Auf Draht - Ausgabe 91

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AUF DRAHT Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt:

60 Jahre

TelefonSeelsorge

ISSN 2364-9933

91 / April 2016 Jahrgang 33


Foto: Heike Köhler

Danke,

dass es Euch gibt! Danke, dass Ihr dafür brennt, dem „Burn out“ nicht das letzte Wort zu lassen. Ihr seid wichtig, in einer Zeit, wo sich Menschen maßgeblich auf Autobahnen näherkommen. Und innerlich auf der Strecke bleiben. Ihr seid der letzte Anker, wenn die Wogen über einem zusammenschlagen. Ihr sorgt dafür, dass man jemanden an die Strippe bekommt, statt sich den Strick zu nehmen. Ihr legt nicht auf, wenn jemand nicht gut aufgelegt ist. Viele gucken weg – Ihr geht ran! Bleibt uns erhalten! Und sorgt auch gut für Euch! Ihr haltet so viel mehr in Euren Händen als einen Hörer!

Eckart von Hirschhausen

Dr. Eckart von Hirschhausen (Jahrgang 1967) studierte Medizin und Wissenschaftsjournalismus in Berlin, London und Heidelberg. Seine Spezialität: medizinische Inhalte auf humorvolle Art und Weise zu vermitteln und gesundes Lachen mit nachhaltigen Botschaften zu verbinden. Seit über 20 Jahren ist er als Komiker, Autor und Moderator in den Medien und auf allen großen Bühnen Deutschlands unterwegs. Hinter den Kulissen engagiert sich Eckart von Hirschhausen mit seiner Stiftung HUMOR HILFT HEILEN für mehr gesundes Lachen im Krankenhaus, für Forschungs- und Schulprojekte. Als Botschafter und Beirat ist er u. a. für die „Deutsche Krebshilfe“ und die „Stiftung Deutsche Depressionshilfe“ tätig.


BLICKPUNKT

Chronik der TelefonSeelsorge

Chad Varah mit der Ausbildungsgruppe

Chad Varah im Gespräch

Anzeige in der Tageszeitung aus dem Jahr 1959

Plakatwerbung der TS Regensburg aus dem Jahr 1975

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1953

Chad Varah initiiert in London das erste Hilfetelefon für Suizidgefährdete.

1956

In Berlin wird die erste TelefonSeelsorge-Stelle, die „Lebensmüdenbetreuung des Ökumenischen St. LukasOrdens“, in Deutschland gegründet.

1960

Die „Evangelische Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür“ wird errichtet.

1965

Die „Katholische Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür“ entsteht.

1967

Die erste internationale Zusammenkunft von TS-Stellen und die Gründung der International Federation of Emergency Telephones (IFOTES) in Genf finden statt.

1969

In der „Evangelisch-Katholischen Kommission“ beginnt die Koordination der Arbeit auf Ebene der Bundesverbände.

1974

Seitdem findet eine jährliche gemeinsame Tagung der Stellenleitungen statt.

1978

Erstmals gibt es bundesweit einheitliche Rufnummern für die TelefonSeelsorge (11101 und 11102).

1984

erscheint AUF DRAHT, die Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland.

1990

Nach dem Fall der Mauer entstehen in kurzer Zeit TelefonSeelsorge-Stellen im Bereich der ehemaligen DDR.

1995

Mail und Chat erweitern das Angebot der TelefonSeelsorge.

1997

Auf dem IFOTES-Kongress in Lindau wird die Vereinbarung zwischen der Deutschen Telekom AG und der TelefonSeelsorge verkündet: Die Deutsche Telekom AG ermöglicht es allen Anrufenden, die TelefonSeelsorge kostenfrei von jedem Ort in Deutschland aus unter den Rufnummer 0800-1110111 bzw. 0800-1110222 zu erreichen.

1998

Das Bundesministerium der Finanzen gibt eine Sonderbriefmarke Telefonseelsorge (110 Pfennig) heraus.

1999

„TelefonSeelsorge“ wird als Wortmarke eingetragen.

2016

In Aachen findet der 20. internationale Kongress von IFOTES und der TelefonSeelsorge Deutschland unter dem Titel „For life to go on“ statt. Das Europäische Parlament ist Schirmherr für den Kongress.

