AUF Draht - Ausgabe 85

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AUF DRAHT Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt:

Auszeit

85 / April 2014


AUSZEIT Lichtpunkte leuchten aus einer vergangenen Nacht in den gegenwärtigen Tag. Selbst ihre Schatten spenden dieser Auszeit Wärme, strahlen Mut ins Zukünftige. Foto: Ute Fehmer

Doris Egert-Bauer, Ehrenamtliche der TS Würzburg

P.A.U.S.E. Zäsur. Einschnitt. Intermezzo. Rast. Verweilen. Auszeit. Ruhezeit. Anhalten. Innehalten. Päuschen. Päusle. Rückzug. Sendepause. Schaffenspause. Stille. Leere. Atempause. Sprechpause. Hörpause. Unterrichtspause. Pausenhof. Unterbrechung. Halbzeitpause. Verletzungspause. Kaffeepause. Kinderpause. Sendepause. Trinkpause. Zigarettenpause. Verschnaufpause. Loslassen. Zwangspause. Pausenzeichen. Mittagspause. Denkpause. Verdauungspause. Arbeitspause. Sitzungspause. Schöpferische Pause. Menopause. Pausenbrot. Pausenraum. Pausieren. Pause machen. Vesperpause. Pause gestalten. Pause gönnen. Pause aushalten. Pause erleben. Pause erlauben. Pause erkämpfen. Pause erdulden. Kleine Pause. Pause brauchen. Pause nützen. Pause einlegen. Abpausen. Atempause. Ruhe vor dem Sturm. Pause entstehen lassen. d.d. ts neckar-alb

Foto: Ingrid Behrend-Fuchs


Noch ein Weinchen, noch ein Zigarettchen … … geflügelte Worte von Pina Bausch, in denen sich ihre Lebensweisheit spiegelt: Sich Zeit nehmen! Das Thema dieses Heftes von AUF DRAHT ist „Auszeit“. Prof. Jörg Fengler, Papst der BurnoutProphylaxe, zeigt den Unterschied auf zwischen Auszeit und Sabbatical (S. 18). Ulrike Atkins lädt ein zu theologischen Gedanken zur Entschleunigung (S. 28) Dr. Stefan Schumacher, Präsident des internationalen Verbandes IFOTES, Ruth Belzner, Vorsitzende der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür, Prof. Dr. Gerald Hüther, Neurobiologe, Gisela Achminow, Ehrenamtliche der ev. TelefonSeelsorge München, und Sigrun Schmid, ehemalige Sprecherin von BETS, erzählen uns, was für sie eine gelungene Auszeit ist (S. 32). Dass Auszeit auch mal heißen kann, die Notbremse zu ziehen, beschreibt Krischan Johannsen (S. 22). Gefreut haben wir uns über die Reaktion der Ehrenamtlichen auf unsere Umfrage nach der „Pause“. Von überall her kamen die Mails, von Vorpommern bis Ravensburg. Meist ein paar Zeilen, manchmal ein nachdenklicher kleiner Artikel. Alle sehr persönlich, immer ist das Engagement zu spüren, die Empathie für die Anrufenden, aber auch die Sorge für das eigene Wohlbefinden (S. 26). Dank auch für die vielen Zuschriften und die Fotos, die AUF DRAHT immer mehr zur Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland machen. Als neues Mitglied in der Redaktion begrüßen wir Inge Pape, lange Jahre Ehrenamtliche in der TS Darmstadt (S. 5). Und wir stellen Ihnen stolz unsere Webseite vor: www.auf-draht.org. Schließich, und das soll auch einmal gesagt werden, arbeiten wir als Redaktionsteam alle ehrenamtlich. Wenn wir heute das Wort „Soziales Netzwerk“ hören, denken wir an Facebook, StudiVZ und ähnliches. Doch der Begriff ist älter, kommt aus der Soziologie und bezeichnet ein Interaktionsgeflecht, das auf persönlichen Kontakten aufbaut. Dass die TelefonSeelsorge schon viel länger als Facebook ein soziales Netzwerk ist, beweisen die Artikel von Sybille Löw zum Treffen der Offenen-Tür-Stellen (S. 16), der Beitrag von Ina Rau zum Treffen der Fördervereine (S. 17), der Bericht über die Herbsttagung von BETS Deutschland (S. 15), das Feature von Doris Weininger, die mit der Bibel im Gepäck zum Schloss Schwanberg reiste (S. 14) und der Text über das „Couchsurfing-Portal für TelefonseelsorgerInnen“ (Cohocuante); es hat das fünfzigste Mitglied aufgenommen und damit sein Etappenziel erreicht (S. 13). „Mutig und beherzt“: Wie aus dem Zusammenspiel von Telefonseelsorgerin und Anruferin sogar eine neue TS-Stelle entstehen kann, erzählt Gisela Achminow am Beispiel Ingolstadt (S. 38). TelefonSeelsorge im Internet: Hier finden Sie ein Interview mit Bernd Wagener, Mitglied der Arbeitsgruppe Internet, der sich im Rahmen seiner Zertifizierung zum Online-Berater theoretisch und praktisch mit seinem Beratungsverständnis auseinandergesetzt hat (S. 36). Verabschieden möchte ich mich mit einem Bekenntnis von Truman Capote, der sich „horizontaler Autor“ nannte und behauptet hat, im Liegen die besten Ideen zu haben; Kreativität ohne Liegen war für ihn undenkbar. Ihre

