräußerliche Rechte. Schariati glaubte, dass der Humanismus im Westen keine festen Wurzeln hatte, weil er dort nicht auf religiösen Prinzipien basiert. Aber im Islam sei der Humanismus von Gott gegeben, wie auch der Mensch die Schöpfung Gottes ist. Dies dürfen nicht nur schöne Worte bleiben: Menschen haben Rechte. Wenn also gewöhnliche Menschen ihre Meinung äußern wollen, können die Kleriker erwidern: Diese da haben nicht die Macht zu entscheiden, denn sie wissen nicht, was gut für sie ist. Der heutige Islam sollte der Kern-Islam sein, nicht der Islam der Tradition. Der islamische Protestantismus ist ein vernünftiger, praktizierbarer und menschlicher Islam. Viele Leute, die an der islamischen Revolution keinen Anteil hatten, bewegen sich jetzt auf der öffentlichen Bühne und sagen, dass der traditionelle Islam der wahre Islam sei. Zu Schariatis Zeit hatte der Klerus noch keine Macht. Heute aber ist der Islam an der Macht, die Kleriker stellen die Regierung. Gerade deshalb ist der Gedanke des islamischen Protestantismus heute wichtiger denn je. Wir brauchen eine Religion, die die Rechte von jedermann respektiert – eine fortschrittliche Religion, nicht eine traditionelle Religion, die auf den Leuten herumtrampelt. Wir dürfen nicht sagen: „Wer nicht mit uns ist, ist 84
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Material gegen uns.“ Jedermann darf, kann sein, was immer er sein möchte. Wir dürfen nicht sagen, wenn du nicht mit uns bist, können wir mit dir machen, was wir wollen. Wenn wir uns so verhalten, treten wir unsere eigenen religiösen Prinzipien mit Füßen.
Unsere Kleriker sind bezaubert von Menschenrechten – anderswo Unsere Kultur braucht einen islamischen Humanismus. Die Menschenrechte sind in unserer Verfassung garantiert. Niemand darf mit Füßen getreten werden. Unglücklicherweise hat sich im letzten Jahrzehnt in den Köpfen der Menschen aber festgesetzt, dass man sich daran nicht halten müsse. So rechtfertigt man die Folter. Die Herrschenden sagen: „Wir haben jemanden festgenommen, er hat Informationen, ist Mitglied einer Gruppe, hat sich irgendwo engagiert. Weil er bei normalen Verhörmethoden nicht auspackt, müssen wir ihn eben foltern, bis er singt wie ein Vogel.“ Die Verfassung verurteilt dies, aber die Herrschenden halten sich nicht daran. In vielen nichtislamischen Ländern erkennt man die Menschenrechte immerhin den eigenen Bürgern zu. Man unterdrückt vielleicht andere Völker. Aber die Geltung der Menschenrechte ist so wichtig geworden in vielen fremden Ländern, dass sogar einige unserer Kleriker davon beeindruckt sind, wenn sie sich für zwei oder drei Wochen wegen einer medizinischen Behandlung dorthin begeben. Sie sind dann ganz bezaubert davon, wie die dortigen Obrigkeiten sich ihren eigenen Leuten gegenüber verhalten. Vor 150 Jahren fuhr ein muslimischer Gelehrter nach Europa. Als er zurückkam sagte er: Ich sah keine Muslime in Europa, aber ich habe den Islam (wörtlich: Rechtschaffenheit, Gottesfürchtigkeit, Anm. d. Red.) gesehen. Bei uns in Iran dagegen sehen wir heute Muslime, aber wir sehen keinen Islam. (Beifall) www.memri.org, in: Zeit, Nr. 52 18.12.02
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` Text 2 Der folgende Text ist dem Buch von Ulrich Tilgner „Umbruch im Iran“ entnommen. Der Autor Ulrich Tilgner zitiert nicht den vollständigen und durchgängigen Text des iranischen Schriftstellers Mustafa Rahimis. Er nimmt Kürzungen vor und fasst einige Abschnitte des Briefes von Mustafa Rahimi mit eigenen Worten zusammen. Diese Texte sind kursiv gedruckt. Das dem Text beigegebene Bild stammt aus dem „Iran Bulletin“, einer Zeitschrift, die in London erscheint und der radikal-demokratischen Opposition im Iran und den Exil-Iranern nahesteht. Das Bild ist das Foto eines Gemäldes des iranischen Malers Mohammed Moddaber. Es stellt eine Szene aus dem iranischen Nationalepos „Shahnameh“ dar, das aus dem 11. Jahrhundert stammt und von dem Dichter Ferdowsi geschrieben wurde. Die Szene auf dem Bild stellt die Ermordung des jungen Siavash (Mitte des Bildes) durch den Gewaltherrscher Afrasiab (linke Seite) dar. Symbolisch wird hier die Unterdrückung des Schönen, Guten und Tapferen durch die brutale politische Macht dargestellt. Die Zeitschrift „Iran Bulletin“ hat dieses Bild zum Gedächtnis der vielen ermordeten politischen Häftlinge im Iran publiziert. Es passt also thematisch zum Text des radikal-demokratischen Autors Rahimi. Jörg Bohn
Der Text „Warum ich gegen die islamische Republik bin“ Auszüge aus einem offenen Brief des Schriftstellers Mustafa Rahimi an Ajatollah Khomeini, der am 16. Januar 1979 in der Teheraner Morgenzeitung Ajandagan veröffentlicht wurde. Viele der in dem Brief aufgestellten Forderungen sind in Khomeinis Verfassungsentwurf erfüllt. Die Veröffentlichungen in der drittgrößten Zeitung des Landes beweist aber, daß die Diskussionen um die Grundlagen der neuen Republik schon seit Jahresbeginn breit geführt werden. „Ob unser schlummerndes Glück jemals erwachen wird?“ (Hafiz) Einleitend schreibt Rahimi, daß er sämtliche politischen Positionen Khomeinis
Material - gegen das illegale Regime im Iran, - gegen den US-Imperialismus, - gegen die sowjetische und chinesische Politik und - gegen die zionistische Regierung Israels voll akzeptiert.
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Er erläutert, warum er diesen Brief gerade an Khomeini richtet, weil „Sie als Sprecher des unterdrückten iranischen Volkes Ihre Stimme gegen das korrupte Regime und gegen die großen, ungerechten Staaten der Welt erhoben haben. Sie haben mit Ihrer weisen Führung die Fundamente eines Unterdrücker-Regimes rasch und grundlegend erschüttert, das von allen Staaten aus Ost und West unterstützt wurde. So ist es möglich, daß einer wie ich Ihnen heute aus dem Inland diesen Brief schreiben kann, während es bis vor kurzem so war, daß, wenn jemand wagte, seine Meinung zu äußern, er entweder durch die Henker vernichtet wurde, bevor seine Meinung andere erreichte oder seine Stimme in Gefängniszellen verstummte.“ Rahimi bekräftigt dann seine Überzeugung, daß „der einzige Weg zur Befreiung der Menschen die Verschmelzung zweier Ideen ist: Demokratie und Sozialismus“. Heute werde die Demokratie durch Kapitalismus blockiert und Sozialismus durch Kommunismus korrumpiert. Über „Demokratie“, Sozialismus und Religion sei viel geredet worden, aber nur von seiten einiger weniger. Die Mehrheit der Bevölkerung sei immer von der Verwirklichung dieser Ideen ausgeschlossen worden, und hier liege der Grund für viele Übel und Unzulänglichkeiten. Andererseits könne die Humanität in der Verbindung von Demokratie und Sozialismus nur durch geistig-moralische Werte gewährleistet werden. Nach der Aufzählung weiterer Gründe, warum Rahimi als Jurist und Schriftsteller sich direkt an Khomeini wendet, nennt er sechs Gründe seiner Gegnerschaft zu einer islamischen Republik: 1. „Die iranische Revolution, deren Größe von Fremden und Feinden gleichermaßen bewundert wird, gehört dem ganzen Volk … Warum sollte zum Aufbau des zukünftigen Iran nicht die freie Meinung der ganzen Nation befragt werden! Kann man denn behaupten, daß alle Gefallenen der Revolution, die in Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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Jahren (der Despotie) Keime der Freiheit mit ` dunklen ihrem Blut bewässert haben, für die Errichtung einer islamischen Republik gestorben sind? Kann man denn behaupten, daß alle politischen Gefangenen, die die ersten Voraussetzungen zur Freiheit im Iran erkämpft haben, Anhänger der religiösen Ideologie waren und sind?“ … 2. „Ich verstehe unter ‚islamischer Republik‘, daß die Herrschaft in der Hand der Geistlichkeit liegt. Das steht aber im Widerspruch zu dem Recht des iranischen Volkes, welches durch die konstitutionelle Revolution (von 1906) erreicht wurde, was besagt, daß die Gewalt vom Volke ausgehen muß …“ 3. „Die islamische Republik steht auch im Widerspruch zur Demokratie … Ein islamischer Staat ist keine Republik mehr, weil alle Voraussetzungen des Regimes vorbestimmt sind und allen Konventionen und Bestimmungen des Staates nicht widersprochen werden darf …“ 4. „Ich frage, mit welchen Grundlagen kann eine islamische Regierung die komplizierten Probleme der Wirtschaft, des Rechts und der politischen Freiheit lösen? … Wenn ein Nachfolger von Ihnen diese Probleme nach dem Muster von vergangenen Jahrhunderten lösen will, was kann man da machen und wie kann man ihn daran hindern?“ 5. „Wir entmündigen die Bevölkerung, indem wir die Art und Weise des Regimes vorbestimmen. In Fragen über den Gott und die Religion sind allein die Ajatollahs zuständig. Die Bestimmung der Lebensweise und der politischen Herrschaft aber ist allein die Sache des Volkes … Wer könnte sonst für die Bestimmung dieser Angelegenheiten würdiger sein, als das Volk selbst? Das Volk hat mit seinem Blut den größten Mythos der iranischen Geschichte geschaffen. Warum sollte es nun in der Bestimmung seines Schicksals beiseite geschoben werden?“ 6. Rahimi hebt hervor, daß es nicht der Würde der Geistlichkeit entspricht, sich durch die Ausübung der politischen Macht korrumpieren zu lassen. Die Geistlichkeit könne aus einer Position des Protest die Macht im Staat kontrollieren. Wenn sie aber selbst die Macht ergreife, werde das Volk nichts mehr zu sagen haben und die geistigen und geistlichen Werte, auf die eine Gesellschaft 86
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Material angewiesen sei, würden vernichtet. „Plato glaubte, die Herrschaft der Philosophen wäre der Schlüssel zum gesellschaftlichen Glück. Nun herrscht seit einem Jahrhundert eine Gruppe von Denkern (!) in Ost und West; weil sie aber nicht im Sinne des Volkes regieren, ist auch kein einziger platonischer Wunsch verwirklicht worden.“ (Ausgehend von einer Erklärung des französischen Philosophen Michel Foucoult, der gesagt hat: „Die Iraner sind unter Einsatz ihres Lebens auf der Suche nach etwas, was wir nach der Renaissance und nach den großen Krisen des Christentums vergessen haben, nämlich sie sind auf der Suche nach den geistigen Werten der Politik“, kommt Rahimi zum Schluß: die Iraner sollten die geistigen Werte in die Politik tragen und nicht die Geistlichkeit an die Macht bringen). (Er bringt dann Beispiele aus der Geschichte – Safawiden, 16. Jahrhundert –, wo das Schiitentum revolutionär war, solange es gegen das Unrecht protestierte. Sobald es aber an die Macht kam, wurde es korrupt.) „Die politische Macht bleibt nur dann frei von Korruption, wenn sie tatsächlich in der Hand des ganzen Volkes liegt.“ Rahimi stellt fest, daß das wichtigste Element zur Errichtung einer freien und gerechten Gesellschaftsordnung nicht die Machtergreifung der Geistlichkeit, nicht die Erklärung der religiösen Grundsätze zum Gesetz, sondern die Beteiligung des Volkes an den wichtigsten Entscheidungen sei. Dieser Lernprozeß brauche viel Zeit. „Nach beinahe dreitausend Jahren Despotie und 25 Jahren totaler Unterdrückung hat das Volk noch keine Orientierung, über so wichtige Angelegenheiten zu entscheiden.“ (Er meint dann, in einer Übergangszeit solle das Volk Gelegenheit haben, durch einen Lernprozeß seine eigene Meinung zu bilden. Dieser Lernprozeß solle durch die freie Meinungsäußerung der Denker, Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler aller politischen Strömungen, die bis jetzt durch das Regime zum Schweigen verurteilt waren, ermöglicht werden.) „Je mehr verschiedene Gruppen der Gesellschaft in der Gestaltung der Zukunft sich aktiv beteiligen dürfen, um so vollkommener, erfolgreicher und zu-
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I. Iran 3 Religion und Politik im heutigen Iran 3.3 Der Protest der Jugend und der Frauen kann eine Revolution sein. Sonst wer` kunftsträchtiger den durch die Ersetzung einer (herrschenden) Klasse durch die andere die alten Verhältnisse bestehen bleiben.“ Rahimi stellt danach fest, daß Khomeini durch die unbestrittene Führung des ganzen Volkes auch eine schwerwiegende Aufgabe auf sich genommen hat. Deshalb sollte er in der Eröffnung der Gespräche zwischen verschiedenen Gruppen der Opposition den ersten Schritt tun und versuchen, die Diskussionen, die für das Schicksal des Landes wichtig sind, in Gang zu bringen.
Material Denn „wenn die Freunde die verwundbare Stelle einer Bewegung nicht mit dem Finger aufzeigen, werden die Feinde mit Messern hineinstechen“ und „eines Tages – ohne Zweifel – wird das unterdrückte und beleidigte iranische Volk die Verbindung zwischen Demokratie und Sozialismus im Licht der geistigen Werte feiern können. Durch Ihre Initiative wird der Tag früher eintreten und vieles Leid und vergeudete Kraft erspart bleiben.“ Aus einem offenen Brief des Schriftstellers Rahimi, in: Ulrich Tilgner (Hrsg.): Umbruch im Iran, rororo aktuell, Rowohlt, Reinbek, 1979, S. 96 ff.
Abb.: © Sad-Abad Culture Collection, Teheran
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.1 Worum geht es?
Materialübersicht Einführung.............................................................................................................................................................................................89 4.1.1 Über die Entstehung der heutigen Reformdebatte (Dokument 31)..................................................................90 4.1.2 Wo steht die heutige Reformdebatte? (Dokument 32)...........................................................................................91 4.1.3 Grundfragen der Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Fundamentalisten im Islam (Dokument 33)........................................................................................................................................................................93
Arbeitshinweise Beschreiben Sie mit Hilfe von Dokument 31, •
wann die Reformdebatte im Iran begann und welche beiden Gruppen sich in der Debatte gegenüberstehen,
•
welche sozialen und kulturellen Bedingungen die Reformdebatte unterstützen und begleiten und
•
welche Themen in dieser Reformdebatte hauptsächlich diskutiert werden.
Interpretieren Sie bitte die beigegebene Karikatur. Welche religiösen und politischen Probleme sieht die bekannte Menschenrechtlerin und Nobelpreisträgerin Schirin Ebadi in der heutigen iranischen Gesellschaft und welchen Lösungsweg möchte sie einschlagen? Ziehen Sie dazu Dokument 32 heran. Erläutern Sie die religiösen und politischen Grundpositionen in der gegenwärtigen innerislamischen Debatte zwischen Liberalen und Fundamentalisten und ziehen Sie dabei Dokument 33 heran. Wenden Sie dann Ihre Kenntnisse der grundlegenden Argumente der liberalen und fundamentalistischen Seite auf Dokument 45 an und prüfen Sie, welcher Seite oder Fraktion Schirin Ebadi zuzuordnen ist.
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.1 Worum geht es? Einführung Der heutige Iran ist ein junges Land, ein Land mit einem ungewöhnlich hohen Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung, und es ist ein Land im Umbruch. Das herkömmliche politische und religiöse System, die „Herrschaft der Rechtsgelehrten“, steckt in einer Krise und die Menschen suchen nach einer Alternative – das ist der Hintergrund des heutigen politischen und religiösen Diskurses im Iran. An diesem Diskurs beteiligen sich viele Einzelmenschen und Gruppen – über die Jugend, die Frauen und die Intellektuellen bis hin in die Kreise der Rechts- und Religionsgelehrten, die ursprünglich einmal das System stützten und heute zum Teil zu grundsätzlichen Kritikern des Systems wurden. Worum geht es? Allgemein gesprochen: Um eine Erneuerung des Islam und eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Und um mehr Freiheiten. Begonnen hat die Diskussion mit Beginn der 90er Jahre. Der iranisch-irakische Krieg war an sein Ende gekommen und in diesem Krieg hatte das System, die islamische Republik, sich zunächst stabilisiert. Nun, nach dem Ende des Krieges und der Herrschaft Khomeinis, war kein Grund mehr, gegen den äußeren Feind zusammenzuhalten und auf grundsätzlichere Auseinandersetzungen zu verzichten. Eine grundsätzliche Debatte um die Zukunft des Systems und um Alternativen setzte jetzt ein – vor allem in der Presse – wurde immer wieder unterdrückt und immer wieder neu aufgenommen. Die vorliegende Karikatur symbolisiert diese Debatte.
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Bei der sehr breiten Debatte, die seit den 90er Jahren begann und bis heute andauert, kann man einige Themen nennen, um die es vor allem geht. Das erste große Thema ist die Frage nach dem Charakter der Staatsmacht: Soll das bisherige System einer islamischen Republik beibehalten werden, soll es durch einen säkularen demokratischen Rechtsstaat ersetzt werden oder soll man eine religiöse Demokratie aufbauen? Die Debatte für und wider einen islamischen Staat verschränkt sich eng mit der Diskussion um die Reformierbarkeit des Islam, also der Frage, wie sich Islam und Moderne zueinander verhalten und ob sich ein auf dem Islam aufbauendes politisches System mit den modernen Menschenrechten und der Demokratie vereinbaren lässt und wie man, um Alternativen zukunftsweisender Art zu finden, den Koran neu lesen und interpretieren muss und soll. Bei der Diskussion um die Erneuerbarkeit des Islam wird immer wieder auch auf bestimmte „Klassiker“ der iranischen Kultur zurückgegriffen. Auf Literaten und Philosophen, zum Beispiel Hafis oder Rumi, die für einen weltoffenen und liberalen Islam stehen und der mystischen Tradition des Islam zuzurechnen sind. Schließlich hat der religiöse und politische Diskurs im Iran objektiv gesehen immer einen Partner – politisch und religiös aufgeschlossene Intellektuelle im Westen, in Europa, die ähnlich wie die liberalen Intellektuellen im Iran nicht auf einen Kampf, sondern auf einen Dialog der Kulturen rechnen. Anders gesagt: Der religiöse und politische Diskurs im Iran ist für „uns“ in Deutschland und Europa von fast exemplarischer Bedeutung, um die inner-islamische Diskussion um Staat, Religion und Politik besser zu verstehen. Und umgekehrt ist die Diskussion in Europa über das Verhältnis des Islam zu Europa für den religiösen und politischen Diskurs im Iran von großer Bedeutung und prägt die inner-islamische und inner-iranische Selbstwahrnehmung. Jörg Bohn
Cartoon: © Nikahang Kowsar, Iran Anm: Nikahang Koswar wurde 2000 wegen der Veröffentlich einer Karikatur verhaftet, die ein Krokodil zeigt. „Die Karikatur - so heißt es - beleidige den konservativen Ayatullah Yazdi. Er sei es, der mit dem Krokodil gemeint gewesen sei, Mesbah Yazdi, ein erklärter Gegner von allzu viel Pressefreiheit.“ (dradio, 6.3.2000)
Hinweis: Zur Einordnung und zum besseren Verständnis der religiösen und politischen Diskussion im Iran sollte unbedingt auf die Materialien des 1. Moduls (Religion und Politik) zurückgegriffen werden.
