AUF DRAHT Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland
Blickpunkt:
Mauern und Grenzen
87 / Dezember 2014
INTERNES
Bürgerfest des Bundespräsidenten Von Bernd Blömeke
Ein zugkräftiger Akteur für die TelefonSeelsorge war unser „Butler“, der die Besucherinnen und Besucher im Park mit einem Telefon an den Stand der TelefonSeelsorge lockte. Dort konnten sie in gestellte TS-Gespräche hinein hören. Viele
Dr. Bernd Blömeke ist Pastor und Geschäftsführer der Evangelische Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür e.V.
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waren interessiert, fragten nach den Bedingungen einer Mitarbeit, erzählten von ihren Erfahrungen mit der TelefonSeelsorge. Am Freitagabend besuchte Bundespräsident Joachim Gauck unseren Stand. Die TelefonSeelsorge ist ihm vertraut: Aus seiner Zeit als Pfarrer in Rostock kennt er Klaus Cyranka, den ersten Leiter der TS Halle und „Urgestein“ der Klinikseelsorgeausbildung-Bewegung in der DDR, und Jochen Schmachtel, den ehemaligen Leiter der TS Vorpommern.
Es waren zwei gelungene Tage, die wir der Deutschen Telekom AG und ihrem großzügigen Beitrag sowie dem Konzept und der Gestaltung der Agentur K2 verdanken. Wir danken auch den Ehrenamtlichen aus den TS-Stellen Köln kath., Regensburg, Hannover und Bielefeld, die sich als Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Verfügung gestellt haben, und den Vertreterinnen und Vertretern der TelefonSeelsorge Berlin e. V., die beim Auf- und Abbau und bei der Betreuung des Standes geholfen haben. Foto: Bernd Blömeke
Am 4. und 5. September 2014 war die TelefonSeelsorge zum ersten Mal auf dem Bürgerfest des Bundespräsidenten im Park von Schloss Bellevue vertreten. Für den Freitag hatte der Bundespräsident rund viertausend Gäste, darunter zehn Haupt- und Ehrenamtliche der TelefonSeelsorge mit Partnerinnen und Partnern, zu einem festlichen Abend geladen. Am Samstag war das Fest offen für alle Bürgerinnen und Bürger. Das Sommerwetter lockte nahezu zwölftausend Besucherinnen und Besucher an. Sie genossen ein vielfältiges Programm aus Musik, Diskussionsrunden und Präsentationen bürgerschaftlicher Projekte.
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Foto: Marion Böhrk-Martin
Es gibt viele Gründe, das Leben zu lieben. Was ist deiner?
leben aber vielfach mit ihrem Leiden allein und suchen einen Ansprechpartner. Die Anonymität macht es leicht, existentielle Not zu benennen. Noch stärker kommt das in der Onlineberatung der TS zum Tragen.
Von Marion Böhrk-Martin
Ursache für einen Suizid sind nicht so sehr akute Ereignisse, sondern zumeist psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Suchterkrankungen und Angststörungen. Zwar steigen die Suizidraten, wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist, aber Suizidalität zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Betroffenen fällt es schwer, über ihre Not und ihre dunklen Gedanken zu sprechen. Da leistet die TelefonSeelsorge einen wesentlichen Beitrag. Die Möglichkeit, sich unmittelbar aussprechen zu können, schafft Entlastung und erweitert den eingeengten Handlungsspielraum, der mit einer schweren Krise einhergeht. Zuhören hilft, damit es gar nicht erst zu einem Ausnahmezustand kommt.
Die TelefonSeelsorge Lübeck und ihr Förderverein haben den Weltsuizidpräventionstag 2014 genutzt, um die Sensibilität für Menschen in Krisen zu erhöhen und zu zeigen, dass und wo es Hilfsangebote und Unterstützung gibt. Seit 2003 ist der 10. September Welttag der Suizidprävention. Hinter jeder Selbsttötung steht eine menschliche Tragödie. Jedes Jahr sterben in Deutschland etwa zehntausend Menschen durch Suizid, das sind mehr als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen. Weit mehr als zehnmal so viele bleiben als Nahestehende zurück. Norddeutschland wurde in einer repräsentativen Umfrage kürzlich zur „Hochburg des Glücks“ erkoren.
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Dennoch hat Schleswig-Holstein mit fast vierzehn Selbsttötungen auf hunderttausend Einwohner die vierthöchste Suizidrate in Deutschland. Die TS Lübeck wird häufig mit akuten Suizidgedanken konfrontiert. Durchschnittlich sucht an zwei von drei Tagen einmal ein Betroffener dezidiert auf Grund von Suizidalität ein Gespräch. Die Anrufenden äußern Gedanken von Lebensüberdruss und Sinnlosigkeit, sie sind zwar oft in fachlicher Behandlung,
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Ethische Leitlinien der TelefonSeelsorge in Westfalen Von Michael Hillenkamp TelefonSeelsorge ist auf eine tragfähige vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zwischen Seelsorgerinnen und Seelsorgern und Ratsuchendem angewiesen. Vor dem Hintergrund der „Ordnung zur Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen und schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen“ haben die Verantwortlichen in den westfälischen TelefonSeelsorgeStellen ethische Leitlinien für ihre Arbeit formuliert. Diese wurden jetzt an Prälat Thomas Dornseifer, stellvertretender Generalvikar und Leiter der Hauptabteilung Pastorale Dienste im Erzbischöflichen Generalvikariat Paderborn, überreicht.