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INTERNES

AUF DRAHT gibt es seit April 1984. Bis 2012 war AUF DRAHT das interne Forum für die ehren- und hauptamtlich Mitarbeitenden der TelefonSeelsorge in Deutschland. Ende 2012 haben die Herausgeberinnen (die Evangelische Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür e.V. und die Katholische Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür) entschieden, AUF DRAHT in die Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland umzuwandeln und damit auch die Möglichkeit zu bieten, AUF DRAHT zu bestellen. Dies können Sie nun auch über unsere Webseite www.auf-draht.org tun.

www.auf-draht.org

Inge Pape stellt sich vor Das geht jetzt schon über eine Stunde so. Wie soll ich beginnen? Gestern war ein Schriftsteller im Radio, der behauptete, der erste Satz sei schon das halbe Buch. Das kann ich gut verstehen, immer wenn ich etwas schreiben soll, warte ich sehnsüchtig auf den ersten Satz. Nein, ich will und muss jetzt kein Buch schreiben – aber etwas über mich. Das ist auch schwer. Dauernd verwerfe ich, was mir einfällt. Mit dem Namen beginnen? Ach was, der steht ja schon drüber. Etwas zu dem Foto sagen? Das hat mich Mühe genug gekostet. Dieses Gerenne zwischen Kamera und weißer Wand, Luftanhalten, bis endlich der Selbstauslöser klickt. Unzufrieden mit dem Ergebnis. Wiederholung! Wenn ich mit andern über diese Trübsal vor dem weißen Blatt und über Schreibblockaden rede, gebe ich immer einen guten Rat: „Fangen Sie einfach mittendrin an! Irgendwann kommt auch ein guter erster Satz vorbei!“ Vielleicht sollte ich mich mal an meine eigenen Ratschläge halten? Also gut: Ich bin ehrenamtliche Mitarbeiterin der TS Darmstadt seit über fünf Jahren. Weil die Zeit so schnell vergeht, bin ich jetzt schon sechsundsechzig. Mein Studienabschluss: Dipl.-Sozialpädagogin und Fachjournalistin. Die letzten zwanzig Berufsjahre habe ich eine bundesweit erscheinende pädagogische Fachzeitschrift geleitet.

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Zehn Ausgaben im Jahr, das war richtig Arbeit. Eine aufregende Zeit mit vielen spannenden Themen und interessanten Menschen. Ich kam viel rum. Mein evangelischer Herausgeber saß in Berlin, mein Verlag in Hannover, meine Redaktion in Darmstadt und die Druckerei in Leipzig. Mit meinen Kollegen habe ich die Zeitschrift in all der Zeit sowohl konzipiert als auch redigiert. Nun bin ich seit sechs Jahren im „Ruhestand“, aber weiter noch in der Fortbildung von Erzieherinnen tätig. Ich reise gern und am liebsten an die Enden der Welt. Man glaubt nicht, wie viele Orte in der Welt behaupten, an deren Ende zu liegen, obwohl die Erde ja rund sein soll. Ich fotografiere gern. Stundenlang kann ich auf der Lauer liegen, wenn es um Wale oder Bären geht oder um irgendwelche Vögel. Da bin ich dann wirklich im „Ruhestand“. Die Natur in ihrer Schönheit und Verletzlichkeit macht mich immer atemlos glücklich. AUF DRAHT lese ich gern. Ich finde die Zeitschrift richtig gut – vor allem in den Themenschwerpunkten