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4.1.1 Über die Entstehung der heutigen Reformdebatte Während des Krieges von 1980 bis 1988 verfolgten die Geistlichen und die religiösen Intellektuellen gemeinsam mit der islamischen Regierung eine homogene Politik, um gegenüber der ausländischen Gefahr bestehen zu können. Nach dem Krieg kristallisierte sich allerdings die Vielfältigkeit von politischen Interessen unter den religiösen Intellektuellen und einigen Geistlichen heraus. Der Konflikt zwischen rechten Konservativen und den heutigen religiösen Reformisten, die damals selbst als religiöse Islamisten handelten, begann. Es erschienen zahlreiche unabhängige Zeitungen und Zeitschriften, die große Unterstützung von der Bevölkerung bekamen, während die offiziellen Zeitungen in niedriger Zahl verkauft wurden. Neue Bücher wurden veröffentlicht und iranische Filmproduzenten produzierten neue, meistens kritische Filme. Auf Basis dieser sozial-kulturellen Bedingungen und im Zusammenhang mit einem demografischen Strukturbruch der Gesellschaft bildete sich langsam eine neue politische Kultur heraus. 70 % der iranischen Bevölkerung sind heute unter 30 Jahre alt, 65 % der Studierenden sind Frauen, die sich aus geschlechtsspezifischen Gründen für die Geschlechtergleichheit einsetzen und die liberal-demokratischen Prozesse unterstützen. Auch die Alphabetisierungsquote, die eine wichtige Voraussetzung für den Demokratisierungsprozess ist, liegt nach offiziellen Angaben bei 80 %. Hinzu kommt der Beginn einer globalen Demokratiedebatte.
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Seit Anfang der 90er Jahre entwickelte sich die Debatte um die Definitionen von Demokratie, Säkularismus und bürgerlicher Rechte innerhalb der iranischen religiösen und weltlichen Professionellen (Schriftsteller und Publizisten, Professoren, Studenten) und Geistlichen. Die Reformierbarkeit des Islam, die Vereinbarung von Islam und Demokratie, die Trennung von Staat und Religion und die zentrale Bedeutung der Menschenrechtsprinzipien sind bis heute die wichtigsten Themen in diesen Debatten. Sie sind heute nicht nur auf einen bestimmten Kreis von Intellektuellen beschränkt, sondern haben schon eine breite Masse in der Gesellschaft erreicht. Auch die Debatte über eine entstehende Kultur der Toleranz als wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Demokratisierungsprozess beschäftigt einige iranische Geistliche und Intellektuelle. Toleranz muss den Kindern in der Erziehung gelehrt werden. Demokratie kann ausschließlich in Gesellschaften ihren Nährboden finden, in deren Kulturen Toleranz und Akzeptanz gegenüber dem Andersdenkenden verankert worden sind. Ein erfolgreicher Demokratisierungsprozess braucht die Basis einer Kultur, die durch Toleranz geprägt ist. Trotz der massiven Unterdrückung der Presse seit 1999, der Schließung hunderter Zeitungen und Zeitschriften, des Filterns von Webseiten im Internet, der Verhaftung von Professionellen und Geistlichen und der Entführung und Tötung von Intellektuellen werden die Diskussionen weiterhin fortgeführt. Banafsheh Nourkhiz: Der politisch-religiöse Diskurs im Iran, (unveröffentlichtes Manuskript)
Die modernen gesellschaftstheoretischen Begriffe haben in der konstitutionellen Bewegung von 1906, die eine moderne parlamentarische Republik und eine bürgerliche Verfassung forderte, im Iran Zugang gefunden. Allerdings gehörten sie niemals zur politischen Kultur der iranischen Gesellschaft. Sie wurden bezüglich des historischen Zustands der iranischen Gesellschaft weder von Seiten der Laien noch von religiösen Intellektuellen jemals definiert. Sie wurden unter allen Regimes im Iran nur beschränkt akzeptiert und von den Regierenden instrumentalisiert. Cartoon: © Nikahang Kowsar, Iran
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4.1.2 Wo steht die heutige Reformdebatte? Ein Interview des Spiegel mit Schirin Ebadi Schirin Ebadi zählte schon zu den bekanntesten Anwältinnen Irans, bevor ihr am 10. Oktober [2003 – Red.] der diesjährige Friedensnobelpreis zugesprochen wurde. Immer wieder hatte sich die Juristin, die 1979 gleich in den ersten Monaten der Islamischen Republik ihr Richteramt niederlegen musste, als Verteidigerin von Regimegegnern einen Namen gemacht – und mit ihrer Festnahme im Jahr 2000 den persönlichen Preis dafür gezahlt. Aber auch als Vorkämpferin für die Gleichberechtigung der Frau und als „Anwältin der Kinder“, die nach einer Scheidung dem Vater zugesprochen werden, zieht Ebadi, 56, gegen Unrecht im Namen des Islam zu Felde. Weil religiöse Fanatiker sie dafür mit dem Tod bedrohen, ordnete die Regierung Ende vergangener Woche Personenschutz für sie an. SPIEGEL: Während Ihres Aufenthaltes in Frankreich trugen Sie kein Kopftuch. War das ein demonstrativer Akt gegen die Mullahs? Ebadi: In Iran muss jede Frau ein Kopftuch tragen, so sind nun mal unsere Gesetze. Da ich die respektiere, verhülle ich mein Haar, wenn ich in meiner Heimat bin. Außerhalb meines Landes muss ich dies aber nicht tun und kann meine ganz persönliche Entscheidung treffen. SPIEGEL: Vor allem in Deutschland ist eine heftige Debatte über die Symbolkraft des Kopftuchs ausgebrochen, da es vielfach als Zeichen der Unterdrückung gesehen wird. Ebadi: Man muss den Menschen ihre Freiheiten lassen. Wenn eine Frau in Europa ein Kopftuch tragen möchte, dann muss man ihr das zubilligen. Ihnen steht es doch auch frei, eine Krawatte umzubinden. SPIEGEL: Gerade das Kopftuch aber wird als das Symbol der Fundamentalisten gesehen, die eher für Frauenfeindlichkeit stehen. Ebadi: Alle Dinge kann man nutzen oder ausnut-
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zen. Wichtig ist der Respekt vor der persönlichen Freiheit.
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SPIEGEL: Weil eine muslimische Lehrerin auch im Unterricht ihr Kopftuch tragen will, beschäftigt diese Kleiderfrage sogar unser Bundesverfassungsgericht. Ebadi: Auch wenn wir der Überzeugung sind, dass Staat und Religion völlig getrennt sein sollten, müssen wir einsehen, dass Kleidung eine sehr persönliche Entscheidung ist. Es sind die Gedanken des Menschen, die zählen. Ich hoffe, Ihr Gericht wird sich letztlich für die Freiheit der Menschen bei der Wahl ihrer Bekleidung entscheiden. SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, es sei krank, wie die iranische Gesellschaft von Männern dominiert wird. Sitzen wir einer Feministin mit Kopftuch gegenüber? Ebadi: Ich bin gegen das Patriarchat. Aber damit meine ich nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen Männer habe. Im Grunde ist das Patriarchalische eine überkommene Tradition, die sogar von Müttern an ihre Söhne weitergegeben wird. Es sind nicht nur Männer, die diese Kultur unterstützen, auch Frauen können dies tun. SPIEGEL: Die Mullahs in Iran rechtfertigen ihre diskriminierenden Gesetze mit dem Verweis auf den Koran und die Scharia, das islamische Recht. Ebadi: Unser Hauptproblem ist die patriarchalische Kultur, die im Morgenland dominiert, also auch in Iran. Sie prägt alle Bereiche unseres Lebens. Patriarchalisch legen die Männer daher auch unsere Religion aus, nämlich zu ihrem Vorteil. SPIEGEL: Nun sind Sie aber doch mehr Feministin als Juristin. Ebadi: Unsere Gesetze sprechen für sich. Danach ist die Frau nur halb so viel wert wie ein Mann. So muss etwa für einen getöteten Mann doppelt so viel Blutgeld gezahlt werden wie für eine ermordete Frau. Wenn wir uns als Anwälte gegen solche Gesetze wehrten, bekamen wir zu hören, das stünde so im Koran, und deshalb könnten diese Gesetze nicht geändert werden. Aber der Einwand einiger sehr maßgeblicher Mullahs hat gezeigt, dass diese Gesetze sich nicht auf den Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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stützen, sondern auf dessen schlechte und fal` Islam sche Interpretation.
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higung zum Amt des religiösen Führers …
SPIEGEL: Also müsste eine Art weiblicher Martin Luther her, um den Islam zu reformieren.
SPIEGEL: … das derzeit Ajatollah Ali Chamenei, der geistige Erbe des Republikgründers Ajatollah Chomeini, innehat …
Ebadi: Nein, so jemanden brauchen wir nicht. Eigentlich bedarf es nur einer uneigennützigen Interpretation des Islam.
Ebadi: … schließt inzwischen einer der größten Gelehrten Irans, Großajatollah Jussuf Sanei in Ghom, nicht mehr aus.
SPIEGEL: Wie verträgt sich Ihre These vom mächtigen Patriarchat, das den Islam zur Stärkung der MännerVormacht ausbeutet, mit dem heute deutlich höheren Anteil an Studentinnen als zu Zeiten des Schahs?
SPIEGEL: Hat die Führung Irans den Koran womöglich nicht richtig verstanden?
Ebadi: Früher hielten viele Väter ihre Töchter vom Besuch der Universität ab. Sie fürchteten, ihre Mädchen könnten dort mit jungen Männern zusammenkommen und so vom rechten Pfad abweichen. Aber mit Begründung der Islamischen Republik hatten diese Männer keine Ausrede mehr, weil alles „islamisch“ und damit rechtens war. So hat die Revolution die Männer ihrer Ausrede beraubt. SPIEGEL: Diesem Fortschritt durch die Revolution steht aber entgegen, dass Sie Opfer des Umsturzes wurden und Ihr Amt als Richterin aufgeben mussten. Ebadi: Ich war sogar die Direktorin meines Gerichts, wurde dann aber zur Sekretärin degradiert. Deshalb bin ich aus dem Staatsdienst ausgeschieden und Anwältin geworden. Und wie mir wurde damals auch anderen Frauen der Beruf genommen. Das Fällen von Urteilen, so die Begründung, sei „Haram“, ein Vergehen an der Religion. Inzwischen jedoch arbeiten zwei Frauen sogar als Richterinnen am Obersten Berufungsgericht. SPIEGEL: Ein Erfolg Ihres Kampfes gegen das System? Ebadi: Nicht gegen das System, sondern gegen die patriarchalische Kultur. Deren Vertreter wollten anfangs nicht hinnehmen, dass Frauen entscheidende Positionen bekleiden. SPIEGEL: Bis Sie den Patriarchen die Stirn boten. Ebadi: Wir haben viele Artikel geschrieben, viele Reden gehalten, viele Seminare organisiert. Und auch mit den Religionsgelehrten haben wir uns sehr auseinander gesetzt. Durchaus mit Erfolg. Sogar die Befä92
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Ebadi: Auch hier respektiere ich die Meinung anderer. Wer wäre ich, um nun zu sagen, dass meine Interpretation des Islam die richtige sei. SPIEGEL: Die Würde des Menschen zählt zu den universellen Grundrechten, die 1948 von der UNO verkündet wurde. Ist die islamische Gesellschafts- und Gesetzesordnung wirklich mit den Menschenrechten, mit Freiheit und Demokratie vereinbar? Ebadi: Die Scharia zeigt den Menschen einen Weg zum rechtmäßigen Leben. Dabei gibt es keinen Konflikt zwischen der Scharia und den Menschenrechten. Beide sind sehr wohl miteinander vereinbar. SPIEGEL: Viele Religionsgelehrte halten im Namen des Islam kulturelle Ausnahmen von einem weltweit gültigen universellen Prinzip der Menschenrechte für zulässig. Ebadi: Diese Auffassung teile ich nicht. Aber ebenso unzutreffend erscheint mir die These vom Zusammenprall der Kulturen. Wir alle – Muslime, Juden, Christen – können sehr wohl in Eintracht miteinander leben. SPIEGEL: Wird der Nobelpreis Ihrem Engagement für Frieden und Menschenrechte einen neuen Schub geben? Ebadi: Der Nobelpreis bestätigt uns darin, dass wir auf dem richtigen Weg sind. SPIEGEL: Vor Ihren zahlreichen Büchern steht eine amerikanische Freiheitsstatue. Ist die „Lady Liberty“ für Sie mehr als nur ein Regalschmuck? Ebadi: Ich habe mir aus jedem Land oder jeder Stadt, wo ich eine Rede gehalten habe, etwas Symbolisches mitgebracht, aus Berlin etwa ein Modell des
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.1 Worum geht es? Tors. Aber auch ein Stück der nieder` Brandenburger gerissenen Berliner Mauer … SPIEGEL: … das die Kraft eines Volkes symbolisiert … Ebadi: … hat seinen Platz in meinem Regal. SPIEGEL: Frau Ebadi, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Wir sind auf dem richtigen Weg – Interview mit Schirin Ebadi, in: Der Spiegel, 46/2003, S. 132 ff.
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4.1.3 Grundfragen der Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Fundamentalisten im Islam Es gibt eine liberal-demokratische Gegenbewegung gegen den religiösen Fundamentalismus im Islam, die ebenso universal verbreitet ist wie der Islamismus oder fundamentalistische Strömungen im Islam. Ihre Wurzeln reichen weit zurück in die Geschichte des Islam. Es hat immer innerhalb der islamischen Tradition Strömungen gegeben, deren Anhänger das Bestreben hatten, Religion und Vernunft miteinander zu verbinden, und die im Bereich politischen Denkens für Liberalität eingetreten sind. In neuerer Zeit sind die Zentren einer solchen Denkrichtung in Ägypten, dem Iran und unter den Muslimen Westeuropas zu suchen. Die Auseinandersetzung der liberal-demokratischen Kräfte im Islam mit den islamistischen bzw. fundamentalistischen Strömungen findet an drei Brennpunkten oder „Fronten“ statt: Das eine Gebiet ist die Frage nach dem grundsätzlichen Charakter der Staatsmacht, das zweite die Frage nach den grundlegenden Werten, die das Zusammenleben in der Gesellschaft bestimmen sollen, und das dritte Gebiet betrifft die Frage nach der richtigen oder angemessenen Interpretation des Koran. In dieser Auseinandersetzung gibt es, was einzelne Denker oder Denkerinnen betrifft, zahlreiche „Zwischentöne“ und oft sehr vielschichtige Argumentationsstrukturen. Trotzdem kann man auf der einen wie der anderen Seite Grundpositionen benennen, die hier dargestellt werden sollen.
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In der Frage nach dem Charakter der Staatsmacht vertritt die islamistische Seite die Forderung nach einem „Gottesstaat“, d. h. einem Staat, in dem der oberste Souverän Gott ist und in dem stellvertretend für ihn die Religionsgelehrten herrschen. Die liberal-demokratische Gegenbewegung vertritt demgegenüber das Prinzip der strikten Trennung von Religion und Politik, von Islam und Staatsmacht. Der Staat soll in seinem Charakter säkular, d. h. rein weltlich und dem Prinzip der „Volksherrschaft“ verpflichtet sein.
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In der Frage der Werte, die das politische und soziale Leben bestimmen sollen, haben die Islamisten bzw. die religiösen Fundamentalisten im Islam die folgende Antwort: In der Gesellschaft sollen ausschließlich die Gesetze Gottes bindend sein, d. h. die aus dem Koran abgeleitete Rechtsordnung, die Scharia. Die Gegenposition liberal-demokratischer Muslime lautet demgegenüber: Oberste Werte, die das gesellschaftliche Leben bestimmen sollen, können nur die universal geltenden Menschenrechte sein. Und damit wird auch gesagt: Der Staat darf in seinem Charakter kein Gottesstaat sein, sondern der Staat hat säkular zu sein. Anders gesagt: Die obersten Werte entspringen dem menschlich-diesseitigen Rechtsempfinden und führen zu einem Rechtssystem und zu einer politischen Ordnung, in der der einzelne Bürger in seinen religiösen und politischen Freiheitsrechten vor dem Zugriff staatlicher Zwangsmaßnahmen „im Namen der Religion“ oder des „Islam“ geschützt ist, ohne dass die Religion oder der Islam in seiner Geltung für die Lebensgestaltung des einzelnen Bürgers relativiert oder in Frage gestellt wird. Aber: Religion und Islam sind damit Privatsache, und nur diejenigen Gesetze der Scharia können im gesellschaftlichen Leben zur Anwendung kommen, die mit den Menschenrechten vereinbar bzw. kompatibel sind. Eine Frage steht bei der Debatte zwischen liberaldemokratisch und religiös fundamentalistisch argumentierenden Muslimen immer wieder im Mittelpunkt: Wie ist der Koran zu interpretieren? Denn an seinem Verständnis, an der Methode der Textanalyse, scheiden sich die Geister. Für die Islamisten, aber auch für religiös-konservativ argumentierende Muslime gilt: Das wörtliche Verständnis oder der Wortlaut des Textes, „so wie er dasteht“, ist bindend und ent-
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Jede Um- oder Neuinterpretation des Textes ` scheidet. ist ausgeschlossen. Nur so könne gewährleistet sein, dass der Koran angemessen und unverfälscht verstanden werde, und nur so sei auch die Heiligkeit des Textes geachtet. Denn: Ein Text, der wortwörtlich eine Offenbarung oder Bekundung Gottes sei, dürfe nicht zeitspezifisch oder zeitbedingt interpretiert werden. Gegenüber dieser Auffassung von der wortwörtlichen Geltung des Textes wendet die liberal-demokratische Richtung ein, dass der Koran zwar verbindliche Glaubens- und Lebensgrundlage zu bleiben hat, dass er aber andererseits immer wieder neu zu interpretieren und an die veränderten Zeitbedingungen anzupassen ist. Konkret bedeutet dies: Es ist kritisch zwischen zeitbedingten und wesentlichen Aussagen zu unterscheiden, und es ist historisch nach dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Koran-Textes zu fragen. Bei der Neuinterpretation des Textes müsse man es sich
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zur Regel machen, die jeweils neuen Zeitbedingungen heranzuziehen, um zu einer aktualitätsbezogenen Textdeutung zu kommen. Die Alternative lautet also hier: Unantastbarkeit und absolute Geltung des Koran oder historisch-kritische Interpretation und religiöser Pluralismus. Die Auseinandersetzung zwischen dem religiösen Fundamentalismus im Islam und der liberal-demokratischen Gegenbewegung vollzieht sich also auf drei Ebenen – in der Frage nach dem Charakter der Staatsmacht, in der Frage nach den obersten und letzten Werten, die das gesellschaftliche Leben bestimmen sollen, und in der Frage nach dem angemessenen Verständnis des Koran. Die jeweils unterschiedlichen Antworten jeder „Fraktion“ auf die drei eben genannten Streitfragen lassen sich in einem Schema wie folgt darstellen: Jörg Bohn: Studienheft RELO 7c ILS, Hamburg 2004, 2. Aufl., S. 93 f.