Die TelefonSeelsorgerinnen und TelefonSeelsorger haben die neuen ethischen Leitlinien in bewährter ökumenischer Kooperation erarbeitet. Durch die Zustimmung der Kuratorien der TelefonSeelsorgestellen werden die Leitlinien jetzt zum verbindlichen Inhalt in Ausbildung und Praxis der TelefonSeelsorge. Die „Ethischen Leitlinien der TelefonSeelsorge in Westfalen“ gliedern sich in zwei Elemente: eine Präambel und eine Selbstverpflichtung. Die Präambel fasst wesentliche Grundsätze der Seelsorge per Telefon, E-Mail oder Chat zusammen. Sie hält fest, dass TelefonSeelsorge den christlichen Werten verpflichtet
ist und qualifizierte Gesprächs- und Beziehungskompetenzen voraussetzt. Erfolgreiche Kommunikation in der TelefonSeelsorge vollzieht sich in der Balance von Nähe und Distanz. Telefonseelsorge erfolgt in aller Regel aufgrund eines Auftrags von Ratsuchenden: Nicht erbetene Hilfe gilt als übergriffig. Die Würde der Ratsuchenden ist jederzeit unbedingt zu achten. Die Selbstverpflichtung als zweiter Teil der ethischen Leitlinien enthält konkrete Handlungsrichtlinien, die als „Ich-Botschaften“ formuliert sind, so zum Beispiel die Verpflichtung, auf Rollenklarheit und eine Abgrenzung zu anderen Beratungsdisziplinen wie etwa der psychologischen und psychotherapeutischen Beratung zu achten. Auch zu einem sensiblen und vertraulichen Umgang mit den Daten der Ratsuchenden, zum Verzicht auf jegliche Form von Vorteilsnahme oder Missbrauch sowie zur regelmäßigen Fortbildung und Reflexion verpflichten sie sich. Quelle: http://www.erzbistum-paderborn. de/38-Nachrichten/17201,%84EthischeLeitlinien-der-TelefonSeelsorge-inWestfalen%93-vorgestellt.html Download: „Ethische Leitlinien der TelefonSeelsorge in Westfalen“ http://www. erzbistum-paderborn.de/medien/21039/ original/38/140821-TS_Eth.Richtlinien_ Pressemeldung.pdf
Stephan Lange (Leiter der Abteilung Gemeinde- und Erwachsenenpastoral in der Hauptabteilung Pastorale Dienste im Erzbischöflichen Generalvikariat), Prälat Thomas Dornseifer (Leiter der Hauptabteilung Pastorale Dienste im Erzbischöflichen Generalvikariat Paderborn), Michael Hillenkamp (Diözesanbeauftragter für die TelefonSeelsorge im Erzbistum Paderborn) und Karl-Heinz Stahl (Präventionsbeauftragter im Erzbistum Paderborn) (v.l.)
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Michael Hillenkamp ist Diözesanbeauftragter für die TelefonSeelsorge im Erzbistum Paderborn und Hauptamtlicher der TS Dortmund
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„Ich habe das Gefühl, sie stehen wieder vor meiner Tür.“
Opfer der DDR-Diktatur gestern und heute „Ich kann nicht schlafen. Ich habe das Gefühl, sie stehen wieder vor meiner Tür.“ Mit diesen Worten eröffnet eine Anruferin ein Nachtgespräch. Auf die Nachfrage, wer denn vor ihrer Tür stehe, antwortet sie nicht. Erst über Schlüsselwörter wie „operativer Vorgang“ und „zersetzen“ ist zu erahnen, dass sie sich fünfundzwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer noch immer von der Staatssicherheit der DDR verfolgt fühlt.
Politische Verfolgung in der DDR Das diktatorische System der DDR hat die ganze Bandbreite repressiver Maßnahmen ausgeschöpft, die Unrechtsstaaten zur Sicherung ihrer Herrschaft anwenden. Mit menschenverachtenden Mitteln sollten politische Gegner und Kritiker der DDR zum Aufgeben gezwungen werden. Die Opfer waren zermürbenden Bespitzelungs- und Zersetzungsmaßnahmen durch die Staatssicherheit ausgesetzt, dem Abhören privater Wohnräume, Hausdurchsuchungen oder Berufsverbot bis hin zur Haft. Politischer Gegner war aus Sicht der SED jeder, der sich aktiv oder passiv der politischen und ideologischen Vereinnahmung widersetzte.
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Das waren Republikflüchtlinge, vermeintliche Spione, Wehrdienstverweigerer, oppositionelle Gruppen und alle, die eine andere politische Meinung vertraten. Die staatlichen Organe handelten willkürlich und unberechenbar. Schon das Tragen des Abzeichens „Schwerter zu Pflugscharen“, in den Achtzigern Symbol der Friedensbewegung, konnte stundenlange Verhöre nach sich ziehen. Viele Schülerinnen und Studenten kostete es die Zulassung zum Abitur oder den Studienplatz. Roland Jahn, heute Leiter der Stasiunterlagenbehörde, war 1982 festgenommen worden, weil er die polnische Nationalfahne mit der Aufschrift „Solidarnosc polskim
narodem“ (Solidarität mit dem polnischen Volk) an sein Fahrrad geheftet hatte. Zunächst saß er sechs Monate in Untersuchungshaft, später wurde er zu zweiundzwanzig Monaten Haft verurteilt wegen „öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ und „Missachtung staatlicher Symbole“. Politische Gefangene wurden in der DDR im Justizvollzug inhaftiert und somit Kriminellen gleichgestellt. Viele kamen in Haftarbeitslager oder Strafvollzugskommandos. Tatsächlich wurden politische Häftlinge von Anfang an schlechter gestellt und behandelt als Kriminelle. Vor allem die Untersuchungshaft war für sie schikanös durch Ein-