zeigt sich das fachliche Know-how. Einmal habe ich einen Leserbrief geschrieben, weil ich unbedingt etwas loswerden wollte. Nun bin ich im Redaktionskreis. Ich staune selbst darüber. Ich werde versuchen, die Themen der Ehrenamtlichen im Blick zu behalten, und freue mich wieder auf nette, kompetente Kollegen und Kolleginnen. Die TSArbeit gibt mir viel. Die Atmosphäre

und das Miteinander in Darmstadt finde ich hoch professionell und wertschätzend. Das ist eigentlich (fast) alles über mich. Und noch immer ist kein „erster Satz“ vorbei gekommen. Deshalb mache ich jetzt einen dicken Punkt • Inge Pape, TS Darmstadt

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INTERNES

Anonym arbeiten, öffentlich feiern Zum Jubiläum „50 Jahre TelefonSeelsorge Bremen“ von Frank Austermann Eine Fernsehmoderatorin fragte mich: „50 Jahre TelefonSeelsorge Bremen. Ist das ein guter Grund zu feiern?“ So seltsam mir die Frage auch vorkam, so eindeutig war meine Antwort: Ein sehr guter Grund zum Feiern! Denn bereits ein halbes Jahrhundert engagieren sich am Telefon viele Ehrenamtliche aus Bremen und Umgebung. Und dabei bewegte mich beim Jubiläum vor allem, was die aktuell siebzig Kolleginnen und Kollegen motiviert. Was sie antworten auf die Frage: Was bedeutet dir die Arbeit?

Hier in der TelefonSeelsorge habe ich mich selbst neu und anders kennengelernt, schon in der Ausbildung und dann in der Supervision. Jetzt weiß ich besser, wie ich in einen lebendigen Kontakt mit anderen komme. * Hier lerne ich viel für mich persönlich. Besonders wichtig ist für mich, dass ich mir erarbeitet habe, mich abzugrenzen. Ich habe gelernt, nein zu sagen. * Die Gemeinschaft untereinander bietet mir eine wertvolle Heimat. Hier erlebe ich Kirche noch einmal ganz anders. Hier suche ich, mit anderen, nach dem, was trägt.

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Die Ehrenamtlichen hören anderen zu, stellen ihre Zeit zur Verfügung. Bei ihrer Arbeit sind sie mit ihrer Aufmerksamkeit intensiv beim anderen und zugleich intensiv bei sich selbst. Und so intensiv die Arbeit ist, so intensiv sollte auch gefeiert werden. Deswegen gründete sich mehr als ein Jahr vor dem Jubiläum eine Arbeitsgemeinschaft, die die Feiern vorbereitet hat. Und dabei entstanden viele Ideen, das anonyme Engagement mitten in die Öffentlichkeit zu bringen. Öffentlich zu feiern, was die Ehrenamtlichen im Verborgenen tun. So fuhr sechs Wochen eine Straßenbahn mitten durch die Stadt mit der Aufschrift: 50 Jahre TelefonSeelsorge Bremen. So stand sechs Wochen mitten in der Innenstadt ein fast drei Meter hohes begehbares Telefon. Und da nicht jede TelefonSeelsorge das Rad zu ihrem Jubiläum neu erfinden muss, stellt die TelefonSeelsorge Bremen gern das begehbare Telefon gegen eine Gebühr zur Verfügung. Denn die Resonanz war beeindruckend: Viele Bremerinnen und Bremer nahmen noch einmal ganz neu und ganz anders wahr, dass in ihrer Stadt seit fünfzig Jahren ehrenamtliche Telefonseelsorgerinnen und Telefonseelsorger arbeiten. So stand das Jubiläumsjahr unter der Überschrift: Ein halbes Jahrhundert Zeit zum Zuhören. Ein guter Grund zu feiern! Wer am begehbaren Telefon interessiert ist, melde sich gern bei austermann@ kirche-bremen.de. Frank Austermann, Leiter der TS Bremen