Zusammengestellt von Dr. Bernd Blömeke

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BLICKPUNKT

Sechzig Jahre Ausbildung in der TelefonSeelsorge Von Sonja Müseler In England hat mal jemand zu mir gesagt: „In Deutschland muss man hundert Prozent ausgebildet sein, bei uns nur fünfundzwanzig. Ihr Herz auf dem rechten Fleck müssen fünfundsiebzig Prozent haben. Die richtige Motivation muss jeder mitbringen.“ Das war auch 1956 so, als eine kleine Gruppe engagierter Christen in Berlin nach dem englischen Vorbild die TelefonSeelsorge gründeten. Den Impuls hatte die hohe Suizidrate in Berlin gegeben. Nun traf man sich jeden Samstag für dreieinhalb Stunden zur Fallbesprechung. Guido Gröger, Psychoanalytiker und Leiter des Zentralinstitutes Berlin, besprach

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mit den Ehrenamtlichen die Fälle. Unterschiedliche Strategien wurden diskutiert. Die eigene Befindlichkeit war kein Thema. Die Veteranen erzählen von einer spirituellen, fast mystischen Atmosphäre beim Nachtdienst. In der Studentenbewegung der sechziger Jahre ging es um die Errettung der Welt. Da blieben

die seelischen Bedürfnisse und Anteile auf der Strecke. An der Uni durfte man nie zeigen, was einen emotional bewegt. Die TS wurde ein Aufnahmeort für alle, die niemanden hatten, dem sie sagen konnten, was sie beschäftigt. Nein, ich finde, das Leben lohnt sich Ab 1970 professionalisierte sich die Sozialarbeit. Einflüsse der Universitäten, besonders der drei Psychologischen Institute, kamen auch in der TS an. Es kam die Forderung nach mehr Zurüstung.

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BLICKPUNKT

Wie die TelefonSeelsorge in den Osten kam Ein Initiativschub wie ein Lauffeuer, das sich ausbreitete Von Michael Hock In unserer Jubiläumsausgabe spreche ich mit Eckart König (Bild oben), dem langjährigen Leiter der TelefonSeelsorge Dresden, und Uwe Müller (Bild unten), dem Leiter der Kirchlichen TelefonSeelsorge Berlin, zwei Menschen, die den Weg der TelefonSeelsorge-Einrichtungen im Gebiet der ehemaligen DDR Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre maßgeblich beeinflusst haben.

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ckart, wann hat bei uns im Osten Deutschlands eigentlich das erste Mal jemand von so etwas wie TelefonSeelsorge gesprochen? Der Gedanke an eine TelefonSeelsorge wurde schon auf dem DDR-Kirchentag im Juli 1983 in Dresden geboren. Dr. Hartmut Kirschner, ein Arzt, hatte seinerzeit die Idee, den Kirchentagsbesuchern so etwas wie eine TS anzubieten. Dazu veröffentlichte er einfach auf einem handgemachten DINA-4-Plakat seine private Telefonnummer.

in der Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen ebenso wie Fachleute für die erforderliche Ausbildung von Telefon-Seelsorgerinnen und -Seelsorgern vertreten waren.

Und – wurde das Angebot genutzt? Ja, es gab Anrufe und daraus erwuchs dann die Idee, es auch nach Ende des Kirchentages weiterzumachen. Man suchte Verbündete, so etwa beim Landeskirchenamt, der katholischen Kirche und der evangelisch-methodistischen Kirche. Es gab dann 1983/84 eine ehrenamtliche Vorbereitungsgruppe,

Und wann ging die TS in Dresden dann offiziell ans Netz? Am 2. Januar 1986 hat die „Kirchliche TelefonSeelsorge Dresden“ in einem Büroraum der Stadtmission in der Dresdner Neustadt ihre Arbeit aufgenommen. Siebenunddreißig Ehrenamtliche machten damals täglich von 17 bis 23 Uhr Dienst. Unsere Rufnummer, die 54430,