Herrschaft der Gesetze Gottes Gottesstaat (Hakimiyyat Allah) oder säkularisierter Staat
Unantastbarkeit und absolute Geltung des Koran oder historisch-kritische Interpretation Politisierung der Religion und religiöser Pluralismus
und Religionisierung der Politik: Das Problem des Fundamentalismus
Religiöser Absolutheitsanspruch und Anwendung der Scharia (Tabiq al-Scharia) oder menschliche Individualrechte und Freiheit des Individuums
Grundpositionen in der Auseinandersetzung zwischen Islamisten und liberal-demokratischen Muslimen Abb.: Schema von W. Böge und J. Bohn: Politik und Religion im Islam, in: Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2002, S. 36
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.2 Gottesstaat, säkulare Demokratie oder religiöse Demokratie?
Materialübersicht Einführung.............................................................................................................................................................................................96 4.2.1 Das politische Testament des Ayatollah Khomeini (Dokument 34) ...................................................................97 4.2.2 Mohammed Schabestari, ein religiöser Aufklärer (Dokument 35) ...................................................................100 4.2.3 Morad Saghafi – ein Vertreter der radikal-demokratischen und säkular denkenden Richtung (Dokument 36)..................................................................................................................................................103
Arbeitshinweise Als politisches Testament ist Khomeinis Text auch so etwas wie eine Bilanz von mehr als 10 Jahren islamischer Staatsmacht. Anders gesagt: Khomeini als Begründer der Konzeption der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ hat diese Konzeption in seinem politischen Testament selbst auf den „Prüfstand“ der Geschichte gesetzt. Stellen Sie bitte so detailliert wie möglich dar, wie die Bilanz Khomeinis ausfällt, indem Sie auflisten – im Sinne von „Pro“- und „Contra“-Thesen – was Khomeini an der heutigen Situation kritisiert, was er als positiv zur Konzeption der islamischen Republik herausstellt und wie die Gesamtbeurteilung ausfällt. In schiitischer Sicht ist nur die Staatsmacht legitim, deren Herrscher mit dem „verborgenen Imam“ identisch ist oder in seinem Auftrag handelt. Arbeiten Sie so genau wie möglich heraus, in welchem Verhältnis der islamische Führer, der ja eine Schlüsselstellung in der islamischen Republik besitzt, zum verborgenen Imam steht. Wählen Sie begründet zwischen drei Alternativen: A. Der islamische Führer ist mit dem verborgenen Imam identisch. B. Der islamische Führer und der verborgene Imam sind zwei völlig verschiedene Persönlichkeiten, die nichts miteinander zu tun haben. C. Der islamische Führer ist zwar nicht der verborgene Imam selber, aber er steht in einer besonderen Beziehung zum Imam. Ist der islamische Staat in der Vorstellung Khomeinis ein reiner Gottesstaat, oder gibt es auch republikanische bzw. demokratische Elemente? (Bezug: Dokument 34) Fassen Sie anhand von Text 1 (Bezug: Dokument 35) in einer Thesenreihe zusammen, was Schabestari unter einer „religiösen Demokratie“ versteht. Arbeiten Sie heraus, worin sich seine „religiöse Demokratie“ von der Konzeption der „Herrschaft der Religionsgelehrten“ unterscheidet. Vergleichen Sie Schabestaris Vorstellungen zur „religiösen Demokratie“ auch mit dem Demokratie-Konzept der westlichen Demokratien und machen Sie deutlich, wie Schabestari zu den westlichen Demokratien steht. Arbeiten Sie mit Hilfe von Text 2 (Bezug: Dokument 35) heraus: • welchen zentralen Begriff der islamischen Rechtstradition Schabestari zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, prüfen Sie, • ob Schabestari in erster Linie der Auffassung ist, das Wesen des islamischen Rechts sei von Gott gegeben und definiert, oder aber das Recht eher als eine von Menschen gemachte Überlieferung ansieht, die einer vernunftgeleiteten Auslegung bzw. Interpretation zugänglich ist, • wie Schabestari zum Rechtsdenken des Koran steht und • ob er an eine Reformierbarkeit des islamischen Rechtsdenkens und eine Vereinbarkeit dieses Rechtsdenkens mit Grundprinzipien der Demokratie glaubt. Arbeiten Sie heraus, wie Saghafi als Vertreter der säkular-demokratischen Richtung zur Konzeption der religiösen Demokratie steht. Stützen Sie sich hierbei auf Dokument 36.
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Ein Kernpunkt des politischen und religiösen Diskurses im heutigen Iran ist die Frage nach dem Charakter der Staatsmacht. Hier stehen sich die Konservativen, die Vertreter und Verteidiger der Staatsmacht, die säkularistischen Intellektuellen und die religiösen Aufklärer oder Reformer gegenüber. Für die Konservativen bleibt Khomeinis Staatsmodell der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ weiterhin verbindlich. In ihrer islamischen Republik haben die Geistlichen weiterhin das entscheidende Gewicht, andererseits erheben sie den Anspruch, dass der heutige Iran als Republik das Prinzip der Volksherrschaft verwirklicht habe und im Grundsatz eine Demokratie sei. Einen deutlichen Ausdruck hat diese Konzeption im Politischen Testament des Ayatollah Khomeini gefunden, in dem dieser sich auf der einen Seite durchaus selbstkritisch zu Fehlern und Fehlentscheidungen in der Islamischen Republik Iran äußert, andererseits aber an der Grundstruktur dieses Staates mit Nachdruck festhält. Den klaren Gegenpol zu den Konservativen bildet die Fraktion der Säkularen oder der säkularistischen Intellektuellen. Sie vertreten das Prinzip der klaren Trennung von Religion und Politik oder der Entpolitisierung des Islam. Der Staat hat nach ihrer Forderung keine religiöse Begründung und vertritt auch keine religiösen Ziele. Er beruht auf dem rein weltlich-diesseitigen Prinzip der Volksherrschaft. Die Religion, das heißt der Islam ist für sie Privatsache, d. h. Angelegenheit des einzelnen Bürgers. Den Geistlichen kann und soll ihrer Auffassung nach keinerlei Sonderrecht in der Gestaltung des politischen Lebens eingeräumt werden. Konkret ist ein solcher Staat nach dem Muster der westlichen Demokratien aufgebaut und organisiert. Eine Art „mittlere Position“ nehmen die religiösen Aufklärer oder Reformer ein. Auch sie lehnen wie die Säkularen die Herrschaft der Rechtsgelehrten ab und sie wollen einen demokratisch verfassten Staat. Sie wollten aber keine klare und radikale Trennung von Religion und Staat, von Islam und Politik. Ein Staat, der „gerecht“ sein soll, bedarf für sie religiöser Werte, die sehr wohl aus dem Islam abgeleitet werden sollen und können, und darum ist ihr Staatsmodell, die Konzeption einer religiösen Demokratie, kein rein säkularer Staat. Ihr Impuls, als Reformer und auch als Kritiker der Konservativen aufzutreten, ist nicht von dem Willen geprägt, 96
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das religiöse Element im Staatsaufbau und im gesellschaftlichen Leben abzuschaffen. Sie wollen die Religion retten, indem sie für die Demokratie eintreten. Gemeint ist damit Folgendes: Die religiösen Reformer oder Aufklärer sind meist Geistliche, also Rechts- und Religionsgelehrte, die ursprünglich Khomeini und sein Konzept einer „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ unterstützt haben, die aber andererseits den undemokratischen Charakter der islamischen Republik klar erkannt haben und auch bemerkt haben und auch wahrnehmen, in welchem Maße sich das Volk aus Enttäuschung über die islamische Republik vom Islam selber abgewandt hat. Um den Islam zu retten und die Achtung vor der Religion wiederherzustellen, ist für diese Richtung der religiösen Reformer nur ein Weg richtig – die „Entreligionisierung“ des Staates jedenfalls in dem Sinne, dass der Herrschaft der Religionsgelehrten ein Ende gemacht wird und der Staat eine klare demokratische Struktur bekommt. Diese Fraktion der religiösen Reformer hat im augenblicklichen religiösen Diskurs ein wenig eine Stellung wie zwischen „Baum und Borke“. Für die Säkularen sind sie nicht konsequent demokratisch genug und für die Konservativen sind sie vom Islam abgefallen, weil sie die Herrschaft der Rechtsgelehrten nicht mehr aufrechterhalten wollen. Andererseits vertreten sie innerhalb der in der ganzen islamischen Welt laufenden politischen und religiösen Diskussion eine interessante Sonderstellung: Sie nehmen den Wunsch vieler Muslime nach religiösen oder islamischen Werten im politischen und staatlichen Leben ernst, sind aber auf der anderen Seite klar für die Demokratie und sie haben klarer und intensiver als viele Konservative oder Säkulare das Verhältnis von Religion und Politik im Islam durchdacht, so dass jemand, der die Frage der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie gründlich klären will, von der Diskussion im Iran und von den religiösen Reformern viel lernen kann. Jörg Bohn
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4.2.1 Das Politische Testament des Ayatollah Khomeini Das politische Testament des Ayatollah Khomeini ist ein wichtiges Dokument des gegenwärtigen politischen und religiösen Diskurses im Iran, weil Khomeini in seinem politischen Testament eine Art Bilanz zieht. Er stellt sich aus seiner Sicht der Ereignisse die Frage, was an dem von ihm entscheidend mitbegründeten islamischen Staat gelungen ist und wo schwerwiegende Fehler gemacht wurden, wobei er die Konzeption der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ als solche nicht in Frage stellt. Das folgende Dokument enthält eine Einleitung des Herausgebers, dem dann der Text Khomeinis folgt. Jörg Bohn
Einleitung des Herausgebers Die Etablierung der Islamischen Republik Iran als bislang einziges Beispiel einer Verwirklichung islamistischer Gesellschaftsvorstellungen auf revolutionärem Weg wirft nach mehr als anderthalb Jahrzehnten die Frage nach einer historischen Bilanz auf: Inwiefern ist die Utopie des gerechten Staates, die Ayatollah Khomeini (1902–1989) mit dem Konzept der wilayat al-faqih verheißen hatte, in der politischen Realität verwirklicht worden? In dem „Politischen Testament des Ayatollah Khomeini“, das nach dem Ableben des islamischen Revolutionsführers vom iranischen Rundfunk Anfang Juni ausgestrahlt wurde, hat sich der Führer der Islamischen Revolution selbst die Frage gestellt, was aus der von ihm entwickelten Utopie der „Statthalterschaft des Rechtsgelehrten“ nach dem revolutionären Triumph geworden ist. Wie im Manifest der Islamischen Revolution (im Konzept der wilayat al-faqih) wahrt Khomeini auch in seinem Testament als Revolutionsführer den grundsätzlichen Unterschied zwischen menschlicher Politik und göttlicher Wahrheit. Obwohl er massive Mißstände im neuen System zugesteht und seinen Verantwortungsträgern Unrechtstaten vorwirft, bleibt in sei-
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ner Sicht die auf den Trümmern des gestürzten Schah-Regimes errichtete Islamische Republik von allen anderen nach der Zeit der kanonischen Imame realisierten Staatswesen die relativ beste. Jedoch ist für ihn mit dem weltgeschichtlich einmaligen Experiment der Islamischen Republik kein übergeschichtliches Ereignis angebrochen. Die Islamische Republik ist nicht das Reich vollkommener Gerechtigkeit, wie es die Herrschaft des kommenden Imam bringen wird. Dieses Bewußtsein Khomeinis der geschichtlichen Vorläufigkeit seines persönlichen Werkes steht im Gegensatz zu Tendenzen nach seinem Tod, im Imam Khomeini den Imam zu sehen, dessen endzeitliche Wiederkehr aus der Verborgenheit als „Erwarteter Mahdi“ (al-Mahdi al muntazar) der Umma verheißen ist. Dies bedeutete, daß der für das Konzept der wilayat al-faqih konstitutive Unterschied zwischen relativer Statthalterschaft (des Rechtsgelehrten) und absoluter Statthalterschaft (des kommenden Imam) auch im Blick auf die Person Khomeinis nicht verwischt werden darf. Zwar ist mit dem Amt des islamischen Führers und der darin verankerten politischen Führungskompetenz des Rechtsgelehrten etwas völlig Neues im schiitischen Islam geschaffen worden, jedoch bleibt der Grundsatz, daß die politische Kompetenz des faqih nur stellvertretend für den verborgenen Imam ausgeübt wird, unberührt. Dem entspricht, daß der Islamische Führer nach Art. 5 und 107 der Iranischen Verfassung durch Akklamation des Volkes designiert wird, während der Imam selbst durch Gott bestimmt ist. Schließlich kann auch der Islamische Führer bei Amtsverfehlungen des Amtes enthoben werten (Art. 111), während die kanonischen Imame aufgrund ihrer göttlichen Inspiriertheit unfehlbar (masum) sind. Die für das politische Denken des Islam seit jeher konstitutive und in der Praxis konstruktive Spannung zwischen Utopie und Realität ist auch in der Islamischen Republik Iran, die nach ihrer Verfassung kein theokratischer „Gottesstaat“, sondern ein auf der relativen Souveränität des Volkes beruhender islamischer Weltanschauungsstaat ist, nicht aufgehoben. Nach dem testamentarischen Zeugnis ihres Begründers bleibt der Grundsatz: Die „Stufe der absoluten Vollkommenheit“ wird erst in der Welt der göttlichen Transzendenz erreicht. Wie weit sich die Umma auf Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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Weg im Diesseits jener Vollkommenheit annä` ihrem hert, hängt davon ab, inwiefern es ihr gelingt, den göttlichen Auftrag der Gerechtigkeit in politischer Gestaltung zu verwirklichen, in Übereinstimmung mit den allgemeinen Kriterien menschlicher Vernunft.
Der Text Khomeinis
Vorwürfe an die Beamten der Ministerien Meine Mahnung an die verantwortlichen Minister jetzt und in Zukunft lautet: Abgesehen von der Tatsache, daß ihr und die Ministerialbeamten euren Lebensunterhalt aus Mitteln erhaltet, die Eigentum der Nation sind, habt ihr alle dem Volk zu dienen, vor allem den unterprivilegierten Klassen. Die Bevölkerung zu schikanieren und im Widerspruch zu euren Pflichten zu handeln, verbietet die Religion und erregt manchmal – was Gott verhüten möge – Gottes Zorn1. Davon abgesehen braucht ihr alle die Unterstützung der Nation. Es war der Unterstützung des Volkes zu verdanken – vor allem jener der unterprivilegierten Klassen – daß der Sieg errungen wurde und daß die Hände der tyrannischen Monarchie von diesem Land und seinen Ressourcen abgehauen wurden. Solltet ihr die Unterstützung des Volkes eines Tages verlieren, so werdet auch ihr gestürzt werden. Wie in der Zeit des tyrannischen monarchischen Regimes werden eure Plätze von den Unterdrückern eingenommen werden. Ausgehend von dieser handfesten Tatsache müßt ihr darum bemüht sein, das Wohlgefallen der Nation auf euch zu ziehen und unmenschliches und unislamisches Verhalten zu vermeiden. Auf dieser Basis erteilte ich allen Ministern in der gesamten Zukunft des Landes den Rat, sorgfältig bei der Ernennung von Generalgouverneuren vorzugehen und solche Personen zu ernennen, die geeignet, zuverlässig, fromm, engagiert, weise und zum harmonischen Umgang mit dem Volke fähig sind, damit Ruhe und Frieden für alle Zeit im Lande herrschen mögen [...]
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D. h., wird von Gott sichtbar bestraft
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Bei Revolutionen gibt es immer Chaos und Opportunismus Was aber jene angeht, die sich dem Prinzip der islamischen Republik widersetzen, ob dieser Haltung nun Annahmen zugrundeliegen, die auf Fehleinschätzungen und Irrtümern beruhen, ob es bewußt geschieht oder nicht – solche Annahmen wurden von verschiedenen Personen oder Gruppen geäußert und richten sich gegen den Islam –; jene, die im Namen Gottes dieses Regime stürzen wollen und unterstellen, daß diese Republik schlimmer als das monarchistische Regime oder ihm ähnlich ist: So wäre es besser, wenn sie sie im Sinne der Gerechtigkeit und in gutem Glauben mit dem vorherigen Regime vergleichen, wenn sie allein sind. Es wäre besser, wenn sie der Tatsache Beachtung schenkten, daß bei Weltrevolutionen Chaos, Vergehen und Opportunismus unvermeidlich sind. Wenn ihr euch die Zeit nehmt, diesem Punkt eure Aufmerksamkeit zu widmen, werdet ihr euch vielleicht an die Schwierigkeiten der Islamischen Republik erinnern - Schwierigkeiten wie Verschwörungen und feindliche Propaganda, bewaffnete Angriffe von außerhalb und innerhalb des Landes, die unvermeidliche Infiltration aller Regierungsorgane durch Gruppen von korrupten Elementen und Gegnern des Islam, deren Ziel darin besteht, bei den Menschen Unzufriedenheit gegenüber dem Islam und der islamischen Herrschaft zu wecken, die Tatsache, daß die meisten verantwortlichen Amtsträger unerfahren sind, sowie die Verbreitung von Gerüchten durch diejenigen, die nicht mehr ihren illegalen Profiten nachgehen können oder diejenigen, deren Interessen Schaden genommen haben. Diese Menschen führen ihre Situation auf große wirtschaftliche Probleme, auf Unfähigkeit oder auf einen Mangel an kompetenten und erfahrenen Leuten sowie auf viele andere Dinge zurück. Es gibt noch einen ganze Reihe von anderen Schwierigkeiten, die einem nicht bewußt werden, wenn man die öffentlichen Angelegenheiten nicht aus nächster Nähe kennt.