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BLICKPUNKT

Foto: Peter Doll

Burnout, Auszeit, ein Interview Sabbatical – mit Jörg Fengler Lieber Jörg, die Fachwelt hat dich quasi zum „Papst der BurnoutProphylaxe“ ernannt. Da habe ich richtig Glück, einen ausgesuchten Experten interviewen zu dürfen! Wann begann deine Auseinandersetzung mit diesem Thema? Als „Urgestein“ bin ich schon manchmal bezeichnet worden, aber zum „Papst“ hast jetzt du mich gerade „befördert“. Das Thema beschäftigt mich seit 1984. Da stieß ich auf den Burnout-Begriff in der Fachliteratur. Das hat mich sofort bewegt. Einige der beschriebenen Anzeichen für eine Burnout-

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Gefährdung kannte ich aus meiner Selbst-Beobachtung, andere aus Schilderungen aus Supervisionen. Schon lange davor hatte ich mich mit dem Konzept „Psycho-Hygiene“ beschäftigt, so lautete ein älterer Begriff für seelischen Gesundheitsschutz. In der Folge las ich interessiert, was in der Fachliteratur zum Burnout veröffentlicht wurde. Ich lernte auch zahlreiche Kolleginnen und Kollegen kennen, die zu dem Thema geforscht und gelehrt haben. Der Begriff Burnout wurde ja auf allen Ebenen zum Mega-Thema …

Die Diskussion hat mich stets gefesselt: Einerseits erlebte der Begriff einen Siegeszug, andererseits gab es auch Zweifel an seiner wissenschaftlichen Seriosität. Auf der einen Seite wurde das Thema zunehmend kommerzialisiert, positiv gesehen nahm die Aufmerksamkeit für Burnout bei denjenigen zu, die sich um die eigene seelische Gesundheit sorgen und auf die seelische Gesundheit anderer Menschen achten wollen. Daher war die Beschäftigung mit dem Thema für mich immer lebendig, wand-

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BLICKPUNKT

Wegen ihres großen gesellschaftlichen Interesses hat die Burnout-Forschung heute an Fahrt gewonnen.

lungsreich und herausfordernd. Ich habe in der Hinsicht gewiss eine Aufmerksamkeitsfokussierung erlebt. Auch heute geht es mir noch so. Wenn ich einen längeren Zeitungsartikel überfliege, springt mir der Begriff „Burnout“ sofort ins Auge, auch wenn er nur ein einziges Mal auftaucht. Natürlich hoffe ich, dass die Burnout-Forschung etwas Konstruktives zum seelischen Gesundheitsschutz beitragen kann, sowohl gesellschaftlich, als auch im Bewusstsein des Einzelnen und der Institutionen. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat kürzlich die Angaben der großen gesetzlichen Krankenkassen zur Arbeitsunfähigkeit wegen psychischer Erkrankungen und Burnout ausgewertet. Die Anzahl der Krankschreibungen aufgrund eines Burnout sind seit 2004 um 700 Prozent gestiegen, die Anzahl betrieblicher Fehltage sogar um

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fast 1.400 Prozent. Was denkst du, was hat die Burnout-Forschung angesichts dieser Zahlen bisher zum seelischen Gesundheitsschutz in der Gesellschaft beigetragen? Die Angaben der Psychotherapeutenkammer stelle ich durchaus infrage. Meines Wissens wurde nach der Frühberentung aufgrund psychischer Erkrankungen gefragt, die zu einer Arbeitsunfähigkeit führten. Dort hatte sich die Zahl der Frühberentungsanträge aufgrund einer psychischen Erkrankung innerhalb weniger Jahre vervielfacht. Dies halte ich für eine realistische Angabe, es gibt aber mindestens drei mögliche Erklärungen dafür: 1. Die Zahl der psychischen Erkrankungen hat sprunghaft zugenommen. 2. Die Zahl der Personen, die über eine psychische Störung zu ihrem Arzt offen sprechen, hat deutlich zugenommen. 3. Die Zahl der Personen, die die psychische Erkrankung als Begründung für die Frühberentung wählen, hat dramatisch zugenommen, unter anderem deshalb, weil diese Begründung als garantiert erfolgreicher Geheimtipp gehandelt wird. Gleichzeitig damit stieg die Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die psychische Erkrankungen als Begründung für eine Frühberentung akzeptieren und sowohl in Diagnosen wie in gutachterlichen Stellungnahmen damit argumentieren. Eine Krankschreibung aufgrund eines Burnout darf eigentlich gar nicht stattfinden, weil das Burnout in der Klassifikation der psychischen Störungen gar nicht auftaucht. Es wird nur als Zusatzdiagnose, also gewissermaßen als „Gesundheitsrisiko“ berücksichtigt. Deswegen ist auch keine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung vorgesehen. Falls eine