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Mauerfall Ich erinnere mich an ein fröhliches Gesicht im Fernsehen. Ein junger Mann mit schwarzen Locken saß im Schneidersitz auf einer Mauer. Er schützte sich mit einem Regenschirm vor einem Wasserstrahl, der ihn zu erreichen versuchte. Sein Blick war schelmisch, aber mit einem tiefen inneren Glück versehen. Und meine Großmutter saß neben mir und sagte nur ein Wort: „Endlich!“ Julia Paoli – The Vanderbilt Berlin Wall Projekt
zelhaft, Verhöre zur Nachtzeit, Schlafentzug, Isolierung sowie das Untersagen jeglichen Kontaktes zur Außenwelt. Rund zweihundert- bis zweihundertfünfzigtausend DDR-Bürger sind aus politischen Gründen inhaftiert gewesen. Umerziehung von Kindern und Jugendlichen Auch Kinder und Jugendliche waren Opfer des Systems. Immer wieder stießen sie auf der Suche nach Orientierung und Sinn an die Grenzen, die die Diktatur ihnen setzte. Musik und Literatur wurden zensiert, Bands verboten. Wer etwas anderes wollte, wurde reglementiert, verhaftet und nicht selten in einen der dreißig „Jugendwerkhöfe“ eingewiesen. In diesen Spezialheimen
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saßen Jugendliche zwischen vierzehn und achtzehn, die im Sinne der DDR-Pädagogik als schwererziehbar galten oder nicht in das Gesellschaftsbild der DDR passten. Aufgabe des Jugendwerkhofes war die Umerziehung zum vollwertigen Mitglied der sozialistischen Gesellschaft. Zu den Methoden der Umerziehung zählten militärischer Drill, ideologische Schulung, Arbeits- und Disziplinerziehung, Belobigung und Bestrafung. Das Strafsystem bestand aus Arrest, Entzug von Nahrung, körperlichen Übergriffen, Strafarbeit bis zur Erschöpfung oder stundenlangem Stillstehen. Allein im Jugendwerkhof Torgau sind mehr als viertausend Jugendliche drangsaliert worden. Viele tausend Kinder
wurden in Heimen der DDR Opfer von körperlicher Gewalt und Missbrauch. Die Situation der Opfer ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall Spätestens seit dem Film „Das Leben der Anderen“ ist das DDR-System von Bespitzelung und Zersetzung in das Bewusstsein vieler gelangt. Doch das Schicksal der Opfer ist bis heute nur wenigen klar. Viele tragen noch immer an den Folgen der seelischen und körperlichen Gewalt. Die traumatisierenden Erlebnisse haben zu psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Panikattacken geführt, oft treten Schlaf- und Konzentrationsstörungen auf. Manche leiden unter Leere,
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Im Sperrgebiet Ich konnte die Hunde bellen hören. Jede Nacht. Besonders, wenn man sie am Abend von der Leine ließ. Bis in die Träume folgten sie mir. Mit den Jahren lernte ich, ihr Bellen zu unterscheiden, wie eine Mutter das Weinen ihres Kindes. Ich wusste, wie sie kläfften, wenn sie an der Leine lagen, sie diese endlich los waren, und wie, wenn sie jagten. Waren sie erfolgreich, machten große Scheinwerfer die Nacht zum Tag. Später, viel, viel später habe ich dann die Kreuze gesehen. Einige von ihnen schienen immer noch den Geruch der Hunde zu tragen. Gabriele Hegel – The Vanderbilt Berlin Wall Project
Entfremdungsgefühlen oder einem chronischen Gefühl der Anspannung und ziehen sich sozial zurück. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen von mindestens dreihunderttausend psychischen Opfern durch Repressionen in der DDR aus. Hinzu kommen durch die Traumatisierung der Eltern beeinträchtigte Kinder in der zweiten und dritten Generation, die eine sogenannte sekundäre Traumatisierung erfahren. Die Zahl dieser Personen ist kaum einzuschätzen.
erneut erleben und retraumatisiert werden. Viele Opfer schweigen bis heute über ihre Haft. Sei es, weil sie am Ende ihrer Haftzeit in der DDR versichern mussten, nicht darüber zu sprechen, sei es, weil sie an die Erlebnisse nicht mehr erinnert werden wollen, oder sei es aus Scham, weil sie fürchten, dass andere nicht zwischen politischer und kriminel-
ler Haft unterscheiden können. Mitunter wird politisch Verfolgten der DDR die alleinige Schuld an ihrem Schicksal zugeschrieben. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, sie hätten sich pflegeleichter und weniger politisch benehmen sollen. Unter ehemaligen DDRBürgerinnen und Bürgern tut sich der Konflikt auf, dass sie zwar in einem Staat gelebt haben, aber an unterschiedlichen Punkten. Die politisch Verfolgten sind bestraft worden, weil sie etwas riskiert haben und weniger angepasst waren. Beratungsstellen und Therapieangebote für Opfer der DDR-Diktatur In den ostdeutschen Bundesländern bieten die jeweiligen Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit Opfern Beratung und Orientierungshilfe bei der Realisierung rechtlicher Ansprüche, bei Rehabilitierung und bei der Suche nach geeigneten Ansprechpartnern an. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat eine Broschüre „Beratungsangebote für Opfer politischer Verfolgung in der SBZ/DDR“ herausgegeben sowie eine Linkliste aller Verbände, Vereinigungen und Beratungsstellen zusammengestellt.