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` „Für diese Republik gibt es keinen Ersatz“ Es gibt aber einzelne Menschen mit üblen Ansichten sowie Monarchisten und Großkapitalisten, die unerträglichen Druck auf die Notleidenden der Gesellschaft ausüben, der bis zu deren Vernichtung reicht, welche die Gesellschaft durch Schieber- und Wuchergeschäfte, Devisenschiebereien und Hamsterkäufe, Schmuggel und die Berechnung von extrem überhöhten Preisen korrumpieren und dennoch euch, ihr Herren2, aufsuchen, um sich bei euch zu beklagen und um euch zu täuschen. Manchmal zahlen sie auch zum Schein etwas Geld als ihren Anteil, um sich als Muslime zur Schau zu stellen. Manchmal vergießen sie Krokodilstränen, um euch wütend zu machen und euch zu veranlassen, dem Regime entgegenzutreten. Viele von ihnen saugen der Bevölkerung mit ihren unrechtmäßigen Profiten das Blut aus. Sie zerstören die Wirtschaft des Landes. Ich möchte in aller Demut den ehrenwerten Herren den brüderlichen Rat anbieten, sich besser nicht durch solche Gerüchte beeinflussen zu lassen. Im Namen Gottes und in dem Bemühen um die Erhaltung des Islam bitte ich Sie, zur Stärkung dieser Republik beizutragen. Die Herren müssen sich klarmachen, daß diese Islamische Republik, wenn sie zu Fall gebracht würde, nicht durch eine andere islamische Republik, wie sie sich der versteckte Imam wünschen würde, oder durch eine Republik ersetzt würde, welche die Befehle von Ihnen, meine Herren, ausführen würde. Vielmehr würde dann ein Regime an die Macht gelangen, das den Wünschen einer der beiden Supermächte entsprechen würde. Dann würden die Entrechteten der Welt, die sich dem Islam und der islamischen Regierung zugewandt haben, entmutigt. Dann wäre der Islam für alle Zeit isoliert. Und eines Tages werdet ihr bereuen, was ihr getan habt, und dieser Tag wird der Tag sein, an dem das geschieht, was nicht geschehen sollte. In diesem Fall ist jedes Bedauern sinnlos. Wenn die Herren erwarten, daß sich alles über Nacht dem Islam und den Anweisungen Gottes gemäß entwickelt, so irren sie sich. Ein solches Wunder
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hat es während der ganzen Geschichte der Menschheit nicht gegeben, und wird es auch in Zukunft nicht geben. Glaubt nicht, daß an dem Tag, an dem der größte der Reformatoren (der versteckte Imam) erscheint, plötzlich Wunder geschehen werden und die ganze Welt an einem einzigen Tag reformiert wird. Stattdessen sollte man Tyrannen durch Anstrengungen und Opfer bestrafen und isolieren. Wenn ihr wie einige verdorbene Laien glaubt, daß für das Erscheinen dieses großen Mannes (des versteckten Imam) alle Bemühungen auf die Verwirklichung von Ungläubigkeit und Unterdrückung gerichtet werden müssen, damit die Welt als Vorbereitung auf sein Erscheinen in Ungerechtigkeit versinken kann, dann (können wir nur sagen): „Wir gehören Gott, und zu ihm kehren wir zurück“ (Koran 2, 156) [...]
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Vollkommenheit ist nicht möglich Am Ende dieser Willensäußerung möchte ich noch einmal der edlen Nation des Iran (die Maxime) hinterlassen, daß in der Welt die Fähigkeit, Mühen, Entbehrungen, Opfer, Selbstverleugnung und Anstrengungen zu ertragen, der Größe des Ziels und seinem Wert entspricht. Das Ziel, für dessen Verwirklichung sich unsere edle Nation erhoben hat und für das ihr euer Leben und Eigentum opfert, ist das höchste, am höchsten geschätzte und wertvollste Ziel – es ist das vorherbestimmte Ziel, wertvoller als irgendetwas anderes, das sich seit der Schöpfung bis zum Ende aller Zeit dargeboten hat: Dies ist die göttliche Schule im weitesten Sinne des Wortes. Es ist die Idee des Bekenntnisses der göttlichen Einheit mit ihren erhabenen Dimensionen. Es ist das Wesen der Schöpfung: Ihr Ausmaß erreicht die Unermeßlichkeit der Existenz und der höheren Ebenen dessen, was man nicht sehen kann, und dessen, was man erleben kann, was in der Tradition Muhammads – der Friede sei mit ihm und mit seinen Nachkommen – in all seinen Dimensionen, in jedem Maße und in jeder Bedeutung zum Ausdruck kommt, und worauf alle großen Propheten und Männer Gottes – gegrüßt seien sie – ihre Anstrengungen gerichtet haben.
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Khomeini richtet sich mit dieser Anrede an die Verantwortlichen in der Regierung
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Die Stufe der absoluten Vollkommenheit und der ` unendlichen Herrlichkeit und Schönheit – die nicht möglich sein kann – findet man dort, wo Gott Menschen höher als Engel und diejenigen, die den Engeln vorgezogen werden, gestellt hat. Und das, was für Menschen zu erreichen ist, ist niemandem sonst, quer durch die ganze Schöpfung, zugänglich, ob im Verborgenen oder augenfällig. Du kämpfende Nation, du marschierst unter einer göttlichen Fahne, die in der ganzen Welt, der irdischen und der göttlichen Welt, gehißt wird. Ob ihr es merkt oder nicht, ihr folgt einem Weg, der für alle Propheten – der Friede sei mit ihnen – der einzige Weg und auch der einzige Weg zum vollkommenen Glück ist. Alle Propheten haben den Märtyrertod auf sich genommen, um auf diesen Weg zu gelangen. Andreas Meier (Hrsg.): Politische Strömungen im modernen Islam, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2002, S. 112 ff.
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4.2.2 Mohammad Schabestari, ein religiöser Aufklärer Mohammad Schabestari und Abdolkarim Sorusch gehören zu den bekannten Vertretern der Konzeption einer „religiösen Demokratie“. Wie Sorusch hat auch Schabestari aufgrund eines Rechts- und Theologiestudiums genaue Kenntnisse der islamischen Tradition. Gleichzeitig sind ihm aufgrund intensiver Kontakte zu den westlichen europäischen Staaten westliches Wissenschaftsdenken und westliche demokratische Traditionen bestens vertraut. Beide wollen diese beiden Traditionen, die westliche und die islamische, miteinander verbinden. Der erste Text (Text 1) dieses Dokuments bietet eine Einleitung zur Biographie Schabestaris von der iranischen Autorin Banafsheh Nourkhiz und eine darauf folgende Darstellung der Ideen Schabestaris zur „religiösen Demokratie“. Der zweite Text (Text 2) ist ein Ausschnitt aus einer Rede, die Schabestari in Deutschland auf einer Diskussionsveranstaltung an der Universität Erfurt im Januar 2003 gehalten hat. Hier erörtert er das Problem des Verhältnisses von Islam und Demokratie. Um sei100
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ne Argumentation besser zu verstehen, müssen zwei Aspekte vorher bedacht werden. Erstens: Der Islam ist von seinem Charakter her eine Gesetzesreligion. Entscheidend für das religiöse Leben ist die Beachtung der aus dem Koran abgeleiteten religiösen Gesetze, die in der islamischen Rechtsordnung, der Scharia, niedergelegt sind. Zweitens: Schabestari bezieht sich, wenn er das Verhältnis von Islam und Demokratie erörtert, auf die islamische Rechtsordnung. Und er versucht die Frage zu klären, ob diese Rechtsordnung mit demokratischen weltlich-säkularen Überlegungen vereinbar sind. Denn: In der westlich-demokratischen Rechtsordnung entspricht das Recht dem Rechtsempfinden des Volkes – es ist also nicht religiös, sondern weltlich begründet – und es dient dem demokratischen Rechtsstaat. In der islamischen Rechtstradition gibt es zwei Begründungen des Rechts. Die eine begründet das Recht auf den Willen Gottes und da dieser unwandelbar und ewig ist, sind diese Rechtstraditionen auch unwandelbar und ewig und können und dürfen nicht verändert oder diskutiert werden. Die andere Begründung des Rechtes ist weltlicher Art. Das Recht entspringt in dieser Tradition der vernünftigen Überlegung rechtgeleiteter Muslime, die ein konkretes Problem ihrer Zeit im Interesse der islamischen Gemeinschaft lösen wollen. Diese Rechtstradition kann sehr wohl diskutiert und interpretiert werden. Schabestari bezieht sich in seiner Argumentation auf diese beiden unterschiedlichen Rechtstraditionen im Islam. Jörg Bohn
Text 1 Der Theologie Prof. Dr. Schabestari leitete in der Zeit von 1970 bis 1979 das schiitische Islamische Zentrum in Hamburg. Seit 1985 ist er Professor für Islamische Philosophie an der Universität Teheran. Er gehört zu den ersten und wichtigsten rechtsgelehrten Theoretikern im Iran, die sich mit der Reformierbarkeit des Islam und der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie beschäftigt haben. Er ist der erste Geistliche, der sich deutlich über die Trennung von Religion und Staat geäußert hat. Seit den 90er Jahren versucht er in zahlreichen Büchern und Artikeln zu erklären, dass die durch den Menschen entwickelte Sprache im Koran und in der Sunna dem damaligen Zeitgeist ent-
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Schabestari verteidigt einen weltlich-moralischen Staat: Ein Staat der trotz seiner weltlichen Struktur moralischen Werten treu bleibt.
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Nach seiner Begründung habe die Trennung von Staat und religiösen Werten in den westlichen Ländern zur Krise der Moral, Entfremdung und Entwertung der Gesellschaft geführt. Schabestari zeigt sich besorgt über die Entwertung der Gesellschaft durch die Säkularisierung. Seine Lösung ist die Bildung einer demokratischen Regierung, die sich an die religiösen Werte der Gesellschaft hält. Näher betrachtet versteht er unter religiöser Demokratie die universalen Demokratieprinzipien, wenn sie im Dienste Gottes an religiöser Bedeutung gewinnen. Aus: Einleitung zur Biographie und zum Denken Schabestaris von Banafsheh Nourkhiz, in: B. Noukhiz, Der politisch-religiöse Diskurs im Iran (unveröffentliches Manuskript), S. 10. Die dargestellten Ideen Schabestaris beziehen sich auf dessen Werk „Hermeneutik“, Teheran, 1996.
Schabestaris Überlegungen zur Demokratie Demokratie ist ein modernes politisches Phänomen, das sich zum ersten Mal in einigen westlichen Ländern entwickelte. In den traditionellen islamischen Staaten existierte nach der heutigen Demokratiedefinition keine demokratische Regierung. In den traditionellen Gesellschaften fehlten sowohl die demokratischen Werte als auch die modernen Definitionen von Menschenrechten, die zur theoretischen Basis der Demokratie gehören. Seiner Ansicht nach sollten die demokratischen Werte aus anderen Kulturen übernommen und in die islamische Kultur integriert werden, damit in den islamisch geprägten Gesellschaften die Schaffung einer „religiösen Demokratie“ möglich sei. Demokratie würde zur Zeit im Iran, so Schabestari, durch die Beteiligung aller Menschen und Gruppen am politischen Leben des Landes (Partizipation) sowie durch Wählen und Abwählen der Regierenden mit demokratischen Mitteln definiert. Darüber hinaus gehören zur Grundlage der Demokratie: Die Meinungs- und Äußerungsfreiheit, Glaubensfreiheit, Kundgebungsfreiheit, die Gleichheit aller Bürger in der Bildung von politischen Parteien und Gruppen sowie bei der Beteiligung in der Regierung.
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Definition wird die Tolerierung von Viel` faltInundseiner Pluralismus als wichtigstes Element der Demokratie bezeichnet. Dieses Konzept kann nur auf der Grundlage von demokratischen Werten, die Schabestari durch Toleranz charakterisiert, erfolgen. Die demokratischen Werte haben nur dann eine dauerhafte Chance, wenn sie in allen Institutionen der Gesellschaft integriert werden. Freiheit und Gerechtigkeit nennt er als zwei Grundsätze der Religion, die ein menschenwürdiges Leben und dadurch die Erfüllung der menschlichen Aufgabe gegenüber Gott ermöglichen. Menschen können nur durch freie Wahl ihre Pflicht vor Gott erfüllen. [...] Aus: Banafsheh Nourkhiz, Der politisch-religiöse Diskurs im Iran, S. 13 ff. Die Darstellung bezieht sich auf die Schrift Schabestaris „Was ist religiöse Demokratie?“ in: Aftab (Iranische Zeitschrift), Nr. 7, 2002, Teheran
Text 2 Islam und Demokratie
Der Wissenschaftler Modjahed Schabestari, Center for the Great Islamic Encyclopedia Tehran (Iran), aufgenommen am 22.11.2003 bei einer Wissenschftsveranstaltung in Berlin Foto: © dpa, Karlheinz Schindler
Ich weiß, dass das Thema "Der Islam und die Demokratie" ein sehr umstrittenes und vielseitiges Thema ist. Es gibt viele nichtmuslimische und muslimische Wissenschaftler und Politiker, die die Meinung vertreten, dass Islam und Demokratie unvereinbar sind. Es gibt aber auch einige Wissenschaftler und Politiker, die diese Vereinbarkeit für möglich halten. Innerhalb dieser zweiten Gruppe begegnen wir denjenigen, die behaupten, dass die Grundzüge und wesentlichen Werte der Demokratie im Großen und Ganzen in den islamischen Texten und Überlieferungen zu finden sind. Ich kann vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus mit dieser letzterwähnten, unbegründeten Behauptung nicht einverstanden sein. Ich bin jedoch der Meinung, dass man mit Rücksicht und Bezugnahme auf einen Zentralbegriff in der islamischen Rechtswissenschaft, nämlich dem Begriff ‚Recht', zu dem Ergebnis kommt, dass die Muslime heute Islam und Demokratie miteinander vereinbaren können. Ich vertrete die Meinung, dass das Wesen des Rechts im Islam in den Perioden der Rechtsgeschichte im Islam rechtswissenschaftlich gesehen rational verstanden wurde. Ich denke, dass diese Tatsache, die in der islamischen Tradition selbst verankert ist, den Muslimen die Möglichkeit gibt, heute die Demokratie aufbauen zu können, ohne ihre Tradition aufgeben zu müssen. […] 102
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Die Entwicklung der islamischen Rechtswissenschaft zeigt uns, dass zwei unterschiedliche Auffassungen des Rechtsdenkens in der Geschichte des Islam miteinander konkurriert haben. Die Auffassung des Rechts als aus der Wirklichkeit des menschlichen Lebens und durch Vernunft entstanden, und die Auffassung des Rechts als Pflicht, die von Gott den Menschen vorgeschrieben wird. Diese unterschiedlichen Auffassungen hindern uns zu glauben, dass das Rechtsdenken im Islam immer einen einheitlichen Sinn gehabt hat, und zwar einen von Gott definierten. Meines Erachtens gibt es im Koran und in der prophetischen Überlieferung und in der Geschichte des Islams viele Anzeichen dafür, dass das Rechtsdenken zwischen einer Definition von Recht als Sache des Menschen und einer Definition als Sache Gottes schwankte. […] Lassen Sie mich einige Erklärungen zu dem oben Gesagten geben. Ausgehend von der wiederholten Betonung des Begriffs der Gerechtigkeit im Koran kann man feststellen, dass die Entfaltung des Rechtsdenkens der prophetischen Zeit von diesem Begriff stark beeinflusst ist. Der Begriff der Gerechtigkeit im Koran, der in Bezug auf die menschlichen Beziehungen untereinander gebraucht wird, ist ein weltlich-
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4.2.3 Morad Saghafi – ein Vertreter der radikal-demokratischen und säkular denkenden Richtung Morad Saghafi ist Schriftsteller und Herausgeber der Zeitschrift Goft-o-Gu (= Dialog). Diese Zeitschrift hatte zu folgenreichen Auseinandersetzungen zwischen säkularen und religiösen Intellektuellen im Iran beigetragen. Der folgende Text ist einem Interview entnommen, das die iranische Zeitschrift Aftab mit Saghafi geführt hat (aus: Aftab, Nr. 23, Februar 2003, Teheran). Die Auseinandersetzung zwischen säkular und religiös denkenden Intellektuellen dreht sich im Kern um zwei Fragen: Sollen Staat und Gesellschaft nach göttlichen, d. h. dem Koran entnommenen Gesetzen regiert werden, oder nach Gesetzen, die der menschlichen Erfahrung und Vernunft entstammen. Und: Ist Gott/Allah die höchste gesetzgebende Autorität oder der Volkswille? Die beiden eben genannten Extrempositionen werden von den Orthodoxen oder Konservativen auf der einen und von den radikal-demokratisch und säkular denkenden Intellektuellen auf der anderen Seite eingenommen. Die Vertreter der Konzeption einer „religiösen Demokratie“ stehen sozusagen in der Mitte. In dem folgenden Interview, das nicht im wörtlichen Text, sondern in einer Zusammenfassung der Gedanken Saghafis wiedergegeben wird, äußert sich Saghafi auch zu den „religiösen Demokraten.“ Jörg Bohn
Nach Saghafi ist eine religiöse Demokratie im Grundsatz nicht realisierbar. Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass der Begriff „Demokratie“, aber vor allem auch die ganze Konzeption der „religiösen Demokratie“ nicht klar definiert ist. Wer in die politische und religiöse Diskussion im Iran eingreifen wolle, so Saghafi, müsse klar sagen, was er wolle und was nicht. Im Grunde, so Saghafi, sei die Konzeption der „religiösen Demokratie“ eine Konzeption des Übergangs. Des Übergangs von der religiösen Herrschaft der Konservativen und ihrer islamischen Republik zu einer rein demokratischen Herrschaft, die Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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müsse. Warum sei diese Konzeption der „re` kommen ligiösen Demokratie“ überhaupt entwickelt worden? Saghafi gibt folgende Antwort: Die religiösen Reformer hätten nicht den Mut besessen, die Konservativen und ihre Konzeption der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ direkt und frontal anzugreifen, weil man sie dann als „Atheisten“ bezeichnet hätte. Darum seien sie den Konservativen so weit entgegengekommen, dass sie immer noch religiös argumentieren würden. Damit würden sie aber das Spiel der Konservativen spielen und diesen eher entgegenkommen, als den radikalen Demokraten. Banafsheh Nourkhiz: Der politisch-religiöse Diskurs im Iran, S. 18 ff.
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.3 Islam und Moderne – oder: Wie reformierbar ist der Islam?