solche dennoch stattfindet, wird sie von den Krankenkassen nicht finanziert oder nur in Verbindung mit einer „Co-Morbidität“ durch eine „echte“ psychische oder körperliche Erkrankung. Dabei ist zu bedenken, dass noch kein gültiges Messinstrument für Burnout existiert, sodass Psychotherapeuten und Ärzte auf Beschreibungen und Selbst-Diagnosen von Patienten angewiesen sind. Wenn es noch keine objektivierbaren Kriterien gibt, womit beschäftigt sich die BurnoutForschung? Welche Fragen stehen im Zentrum? Die Auseinandersetzung beginnt mit der Frage, mit der sich bereits der Buddhismus, die vorchristliche griechische Philosophie und auch das Neue Testament beschäftigt haben: „Was ist eine gesunde Lebensführung?“ Neben manchen Empfehlungen und medizinischen Praktiken, die uns heute kurios anmuten, gab es schon immer Ideen zur Balance zwischen Selbstund Fremdliebe. Sich an einem „Mittleren Weg“ zu orientieren und gemeinschaftsförderliche Gebote einzuhalten, war über alle Zeiten eine Empfehlung zur Lebensführung. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts war Psychohygiene, also die Lehre vom seelischen Gesundheitsschutz, ein wichtiger Beitrag zu dem Thema. Wie deutlich wird die Prävention in den Blick genommen? Alle psychotherapeutischen Schulen haben neben kurativen Ansätzen zur Heilung von Patienten auch präventive Empfehlungen für weitgehend gesunde Personen vorgestellt. Wegen ihres großen gesellschaftlichen Interesses hat die Burnout-Forschung heute an Fahrt gewonnen. Mittlerweile behauptet sie ihren Platz und ihre Verantwortung unter anderem im Kontext eines umfassenden betrieblichen

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BLICKPUNKT

Gesundheitsmanagements. Hier wird die Burnout-Prävention auf den sieben Ebenen Person, Privatleben, Zielgruppenkontakte, Team, Vorgesetzten-Funktion, Institution und Gesellschaft praktiziert. Heute beobachten wir, dass neben zahlreichen Arbeitsplätzen, die immer noch gesundheitsschädlich sind, doch bei einer wachsenden Zahl von Unternehmen die Gesundheit der Mitarbeitenden einen festen Stellenwert auf allen Ebenen der Personalführung genießt. Damit wird Prävention auch zum wichtigen Aspekt in der Selbstdarstellung. Aber es bleibt viel zu tun. Die Burnout-Präventions-Forschung hat noch viele weitere Aufgaben vor sich.

Distanzierung von der Arbeit. Eine Reise, ein neues Projekt, eine familiäre Angelegenheit in größerem Umfang stehen dabei im Mittelpunkt, weniger die Stressreduktion. Letztere dürfte sich wohl spätestens nach ein bis drei Wochen von selbst einstellen. Im Ergebnis kann die Arbeit danach wieder mit neuem Schwung fortgesetzt werden.