Heute erleben die Opfer neue Schmach, wenn sie etwa ihren ehemaligen Peinigern wiederbegegnen, die vereinzelt in staatlichen Ämtern, Behörden oder Medien arbeiten. Mitunter kämpfen einstige Opfer der DDR-Diktatur bis heute um die Anerkennung ihres Opferstatus, auch deshalb, weil nicht genug Therapeutinnen und Therapeuten auf politische Verfolgung in der DDR spezialisiert sind. Die Nichtanerkennung des Unrechts und peinliche Befragungen können bei den Betroffenen dazu führen, dass sie ihr psychisches Leid Foto: Stefan Plöger
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Foto: Heike Köhler
Beide sind unter http://www. bundesstiftung-aufarbeitung.de/ opferberatung-1175.html abrufbar. Ungenügend sind dagegen therapeutische Angebote. Im März 2013 wurde an der Universität Greifswald unter der Leitung des Traumaspezialisten Prof. Harald J. Freyberger die erste Trauma-Ambulanz für Opfer von Gewalttaten eröffnet, die sich schwerpunktmäßig an Opfer der DDR-Diktatur wendet. Die Berliner Beratungsstelle „Gegenwind“ kümmert sich um Bürger und Bürgerinnen, die unter der SED-Diktatur politischer Verfolgung, Inhaftierung und psychischer Zersetzung ausgesetzt waren. „Gegenwind“ versteht sich nicht als Therapiezentrum, sondern als niedrigschwelliges Angebot. Dazu gehört die Arbeit in Selbsthilfegruppen. Opfer der DDR-Diktatur in der Seelsorge In der Aufarbeitung der DDRDiktatur stehen Beratungsangebote und Psychotherapie im Vordergrund. Mit ihren Möglichkeiten und Angeboten hebt sich die
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Seelsorge davon deutlich ab. Der Beauftragte des Rates der EKD für Seelsorge und Beratung von Opfern der SED-Kirchenpolitik, Curt Stauss, weist auf eine Chance der Seelsorge hin: die Versöhnung. Eine Seelsorgerin, ein Seelsorger kann ein Opfer dabei begleiten, sich mit dem Geschehenen und den Brüchen in der Biographie auszusöhnen – ohne Mitwirken der Täterinnen und Täter oder Behörden. Versöhnung bedeutet nicht, die Tat zu entschuldigen, aber sie ermöglicht, auf Rachegedanken zu verzichten und sich dem Leben neu zuzuwenden. Doch wie die Therapie, so ist auch die Versöhnungsarbeit ein langer Prozess. Viele Verfolgte schweigen bis heute über ihr Schicksal. Aus Scham für ihren Gefängnisaufenthalt entwickeln sie ein Schuldgefühl. Hier ist es Aufgabe der Seelsorgerin, des Seelsorgers, die Betroffenen von ihren Schuldgefühlen zu entlasten und ein Selbstvertrauen zu vermitteln, aus dem sie leben können. Für die seelsorgerliche Arbeit am Telefon ist eine langfristig begleitende Versöhnungsarbeit nicht
möglich. Ihre Aufgabe ist es, das Bewusstsein für die Problemlagen der Verfolgten der DDR-Diktatur zu schärfen. Dabei gilt es, Schlüsselworte zu kennen, die auf eine Verfolgung hinweisen können. Sie machen möglich, gezielt nachzufragen, tiefliegende Ängste und Probleme zu erkennen und ein wertschätzendes, mitfühlendes Verständnis zu entwickeln. In seelsorgerlichen Aus- und Fortbildungen sollte dieses Thema in Ost- und in Westdeutschland mehr als bisher berücksichtigt werden. Denn mit Mauerfall und DDR-Geschichte müssen wir im ganzen Deutschland umgehen.
Ruth Wunnicke ist Historikerin, wissenschaftliche Referentin bei „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ und Ehrenamtliche der KTS Berlin
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Foto: Heike Köhler
Als sich Familien gegenüber standen Von Bernd Voit Was für eine aufregende Zeit, der Sommer ’89! Die Flüchtlinge in der Prager Botschaft, die Flucht von DDR-Bürgern über die ungarische Grenze seien hier genannt. Und da unsere Regierung die Flüchtlinge aus der Prager Botschaft über DDR-Gebiet in den Westen ausreisen ließ, hat sie selbst die Lunte an das Pulverfass gelegt. Ich jedenfalls wusste nach der Schließung der Grenzen nach Tschechien (Polen war ja schon vorher nicht leicht zu bereisen) nicht mehr, wohin ich im nächsten Auslandsurlaub fahren sollte. Ich war damals Student an der Technischen Universität Chemnitz. Bei uns war es üblich, dass mich „mein“ Betrieb zum Studium delegiert und nach fünf Jahren Regelstudium fest anstellt. Die Zusage zur Anstellung bekam ich Sommer 1989. Was für Aussichten! Die Politik hat mich schon damals interessiert, und ich habe mich nie als systemkonform gesehen. Aber
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ich wollte auch keinen Kapitalismus! Deshalb ging ich im Herbst 1989 mit der Forderung auf die Straße, die DDR müsse reformiert werden. Von dem Wunsch nach der Einheit Deutschlands keine Spur. Im Gegenteil. Ich hatte Westfernsehen. Ich konnte mich informieren. Hohe Mieten, Arbeitslosigkeit, viele teils unsinnige Versicherungen – ich konnte mir
nicht vorstellen, in dieses System zu wechseln. Ich hatte große Angst vor einer Wiedervereinigung. Wenn mich jemand fragen würde, welcher Tag für mich der wichtigste in diesem Herbst ’89 war, würde ich den 9. Oktober nennen. Zigtausende Bürger gingen in Leipzig zu einer der vielen verbotenen Montagsdemonstrationen mit der gleichen Idee auf die Straße und haben damit das Schicksal der Republik mitbestimmt. An diesem Tag standen sich Familien gegenüber. Die einen mit der Waffe (Kampfgruppe, Polizei oder NVA), die anderen in der Reihe der Opposition. Keiner wusste, ob geschossen wird. Ab diesem Zeitpunkt überschlugen sich die Ereignisse. Niemals zuvor
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und nie mehr danach hatten Bürgerinnen und Bürger den Eindruck, sie könnten die Geschicke des Landes beeinflussen. Eine Zeit voller Dynamik und Tatendrang. Das Untere wurde nach Oben und das Obere nach Unten gespült.
neuen System angekommen. Und als ich im Herbst nach fünf Jahren Studium und mit einem Diplom in der Tasche, statt in meinem Betrieb zu arbeiten, Sozialhilfe beantragen musste, wurde in mir der letzte Funke von Euphorie gelöscht.