Materialübersicht Einführung ..........................................................................................................................................................................................106 4.3.1 Staatspräsident Khatami, Über die Wandelbarkeit religiöser Erkenntnisse (Dokument 37) ..................107 4.3.2 Schabestari, Der Koran und das menschliche Verständnis (Dokument 38)..................................................107 4.3.3 Kadiwar, Islam und Menschenrechte (Dokument 39) ...........................................................................................109 4.3.4 Mirsepasi, Demokratie oder Wahrheit (Dokument 40) .........................................................................................110 4.3.5 Saidi, Wollen wir Säkularisierung? (Dokument 41).................................................................................................111
Arbeitshinweise Arbeiten Sie mit eigenen Worten die Hauptgedanken Khatamis heraus und legen Sie dar, wie Khatami das Verhältnis zwischen Islam und Moderne sieht. In der Debatte im Iran zu dieser Frage gibt es zwei Hauptmeinungen. Sie lassen sich so darstellen: A. Wenn es Widersprüche zwischen Islam und Moderne, zwischen Islam und Demokratie gibt, dann müssen die entsprechenden Texte des Islam so lange interpretiert und umgedeutet werden, bis es „passt“, d. h. bis die Widersprüche verschwunden sind. Denn: Im Grunde gibt es keine Widersprüche zwischen Islam und Moderne. B. Es gibt offenkundige Widersprüche zwischen Islam und Moderne, zwischen Islam und Demokratie. Man darf diese Widersprüche nicht vertuschen, sondern kann und muss sie benennen. Aber: Um Demokratie und Menschenrechte zu verteidigen, muss man nicht auf den Islam zurückgreifen, sondern lediglich die eigene Vernunft und die eigene Gesellschaft befragen. Das heißt: Der Islam ist nicht „allgenügsam“, d. h. er bildet nicht den Lösungsschlüssel für alle Probleme der Moderne. Hier muss man aus eigenen Kräften und aus eigenen Erfahrungen und Überlegungen nach neuen Lösungen suchen – jenseits des Bereichs des Religiösen! Welcher Variante (A oder B) stimmt vermutlich Khatami eher zu? Ziehen Sie zur Beantwortung dieser Frage Text 1 und Text 2 des Dokumentes 37 heran. Arbeiten Sie bitte heraus, wo Sie den Hauptunterschied zwischen der traditionellen islamischen Theologie und der heutigen modernen islamischen Theologie sehen, die sich Schabestari wünscht. Welchen Erfordernissen hat sich nach Schabestari eine moderne islamische Theologie zu stellen? Ziehen Sie hierzu Dokument 38 heran. Stellen Sie dar, zu welchem Ergebnis Kadiwar bei der Prüfung der Frage kommt, ob die traditionelle islamische Rechtsprechung mit den Grundsätzen der Menschenrechte zu vereinbaren ist. Greifen Sie dazu auf Dokument 39 zurück. Legen Sie dar, wie sich Mirsepasi eine Demokratisierung der iranischen Gesellschaft denkt, und prüfen Sie, ob sich seine Vorstellungen mit dem Konzept der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ vereinbaren lassen. Wie steht Mirsepasi zu den Vertretern des Konzepts einer „religiösen Demokratie“? Stellen Sie dar, was Saidi zur Säkularisierung in der europäischen Kultur sagt und wie er über eine Säkularisierung in der iranischen Gesellschaft denkt. Vergleichen Sie zusammenfassend die Ansätze von Khatami, Schabestari, Kadiwar, Mirsepasi und Saidi und ordnen Sie diese den drei „Hauptfraktionen“ oder Hauptgruppen im politischen und religiösen Diskurs im heutigen Iran (Konservative, religiöse Aufklärer, säkulare und radikal-demokratische Intellektuelle) zu. Begründen Sie dabei Ihre Einordnung. Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.3 Islam und Moderne – oder: Wie reformierbar ist der Islam? Einführung
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Die Diskussion über die Staatsform des Islam, über die Alternative „Islamische Republik“ bzw. „Gottesstaat“ oder säkulare Demokratie bzw. religiöse Demokratie? – diese Diskussion führt mit Notwendigkeit zu einer weiteren und sehr grundsätzlichen Frage: Wie steht der Islam zur Moderne? Ist der Islam mit der Tradition der Demokratie und der Menschenrecht vereinbar? Und: Kann sich der Islam überhaupt wandeln, so dass auch ein modern und säkular denkender Mensch mit voller Überzeugung zum Islam und seiner religiösen und politischen Tradition stehen kann? Man kann nicht sagen, dass solche Fragen historisch völlig neu seien. Im vom Christentum geprägten Europa sind solche Fragen mit ganzer Leidenschaft und aller Konsequenz seit der beginnenden Neuzeit diskutiert worden – und es sind auch Lösungen gefunden worden, auf denen unsere politische und religiöse Kultur in Europa bis heute aufbaut. Darum gibt es unter den liberal denkenden Muslimen im Iran nicht wenige, die die europäische Tradition zu diesen Fragen aufmerksam und kritisch studieren und hieraus Nutzen ziehen. In der sehr vielschichtigen Diskussion im heutigen Iran sind auf konservativer wie auf liberaler Seite viele Antworten gegeben und gefunden worden. Im Sinne eines Überblicks soll anhand von vier Punkten eine Gegenüberstellung der wichtigsten Positionen der konservativen und der liberalen Seite versucht werden. Eine genaue Untersuchung muss dann anhand der folgenden Dokumente bzw. Texte vorgenommen werden. Ein erster Streitpunkt ist die grundlegende Frage der Wandelbarkeit des Islam. Hier argumentieren die Konservativen, dass eine Wandelbarkeit des Islam weder wünschenswert noch möglich sei. Sie sei nicht möglich, da die Glaubensaussagen und die Rechtstraditionen des Islam von Gott gegeben und folglich unveränderlich seien. Sie sei auch nicht wünschensoder erstrebenswert, da der Islam in seinen Glaubensaussagen und seinen Rechtstraditionen die vollkommenste Religion sei und folglich auch für die Moderne die passenden Antworten besäße, die schon vorlägen und gar nicht erst gesucht werden müssten. Die Liberalen argumentieren, dass Islam und Moderne durchaus im Widerspruch zueinander stünden, 106
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d. h. dass bestimmte Aussagen des Islam, vor allem seine Rechtstradition, nicht mehr zeitgemäß seien. Deshalb müsse man versuchen, den Islam einerseits und modernes wissenschaftliches und demokratisches Denken andererseits miteinander zu verbinden. Eine zweite Frage betrifft die Rechtsüberlieferung des Islam, die Scharia, und lässt sich so formulieren: Ist die Rechtstradition des Islam, die Scharia, mit demokratischen Prinzipien und vor allem mit den Menschenrechten vereinbar? Die Konservativen argumentieren hier folgendermaßen: Die Frage nach den Menschenrechten ist eine typisch europäisch-amerikanische Fragestellung, die dem Islam aufgezwungen wurde und ihm im Prinzip fremd ist. Außerdem ist sie heuchlerisch: Die westlichen Länder halten sich nicht an ihre eigene Menschrechtstradition und der Islam ist in seinem Kern eine Religion, die mit den elementaren Menschenrechten nicht im Konflikt liegt. Die Liberalen halten dagegen: Die Scharia und die Tradition der Menschenrechte sind durchaus nicht im Einklang miteinander, sondern widersprechen sich. Will man den Islam in Einklang mit der Tradition der Menschenrechte bringen, muss man bestimmte Bereiche der Scharia ändern. Eine dritte Frage zielt auf die Interpretation des Koran. Ist der Koran wortwörtlich zu akzeptieren - das ist die Position der Konservativen. Oder ist der Koran interpretierbar und interpretationsbedürftig? Das heißt: Muss man die Aussagen des Koran historischkritisch untersuchen, d. h. ihren historischen Hintergrund beachten und dabei auch berücksichtigen, dass der Interpetierende, der moderne Mensch, keinesfalls völlig unvoreingenommen an den Text herangeht, sondern sein eigenes Vorverständnis, sein eigenes Interpretationsgerüst mitbringt? Die vierte Frage betrifft das Verhältnis von Religion und Politik. Die Konservativen sehen hier keine Notwendigkeit, zwischen Religion und Politik zu trennen. Für sie ist der Islam eine Religion mit einem Totalitätsanspruch, eine Religion, die beansprucht, die ganze Wirklichkeit, die ganze Gesellschaft, in den Geltungsbereich des Islam einzubeziehen. Die Liberalen dagegen wollen die Bereiche von Religion und Politik deutlich voneinander trennen. Für sie ist die Religion, d. h. der Islam, eine persönliche und die Seele betref-
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.3 Islam und Moderne – oder: Wie reformierbar ist der Islam? Angelegenheit. Der Bereich von Politik und Ge` fende sellschaft ist eine rein diesseitig-menschliche Angelegenheit, die mit dem Mittel der Vernunft zu regeln und zu gestalten ist. Jörg Bohn
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4.3.1 Staatspräsident Khatami, Über die Wandelbarkeit religiöser Erkenntnisse Beide folgenden Einzeltexte (Text 1 und Text 2) entstammen Aufsätzen, die Khatami 1998 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht hat. Um die Stoßrichtung von Khatamis Gedanken deutlicher zu machen, ist darauf hinzuweisen, dass es im ursprünglichen Text Khatamis einen Satz gab, der auf ausdrücklichen Wunsch des Staatspräsidenten nicht veröffentlicht werden sollte. Der Satz lautete sinngemäß – in Anspielung auf das berühmt gewordene Urtei (fatwa) Khomeinis gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie: Der Einfluss westlicher Kultur und Zivilisation auf die iranische Gesellschaft lasse sich nicht durch das Erstellen von Fatwas verhindern. Und Khatami fährt fort: Der „Widerspruch zwischen der modernen und unserer traditionellen Kultur sei einer der wichtigsten Gründe für die Krise unseres Denkens und unseres Lebens.“ Und: Wer versuche, Deiche zu errichten, um sich vor der Außenwelt zu schützen und auf dem schmalen Streifen der Tradition, die wir von unseren Vorvätern geerbt haben, zu leben, bewirke nur das Gegenteil: „Mit Zwang, einem trockenen Gesetz und den Befehlen der Politiker seien die gesellschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten nicht zu bewältigen, sondern nur durch einen vorurteilslosen Austausch mit der westlichen Kultur und ihrem Denken.“ Jörg Bohn. Die Zitate stammen aus: Navid Kermani, Iran, Beck'sche Reihe, München 2001, S. 55.
Text 1 Die Geschichte des Menschen ist eine Geschichte des Wandels seiner Glaubensüberzeugungen und Ideen. Alle Meinungsverschiedenheiten zwischen den Denkern, zwischen den Anhänger der Doktrinen, wie
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auch die grundsätzlichen Konflikte zwischen den Konfessionen einer Religion und sogar die gedanklichen Widersprüche innerhalb der einzelnen Konfessionen bezeugen, daß niemand beanspruchen kann, über die absolute Wahrheit zu verfügen. Welchen Islam meinen wir denn, wenn wir von dem Islam sprechen? Den Islam Abu Zarrs, den Islam Avicennas, den Islam Ghazalis oder Ibn Arabis, den Islam der Aschariten, der Mystiker, der Orthodoxie oder der Buchstabenfrommen? Sie alle bezeugen die Relativität der menschlichen Erkenntnis und also auch jener Erkenntnis, welche die Menschen von der Religion haben.
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Text 2 Wenn eine bestimmte Art des Verstehens und der Wahrnehmung zur Gewohnheit geworden ist, fällt es grundsätzlich schwer, sich davon zu trennen. Größer noch ist die Schwierigkeit, wenn die Traditionen die Färbung und den Geruch der Religion annehmen: Wenn die begrenzten menschlichen Traditionen und Wahrnehmungen den Platz des Erhabenen und Heiligen einnehmen, wird jedwede Kritik an ihnen als ketzerische Erneuerung wahrgenommen, und der Kampf gegen ketzerische Erneuerungen gilt wiederum als erhaben und heilig. Deshalb sind die erwähnten Schwierigkeiten in religiösen Gesellschaften größer und gefährlicher. Text 1 aus: Ders., Auch die Tradition ist nicht ewig. Eine Gesellschaft, die nicht nachdenkt, ist verloren, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.2000, in: Navid Kermani, Iran, Beck'sche Reihe, München 2001, S. 54 f. Text 2 aus: Ders., Keine Religion ist im Besitz der absoluten Wahrheit. Das Haupt des Menschen ragt in den Himmel, aber seine Füße stehen auf der Erde, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.09.2000, in: ebd., S. 55.
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4.3.2 Schabestari, der Koran und das menschliche Verständnis In einem Aufsatz für die Zeitschrift Al-Fadschr Nr. 90/1988, S. 14 ff., befasst sich Schabestari zunächst mit der klassischen islamischen Glaubenslehre (Theologie). Er legt dar, dass es dieser darum gegangen sei, Glaubensgrundlagen zu formulieren und vor allem jede Art von Ungewissheit und Zweifel auszuschließen. Dann fährt Schabestari fort, indem er deutlich macht,
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diese alten Denkstrukturen in der islamischen ` dass Theologie heute neuen Denkstrukturen weichen müssen, Denkstrukturen, in denen ein kritisches Hinterfragen vorherrsche. Das, was moderne islamische Glaubenslehre (Theologie) heute leisten müsse, legt er dann im Anschluss wie folgt dar [...] Jörg Bohn
Wenn sich der Mensch seiner Denkstruktur bewußt wird und eine kritische Distanz zu ihnen gewinnt, dann ist das ein Phänomen, das der menschlichen Geschichte eine neue Wende gibt, die wir nicht übergehen können. Kritik ist etwas, das keine Grenzen kennt. Manche, die davon hören, ziehen daraus den falschen Schluß, daß es eine Wirklichkeit gar nicht gäbe. Daß es eine Wirklichkeit gibt und der Mensch das Recht hat, diese kritisch zu hinterfragen, sind zweierlei Dinge, die nicht miteinander zu vermischen sind. In den Denkkategorien unserer Tage versteht sich der Mensch als souveränes Wesen, der eigenständig abwägen und Schlußfolgerungen und Ergebnisse seiner Reflexion kritisch überprüfen muß. Er begreift sich als Wesen ständig in Bewegung, ohne klar umrissenes Ziel vor Augen, gleichsam Weg, Wanderer und Ziel in einem. (Eine Metapher, die in der islamischen Mystik häufig Ausdruck findet) Innerhalb eben erwähnter Denkstrukturen ist die Methode der Beweisführung belanglos und ohne jeglichen Nutzen. Dem Menschen geht es nicht darum, etwas zu beweisen, vielmehr möchte er konkrete Probleme lösen. Er sieht sich ständig vor neue Aufgaben gestellt, die er bewältigen möchte. Während sich der Mensch von früher einem unlösbaren Geheimnis gegenübersah, darüber reflektierte, um zu absoluten Wahrheiten zu gelangen, so sieht sich der Mensch von heute mit unzähligen Fragen konfrontiert, auf die er zufriedenstellende Antworten sucht.
Heute steht der Mensch als fragendes Wesen im Vordergrund. Der Mensch als fragendes Wesen oder als Wesen, das immer Fragen hat, steht im Vordergrund. Unter 108
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solchen Voraussetzungen gibt es keine eindeutige Definition für die Welt noch kann der Mensch klar bestimmt werden. Weder die Philosophie noch die Wissenschaften sind in der Lage, ein fest umrissenes Bild von der Welt aufzuzeichnen. Sowohl wissenschaftliche als auch philosophische Theorien sind im Wandel. Wie könnten sie dann ein endgültiges Bild vom Menschen und der Welt entwerfen? Obwohl es an absoluten Aussagen in Philosophie und in den Wissenschaften fehlt, müht sich der Mensch mit aller Kraft um Halt und Sicherheit, doch jede Stütze, nach der er greift, bricht eine nach der anderen in sich zusammen und selbst das Bemühen, den Einsturz aufzuhalten, bleibt erfolglos. [...]
Der Mensch möchte nicht auf die spirituelle Rettung im Jenseits warten. Es geht ihm um das Leben hier uns jetzt. Heute heißt es für den Menschen nicht, absolute Wahrheiten zu ergründen und diese bestätigen, um jenseitige Rettung zu erlangen, sondern viel vordringlicher erstrebt er Erlösung und spirituelle Rettung hier auf Erden, hat er doch seine Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies in diese Welt verlagert. Unsere mystischen Gelehrten sagten einst, Paradies sei nicht etwas, was später eintreffe, sondern vollziehe sich jetzt und hier im Menschen selbst, nur werde es vom Menschen außer acht gelassen. Für viele Menschen hat sich der Schleier der Unachtsamkeit enthüllt. Sie fragen inständig: Was gibt mir die Religion jetzt und hier, der ich verwirrt, ohne Rast und voller seelischer Probleme bin? Jene sind nicht mit großen Versprechungen auf eine Erlösung im Jenseits zufriedenzustellen, auch Mystiker konnten es nicht. Versprechungen traditioneller Theologen, der Mensch müsse absolute Wahrheiten akzeptieren, bestimmte religiöse Handlungen ausführen, um nach dem Tod Glückseligkeit zu erlangen, interessieren den heutigen Menschen nicht. [...] Zu Beginn des Islam unternahm der Prophet keine Anstrengungen, Gott, das Prophetentum oder das Jenseits zu beweisen. Gott spricht im Quran den Menschen an, indem Er Sich ihm vorstellt. Er beweist sich ihm nicht. Ebenso wie sich der Prophet den Men-
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.3 Islam und Moderne – oder: Wie reformierbar ist der Islam? vorstellte, ohne seine Person beweisen zu müs` schen sen. Es war nicht die Strategie des Propheten, über theologische Argumente seinen Auftrag zu beweisen. Seine Botschaft war ein Phänomen, das die Öffentlichkeit beeinflußte und Glauben hervorbrachte. Ebenso brauchen wir heute eine Theologie, die Gott, Prophetentum, Offenbarung und Eschatologie in einer völlig neuen Art präsentiert, daß sie nicht nur der Menschheit und der Welt einen neuen Sinn gibt, sondern darüber hinaus es ihm ermöglicht, sein Leben und die Welt zu revolutionieren. Schabestari: Kritik zur traditionellen Denkweise der Theologie im Islam unserer Zeit, in: Al Fadschr Nr. 90/1998, S. 14 ff.
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stimmter Stämme, die „Najiie“ genannt werden, der ersten Klasse an. Alle anderen Muslime werden den zweitklassigen Menschen zugerechnet. Mitglieder anderer Schriftreligionen: Christen, Juden und Zarathusten sowie die Nichtmuslime, die einen Vertrag mit den islamischen Staaten geschlossen haben, gehören zu den drittklassigen Menschen. Alle anderen Menschen gehören der vierten Klasse an. Besonders die viertklassigen Menschen haben nach den alten Definitionen islamischer Schriften gar keine Rechte. Es ist erlaubt, sie respektlos zu behandeln.
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Diese Ungleichheit wird seitens konservativer Islamisten als klares, undiskutierbares Gesetz der Scharia verstanden.
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4.3.3 Kadiwar, Islam und Menschenrechte Mohsen Kadiwar, ein Rechtsgelehrter, hat achtzehn Jahre (1980–1997) in den Theologieschulen von Shiraz und Ghom das islamische Recht, Philosophie, Theologie und Hermeneutik (= Lehre vom richtigen Verstehen von Texten) studiert. Dann hat er über vierzehn Jahre im Iran an Theologieschulen und Universitäten Philosophie, Islamisches Recht und Politikwissenschaft gelehrt. Seit 1999 beschäftigt er sich intensiv mit der Frage der Vereinbarkeit von Menschenrechten und Islam. Er bezeichnet die Beziehung von Menschenrechten und islamischen Gesetzen als wichtigsten Gesichtspunkt im Konflikt zwischen Islam und Moderne. Er untersucht zunächst das traditionelle Rechtsdenken im Islam, vergleicht es mit den modernen Menschenrechtstraditionen (gemeint sind hier die internationalen Menschenrechtskonventionen von 1948 und 1966). Er kommt dann zu dem grundsätzlichen Schluss: Das traditionelle Rechtsdenken im Islam und einige wichtige Grundsätze der Menschenrechte sind nicht zu vereinbaren! Der folgende Text, der in seinen wichtigsten Aussagen von Banafsheh Nourkhiz zusammengefasst wird, stellt eine Begründung der grundsätzlichen These Kadiwars dar. Jörg Bohn
Nach den Gesetzen des traditionellen Islam (Islame sonati) werden Menschen in drei bis vier Klassen geteilt. Nach dieser Definition gehören Muslime be-
Die Akzeptanz der Idee von „Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz unabhängig ihres Glaubens und ihrer Religion“ bezeichnet Kadiwar als Ausgangspunkt des Modernen Islam. An dieser Stelle unterscheidet sich, seiner Definition nach, der moderne Islam vom konservativen.