Wie ging der Vorbereitungsprozess dann weiter? 1985 ist der erste Ausbildungskurs für die TelefonSeelsorge in Dresden durchgeführt worden. 54 Frauen und Männer verschiedener Konfessionen nahmen daran teil und wurden in fünf Gruppen von zehn Ausbildern auf ihre verantwortungsvolle Tätigkeit vorbereitet.

wurde durchschnittlich zwei bis drei mal pro Tag angerufen. Und wie ging es nach dieser Startphase dann weiter? Schon ein Jahr später lief der zweite Ausbildungskurs, aus dessen vierzehn – darunter ich – beauftragt wurden, so dass wir jetzt vierzig Ehrenamtliche waren. Im nächsten Jahr zogen wir um und bekamen einen Raum der Katholischen Kirche. Die Telefonnummer konnten wir mitnehmen und hatten 1989 dreitausendvierhundert Anrufe. Das ging dann Jahr für Jahr so weiter mit der Steigerung der Anrufzahlen? Nein, interessanterweise ging die Zahl gerade in der Wendezeit 1990 deutlich auf etwa neunzehnhundert Anrufe zurück. Vielleicht sind die Menschen ja in Krisen- oder Umbruchzeiten erst einmal mit anderen wichtigen Dingen und vor allem mehr mit sich selbst beschäftigt. Das wäre eine mögliche Erklärung für diesen überraschenden Rückgang der Anrufe, der sich fortsetzte. Wir waren 1991 nochmals umgezogen und mussten unsere Rufnummer zur 4952333 wechseln. Und diese musste natürlich dann erst wieder der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. So zählten wir 1992 nur noch rund siebzehnhundert Anrufe. Allerdings gab es auch eine erfreuliche Entwicklung: 1991 wurden

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BLICKPUNKT

Nach einer langen Nacht in den Morgen blinzeln Von Inge Pape und Franz-Josef Hücker

„Sie sind wohl total plemplem“, lachte der Anrufer. „Ich und Ehrenamt, ha! Das hätten Sie wohl gern! Arbeiten ohne Bezahlung, wie krank ist das denn?“ Entrüstung und Abwehr in seiner Stimme. Als hätte ich ihm ein unmoralisches Angebot unterbreitet. Vorausgegangen war ein längeres Gespräch über seine Isolation in der Stadt, wo er niemanden kannte. In die er gezogen war, weil sein Arbeitgeber es so wollte. Dann wurde „umstrukturiert“. Und er verlor seine Stelle. Jetzt saß er da, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, und beklagte sich, dass sein Alltag ohne jeden menschlichen Kontakt verlief. Das zu Beginn vereinbarte Ziel unseres Gesprächs war, über Möglichkeiten nachzudenken, wie er wieder Menschen in sein Leben lassen könnte. Sport, Hobbys, Kirchengemeinde, Verein, Arbeitsloseninitiative und so weiter? Nein, es gab tausend Gründe, warum dieses oder jenes

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für ihn nicht infrage kam. War es Resignation oder Depression, was ihn blockierte? Eher Wut, die ihn das ihm Zustehende einfordern ließ. Auf das bestehend, was er für sein Recht hielt. Und Bitterkeit. Mein Vorschlag, sich vielleicht ehrenamtlich irgendwo zu engagieren, um Menschen zu treffen oder neue Ideen zu bekommen, kam da nicht so gut. Er hielt Ehrenamtliche für Verrückte. Nachdem ich mich als eine von denen outete, mussten wir beide lachen. In einer Gesellschaft, die am Gewinn orientiert ist und die Arbeit nur dann als Arbeit ansieht, wenn sie in Geld aufgewogen wird, ist das Ehrenamt eine Herausforderung und geradezu paradox. Ohne uns geht gar nichts Die TelefonSeelsorge gäbe es nicht ohne motivierte Frauen und Männer, die selbstständig und