Spätestens im Frühjahr 1991 fand diese Zeit ihr Ende. Ich musste für mein letztes Studienhalbjahr BaFög beantragen. Jetzt war ich im
Trotzdem bin ich stolz, dabei gewesen zu sein. Diese Zeit und diese Erlebnisse kann mir niemand nehmen. Das lässt mich darauf
hoffen, dass viele Menschen mit einer großen Idee auch zukünftig ungeliebte Systeme abschütteln oder zumindest verbessern können.
Bernd Voit ist Ehrenamtlicher der TS Chemnitz
TelefonSeelsorge – Reise von West nach Ost und zurück Von Jutta Gladen Wenn ich mich recht erinnere, begann meine Ausbildung in der TelefonSeelsorge in Magdeburg 1997. Ich arbeitete zu dieser Zeit schon seit vier Jahren in Magdeburg, war aus Münster über Braunschweig gekommen und empfand mich als „Ost-erfahren“. Auf der Suche nach einem Ehrenamt war mein
erster Ansprechpartner die Kirche. Und in Magdeburg war es besonders die evangelische, in und mit der ich sehr gute Erfahrungen gemacht hatte. Ich betone das, weil ich als Katholikin aus Münster in meinem Arbeitsumfeld in Magdeburg auch so etwas wie ein „Alleinstellungsmerkmal“ besaß. So fiel mir eine Annonce in der „Volksstimme“ auf, die auf einen
neuen Ausbildungsgang in der TelefonSeelsorge hinwies, für den Ehrenamtliche gesucht wurden. Nach dem Auswahltag und der Bestätigung meiner Teilnahme begann dann die Ausbildung. Ich bin gar nicht mehr sicher, mit wie vielen wir begonnen haben, mir sind heute noch die präsent, mit denen ich die Ausbildung abgeschlossen habe und mit denen ich mich bis heute wenigstens einmal im Jahr treffe. Diese Frauen sind ein wichtiger Teil meines Lebens geworden, sind mir Anregung und Vorbild, und wir alle schätzen, was wir aneinander haben. Die Ausbildung selbst war nicht nur für jede von uns eine Herausforderung, auch die Ausbildungsleitung hatte einiges mit uns zu tun. Sechs Frauen, eine Wessi, eine
Foto: Heike Köhler
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Ein Brief aus Berlin Von Petra Sandmann
Lieber Jannis, Geburtstagskind! Jetzt bist Du, mein jüngster Neffe, tatsächlich schon 25 Jahre alt. Dein Wunsch, für Dich ein Zeitzeugendokument, wie Du es nennst, zu schreiben, hat mich gerührt, aber auch gebeutelt. Denn freilich kommt es mir nicht vor wie gestern, aber auch nicht so sehr lange her. Doch wenn nochmal 25 Jahre vergangen sind und ich, so Gott will, noch lebe, dann bin ich 77. Das ist schon krass. Die Ereignisse damals waren ja sehr bewegend für die ganze Welt. Ich habe überlegt, was mir Foto: Birgit Kn wirklich ganz persönlich einfällt, und so möchte ich Dir vom atz langen Donnerstag, der verpassten Taufe und der Nacht mit David Bowie erzählen. Ich war Mitte der Achtziger Jahre als sogenannter „zuwandernder Arbeitnehmer aus Westdeutschland“ nach Berlin gekommen. Durch attraktive Vergünstigungen wie Umzugshilfe und Startgeld angeworben vom Senat, der die Überalterung des Westteils verhindern wollte. Im Wertheim am Kurfürstendamm, nach dem KaDeWe das schickste Warenhaus der Stadt, hatte ich in der Parfümerieabteilung einen recht guten Job. Und anders als im KaDeWe gab es bei Wertheim einen starken Betriebsrat, der unbedingt den gerade aufgekommenen langen Donnerstag für dieses Haus verhindern wollte. Im Kampf für einen geregelten Feierabend war für Donnerstag, den 9. November, eine Demonstration auf dem Kurfürstendamm angemeldet. Sogar ein Kamerateam des Senders Freies Berlin ist vor Ort, als unser kleines Grüppchen renitenter Nachtarbeitsverweigerer hinter dem kämpferisch rufenden Betriebsratsvorsitzenden herläuft. Passanten bleiben kurz stehen, hören zu und gehen dann in die geöffneten Läden. Später in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause freue ich mich auf den erwarteten Beitrag in der Abendschau, nicht ahnend, dass Günter Schabowski in diesem Augenblick bei einer Pressekonferenz im Politbüro gerade die Welt aus den Angeln hebt. Das Unvorstellbare ist wahr geworden. Um 19.05 h melden die Presseagenturen: „DDR öffnet Grenze“. Ich verbringe die halbe Nacht vor dem Fernseher und sehe Szenen, die noch wenige Stunden vorher undenkbar schienen. Am Checkpoint Charlie versuchen ein Westberliner Schupo, ein britischer Militärpolizist, ein GI und ein DDR-Grenzer gemeinsam, den Menschenstrom zu kanalisieren. Von Ost nach West und umgekehrt. Ein türkischer Gemüsehändler steht mit seinem Transporter am Kudamm und verschenkt Südfrüchte. Immer wieder klingelt mein Telefon: „Was ist denn bei euch in Berlin los?“ Als ich ins Bett gehe, wird es schon hell. Am nächsten Tag höre ich im Radio, dass abends ganz in meiner Nähe, an der Bernauer Straße, ein Übergang geschaffen werden soll. Gemeinsam mit meiner Nachbarin gehe ich hin. Wir haben uns eine Flasche Rotwein mitgenommen und schauen zu, wie sich vom Osten eine Baggerschaufel über die Mauer schiebt. Hier, wo die Trennung der Stadt besonders schmerzvoll war, weil die Grenze ganz dicht an den Häusern verlief und die Fenster zum Westen einfach zugemauert wurden, beißen die Baggerzähne ein vier Meter breites Stück in den Beton. „Hau ruck, hau ruck!“, brüllen alle. Wir brüllen mit. Und dann kommen die ersten Menschen durch das Loch.