Der liberale iranische Geistliche Mohsen Kadiwar spricht am 15.1.2004 in der Husseynieh Ershad-Moschee in Teheran zu Anhängern u.a. über den Ausschluss führender Reformpolitiker von den Wahlen durch den Wächterrat. Foto: © dpa, Abedin Taherkenareh
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dem islamischen Fegh (Recht) wird Gläubig ` undNach Muslim nicht gleichgesetzt. (Gläubig ist jeder Muslim, der an eine bestimmte Richtung des Islam glaubt). Zum Beispiel sind nach Ansichten der Rechtsgelehrten schiitischer Richtung des Islam nur die schiitischen Muslime gläubig. Muslime der sunnitischen Richtung des Islam werden als Gegner bezeichnet. Ihnen werden einige Rechte in den schiitischen Gemeinden untersagt. So dürfen sie keine religiösen und richterlichen Ämter innerhalb der Scharia übernehmen. Auch als Zeugen unter schiitischen Muslimen sind sie nicht berechtigt. Muslime und Nichtmuslime besitzen nach altem islamischem Recht keine gleichen Rechte. Die Anhänger anderer Religionen und Ungläubige sind in vielen Stellen benachteiligt und diskriminiert. Sowohl als Mensch als auch als Bürger. Zum Beispiel: wenn ein Muslim durch einen andersgläubigen Täter ermordet wird, wird der Täter nach dem alten islamischen Recht zum Tode verurteilt. Im Gegenteil wird ein muslimischer Täter keine Todesstrafe bekommen, falls er eine andersgläubige Person getötet hat. Nach den traditionellen Definitionen der islamischen Rechte stehen den Menschen aufgrund ihrer menschlichen Existenz keine Rechte in Form von Menschenrechten zu. Nur über und durch die Religion werden die Rechte des Einzelnen definiert. Religion ist der einzige Maßstab aller Rechtsansprüche. Es gibt im traditionellen Islam die Rechte der Muslime, nicht aber die Rechte der Menschen. Der alte Islam ist weit entfernt von Menschenrechtsdefinitionen. Der Widerspruch zwischen dem alten islamischen Recht und dem Menschenrecht wird auch in der Ungleichberechtigung von Frauen und Männern deutlich. Das Geschlecht wird hier als zweite Ursache für eine ungleiche Behandlung der Menschen dargestellt. Hier nenne ich einige Beispiele, die Khadiwar in seiner Debatte über den alten Islam beschrieben hat. Nach altem islamischem Recht sind Frauen von richterlichen Ämtern ausgeschlossen. Ihnen wird die politische Funktion als Regierungschef untersagt. Sie dürfen den Rang von Marja-e Taghlid nicht besitzen. Die Ausübung des Berufs als Prediger (Imam) in den muslimischen Gemeinschaften wurde ihnen verbo110
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ten. Das Recht auf Scheidung steht nur dem männlichen Geschlecht zu. Der Mann darf sich jederzeit von seiner Frau scheiden lassen, auch ohne sie zu benachrichtigen. Die Frau darf sich aber nur in einigen Ausnahmefällen, wenn ihre Gründe nach altem islamischem Recht akzeptabel sind, scheiden lassen. Allerdings entscheidet ein Richter, ob die Gründe der Frau für eine Scheidung ausreichend sind oder nicht. Der Mann darf gleichzeitig vier Ehen schließen, während der Frau dies nicht erlaubt ist. Wenn Väter oder Großväter ihre Kinder oder Enkelkinder töten, werden sie nicht bestraft. Wenn Mütter dieselbe Tat begehen, werden sie sehr wohl bestraft. Nach altem islamischem Recht gibt es keine allgemeinen Rechte der Menschen. Wie bei den Rechten der Muslime und der Nichtmuslime gibt es auch bei den Geschlechtern ungleiche Rechte für Mann und Frau. Der andere wichtige Punkt ist das Verbot des Religionswechsels bei Muslimen. Ein Muslim darf zu keiner anderen Religion übertreten oder sich zum Atheismus bekennen. In diesen Fällen werden Männer zum Tode und Frauen zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Nach den traditionellen Interpretationen des Islams sind keine freien Meinungsäußerungen erlaubt. Mohsen Kadiwar: Das Menschenrecht und der religiöse Intellektualismus, in: Aftab, Nr. 27–28, Juli 2003-September 2003, Theran, in: Banafsheh Nourkhiz, Der politisch-religiöse Diskurs im Iran.
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4.3.4 Mirsepasi, Demokratie oder Wahrheit Ali Mirsepasi ist Publizist und Professor der Soziologie in New York. In seinem Buch „Demokratie oder Wahrheit“ beschäftigt er sich mit der Demokratieproblematik im Iran und setzt sich mit dem Demokratieverständnis der religiösen Aufklärer auseinander. Seine These lautet: Ohne die Einrichtung demokratischer Institutionen, ohne die Trennung von öffentlichem Leben und Privatleben, ist ein Demokratisierungsprozess im Iran nicht vorstellbar. Er wirft den religiösen Reformern vor, die Demokratie nur vom philosophischen Standpunkt aus zu behandeln und das moderne Denken lediglich auf Begriffe wie „Fortschritt“ und „Vernunft“ zu beschränken, während konkrete und ra-
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Der folgende Text stellt eine Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen Mirsepasis in seinem Buch durch Banafsheh Nourkhiz dar.
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einen Eingriff in das individuelle Leben vornimmt und die Änderung und Formierung der Identitäten der Individuen zum Ziel hat. Diese These widerspricht den demokratischen Grundsätzen.
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Aus: Mirsepasi, Demokratie oder Wahrheit (in Persisch), Teheran 2002, in: Banafsheh Nourkhiz, Der politisch-religiöse Diskurs im Iran.
Dokument 41 Nicht die Modernisierung religiös-philosophischer Ideen führe die iranische Gesellschaft aus ihrer heutigen Krise zu Demokratisierung, sondern die Etablierung demokratischer Institutionen. Mirsepasi beruft sich dabei auf das Demokratieverständnis von Jürgen Habermas. Demokratie wird hier als Gesellschaftsphänomen definiert, deren Erfolg abhängig ist von den demokratischen Gesellschaftsinstitutionen. Demokratie steht über der Philosophie, nicht umgekehrt. Die erste Station der Demokratie ist, so Mirsepasi, ein demokratisch strukturiertes öffentliches Leben, in dem alle Mitbürger die Möglichkeit bekommen, ihre Meinungen frei mitteilen zu können. Die Trennung von Staat und Gesellschaftsinstitutionen sowie die Trennung von öffentlichem und privatem Leben sind Vorraussetzungen für die Souveränität der Bürger. Allein mit freien Wahlen und mit einer Verfassung, welche die Gewaltenteilung vorschreibt, kann keine Demokratisierung garantiert werden. Meinungs- und Pressefreiheit, Schutz der individuellen Rechte, Freiheit in der Bildung von politischen Parteien und Interessengruppen sowie die Partizipation der Bevölkerung am politischen Leben des Landes sind die Basis einer demokratischen Gesellschaftsstruktur. Er kritisiert die Idee der religiösen Demokratie. Religion gehört in einer demokratischen Gesellschaft zu den privaten Angelegenheiten und ist vom öffentlichen Leben getrennt. Das individuelle Verständnis von Religion sollte als privates Recht anerkannt und dem Individuum überlassen werden. Durch das Konzept der religiösen Demokratie bliebe die Religion eine öffentliche Angelegenheit. Das ist ein destruktiver Ansatz für einen Demokratisierungsprozess, weil er
4.3.5 Saidi, Wollen wir Säkularisierung? Der iranische Geistliche Ali Saidi untersucht in einem Aufsatz den Begriff der Säkularisierung. Dieser Begriff bezieht sich in der in Europa üblichen historischen und politischen Diskussion auf die Vorgänge im 16. Jahrhundert während der Reformation vor allem in Deutschland. Die Reformation Luthers, die sich gegen die damalige Katholische Kirche richtete, hatte zur Folge, dass Kirchengut, also vor allem umfangreicher Landbesitz, der Kirche entzogen und der weltlichen Staatsmacht, den Fürsten, übereignet wurde. Im weiteren Verlauf der Begriffsentwicklung ist Säkularität oder Säkularismus eine Bezeichnung für die im europäischen Verfassungsrecht übliche Trennung von Kirche und Staat, von religiösem und politischem Denken. Diese Trennung ist auch im politisch-religiösen Diskurs im Iran von aktueller Bedeutung. Jörg Bohn
Der folgende Text ist eine Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen Saidis zum Problem des Säkularismus durch Banafsheh Nourkhiz.
In ihren Anfängen richtete sich die Säkularisierung im christlichen Europa mit der Macht der Vernunft zunächst nur gegen die Macht der Kirche, nicht aber gegen die Religion. In dieser Zeit bedeutete die Säkularisierung der Religion die Abschaffung des Heiligkeitsanspruchs der Kirche, weil sich die Kirche zwischen Gott und die Menschen stellte und das Recht auf Vermittlung beanspruchte. Die Säkularisierung wurde durch religiöse Intellektuelle in Europa innerhalb der Reformationsbewegung durchgesetzt, um die christliche Religion von der Macht der Kirche zu befreien. Dogmatismus in den mittelalterlichen Defi-
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der christlichen Ideen und die Theologisie` nitionen rung der ganzen Wissenschaft und Gesellschaft waren, so Saidi, zwei wichtige Gründe für den Erfolg der Säkularisierung in den christlichen Gesellschaften. In ihrer weiteren Entwicklung wurde Säkularisierung unter dem Einfluss der kulturellen und gesellschaftlichen Erneuerungen und Ereignisse in Europa wie Renaissance, Amerikanische und Französische Revolution usw. neu definiert. So entstand erst allmählich die Tendenz, Religion aus dem alltäglichen Leben zu verbannen, in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Moral, etc. Die Schlussfolgerung in diesem Artikel lautet: Da die Probleme und der Dogmatismus der christlichen Religion, insbesondere in ihrer mittelalterlichen Erscheinung, nicht in der islamischen Religion zu finden sind, gibt es keine Notwendigkeiten, die islamische Kultur zu säkularisieren. Aus: Ali Saidi, Säkularismus, Ketabe Naghd (iranische Zeitschrift), Nr. 1, Herbst 1996, Theran, in: Banafsheh Nourkhiz, Der politisch-religiöse Diskurs im Iran.
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.4 Exkurs: Die religiöse Mystik (Sufismus) im Iran und ihre Spuren in Dichtung, Philosophie und Religion Materialübersicht Einführung ..........................................................................................................................................................................................114 4.4.1 Ibn Arabi und Rumi – oder: Der Islam der inneren Erfahrung (Dokument 42) ............................................115 4.4.2 Hafis, sein Leben und seine Dichtung (Dokument 43) .........................................................................................116 4.4.3 Der Einfluss der religiösen Mystik auf den politisch-religiösen Diskurs im Iran (Dokument 44)...........119
Arbeitshinweise Wie begründet sich für Ibn Arabi die von ihm vertretene Haltung der religiösen Toleranz? Welche religiösen Grundanschauungen haben Ibn Arabi und Rumi gemeinsam? Erläutern Sie bitte die Hauptgedanken des folgenden Ibn Arabi-Zitats: „Hüte dich, dass du dich an eine bestimmte Bekenntnisformel anbindest und jede andere zurückweisest, wodurch dir viel Gutes, ja sogar das Wissen von der wahren Wesenheit Gottes entging. Betrachte deine Seele als einen (zur Annahme der verschiedenen Formen bereiten qualitätslosen) Urstoff für die Formeln aller Glaubensbekenntnisse. Denn Gott ist umfassender und größer, als dass ihn ein (bestimmtes) Bekenntnis mit Ausschluss eines anderen einschließen könnte; wie er selbst sagt: ‚Und wohin immer ihr euch wendet, dort ist Gottes Antlitz’ [Sure 2, 114] [...] Daraus wird klar, dass Gott sich in allen Richtungen kundgibt; in denselben äußern sich die (formellen) Glaubensbekenntnisse; jedes derselben trifft das Richtige, und wer das Richtige trifft, wird des Lohnes teilhaftig; und jeder des Lohnes Teilhaftige ist selig und des Wohlgefallens (Gottes) sicher.“ (Zitiert nach U. v. Melzer - V. R. v. Rosenzweig, Rumi, Leykam, Graz 1987, S. 90) Legen Sie bitte dar, welche wichtigen Lebenserfahrungen die religiöse und politische Haltung des persischen Dichters Hafiz prägten und welche Haltung Hafiz zum Islam und zur islamischen Geistlichkeit sowie auch zu den Sufis seiner Zeit einnahm. Erläutern Sie bitte in einigen Kernthesen, wie das Islam-Verständnis von Ibn Arabi, Rumi und Hafis aussieht, und erklären Sie, was diese Dichter und Philosophen für religiöse Reformer unserer Zeit im Iran und in der Türkei so attraktiv macht.
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Das heutige Ringen um einen anderen, freiheitlichen, individuellen und weltoffenen Islam hat es im Iran und in der übrigen islamischen Welt auch in früheren Zeiten gegeben. Ein Ergebnis berühmter Art ist der Sufismus oder die religiöse Mystik im Islam, die gerade im Iran eine Hochblüte erlebt hat. Namen wie Rumi oder Hafis, als Vertreter der Dichtung und der religiösen Philosophie sind hier herausragende Beispiele. In der Gegenwart wird gerade unter den religiösen Reformern und unter den radikalen Demokraten das Denken der religiösen Mystik hoch geschätzt, denn hier gibt es ein gemeinsames Interesse: Das Interesse an einem freiheitlichen und weltoffenen Islam. Was ist religiöse Mystik, was ist typisch für den Sufismus? Ein erstes Grundmerkmal der religiösen Mystik im Islam ist die persönliche Beziehung zu Gott/Allah, also der Rückgriff auf die individuelle religiöse Erfahrung. Der Gott, den die religiösen Mystiker erfuhren, war nach ihrem religiösen Empfinden ein unergründlicher Gott, ein Gott, den man mit Begriffen und Definitionen nicht fassen konnte, der nicht objektivierbar war,
Bildnis eines Sufis, der als Bettler lebt und sich von der Welt zurückgezogen hat, um seinen persönlichen Weg zu Gott zu finden.
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sondern ein persönliches Gegenüber. Die Unergründlichkeit Gottes und sein Charakter als persönliches Gegenüber ist ein zweites Grundmerkmal der religiösen Mystik. Ein dritter Grundaspekt ist der Weg zu Gott, den die Mystiker beschreiten und anempfehlen: Es ist der Weg der „Reinigung der Seele“ durch ein einfaches, zurückgezogenes und der Andacht gewidmetes Leben. Aus den drei genannten Aspekten ergibt sich auch ein besonderer Zugang zum Koran und zur Religion. Für die religiöse Mystik ist der Islam keine Gesetzesreligion und die Religionsgelehrten werden nicht als „Experten“ des religiösen Lebens anerkannt, da ja ein direkter und persönlicher Weg zu Gott angestrebt wird. Der Koran ist demnach auch kein Buch, das das religiöse Leben durch Gesetze leitet, sondern in der Wahrnehmung der Mystiker ein Buch, das die Geheimnisse Gottes und die Geheimnisse des persönlichen Glaubens enthüllt, wenn man ihn – den Koran – einer symbolischen und mystischen Interpretation unterzieht. Typisch für das Verständnis der Religion und damit auch des Islam ist im mystischen Denken auch die Vorstellung, dass man zwischen dem äußeren Erscheinungsbild der Religion, also ihren Gesetzen und Geboten, und dem Kern der Religion, ihren Aussagen über Gott und den Menschen, unterscheiden müsse. Viele religiöse Mystiker und von der religiösen Mystik inspirierte Philosophen und Dichter haben auch bewusst den Kontakt mit Vertretern anderer Religionen, vor allem mit Juden und Christen, gesucht und sind zu der Auffassung gelangt, es gäbe in allen Religionen so etwas wie einen Kern oder Grundbestand religiöser Erfahrung, der sich gleich bleibe und der als „Religion in der Religion“ den Wesenskern aller Religionen ausmache. Dies bildete die Grundlage für ein erstaunlich tolerantes und weltoffenes Denken, das man bei vielen Vertretern der religiösen Mystik finden kann und das die Tradition der religiösen Mystik oder des Sufismus für heutige, liberal denkende Muslime auch so attraktiv macht. So wird erklärlich, dass sich nicht wenige herausragende Vertreter einer liberalen Interpretation des Islam im Iran und in anderen islamischen Ländern oft auf die religiöse Mystik berufen und Philosophen und Dichter, die der religiösen Mystik nahestehen, gerne zitieren. Jörg Bohn
Abb: Metropolitan Museum of Art, The Cora Timken Burnett Collection, New York
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4.4.1 Ibn Arabi und Rumi – oder: Der Islam der inneren Erfahrung Ein herausragender Vertreter der islamischen Mystik ist der Philosoph Ibn Arabi gewesen, der seinerseits den iranischen Dichter und Philosophen Rumi beeinflusst hat. Bei beiden ist ein intensives Nachdenken über Gott/Allah, den Weg zu Gott und über religiöse Toleranz zu erkennen.
Ein sehr bekannter islamischer Philosoph, der sehr viel über das Verhältnis der verschiedenen Religionen zueinander nachgedacht hat, ist Ibn Arabi. Ibn Arabi wurde 1165 in Murcia/Spanien geboren, lebte 30 Jahre als Rechtsgelehrter in Sevilla und verbrachte seine späteren Lebensjahre in Damaskus, wo er 1240 starb. Ibn Arabi betrachtet die Welt der verschiedenen Religionen unter dem Aspekt von „Innen“ und „Außen“, von „äußerem Erscheinungsbild“ und „Substanz“ bzw. „Sein“ oder „Wesen“. Eine erste grundsätzliche Aussage über das Verhältnis der Religionen zueinander ist aus der „AußenInnen“-Konzeption Ibn Arabis abgeleitet. Für ihn sind die verschiedenen Religionen nur in ihrer äußeren Form unterschiedlich, in ihrer Substanz, in ihrer „Innenseite“ oder in ihrem Wesen sind sie gleich – denn sie kreisen alle um den einen Gott. Eine zweite, damit eng zusammenhängende Grundauffassung Ibn Arabis ist aus der für den Islam wie auch für Judentum und Christentum grundlegenden Konzeption der Einheit und Einzigkeit Gottes abgeleitet. Gott ist – so Ibn Arabi – zu allumfassend, zu einzigartig, um vom menschlichen Geist ganz oder in seiner Einheit erfasst werden zu können. Darum ist jede menschliche Glaubensauffassung – so „wahr“ oder echt sie auch sein möge - grundsätzlich partikular, also nur auf einen Teilaspekt der Einheit und Einzigkeit Gottes gerichtet.
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digerweise den Rang, die Bedeutung oder die Dignität einer bestimmten Religion in Frage stellen – wenn sich der jeweilige Gläubige oder die jeweilige Religion dieser „Schranke“ bewusst ist, also zur Selbstbeschränkung oder „Bescheidenheit“ fähig ist. Gefährlich und verderblich wird diese „Partikularität“ nur, wenn sie „verdrängt“ wird und ein religiöser Absolutheitsanspruch erhoben wird.