verantwortlich diesen Dienst am Telefon, im Chat oder per Mail wahrnehmen. Mit jährlich über zwei Millionen Anrufen sind die Ehrenamtlichen „Gesprächsmillionäre, Anteilnehmer, Zuhörkünstler, Nachterheller, Sinnfahnder“. Und nicht allzu selten „Frustab-leiter“. Trotz der hier von der TelefonSeelsorge Berlin e.V. gewählten männlichen Wortschöpfungen sind wir überwiegend weiblich. Achtzig Prozent der „Telefonseelsorgenden“ sind Frauen, nur jeder fünfte Ehrenamtliche ein Mann. Von den Ratsuchenden sind nach der jährlichen TelefonSeelsorgeStatistik sechzig Prozent weiblich und vierzig männlich. Ehrenamtliche hören genau zu, begleiten Menschen in ihrer Verzweiflung und Not, nehmen Anteil und bemühen sich um einen haltenden Kontakt. Sie verteilen keine RatSchläge und keine wohlfeilen Sprüche. Wir sieben nicht aus, mit wem

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BLICKPUNKT

Die TelefonSeelsorge ist ... ... ein Netzwerk mit hundertacht Stellen in ganz Deutschland. Sie sind gemeinsam in der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür e.V. und in der Katholischen Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür organisiert. Die Vorstände der beiden Konferenzen bilden die Evangelisch-Katholische Kommission für TelefonSeelsorge und Offene Tür, die die Herausgeberin von AUF DRAHT ist. Ruth Belzner ist die Vorsitzende der Evangelischen Konferenz und Michael Hillenkamp der Sprecher der Katholischen Konferenz.

Worauf kann die TelefonSeelsorge stolz sein? Michael Hillenkamp: Zuallererst auf die Ehrenamtlichen, die über viele Jahrzehnte eine immer mühsamer werdende Arbeit mit Engagement und Hingabe leisten. Dieses Angebot von Freiwilligen, sich rund um die Uhr einzulassen auf einen fremden Menschen, ist einzigartig. Ruth Belzner: Darauf, dass sie sich durch alle gesellschaftlichen, technologischen und rechtlichen Veränderungsprozesse mit verwandelt hat und dabei ihr Eigentliches bewahren konnte: anonym, datengeschützt und niederschwellig kompetente Seelsorge zu betreiben, durch eine unglaubliche Vielfalt von Menschen, die das ehrenamtlich tun. Stolz kann sie auch darauf sein, dass sie, trotz aller Spannungen und Auseinandersetzungen, zu einem Netzwerk geworden ist, das sich seiner gemeinsamen Aufgabe und der Notwendigkeit verbindlicher Regeln bewusst ist.

Krisen, Ängste und Scham halten sich nicht an Zeiten und Terminabsprachen, und oft ermöglicht

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. Albert Einstein

erst anonyme Ferne eine tragende Nähe. Auf jemanden zu treffen, der zuhört und den Gefühlen zur Sprache verhilft, kann ein Schritt zurück ins Leben sein.

Ruth Belzner: Spontan fällt mir da ein: Genau zuhören oder lesen und die eigene Resonanz auf das Wahrgenommene dem anderen zur Verfügung stellen, so dass er, dass sie sich wirklich gesehen fühlt und sich vielleicht selber besser versteht. Und ganz pragmatisch: Die Hauptamtlichen in der TelefonSeelsorge müssen auf jeder Ebene unheimlich viel organisieren und vieles gleichzeitig im Blick haben: In der Stelle die Dienstpläne und die darin plötzlich entstandenen oder hartnäckig bestehenden Lücken, Foto: Cor Boers

Was kann die TelefonSeelsorge am besten? Michael Hillenkamp: Da sein, emotionale Unterstützung anbieten und helfen, das Leben zu sortieren.

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BLICKPUNKT

Wie sich die Technik verändert hat Von Werner Korsten

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ls im Jahre 1956 die „Ärztliche Lebensmüdenbetreuung Berlin“ ihren Dienst aufnahm, sah die technische Ausstattung vermutlich so aus: Auf dem Schreibtisch war ein klobiger schwarzer Telefonapparat fest verankert, auf seiner Gabel ruhte ein schwerer Hörer, wenn es klingelte nahm der Diensttuende den Hörer ab und ging in das Gespräch. 1955 war das Zeitalter der vom „Fräulein vom Amt“ vermittelten Telefongespräche zu Ende gegangen. Von dem Gespräch blieb keine andere Spur übrig, als dass der Gebührenzähler um einige Einheiten weiter gerückt war. Das machte es möglich, sich unbeobachtet Rat und Hilfe über das Telefon zu holen. Die gesellschaftlichen Ve r ä n d e rungen wurden an der Art und der Bauform der Telefone deutlich. Ab den sechziger Jahren wurde der Apparat kleiner, ein einheitliches grau-beige setzte sich als Farbe durch. Die Wartezeiten bis zur Installation eines Telefonanschlusses waren beträchtlich. Üblicherweise stand