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Facebookfreunde oder Briefmarken? Gespräch über Freundschaft zwischen Dr. Roland Gayer und Birgit Knatz Roland Gayer: Bei Youtube gibt es einen Film, der in kürzester Zeit millionenfach angeklickt wurde. Gary Turk, der Filmemacher, sagt dort, er habe bei Facebook mehr als vierhundert Freunde und fühle sich trotzdem einsam. Er fordert auf: „look up“ – schau nicht immer auf Handy oder Tablet, begegne den anderen mit offenem Blick! Dabei habe ich mich gefragt: Sind die sozialen Netzwerke eine Welt der Illusion und Täuschung? Haben sie die Menschen in ihren Kontakten und Freundschaftsbeziehungen so verändert, dass jetzt plötzlich die Einsamkeit lauert? Birgit Knatz: Ich kenne das Video von Gary Turk, in dem er sich über die modernen Kommunikationstechnologien beklagt, sich über den Verlust von Beziehungen in der echten Welt auslässt und die Unfähigkeit aufs Korn nimmt, ohne Smartphone in Kontakt zu treten. Ich finde seine Botschaft überdramatisiert. Dennoch trifft er damit den Zeitgeist, wie die über zwanzig Millionen Klicks zeigen. Ich frage mich: Wenn jemand mehr als vierhundert Freunde bei Facebook hat und von sich sagt: „Ich bin einsam“ – wäre der nicht auch ohne Facebook einsam? Das spannendere Thema dahinter ist für mich: Verändert sich der Freundschaftsbegriff durch die Nutzung der sozialen Netzwerke? Sind Facebookfreunde wie Briefmarken, die man sammelt? Roland Gayer: Das frage ich mich auch. Ich finde es erst einmal wichtig, zu definieren, was ich unter einem Freund, einer Freundin verstehe. Wenn ich der Werbung folge, muss ich mich mit einer NussNougatcreme befreunden; ich kann
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bei Facebook mehr als zweitausend Freunde haben, in einem muslimischen Land würde ich mit „Mein Freund“ angeredet – oder ich kann Schillers Bürgschaft zum Maßstab nehmen. Freundschaft ist vieldeutig; wir müssen klären, was wir darunter verstehen wollen. Birgit Knatz: Wir können das soziologisch, philosophisch, kulturoder literaturwissenschaftlich zu klären versuchen, wir können es als Frau oder als Mann tun; immer gibt es Unterschiede. Wir können den aristotelischen Freundschaftsbegriff verwenden oder uns des Konstruktivismus bedienen. Ein spannendes Thema. Hier und heute möchte ich wissen, was wir beide als Mann und Frau unter Freundschaft verstehen. Roland Gayer: Die Menschen, die ich als Freunde bezeichne, kann ich an zehn Fingern abzählen. Es sind wenige. Ich habe Ansprüche an den Begriff: Ein Freund ist ein Mensch, mit dem ich regelmäßigen Kontakt pflege, ob schreibend, telefonierend oder face-to-face. Ich weiß vieles über sein Leben, seine Entwicklung, die Themen, an denen er gerade dran ist. Ich nehme teil an Ereignissen, die in sein Leben einbrechen. Wir teilen Privates und auch Intimes. Ich verbringe Zeit mit ihm, stelle Zeit zur Verfügung. Meine zeitlichen und auch emotionalen und mentalen Möglichkeiten sind jedoch begrenzt. Deshalb kann ich nur wenige Freunde haben. Birgit Knatz: Das geht mir ähnlich. Mir hilft es, dass einige meiner Freundinnen und Freunde auch bei Facebook sind, denn Freundschaft braucht Kommunikation, und ein
Teil läuft für mich auch über Facebook. Die Freundinnen und Freunde, die ich als meine besten bezeichne, wähle ich bewusst, ganz im Sinn des aristotelischen Freundschaftsbegriffes der Seelenverwandtschaft. Roland Gayer: Für mich schließt die Seelenverwandtschaft auch eine gemeinsame Wertebasis ein. Freunde blicken in ähnlicher Weise auf das Leben und die Welt – aber auch Unterschiede reizen mich, sie können anregend sein. Jedoch könnte ich nicht mit jemandem befreundet sein, der rassistisch, homophob oder frauenfeindlich denkt. Birgit Knatz: Beste Freundinnen und Freunde sind Herzensfreunde, sie sind in der Not Tag und Nacht für mich da. Das unterscheidet sie von „funktionalisierten“ Freundschaften, wie etwa meine Tango- oder Netzwerkfreunde, oder temporären Freundschaften wie Arbeitsfreundschaften – wenn die Arbeit uns nicht mehr verbindet, verlieren sie meist an Bedeutung. Roland Gayer: Bei meinen Herzensfreundschaften ist noch die Uneigennützigkeit wichtig. Solche Freundschaften begründe ich nicht, weil ich mir einen Nutzen davon verspreche. Wenn ich mich bei xing anmelde, verspreche ich mir berufliche Vorteile. Ein Herzensfreund ist für mich kein Vorteilsbringer. Birgit Knatz: Aber eines steht außer Frage: Freundschaft braucht Pflege und Kontakt. Soziale Netzwerke bieten unkompliziert die Möglichkeit, locker in Kontakt zu bleiben. Ich würde nicht mal eben einen Brief schreiben oder eine E-Mail,