„Sabbatical“ ist an die Sieben-TageWoche aus dem Alten Testament angelehnt. Gegenwärtig versteht man darunter eine einmalige oder wiederkehrende lange Auszeit von etwa einem halben oder ganzen Jahr. An der Universität ist das achte Semester das Sabbatical nach sieben Dienstsemestern. Dieses Sabbatical hat die Funktion, ForIn der TelefonSeelsorge erleben wir schungsprojekte und Publikatihautnah, dass die Zahl der psychi- onen abzuschließen und neue zu schen Erkrankungen zugenommen konzipieren. Es geht meist darum, hat. Du hast das betriebliche Ge- Vorlesungen zu aktualisieren, sich sundheitsmanagement angeführt. in ein neues Gebiet gründlich einWas ist deiner Meinung nach bes- zuarbeiten, Gastsemester in andern ser für die eigene Gesundheitsvor- Hochschulen zu verbringen, neue sorge: jährlich eiForschungs- und nige Kurzurlaube, Der Laptop im Bett Behandlungsmeeine dreimonatige ist etwas anderes als thoden zu erproAuszeit oder gar ein Buch im Bett ben und vorzudas Ansparen von stellen. Danach Urlaubstagen für ein Sabbatical? kann man mit erkennbar höherer Eine grundsätzliche Antwort für Kompetenz an den Arbeitsplatz alle Menschen lässt sich nicht zurückzukehren. In diesem Fall geben. Wie der Rheinländer sagt: geht es also nicht um eine Distan„Jeder Jeck ist anders.“ Drei Op- zierung von der Arbeit, sondern um tionen findet man in der Praxis: deren Fortsetzung mit erweiterten „Kurzurlaube“, „Auszeit“ und Perspektiven. „Sabbatical“. Viele Kurzurlaube im Jahreslauf kann denjenigen emp- Die drei Varianten „Kurzurlaube“, fohlen werden, die sich schlecht von „Auszeit“ und „Sabbatical“ nehmen Woche zu Woche entspannen kön- also auf unterschiedliche Bedürfnisnen und deren Stress immer mehr lagen Rücksicht und können daher kumuliert. Dann kann häufiger differenziell gewählt werden. Ortswechsel und die wiederholte Distanzierung von der Arbeit dabei Jetzt beantrage ich sofort das achte helfen, den Stresspegel über das Jahr Semester für ein neues Projekt! hinweg auf einem relativ gesunden Aber im Ernst: Wir leben im Niveau zu halten. Zeitalter der Ich-Geräte – Smartphone, Blackberry, iPhon oder Bei der dreimonatigen Auszeit geht Tablet erzeugen unsere ständige es um längere, zusammenhängende Erreichbarkeit. Noch schnell im

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Bett die Mails checken, bei jeder Gelegenheit den Facebook-Status updaten und in der Bahn mal eben die neusten Infos twittern … Schädigt die permanente Erreichbarkeit nicht unsere seelische Gesundheit? Die 24-Stunden-Erreichbarkeit durch Medien hat zwei Seiten: Die attraktive Seite liegt darin, dass wir offenbar bedeutend und attraktiv erscheinen, wenn unser Handy ständig klingelt und fortwährend Mails eingehen. Wir können viele Dinge rasch und unbürokratisch klären, und wir sind im Kontakt mit vielen Menschen. Dies scheint unseren Bedürfnissen in dieser Gesellschaft zu entsprechen. Allerdings gibt es auch Zwänge und Erwartungen, in dieser Unmittelbarkeit auch ständig erreichbar zu sein. Wer nicht mitspielt, muss mit Sanktionen rechnen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass wir ständig zwischen verschiedenen Gedanken, Gefühlen, Plänen, Attraktionen hin und her springen. Wir richten uns darauf ein, jederzeit und bei fast jeder Tätigkeit unterbrechbar zu sein. Keine Vorgesetzte und kein Vorgesetzter würde es je dulden, dass jemand während der Sitzung ständig hinaus geht oder von Personen, die den Raum betreten, angesprochen wird. Aber unsere ITGeräte werden geduldet, als sei es geradezu selbstverständlich und ein Recht jedes Einzelnen, dass diese immer auf Empfang geschaltet sind und ständig Antworten liefern. Ein anderes Beispiel: Kein Mensch lässt seine Haustür immer offen und duldet, dass andere dort pausenlos aus- und eingehen. Aber für IT-Botschaften ist die Tür jederzeit offen! Dies mag für einen Teil der Bevölkerung tolerabel oder vielleicht ganz angenehm sein. Aber zu allen Zeiten und für alle Varianten von Übertreibung? Das genießt sicher nicht jeder! Der Laptop im Bett ist etwas anderes als ein Buch