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oder hing das Telefon im Flur einer Wohnung, erreichbar für alle Familienmitglieder. Mitte der siebziger Jahre war die Flächendeckung mit Telefonanschlüssen in Deutschland erreicht. Es gab keine Wartezeiten mehr für die Installation von Anschlüssen. Die Zahl der Anrufe bei der TS stieg an und machte die Gründung vieler neuer Stellen nötig. Die Telefonapparate veränderten sich, wurden farbig, statt der Wählscheibe bekamen sie ein Tastenfeld. Auf Wunsch stellte die Deutsche Bundespost eine sechs Meter lange Schnur zur Verfügung. Man konnte nun den Standort im Flur verlassen und vertrauliche Gespräche führen.

hatte seine Telefonzelle in der Tasche. Der Appell wechselte von „Fasse dich kurz!“ in „Ruf doch mal an!“.

Anfang der Neunziger veränderte sich die Technik. Von der analogen Übertragung der Sprachsignale wurde auf die digitale umgestellt. Das Zauberwort hieß ISDN (Integrated Services Digital Network). Jetzt konnten die Kapazitäten einer Leitung voll ausgenutzt werden. Durch diese Technik entstand von jedem Gespräch ein Datensatz,

In den neunziger Jahren setzten sich auch im Haushalt Schnurlostelefone durch. Mit Einführung des Mobiltelefons wurde es möglich, auch unterwegs und außerhalb von Gebäuden zu telefonieren. Jeder

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BLICKPUNKT

Zwanzig Jahre TelefonSeelsorge im Internet Von Birgit Knatz und Bernard Dodier Seelsorge und Beratung per Telefon – das gibt es in Deutschland schon seit sechzig Jahren. Deutlich jünger ist ein anderes Angebot der TelefonSeelsorge, nämlich die Beratung per Internet. Seelsorge im Internet? Wie kann das gehen? Ist dieses Medium nicht zu distanziert? Entsteht überhaupt eine persönliche Beziehung auf dem Bildschirm? Diese Fragen beschäftigten uns, die „Gründergeneration“, die 1995 daran ging, das traditionelle Medium Telefon um ein Angebot im weltweiten Web zu erweitern. Wir versprachen uns, dass Menschen, die ihre Sozialkontakte über das Internet abwickelten, vielleicht eher Zugang zu diesem Beratungsangebot haben würden, und wir wollten die jahrzehntelange Erfahrung der TelefonSeelsorge als Medienseelsorge in dem damals noch neuen Medium nicht ungenutzt lassen.

Telefonseelsorgerin sandte. Diese wiederum schickte ihre Antwort an das Büro zurück. Dort wurde die Antwort im PC eingegeben

und an den Ratsuchenden gesandt, datenschutzmäßig korrekt. 1997 nutzten mehr als vier Millionen Menschen in Deutschland das Internet, mehr als tausend Ratsuchende nahmen Kontakt mit der Internetseelsorge auf. Drei Jahre später hatte sich die Zahl bereits verfünffacht. Statistisch gesehen ist am auffälligsten, dass der Personenkreis wesentlich jünger ist als am Telefon und dass mehr Männer als Frauen vertreten sind.