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Sie sehen: Ibn Arabis Gedanken beruhen auf einer Haltung grundsätzlicher religiöser Toleranz aus der Einsicht in die Partikularität menschlicher Erkenntnis und dem Respekt vor der Einheit und Einzigkeit Gottes. Ibn Arabi war in seinem religiösen Denken Mystiker, d. h., er war von der „Seelenverwandtschaft“ zwischen Gott und Mensch überzeugt. Nach dieser „mystischen“ Konzeption kann und will Gott sich vom Menschen erkennen lassen, wenn der Mensch bereit ist, den „Weg nach innen“, den Weg der Selbsterkenntnis und der Erforschung der eigenen Seele, zu gehen, und wenn er etwas von der Liebe versteht. Denn: Nach dieser mystischen Konzeption soll – so wird es ja auch im „Schma Israel“ (das jüdische Glaubensbekenntnis, in: 5. Buch Mose, Kap. 6,4 f.) ausgedrückt - das Verhältnis des Menschen zu Gott ein Verhältnis der Liebe sein. Diese „mystische Konzeption“, die Sie eben bei Ibn Arabi kennen gelernt haben, trifft in starker Weise auch auf den iranisch-islamischen Dichter Rumi oder Maulana (1207–1273), einen Zeitgenossen Ibn Arabis, zu. Wie Ibn Arabi hat auch Rumi religiöse Toleranz verkündet und praktiziert, indem zu seinem Bekannten- und Freundeskreis auch Juden und Christen zählten. Gemeinsam mit Ibn Arabi geht auch Rumi von der Partikularität menschlicher Erkenntnis und der Einheit und Einzigkeit Gottes aus. Nehmen Sie als Beispiel für Rumis Dichtkunst und seine philosophischreligiösen Konzeptionen das Gedicht auf der folgenden Seite. Jörg Bohn: Studienheft RELO 7c, ILS, Hamburg 2004, S. 42 ff.
Diese „Partikularität“ menschlicher Erkenntnis und menschlichen Glaubens muss kein Hindernis für die Gotteserkenntnis sein und muss auch nicht notwen-
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ein Ameislein ` Es sah auf dem Papier die Feder und sagte, was sie sah, den anderen Emsen auch: „Welch wundervolle Bilder hat dieses Rohr gemalt, wie Liliengärten, Rosen, wie Gärten voller Duft!“ Die andere Emse sagte: „Der Finger tut das doch – die Feder ist nur Mittel zum Zweck und folgt der Hand!“ Die dritte Emse sagte: „Nein, das stammt nur vom Arm, wodurch der dünne Finger dann solches wirken kann!“ So ging das immer weiter, bis schließlich höher noch der Führer aller Emsen etwas gescheiter war und sprach: „Ihr seht die Kunst von äußerer Form nur an, die sich im Schlaf, im Tod nicht mehr besinnen kann. Die Form ist wie ein Kleid nur und wie ein Stock zur Stütze, doch ohne Geist und Seele ist sie für kein Werk nütze.“ Er wusste nicht, dass diese – das Herz und der Verstand – bewegungslos verharren, wenn Gott sie nicht bewegt, und zöge Er nur einmal hinweg der Gnade Hand – Wie viele dumme Sachen erfände der Verstand! Zitiert nach: Dschelaluddin Rumi, Das Mathnawi, übertragen von A. Schimmel, Sphinx-Verlag, Basel 1994, S. 42 f.
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4.4.2 Hafis, sein Leben und seine Dichtung Hafis gilt als größter persischer Dichter, dessen Gedanken vom Sufismus beeinflusst wurden und der ein scharfer Kritiker religiöser Heuchelei und ein leidenschaftlicher Anhänger der Freiheit und Toleranz war. Der folgende Text entstammt einem Vortrag des in Deutschland lebenden iranischen Schriftstellers Mahmoud Falaki. Hafis inspirierte Goethe zu seinem „West-Östlichen Diwan“, einem literarischen Werk, das bewusst der kulturellen Welt des Orients und vor allem des Iran seine Reverenz erwies und ein frühes und herausragendes Beispiel eines interkulturellen Dialogs war. Jörg Bohn
Über sein persönliches Leben ist uns wenig überliefert. Die erste, aber nicht ausreichende Quelle ergibt sich aus einem Vorwort von Golandam in der Erstausgabe des Diwan. Hafis wurde zwischen 1323 und 1326 in Schiras geboren. Schon in seiner Kindheit starb sein Vater, ein Geschäftsmann, und er musste seinen Lebensunterhalt bei einem Teigmacher verdienen. Darauf hat er eine akademische Ausbildung genossen. Später wurde er für kurze Zeit selber Lehrer an einer theologischen Hochschule. Obwohl Schiras zu Hafis' Zeit unter unruhigen, unsicheren politischen Verhältnissen mit schnellem Machtwechsel zu leiden hatte, war es einer der wichtigsten Orte mit theologisch-literarischen Schulen. Er verbrachte dort sein ganzes Leben und starb 1389/90. Nur zweimal hat er für kurze Zeit die Stadt verlassen. In seiner Jugendzeit, als Mosaffarfürst Ishagh Indschu (1343–53), ein literarisch interessierter Mann, regierte, erlebte Hafis eine wohlhabende Zeit und war als Hofdichter nicht nur materiell gesichert, sondern er konnte auch seine schöpferische Arbeit mit Erfolg fortsetzen. Aber Indschus Nachfolger, Mobares-ed-din Mohammad Mosaffar (1353–58), der ihn (Indschu) ermordet hatte, war ein Frömmler und ein grausamer Despot. In seiner Regierungszeit, in der die geistliche Orthodoxie herrschte, erlebte Hafis eine schwere Zeit.
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.4 Exkurs: Die religiöse Mystik (Sufismus) im Iran und ihre Spuren in Dichtung, Philosophie und Religion dessen Sohn, Schah Schodja (1358–85) seinen Va` Als ter blendete und die Macht übernahm, fühlte sich Hafis alsbald erleichtert und hieß mit begeisterten Versen seine Machtübernahme willkommen. Aber Schah Schodja verfiel nach Intrigen der Frömmler wieder in seines Vaters Gewaltmethoden. Hafis übte Kritik an der orthodoxen Geistlichkeit. Daraufhin wurde er der Ketzerei verdächtigt und beim Mufti wurde eine Fatwa gegen ihn erwirkt. Hafis musste nach Jasd, in einer Nachbarstadt in der Provinz Kerman, flüchten, die von Schah Jahja regiert wurde. Nur durch die Fürsprache von Freunden des Dichters, besonders von einem literarisch interessierten einflussreichen Mann, namens Turanschah, wurde die Fatwa aufgehoben, so dass er nach etwa zwei Jahren wieder in seine Heimat zurückkehren konnte. [...] In seiner Jugendzeit ist seine Dichtung von Gläubigkeit und herkömmlicher irdischer Liebe und Vergnügen geprägt. Er steht häufig unter dem Einfluss seiner Vorbilder. Anfang seines dreißigsten Lebensjahrs zeigt er seine Neigung zu Sufiorden und kritisiert die Frömmler. In dieser Zeit glaubte er, dass die Sufis (islamische Mystiker) die Botschaft von Liebe und Toleranz verkünden. Aber er kam allmählich zu der Einsicht, dass die Sufis ihre Auffassung vermarkten und in ihrem Tun und Treiben nur Lüge, Heuchelei und Formalismus zu erkennen sei: In des Frommtuns Heuchelfeuer brennt die Gläubigkeit auf: Hafis, wirf die wollne Kutte [Suf] fort Und ziehe in die Welt. Alle Sufis werfen Liebesblicke Aber nur der betrübte Hafis Gerät dadurch in Verruf. Er wollte ein „wahrer“ Mystiker (Aref) sein, der völlige Freiheit von jeglichem Dogmatismus erstrebt. [...]
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Obwohl er diverse Themen behandelte, treten doch folgende Themen überwiegend hervor:
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1. Liebe Liebe ist der zentrale Begriff in seiner Dichtung. Er meinte, die Welt sei durch Liebe geschaffen und durch die Liebe werden alle Probleme lösbar. Er nennt sich „Leibeigner der Liebe“. Ich sag' es offen, und sag' es freudig: Leibeigener der Liebe bin ich und Von dieser und jener Welt befreit. Aber Liebe hat in seinen Gedichten zwei Gesichter: Einerseits ist Liebe für ihn Ausdruck der Seele nach ihrem göttlichen Ursprung (mystische Liebe): Im Anfang schien die Liebe leicht, die dann zum Rätsel ward. * O Seele aus dem Paradies, gib meinem Bemühen das Geleit, denn das Ziel liegt fern und ich bin ein Reisender, der unerfahren. [...] Ach Hafis, es ist gerecht, wenn auf der Suche nach der Perle der Vereinigung meine Augen Tränen fassen wie ein Meer, in dem ich selbst versinke. Andererseits ist von irdischer Liebe in vielen Ghaselen die Rede: Was ist es, das Fülle spendet? Der Anblick des Geliebten! Ich tausche Königtümer, vor seinem Haus zu betteln! * Mein Herz quält der Gedanke, dass unsere Seele reisen muss, eh deine Lippen meine fanden. Der Durst nach deinem Mund Trieb mich in arge Not. Wann schenkt dein Mund mir, dem Geringen, eine Gabe?
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` 2. Weingenuss Wein als Spender mystischer Trunkenheit, wie als normaler Genuss ist in seinen Gedichten häufig mit Liebe verknüpft. Ja wir sind von Kummer frei und trunken, denn wir sind die Kumpane des Bechers voll mit Wein, haben unsere Herzen hingegeben, das Geheimnis aller Liebe wurde uns vertraut.
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Und der Wein ist ihm ein Symbol der Liebe und Freiheit um sich vom Frömmler zu distanzieren: Ins Weinhaus komm, und spiegele dein Gesicht im Purpurwein, und meide die Moschee [Gebethaus], wo die Frömmler sind.
Bild aus dem 16. Jahrhundert. Der Maler will mit dieser Illustration zu den Werken Hafis’ den Dichter in der Schankstube darstellen. Abb: © Fogg Art Museum, Harvard University, Cambridge, USA
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` 3.SagFreiheit dem Prediger, er solle Hafis nicht tadeln dafür, dass er vom Gebetshaus weggegangen ist; Warum fesselst du die Füße der Freiheit? Lass sie doch gehen, wohin sie will! * Ich will der Sklave jener Großmut sein, die frei von allen Bindungen unter der blauen Himmelskuppel ist!
4. Auseinandersetzung mit den Frömmlern In dieser Zeit wurden Künstler, Dichter und Philosophen wegen ihres vorausschauenden, fortschrittlichen Denkens von den fanatischen Machthabern gefoltert, verbrannt, enthauptet oder auf andere Weise hingerichtet. Vor diesem Hintergrund ist die Entschlossenheit und der ungebrochene Mut des Hafis hervorzuheben, der immer wieder an den Frömmlern und der mit ihnen verbündeten Polizei (Mohtaseb) Kritik geübt hat. Betrug und Hinterhältigkeit werden in der Hafis'schen Poesie als Merkmale der mohammedanischen Frömmler kritisiert. Diese Kritik wurde entweder mit den direkten Wörtern „Betrug“ und „Heuchelei“ oder indirekt durch Ironie geübt. Auch wenn dem Prediger der Stadt nicht leicht fällt das Gedächtnis, Solang er Heuchelei und Falschheit übt, wird er kein Muselman! lerne zechen und sei barmherzig, denn unvollkommen ist die Kreatur, die nicht Wein trinkt, um sich zum Menschen zu vollenden. O Herz, sei frohgemut, kein Diw macht sich zum Salomon mit Betrug und List! * Die Pfaffen, die vor Kanzel und Altar viel Pracht entfalten – wenn sie allein sind, frönen sie anderem Dienst. Aus: Mahmoud Falaki, Hafis (unveröffentlichter Vortrag)
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4.4.3 Der Einfluß der religiösen Mystik auf den politisch-religiösen Diskurs im Iran Die Nähe der Reformer im Iran (Text 1: Khatami), aber auch in der Türkei (Text 2: Nuri Öztürk) zur mystischen Tradition ist sehr deutlich erkennbar. Mit seiner Betonung der Nächstenliebe und Toleranz und seinem Bestehen auf der individuellen Glaubenserfahrung bildet diese Tradition ein deutliches Gegengewicht zur Buchstabenfrömmigkeit der religiösen Konservativen. Darum hat auch die Sufi-Tradition innerhalb der iranischen Bevölkerung großen Zulauf. Die folgenden beiden Texte zeigen auf, wo Khatami und Öztürk, die beide als Reformer in Distanz zur orthodoxen oder konservativen islamischen Religiosität stehen, ihre besondere und persönliche Nähe zur mystischen Tradition sehen und ausmachen.
Text 1 Die Wahrheit der Religion ist eine Erfahrung, die der gläubige Mensch in seinem Herzen macht. Wohl haben viele mystische Philosophen und Theoretiker der Mystik sich bemüht, den rationalen Aspekt dieses Weges aufzuzeigen, aber der Weg selbst ist die Vereinigung, nicht das Verstehen. Der kritische Punkt dabei ist nun, daß der Weg des Herzens ein individueller Weg ist, kein kollektiver. Jeder muß ihn selbst gehen, und wenn er angekommen ist, kann er die Einsicht, die er durch die Gegenwart Gottes erfahren hat, nicht in Begriffen und mit Hilfe des erworbenen Wissens mitteilen: „Wem Nachricht zuteil wurde, von dem ward keine Nachricht.“ (Saadi) Gleichzeitig aber ist der Mensch ein Gemeinschaftswesen, das nicht nur zum Leben auf dieser Erde verurteilt ist, sondern auch zum Leben mit anderen Menschen: Er bedarf der Mittel, die er mit anderen teilt, um mit ihnen in Verbindung zu treten. Und tatsächlich verfügt er über ein Organon, das Vernunft genannt wird und dessen Aufgabe es ist, zu verstehen, was in der Welt ist. Gewiß ist ein solches Verstehen der Welt – wie die Welt selbst – unbeständig, fehlerhaft und veränderlich, aber solange es den Menschen gibt und er in Gemeinschaften lebt, hat er keine andere Wahl, als mit diesem Organon, Islam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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die Schöpfung ihm zur Verfügung gestellt hat, ` das der Welt zu begegnen und die zwei Bücher zu studieren: das Buch des Seins und das Buch der Offenbarung. Mohammad Khatami: Auch die Tradition ist nicht ewig. Eine Gesellschaft, die nicht nachdenkt, ist verloren, in: Navid Kermani, Iran, Beck’sche Reihe, München 2001, S. 56.
Text 2 12. Wie können wir den Inhalt des Korans unter dem Gesichtspunkt bewerten, daß er als Quelle für das mystische und rechtliche Leben dient? Der Bereich, der vom Koran unmittelbar oder auf Umwegen über die islamische Geistesgeschichte am meisten Unterstützung erhält, ist der Bereich der Mystik, also der Sufismus. Hunderte von Versen bieten Stoff für das mystische Denken, ja sogar für die mystischen Begriffe und Fachausdrücke. Viele koranische Aussagen, die vordergründig den anderen Wissenschafts- und Geistesdisziplinen entstammen, tragen mehr oder weniger mystische Zeichen in sich. Die Offenbarungen der Mekkanischen Periode, in der die wichtigsten Grundlagen für die islamische Geistesgeschichte gelegt wurden, besitzen zum großen Teil einen mystischen Charakter. Auch in den Offenbarungen der Medinensischen Periode findet sich reichlich mystisches Material. Im Grunde ist die Anzahl der Koranverse, die als eine rechtliche Norm betrachtet werden können, die ganz konkret ein rechtliches Gebot ausdrücken (Verse der Bestimmungen), gering. Der Koran verzichtet darauf, die idealen Dimensionen, in denen das rechtliche Leben stattfinden sollte, oder konkrete Normen festzulegen, geschweige denn Anweisungen darüber zu geben, wie das praktische Leben auszusehen habe. Die Grundhaltung des Korans besteht darin, die Aufmerksamkeit auf die universellen Dimensionen der rechtlichen Aussagen und Vorstellungen sowie auf deren Maßstäbe, die sich nicht auf eine konkrete Zeit beziehen, zu lenken. Der Koran überläßt die Ausformulierung und die praktische Umsetzung im allgemeinen den Umständen von Zeit und Ort, den klimatischen Bedingungen sowie dem Gewohnheitsrecht. Bei der Ordnung des mystischen Lebens hingegen verhält es sich keineswegs so. Der Koran beschäftigt sich viel intensiver mit diesem Punkt. Denn die letztgültigen Botschaften der gesellschaft120
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lichen Offenbarung wurden im Koran gesammelt. Dieser Bereich mußte so geordnet werden, daß er den Bedürfnissen der Menschen allumfassend gerecht werden konnte. Das rechtliche Leben wird durch den Menschenverstand und die Bedürfnisse des Menschen jeden Tag von neuem geordnet. In diesem Bereich feste und unveränderliche Gesetze einzubringen, ließe sich nicht mit der Universalität dieser Ordnung vereinbaren. Dieser Bereich ist weitgehend ausgespart, damit er, nachdem die universellen Dimensionen berücksichtigt wurden, gemäß den Bedürfnissen der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse geordnet werden kann. Nuri Öztürk: 400 Fragen zum Islam, 400 Antworten, Grupello/Tatsachen, Düsseldorf 2001, S. 93 f.
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.5 Islamische Welt, Iran und Europa – Abgrenzung oder Dialog?
Materialübersicht Einführung ..........................................................................................................................................................................................122 4.5.1 Ayatollah Mesbah Yazdi: Toleranz und Nachsicht? (Dokument 45) ................................................................122 4.5.2 Ayatollah Montazeri: Botschaft an die Menschen in Deutschland (Dokument 46) ...................................123 4.5.3 Navid Kermani: Der Islam und der Westen (Dokument 47) ................................................................................124
Arbeitshinweise Analysieren Sie zunächst Dokument 45, indem Sie herausarbeiten, wie Yazdi die eigene Welt oder Kultur, also den Islam, sieht und wie er die andere Welt, die Welt des Christentums, einschätzt. Prüfen Sie dann anhand des Textes, ob für Yazdi ein Dialog auf gleichberechtigter Ebene mit der christlichen Welt möglich ist, oder ob die Abgrenzung überwiegt. Gehen Sie jetzt zu einer Analyse des Textes von Montazeri (Dokuemnt 46) über. Prüfen Sie auch hier, wie Montazeri die eigene Welt, also das politische System im Iran einschätzt und was er von „uns“, also der europäisch-christlichen Welt erhofft bzw. erwartet. Ist dieser Text eher auf Abgrenzung oder auf Dialog aus? Vergleichen Sie beide Texte (Dokument 45 und 46) im Hinblick auf die in beiden Texten vorliegende Sicht des Islam und in Hinblick auf die Position der Autoren im politischen und religiösen Diskurs im Iran. Arbeiten Sie bitte anhand einer Analyse des Kermani-Textes (vgl. Dokument 47) heraus, wie der Autor die Situation der islamischen Welt einschätzt und wie er die geistige Situation Europas betrachtet bzw. was er als typisch für das Selbstverständnis Europas ansieht. Wie schätzt der Autor die Chancen eines Dialogs zwischen Europäern und Muslimen/Iranern ein und welche Gegebenheiten könnten nach Einschätzung des Autors einen Dialog fördern bzw. behindern?