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Der gesprungene Krug Ein Wasserverkäufer geht jeden Morgen zum Fluss, füllt seine Krüge und macht sich auf den Weg zur Stadt, um das Wasser seinen Kunden zu bringen. Einer der Krüge hat eine kleine Macke, einen Sprung, verliert Wasser, der andere ist ganz neu und bringt mehr Geld ein. Der gesprungene Krug mit der kleinen Macke fühlt sich minderwertig. Eines Morgens vertraut er sich seinem Besitzer an: „Weißt du“, sagt er, „ich bin mir meiner Grenzen bewusst. Du verlierst Geld meinetwegen, weil ich halb leer bin, wenn wir in der Stadt ankommen. Verzeih mir meine Schwäche!“ Am nächsten Tag, auf dem Weg zum Fluss, sagt der Besitzer zum gesprungenen Krug: „Schau am Wegrand! Was siehst du dort?“ „Oh, wie schön, er ist voll von kleinen Blumen“, antwortet der Krug. „Das ist dank dir, der du jeden Morgen den Wegrand benetzt. Ich habe ein Paket Blumensamen gekauft und sie entlang des Weges gesät, und du, ohne es zu wissen und zu wollen, hast ihnen jeden Tag Wasser gegeben.“ Aus Afrika
Der „Sprung in der Schüssel“ Von Hermann Held und Dagmar Ehrhardt „Persönlichkeiten“ sind gefragt, „Graue Mäuse“ stehen weniger hoch im Kurs. Ausgeprägte Persönlichkeitsprofile bedeuten jedoch auch ausgeprägte Merkmale. Erst wenn ein Persönlichkeitsmerkmal stark akzentuiert und nicht mehr veränderbar ist, gilt es als Persönlichkeitsstörung. Was an Eigenschaften gewünscht oder als „normal“ angesehen wird, ist von gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt und Veränderungen unterworfen. Deshalb bleibt das Krankheitsbild „Persönlichkeitsstörung“ auch immer in der Diskussion. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind von einer Persönlichkeitsstörung betroffen. Dazu gehört zum Beispiel die Borderline-Störung. Wenn wir uns
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dieses Krankheitsbild vornehmen, fallen uns viele ein, die da hinein passen. Wir landen schnell bei uns selbst und erkennen uns bei der einen oder anderen Beschreibung wieder. Das mag erschrecken, macht aber deutlich, dass es sich um einen fließenden Übergang aus der „Normalität“ handelt. Es macht uns für die Grenzziehung sensibel und kann Verstehen erleichtern. Die Übergänge von einem akzentuierten Persönlichkeitsstil zu einer Persönlichkeitsstörung sind fließend. Von einer diagnostizierbaren Störung wird erst dann gesprochen, wenn • die Verhaltensmuster und Erlebensweisen des Betroffenen deutlich von kulturell erwarteten und akzeptierten Vorgaben und Normen abweichen;
• die Abweichung so ausgeprägt ist, dass das Verhalten in vielen Situationen unangemessen, unangepasst und unflexibel ist; • durch dieses Verhalten bei den Betroffenen oder in ihrem sozialen Umfeld erheblicher Leidensdruck entsteht; • das abweichende Verhaltensmuster stabil und von langer Dauer ist und in der späten Kindheit oder Jugend begonnen hat; • eine andere schwere psychische oder organische Erkrankung als Ursache auszuschließen ist. Die verschiedenen Ausformungen von Persönlichkeitsstörungen lassen sich nicht immer leicht voneinander abgrenzen und sind am ehesten über die auffälligsten Eigenschaften zu beschreiben. In jeder stecken auch Ressourcen
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WISSEN
und positive Kompetenzen. Das wird deutlich, wenn wir sie dem persönlichen Stil gegenüber stellen:
Damit sich eine Persönlichkeit gesund entwickeln kann, müssen die Grundbedürfnisse nach Aner-
Persönlicher Stil
Persönlichkeitsstörung
ehrgeizig, selbstbewusst
narzisstisch
emotional, selbstdarstellend
histrionisch
risikofreudig, abenteuerlustig
dissozial
sorgfältig, gewissenhaft
zwanghaft
anhänglich, loyal
dependent
einzelgängerisch, zurückhaltend
schizoid
selbstkritisch, vorsichtig
selbstunsicher
wachsam, scharfsinnig
paranoid
Persönlichkeitsstörungen werden bei Schwierigkeiten in der zwischenmenschlichen Interaktion sichtbar. Das bedeutet aber, dass sie immer ein Problem des Miteinanders und nie nur der betroffenen Person sind. Das macht die Gespräche am Telefon zur Herausforderung, denn mehr als das Problem steht die Gesprächsbeziehung im Vordergrund. Sie entscheidet über Gesprächsverlauf und Gesprächsgewinn. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen geraten immer wieder in gleicher Weise in Konflikt mit anderen. Dieses Verhalten war für sie einmal eine Überlebensstrategie. Es war sinnvoll, es hat ihnen geholfen, schwierige Situationen zu meistern. Daraus haben sie eine Strategie entwickelt, behalten diese nun bei und wenden sie in jeder Situation an. Dabei hinterfragen sie nicht mehr, ob sie immer passt. Das macht die Kommunikation schwierig. Hinzu kommt, dass Persönlichkeitsstörungen als „ichsynton“ erlebt werden, das heißt „der eigenen Person entsprechend“. Deshalb empfinden Betroffene ihr Verhalten nicht als unstimmig oder störend. Das macht ein hilfreiches Gespräch problematisch, da man schnell in die Situation des sich falsch Verhaltenden kommt.