Zunächst war alles neu, ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Fragen nach dem Datenschutz, der Verteilung eingehender Mails und nach Aus- und Fortbildung standen vorne an. Wir hatten uns für eine gemeinsame Mailadresse für die Arbeit entschieden, beratung@telefonseelsorge.de, und betraten auch damit Neuland. Eingehende Mails wurden an die zuständige Stelle geschickt, die diese dann im Büro ausdruckte und als Brief oder Fax an die zuständige

Foto: Christa Doll

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INTERNET

Mobile Apps als Chance für die mediale Seelsorge – am Beispiel der TelefonSeelsorge Von Marlies Barkowski

Die Gründung der Organisation TelefonSeelsorge und die damit verbundene Einführung einer neuen Form von medialer Seelsorge in Deutschland war eine Reaktion auf die vermehrte Verbreitung des Telefons. Auch in den folgenden Jahren hat die TelefonSeelsorge stets auf aktuelle Entwicklungen reagiert. So folgten mit der Verbreitung des Computers erst die E-Mail- und später die Chat-Seelsorge. In den letzten Jahren hat sich das Smartphone auf rasante Weise etabliert und deutschlandweit verbreitet.

Zugänglichkeit/Barrierefreiheit, Erreichbarkeit und Kompetenz. Zur Analyse wurden unter anderem die Statistiken und Jahresberichte der TelefonSeelsorge hinzugezogen. Diese ergaben, dass Jugendliche, trotz ihrer intensiven Nutzung von neuen Medien, neben Senioren zu den kleinsten Nutzergruppen von medialen Seelsorgeangeboten gehören. Aufgrund dieser Erkennt-

Auffällig ist allerdings die Tendenz, dass der Wert von Anonymität heutzutage Der nächste Schritt für die Tele- mehr und mehr fonSeelsorge wäre nun also, auch verloren zu gehen droht.

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darauf zu reagieren und eine Anwendung (App) für das Smartphone zu entwickeln. Inwiefern diese Möglichkeit als Chance für die mediale Seelsorge im Allgemeinen und die TelefonSeelsorge im Spezifischen gesehen werden kann, habe ich in meiner Masterarbeit mit dem Thema „Mobile Apps als Chance für die mediale Seelsorge – am Beispiel der TelefonSeelsorge“ bearbeitet.

nis wurde die Analyse um eine Befragung von siebenundachtzig Schülerinnen und Schülern im Alter von vierzehn bis siebzehn erweitert. Mit Hilfe der Ergebnisse sollte eine Antwort auf die Frage gefunden werden, welche Kriterien eine mögliche Seelsorge-App erfüllen sollte, um die potenzielle Nutzergruppe der Jugendlichen tatsächlich zu erreichen.

Im Zuge einer qualitativen Inhaltsanalyse wurden verschiedene Kriterien entwickelt, anhand derer die bereits existierenden medialen Seelsorge-Formen mit einer möglichen Seelsorge-App vergleichend analysiert wurden. Diese Kriterien waren Anonymität, Datenschutz, Schweigepflicht, Nutzbarkeit/

Da der Schwerpunkt der Darstellungen auf einer einzelnen Organisation lag, konnten bei einer möglichen App die mediumsunabhängigen Kriterien vorausgesetzt werden. So handelt es sich bei den Punkten Kompetenz und Schweigepflicht um Grundsätze der TelefonSeelsorge, die unabhängig von

Telefon, E-Mail, Chat oder eben App immer gleichermaßen gelten können. An diesen Prinzipien sollte die Organisation auch weiterhin festhalten, da die Umfrage bei Jugendlichen ergeben hat, dass schon in dieser frühen Lebensphase Kompetenz und Schweigepflicht gewünscht sind, wenn es um Seelsorge geht. Das Hauptargument, das für die Entwicklung einer Seelsorge-App sprechen würde, ist der Aspekt der Erreichbarkeit. Mithilfe des Smartphones kann eine orts- und zeitunabhängige Erreichbarkeit umgesetzt werden, die zuvor nicht denkbar war. Überraschend waren hier allerdings die Ergebnisse der Umfrage. Die Antworten auf die Frage nach der Erreichbarkeitsrelevanz bewegten sich zwischen mittelmäßig wichtig und sehr wichtig. Hier hätte eine extremere Ausprägung erwartet werden können. Auch wenn die Jugend mittlerweile an permanente Erreichbarkeit gewöhnt sein mag, so scheint es für sie im Zusammenhang mit seelsorgerlichen Gesprächen nicht unbedingt erforderlich zu sein. Allerdings bleibt die Frage, ob eine Umfrage zur Nutzung von Seelsorge-Angeboten bei akut Seelsorge-Bedürftigen andere Ergebnisse geliefert hätte. Die Kriterien Anonymität, Datenschutz und Nutzbarkeit/Zugäng-