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.5 Islamische Welt, Iran und Europa – Abgrenzung oder Dialog? Einführung
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Was haben Europa bzw. Deutschland und der Iran in der heutigen politischen und religiösen Situation einander zu sagen? Diese Frage beschäftigt auch – und zwar durchaus nachdrücklich – den politischen und religiösen Diskurs im heutigen Iran. Wie man sich selbst und den anderen sieht, das Selbstbild und das Fremdbild, sind für beide Seiten von entscheidender Bedeutung, wenn man die Chancen eines Dialogs ermessen möchte. Drei Texte sollen zur Klärung der Frage herangezogen werden. Der erste Text (Dokument 58) von Ayatollah Yazdi beschäftigt sich ausdrücklich mit den Chancen eines Dialogs der Religionen und Kulturen und der Autor hat auch eine sehr klare Einschätzung der Bedeutung des Islam und der der anderen Religionen. Ein anderer Text (Dokument 59) stammt von einem der bekanntesten Geistlichen des heutigen Iran, dem Ayatollah Montazeri, der ein ehemaliger Mitstreiter des Ayatollah Khomeini war und inzwischen bei den Herrschenden im Iran in Ungnade gefallen ist und unter Hausarrest steht. Auch dieser hat eine deutliche Meinung zum Islam und über Deutschland und er wendet sich mit großem Nachdruck an die deutsche Bevölkerung. Der dritte Text (Dokument 60) stammt von einem in Deutschland lebenden iranischen Intellektuellen, Navid Kermani, der das Verhältnis Europas und der islamischen Welt analysiert. Auch er nimmt zu der Frage der Möglichkeiten und Grenzen eines Dialogs Stellung. Jörg Bohn
4.5.1 Ayatollah Mesbah Yazdi: Toleranz und Nachsicht? Der Ayatollah Yazdi gehört zu den wichtigsten Vertretern des konservativen Flügels im heutigen politisch-religiösen Diskurs im Iran. Seine Auffassungen ähneln den Vertretern der Konzeption der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ im Regierungslager und gehen sehr deutlich von der Unwandelbarkeit des Islam aus. Seine wichtigsten Vorstellungen werden im Anschluss von der Islamwissenschaftlerin Banafsheh Nourkhiz zusammengefasst. Jörg Bohn
Seiner Überzeugung nach existiert nur eine richtige Religion mit nur einer richtigen Ausrichtung in der Welt, nämlich der schiitische Islam. Neue Deutungen und Interpretationen von Koran und Sunna lehnt er ab. Das islamische Recht gilt für alle Zeiten und ist nicht veränderbar. Die unzweideutigen Rechte der Islamischen Schriften dürfen nicht neu interpretiert werden. Sie bestehen unabhängig von Zeit und Raum und sind unveränderbar. Pluralismus als Vielfältigkeit der religiösen Ideen und Verständnisse sei inakzeptabel. Pluralismus heißt seiner Ansicht nach das friedliche Zusammenleben der drei großen Schriftreligionen sowie ihrer verschiedenen Richtungen untereinander. Pluralismus darf aber nicht als Richtigkeit der Ideologien dieser Religionen verstanden werden. „Wir akzeptieren den Pluralismus als friedliches Zusammenleben zwischen zwei Richtungen einer Schriftreligion oder zwei Schriftreligionen. Muslime und Christen können untereinander leben, miteinander handeln und diskutieren. Es geht hier aber nicht um die Akzeptanz ideologischer und theoretischer Inhalte anderer Religion.“ Er kritisiert die Idee Schabestaris und anderer islamischer Protagonisten, die von der Richtigkeit aller Religionen und ihrer gegenseitigen Ergänzung ausgehen: „Die Behauptung, Christentum, Judentum und der Islam seien verschiedene Gesichter einer einheitlichen Religion und einer Wahrheit und dass der
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.5 Islamische Welt, Iran und Europa – Abgrenzung oder Dialog? zwischen den Religionen nicht an deren ` Unterschied Inhalten, sondern an deren Definitionen läge, sind falsche Behauptungen.“ Seiner Ansicht nach beinhalten die anderen Religionen nur einen Teil der Wahrheit, während der Islam die vollkommene Religion ist und alle Wahrheiten beinhaltet. Die anderen Religionen sind nur in ihren Gemeinsamkeiten mit dem Islam gerecht, solange sie den islamischen Prinzipien nicht widersprechen. Seine Einstellung über Toleranz und Akzeptanz der Andersdenkenden zeigt sich in folgenden Zitaten: „Die Losung ‚Toleranz und Nachsicht’ ist eine giftige und von Lügen erfüllte für den Islam.“; „Toleranz und Nachsicht als Wert zu bezeichnen und Gewalt als Antiwert, zielt auf die Vernichtung des religiösen Eifers, Ehrgefühls und Parteigeistes des Volkes und auf eine kulturelle Invasion.“; „Religiöse und religiös-nationale Intellektuelle sind die Teufel unserer Zeit. Ihnen gehört der Platz neben dem Teufel; wie man den Teufel verdammt, so ist es berechtigt, auch sie zu verdammen.“ Mesbah Yazdi: Religiöser Pluralismus, in: Ketabe naghd, Nr. 4 Herbst 1997, Teheran, in: Banafsheh Nourkhiz: Der politisch-religiöse Diskurs im Iran (unveröffentlichtes Manuskript), S. 22 f.
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4.5.2 Ayatollah Montazeri: Botschaft an die Menschen in Deutschland Als ehemaliger enger Mitarbeiter des Ayatollah Khomeini hat Montazeri die wesentlichen Ereignisse der jüngsten Geschichte des Iran miterlebt. Er war ursprünglich als Nachfolger Khomeinis ausersehen und hat sich aufgrund seiner Kritik an der Machtpolitik Khomeinis und der Menschenrechtsverletzungen der von Khomeini begründeten Islamischen Republik deutlich von den religiösen und politischen Vorstellungen der Herrschenden im Iran entfernt. Montazeri ist deutlich daran gelegen, das Bild des Islam in seinem Sinne zu klären und zurechtzurücken und damit auch Grundlagen für einen interreligiösen Dialog zu legen. Jörg Bohn
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Bitte teilen Sie den Menschen der Welt in meinem Namen mit, daß Iran eine gemarterte, unterdrückte Nation ist, die lange Jahre die Peitsche des Despotismus und der ungerechten Herrschaft ihrer Kaiser erduldet hat. Der Erlangung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit hat sie einen hohen Tribut gezollt, und sie hat ihr bestes geistiges Kapital geopfert, den Kolonialmächten und jenen, die ihnen zur Hand gingen, Widerstand zu leisten, bis sie schließlich im Jahre 1979 die zweitausendfünfhundertjährige Herrschaft der Monarchie mit ihrer großen Revolution zu Fall gebracht hat. Die iranische Revolution wollte nichts anderes als die Freiheit und Unabhängigkeit der Bevölkerung sowie eine demokratische und islamische Regierung; ihre Absichten waren und sind gut. Unser Volk hat keine anderen schwachen Länder zu erobern und zu unterwerfen gesucht und sich selbst im Laufe seiner Geschichte immer wieder gegen Usurpatoren und Marodeure zur Wehr gesetzt. Und eben jetzt erträgt es schwere Lasten, um die Reformen, nach denen es verlangt, zu verwirklichen und den Staub, der sich auf die Revolution gesetzt hat, zu entfernen. Und dennoch ist zu beobachten, daß die Masse des Volks, die in der Folge des aufgezwungenen Krieges gegen den Irak und zahlreicher anderer Schwierigkeiten wirtschaftlich ohnehin in nacktem Elend lebt, auch noch den ökonomischen und politischen Sanktionen und Boykottmaßnahmen einzelner mächtiger Staaten ausgesetzt ist, und zwar eben jener Staaten, die vor nicht allzu langer Zeit noch das Kapital und die Bodenschätze dieses Landes geplündert und den Feinden dieser unterdrückten Nation zur Seite gestanden haben. Wir hegen gegen kein einziges Land in der Welt Feindschaft und wünschen uns den Dialog und die Versöhnung mit allen Nationen und Staaten, allerdings unter der Bedingung, daß die anderen Staaten nicht beabsichtigen, unser Ansehen zu zerstören und unseren Interessen zu schaden. Und bitte sagen Sie den Menschen der Welt auch dies: Der Islam ist eine Religion, die auf Barmherzigkeit und Liebe gründet und die Vervollkommnung und das Glück der Menschen will. Das Leben seiner ersten Führer war geprägt von Vergebung, Freundlichkeit, Opferbereitschaft sowie dem Streben auf
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.5 Islamische Welt, Iran und Europa – Abgrenzung oder Dialog? Weg zur Glückseligkeit der Menschen in dieser ` dem und in jener Welt. Jedoch ist aufgrund der negativen Propagand einiger seiner Gegner, aber auch der unrichtigen Taten mancher Muslime vielen Menschen das wirkliche Antlitz des Islam nicht genau bekannt, und man macht sich ein Bild von ihm als einer grausamen Religion, die die Freiheit des Menschen einschränkt und seinem Glück entgegensteht. Ich wünsche mir von allen verständigen Menschen dieser Welt und insbesondere von den Forschern und Denkern, daß sie sich durch das Studium der reichen und unverfälschten Quellen des Islams und seiner Geschichte ein eigenes, gerechtes Urteil bilden. Die unrichtigen Taten mancher muslimischer Herrscher sowie jener, die heute behaupten, im Namen des Islams zu sprechen, dürfen nicht der Religion an sich zugeschrieben werden, ebensowenig wie man die unrichtigen Taten mancher anderer Führer, die sie im Namen ihrer Religionen begangen haben, diesen zuschreiben darf. Und ich bitte die Menschen auch, nicht voreilig zu urteilen, wenn sie beim Studium des Islams mit Zweifeln konfrontiert werden, und daß sie sich über ihre Zweifel mit Islamwissenschaftlern und Experten austauschen, bevor sie ihr endgültiges Urteil fällen. In der Hoffnung auf den Tag, an dem überall auf der Welt Frieden, Freundschaft, Gerechtigkeit und Freiheit herrschen, und darauf, daß die Menschheit auf dem Weg zu ihrer Glückseligkeit und Vervollkommnung einen Schritt vorankommt; Friede sei mit Ihnen und die Barmherzigkeit Gottes, Hossein Ali Montazeri Aus: Hossein Montazeri, Dissident im Gottesstaat. Brief des Ayatollah Montazeri an die Weltöffentlichkeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Mai 2000, in: Navid Kermani, Iran, Beck'sche Reihe, München 2001, S. 126 f.
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4.5.3 Navid Kermani: Der Islam und der Westen Die islamische Welt, so heißt es seit dem 11. September immer wieder, stehe dem Westen zunehmend feindlich gegenüber. „Warum hassen sie uns bloß?“, wird auf Titelseiten scheinbar hilflos gefragt, um sogleich auf die grundlegend andersartigen Wer124
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te von Muslimen zu verweisen. Der sanftmütige Intellektuelle verlangt, Verständnis für das Fremde aufzubringen, während der kulturkämpferische Kraftprotz auf die Überlegenheit des eigenen Wertesystems pocht. Beide übersehen, dass sich viele Menschen in der islamischen Welt – nicht anders als in anderen südlichen und östlichen Regionen – über den Westen und speziell die Vereinigten Staaten nicht etwa deshalb erregen, weil sie von deren Werten nichts wissen wollen, sondern weil sie den Glauben daran verloren haben, dass der Westen sie ihnen gegenüber tatsächlich vertritt. Der Unmut gründet gerade nicht in einem Gefühl der Überlegenheit, sondern in der Verbitterung über diese Zurückweisung, die immer häufiger ins Ressentiment umschlägt. [...] Es ist keineswegs so, dass die meisten Muslime danach streben, mit möglichst willkürlichen Rechtssystemen, in undemokratischen Verhältnissen und ohne sozialen Ausgleich zu leben. Dass die Demokratie sich in der islamischen Welt bisher selten durchgesetzt hat, hat viele hausgemachte Gründe, unter anderem eine tiefgreifende Krise der religiösen Kultur, aber auch überkommene soziale Strukturen, ökonomische Verwerfungen und vor allem eine fast durchweg katastrophale Situation im Bildungswesen. Der verheerende Bericht, den die UN kürzlich über den Zustand der arabischen Welt vorgelegt haben, ist beklemmend realistisch. Aber wer deswegen die Araber als unsozial und undemokratisch abschreibt, sollte bedenken, dass der Bericht von arabischen Autoren verfasst worden ist. Man mag den arabischen Gesellschaften vieles vorwerfen, aber nicht, dass es ihnen am Bewusstsein der eigenen Zurückgebliebenheit mangelt. Die führenden arabischen Denker haben kein brennenderes Thema. [...] Blickt man nicht nur auf die arabische Welt (und übersieht nicht die halbwegs funktionierende Demokratie Libanons), dann lässt sich das Klischee, die Muslime seien per se undemokratisch eingestellt, nicht aufrechterhalten. Bangladesch, Indonesien, Türkei, Iran - in den bevölkerungsreichsten Staaten der islamischen Welt ist die Demokratie auf dem Vormarsch, so vehement sie von Diktatoren, religiösen Führern oder Militärs bekämpft wird. Sogar in Kaschmir mit seiner 50-jährigen Geschichte der Unterdrückung zei-
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.5 Islamische Welt, Iran und Europa – Abgrenzung oder Dialog? Umfragen und Wahlen, dass die Mehrheit der ` gen Menschen sich weiterhin für eine friedliche Lösung ausspricht. Auch in Pakistan, wo bei den jüngsten Wahlen die Islamisten aus ihrer bisherigen Bedeutungslosigkeit aufgestiegen sind, würde ein Referendum, ob die Menschen in einem Gottesstaat leben wollen, ein klares Votum für die Demokratie ergeben, vermutlich sogar unter vielen Wählern der religiösen Parteien. Und in der arabischen Welt schließlich wirken die Autokraten immer mehr wie anachronistische Gestalten - was nicht zuletzt der beispiellose Erfolg des Debattensenders al-Dschasira vor Augen führt, der mehr zur demokratischen Bewusstwerdung in der arabischen Welt beigetragen hat als alle westlichen Demokratien zusammen. Nein, der Kapitalismus mag sich zwangsläufig und brutal durchsetzen, aber das eigentliche erfolgreiche Exportmodell des Westens ist die parlamentarische Demokratie. Es ist die Obsession des Westens, die Muslime auf den Islam zu reduzieren. Wie jede andere Weltreligion hält der Islam jedoch Legitimationen für alle erdenklichen Systeme bereit, zumal der Koran selbst keinerlei Herrschaftsdoktrin enthält – was immer Islamisten und westliche Experten nahezu wortgleich über die Einheit von Staat und Religion im Islam herbeten mögen. Ist man Demokrat, wird man die entsprechende Interpretation schon finden, aber ebenso trefflich lässt sich der Sozialismus aus dem Koran ableiten, und dass eine Theokratie islamisch legitimiert werden kann, das haben die Iraner bis zum Überdruss erfahren müssen. Das bedeutet, dass auch der Koran seine gesellschaftliche Funktion erst im Zusammenhang mit anderen Faktoren entfaltet. Damit ist keineswegs gesagt, dass man den religiösen Faktor vernachlässigen darf. Vielmehr geht es darum, auch die Religion in einem säkularen Deutungszusammenhang zu verstehen. Der westliche Blick auf die islamische Welt ist in dieser Frage absolut fundamentalistisch: Man schließt von vermeintlich vorgegebenen Normen auf die gesellschaftliche Realität. Würde man diese Logik auf die restliche Welt übertragen, müsste man die Tatsache, dass Lateinamerika bis vor wenigen Jahren durchweg von Militärdiktaturen regiert wurde, allein mit dem Katholizismus begründen, die Chinesen qua Hautfarbe zu Kollektivisten erklären oder die israelische Besatzung ausschließlich aus der Bibel ableiten.
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Dann wäre es auch nicht mehr weit zu jenen Theorien, die aus der Kriminalitätsstatistik folgern, dass Schwarze eben zum Verbrechen neigen. [...] Europa ist ein säkulares Projekt, das sich in seinen selbst verschuldeten Katastrophen zu seiner jetzigen Gestalt und Anziehungskraft herausgeschält hat. Auf der expliziten Glaubensneutralität des Projekts, wie es sich aus der Französischen Revolution herleitet, zu beharren, bedeutet nicht, den religiösen (allerdings keineswegs ausschließlich christlichen) Ursprung vieler europäischer Werte zu verleugnen. Aber es sind Werte, die säkularisiert, also im Laufe der Zeit innerweltlich begründet worden sind. Von nichts anderem sprechen auch die zahlreichen islamischen Reformdenker, die sich nicht mehr mit der Frage aufhalten, ob die Menschenrechte islamisch seien, sondern sie aus der menschlichen Vernunft ableiten – und damit unterstreichen, dass es Normen außerhalb des Religiösen gibt. Wer mit der Rede vom christlichen Abendland ein islamisches Land per se für uneuropäisch erklärt, macht aus Europa eine Religion, beinahe eine Rasse und stellt das Vorhaben der europäischen Aufklärung auf den Kopf. Denn dieses gewinnt seine Unverwechselbarkeit gerade dadurch, dass es eine weltliche, prinzipiell allen Bürgern offene Willensgemeinschaft propagiert. Gerade weil die westlichen Werte säkular sind, sind sie an keine bestimmte Herkunft oder Religion gebunden. Die radikale Offenheit ist ein Wesensmerkmal des europäischen Projekts und sein eigentliches Erfolgsgeheimnis: In allen Kulturen gibt es führende Bewegungen, die genau diese Übersetzung immer wieder neu in Angriff nehmen, indem sie die Demokratie oder die Menschenrechte in ein chinesisches, schwarzafrikanisches oder islamisches Vokabular überführen. Das geschieht im Islam (nicht anders als in der übrigen Dritten Welt) noch mit begrenztem Erfolg, aber mit wachsender Intensität. Der Terrorismus ist auch eine Reaktion auf diesen geistigen Umbruch. Nirgends ist es ihm gelungen, die Massen für sich zu gewinnen. Im Gegenteil: Als Kabul von den Taliban befreit wurde, gab es Freudenkundgebungen. Die bittere Pointe ist, dass gerade in dem historischen Moment, da die Anziehungskraft des westlichen Gesellschaftsmodells so groß ist wie nie in seiIslam – Politische Bildung und interreligiöses Lernen / bpb 2004
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I. Iran 4 Der politische und religiöse Diskurs im heutigen Iran 4.5 Islamische Welt, Iran und Europa – Abgrenzung oder Dialog?
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Geschichte, der Westen selbst seine ureigenen ` ner Werte aus den Augen verliert. In den Vereinigten Staaten durchdringt der christliche Fundamentalismus die Politik, aller Orten wird der Rechtsstaat von Terrorbekämpfern und Rechtspopulisten ausgehöhlt, und Europa definiert sich zunehmend durch seine tatsächlichen oder angeblichen christlichen Wurzeln statt durch die Säkularität, die dem Christentum so wenig wie anderen Religionen in die Wiege gelegt war. Wäre es wirklich schon säkular, definierte Europa sich nicht religiös-genealogisch, sondern durch Ideen, zu denen man sich ungeachtet seines Glaubens oder seiner Abstammung bekennen kann oder eben nicht bekennt (auch Letzteres ist Europäern bekanntlich möglich). Insofern könnte Europa erst dann den Islam integrieren, wenn es wirklich europäisch geworden ist. Navid Kermani: Der Islam und der Westen, Die Zeit, 2. Januar 2003, S. 5
Navid Kermani Foto: © dpa, Klaus Franke
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