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kennung, Solidarität, Autonomie, Verlässlichkeit und Unverletzlichkeit der eigenen Grenzen befriedigt werden. Das ist bei Persönlichkeitsstörungen in der Biographie nicht geschehen. Die Betroffenen versuchen, als Erwachsene doch noch zu bekommen, was sie brauchen. Ihr Beziehungsdefizit überlagert unbewusst das vorgebrachte Gesprächsanliegen. Es
Zusammenhänge am Telefon so wichtig. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen versuchen zum Beispiel ein bestimmtes Bild (Image) von sich zu erzeugen. Das kann wichtige Hinweise auf die zugrundeliegende Störung liefern. Narzisstische Persönlichkeiten zum Beispiel geben Appelle wie: „Finde mich toll und lobe meine Leistung!“ Für das Umfeld ist es nicht leicht, die Strategien als das zu sehen, was sie sind: Es sind für heillos überforderte Menschen Rettungsanker, die sich irgendwann einmal bewährt haben. Das Umfeld reagiert meist verärgert auf die als unangemessen empfundenen Verhaltensweisen. Das bewirkt beim Klienten ein Verharren und Verstärken der alten Strategien. Früher ist man davon ausgegangen, dass die Persönlichkeitsentwicklung mit dem Beginn des Erwachsenenalters abgeschlossen ist. Heute weiß
Foto: Pepe Fabelje
kann den Verlauf des Gespräches in viele Richtungen bis hin zum abrupten Abbruch lenken. Deshalb ist Kenntnis und Verstehen dieser
man, dass Weiterentwicklung und Veränderung bis ins Alter möglich sind, auch bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen. Unerlässlich
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WISSEN
ist ein verstehender Zugang, der sich auf die Sichtweise der Betroffenen einlässt. Das ist keine leichte Aufgabe für Ehrenamtliche am Telefon. Helfen kann dabei die Einsicht in eigene Anteile. Für solche Gespräche ist wichtig, dass das Grundrecht auf die Entfaltung der Persönlichkeit respektiert wird. Deshalb empfiehlt sich Zurückhaltung mit Vorschlägen zur Änderung von Eigenheiten. Wir sollten versuchen, die positiven Seite der stark ausgeprägten Charaktereigenschaften aufzugreifen und zu würdigen. Oftmals ist es dann für so jemanden das erste Mal, dass sein Verhalten auch in den positiven Aspekten und Nutzen gesehen und benannt wird. Auf der Basis der Positivierung werden kritische Überlegungen überhaupt erst möglich. Sie nimmt den anderen heraus aus seiner Ecke und versucht, die hinter seinem
Verhalten liegenden Motive zu verstehen und deren Nutzen anzuerkennen. Erst auf der Grundlage dieses Beziehungskredites werden konfrontative und konstruktive Auseinandersetzungen möglich. Wer Anerkennung braucht, sollte anerkannt werden. Wer Aufmerksamkeit braucht, sollte sie bekommen. Wer seine Grenzen schützen muss, sollte Sicherheit und Schutz bekommen. * Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der TelefonSeelsorge gilt, sich nicht durch den Druck von Zeit und Situation zu einem lösungsorientierten Gespräch verführen zu lassen. Veränderungen können sich nur langfristig entwickeln, es sind vielfältige positive Beziehungserfahrungen dazu notwendig. Das nimmt die Last vom einzelnen Gespräch und ermöglicht, den Blick auf die Beziehung zu fokussieren.
Telefonseelsorger und -seelsorgerinnen tragen dazu bei, dass Anrufer und Anruferinnen zuverlässige, stabile Beziehungserfahrungen machen und dass ohne Stress alternative Handlungsmöglichkeiten angedacht werden können. Aus: Jahresbericht 2013 der TS Fulda, (gekürzt) Verwendete Literatur: Matthias Hammer u. Irmgard Plößl, „Irre verständlich – Menschen mit psychischer Erkrankung wirksam unterstützen“, Psychiatrie Verlag Köln 2012, 2. Aufl.
Dagmar Ehrhard ist Pfarrerin und im Leitungsteam der TS Fulda
Herrmann Held ist Diplom-Theologe und im Leitungsteam der TS Fulda
Suizide an sonnigen Tagen häufiger Sonnenschein ist zwar ein Balsam für die Seele, was auch dem Befinden depressiver Menschen zugute kommt. Sonnige Tage steigern jedoch den Handlungsantrieb, was bei Patientinnen und Patienten mit Major-Depressionen eine fatale Wirkung haben kann. Eine Studie in JAMA Psychiatry zeigt, dass die Zahl der Suizide zu Beginn einer Schönwetterphase zunimmt. Psychiaterinnen und Psychiater der Medizinischen Universität Wien haben die Daten von 69.462 Suiziden, die in Österreich zwischen Januar 1970 und Mai 2010 registriert wurden, mit den meteorologischen Daten in Verbindung gesetzt. Nach einer mathematischen Berücksichtigung der Jahreszeiten gab es laut Benjamin Vyssoki und Mitarbeitenden eindeutige Trends. An Tagen mit viel Sonnenschein nahmen sich mehr Menschen das Leben als an Regentagen. Auffallend war auch eine Abhängigkeit von der Dauer der Schönwetterperiode. An den ersten zehn Tagen lag die Zahl der Suizide über dem Durchschnitt. Danach nahm das Suizidrisiko wieder ab. Für Studienleiter Matthäus Willeit von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie ist die Erklärung einfach: In den ersten Sonnentagen komme es beim Menschen zu einem erhöhten Aktivitätslevel. Das könne bei depressiv verstimmten Personen zu Antriebssteigerung, innerer Unruhe und vermehrter Impulsivität führen. Suizidgedanken würden dann schneller in die Tat umgesetzt. Besonders gefährlich sind die Sonnentage im Frühling, wenn die Tagesdauer zunimmt. In dieser Jahreszeit kommt es in Österreich, aber auch in den meisten anderen Ländern, zu den meisten Suiziden. Quelle: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/60073
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