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WISSEN

Typische Problemlagen in der Telefonseelsorge – eine mögliche Strukturierung Von Riccardo Bonfranchi Einmal in der Woche mache ich Dienst bei der Dargebotenen Hand (Telefonseelsorge in der Schweiz), am Telefon oder online. Ich habe öfters darüber nachgedacht, wie die Gespräche und Chats oder Mails zu gliedern, nach einem Schema auszurichten wären. Im Buch „Pflegekonzepte“ von Silvia Käppeli (1) bin ich fündig geworden. Hier werden die Problemlagen strukturiert: Leiden – Krise – Hilflosigkeit – Angst – Hoffnungslosigkeit – Verlust und Trauer – Einsamkeit. Ich möchte diese Problemkreise näher betrachten. Da in der Telefonseelsorge die Anrufenden ebenso wie die Ehrenamtlichen überwiegend weiblich sind, verwende ich immer die weibliche Schreibweise. Die männliche ist dabei mitgemeint. Leiden Viele Anrufende leiden, psychisch oder physisch. Leid wird individuell unterschiedlich empfunden und verarbeitet. Leid können wir intellektuell, aber kaum emotional nachempfinden. Man kann es ‚nur‘ zur Kenntnis nehmen. Man steht der Anrufenden in ihrem Leid bei. Wird es dadurch weniger? Für kurze Zeit wohl schon, dann wird es wohl wieder die Oberhand gewinnen. Krise Sie wird als persönliche Bedrohung erlebt und muss durchlitten werden. Die momentane Lebenslage

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erscheint unsicher, die Zukunft ist unklar und löst Angst aus. Man geht davon aus, dass Krise auch als positiv erlebt werden kann. Aber das ist wohl eher retrospektiv zu verstehen. In der Krise selbst sieht die Anrufende kein Licht. Alles erscheint dunkel und grau. Auf dem Höhepunkt dominieren Ausweglosigkeit und Panik. Die Telefonberaterin kann eine Krise nicht abnehmen. Sie kann aufmerksam sein, offen, Verständnis zeigen. Erst wenn die Anrufende erschöpft ist, kann ein Beratungsgespräch sinnvoll sein. Hilflosigkeit Sich hilflos fühlen bedeutet immer auch ein Sich-Aufgeben. Die Anrufende fühlt sich unterlegen, unzulänglich, als Versagerin. In der Psychologie kennt man den Ansatz von Seligman, der bereits vor Jahrzehnten den Zustand der erlernten Hilflosigkeit beschrieben hat. Hilflosigkeit bei Anrufenden ist eine erlernte Verhaltensweise, lähmt

die Motivation und ist emotionaler Stress. Oft geht sie auch mit zunehmendem Alter einher. Das Leben erscheint der Anrufenden als ein einziger Kampf, sie fühlt sich dem Schicksal ausgeliefert. Alles hat sich gegen sie verschworen. Die Folge ist der Rückzug aus dem Leben, aus der Gesellschaft. Hier geht es darum, Handlungsspielräume zu erweitern, denn Hilflosigkeit engt sie ein. Angst Angst ist ein existentielles Gefühl. Sie gehört zum Mensch-Sein, ist eine psychische Grundfunktion. Aber auch hier kommt es auf die Dosis an. Zu wenig Angst bedeutet das Nicht-Sehen von Risiken. Als Telefonberaterin hat man eher mit dem Zuviel an Angst zu tun. Anrufende können sich vor allem Möglichen fürchten. Wenn sich die Furcht festsetzt, sprechen wir von Angst oder gar Panik. Im Zustand der Panik ist ein rationales Denken kaum noch möglich. Es ist zweifelhaft, ob jemand in der Lage ist, den rationalen Gedanken zu fassen, während einer Panikattacke die Telefonseelsorge anzurufen. Ab und zu habe ich es erlebt, dass jemand sich vor einem Spitalaufenthalt ängstigt. Auch mangelnde Informationen können Angst-auslösend sein. Wenn es der Telefonberaterin gelingt, diese Situationen zu strukturieren, ist

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