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BLICKPUNKT

im Bett. Das Buch kann man beiseitelegen oder sich mit zärtlichem Gestus aus der Hand nehmen lassen. Den Laptop muss man erst herunterfahren. Vielleicht unterliegt man dann doch der Verlockung, während der Nacht online zu bleiben. Es könnte ja doch noch eine wichtige Mail kommen, und wenn man kurz wach wird, schaut man mal eben schnell in die Mails, um immer über alles informiert zu sein. Wie könnte man Schlaflosigkeit sonst „sinnvoll“ nutzen? Insofern halte ich die Risiken der Rundumerreichbarkeit für größer als die Vorteile. Die Zentrierung und die Achtsamkeit, die wir als Ausgleich für die multiple Beanspruchung als Burnout-Prophylaxe empfehlen, sind durch die Medien zumindest partiell bedroht. Fachliche, persönliche und intime Begegnungen werden immer wieder unterbrochen. Nicht jedem Menschen gelingt es nach einer solchen Unterbrechung, wieder rasch zur Zentrierung und Begegnung zurückzukehren. Es ist gewissermaßen ständig eine dritte Person im Raum. Ist die Einschätzung nicht zu kulturpessimistisch? Denken die Jungen auch so? Vielleicht findet die Generation, die mit diesen Medien aufgewachsen ist, die dargestellte Form der Kommunikation normal und wird daran nichts Negatives erkennen können. Es geht also nicht darum, die neuen Medien kulturkritisch zu verurteilen oder das Ende der Kommunikation zu befürchten. Aber vielleicht hilft es auch der jüngeren Generation, sich mit den Bedenken gegen diese Kommunikationspraxis kritisch auseinander zu setzen. Lieber Jörg, ich danke dir für das Interview. Das Interview führte Birgit Knatz, Leiterin der TelefonseelSorge Hagen-Mark und Verantwortliche Redakteurin von AUF DRAHT

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Foto: Andreas Riebe-Beier

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BLICKPUNKT

AUSZEIT Foto: Pepe Fabelje

Als ich mit Anfang Vierzig eine Umschulung zur Buchhändlerin gemacht habe, hoffte ich, damit auch einen gut durchdachten Schritt für meine Zukunft zu gehen. Für die Zeit, wenn der Hund gestorben und die Kinder aus dem Haus sein würden, wollte ich gewappnet sein. Drei Jahre vor diesem magischen Zeitpunkt war mein Betrieb insolvent und es begann meine ungewollte „Auszeit“. Da wir nicht auf meinen Verdienst angewiesen waren, stand ich nicht unter Druck, eine Arbeit finden zu müssen. Das schätze ich sehr und ich bin dankbar für unsere Partnerschaft, die es mir erlaubt hat, meine Rolle als Mutter mal mit Berufstätigkeit mal ohne auszufüllen, was vielen unemanzipiert erscheinen mag. Aber – so hatte ich mir mein

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Leben nicht vorgestellt. Ein wenig eigenes Geld zu verdienen und eine anerkannte gesellschaftliche Rolle (also mit Berufstätigkeit, so ist es nun mal …) zu spielen, hatte meinem Lebensgefühl gut getan. Nach einer längeren krisenhaften Phase ohne meine Arbeit hatte ich mich schließlich gut eingerichtet. Ich begann, Klavier spielen zu lernen, besuchte regelmäßig eine sehr nette alte Dame im Altenheim, nahm an einer Fortbildung teil und trieb mehr Sport, engagierte mich stärker in der TelefonSeelsorge und kümmerte mich um alle Verwandten über 80. So hätte es also bleiben können. Da bekomme ich einen Anruf einer Bekannten aus der Nachbarstadt, von der ich mich vergessen gewähnt

hatte. Sie las mir eine Stellenanzeige aus ihrer Zeitung vor und siehe da, meine Lebensgeister wurden wach … War ich also vorher doch etwas frustriert gewesen? Ein Anruf, ein Vorstellungsgespräch, letzte Woche habe ich den Vertrag unterschrieben und in zwei Wochen geht es los. Ich werde also wieder in meinem Beruf arbeiten und freue mich sehr darauf! Die dreijährige Auszeit hat mir sehr gut getan, mir viel Zeit zum Nachdenken und für neue Impulse gegeben. Mein drittes Kind ist erst letzte Woche ausgezogen. Der Hund ist alt und ruhiger geworden. Das Timing könnte kaum besser sein. Ich bin glücklich! Anonym, TS Bad Oeynhausen

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