Auf Draht - Ausgabe 93

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AUF DRAHT Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt:

Inszenierungen 2.0

ISSN 2364-9933

93 / Dezember 2016 Jahrgang 33


IN EIGENER SACHE

Liebe Leserinnen und Leser, nach vielen redaktionellen, inhaltlichen und optischen Veränderungen des AUF DRAHT steht nun eine nächste Veränderung an, die eine deutliche Zäsur bedeutet: Ab 2017 wird unsere Zeitschrift in Hagen produziert. Wir müssen die Arbeitsprozesse für die auf Bundesebene engagierten Kolleginnen und Kollegen möglichst einfach, kurz und effektiv halten und die Kommunikation bündeln. Wir hoffen, dass wir auch in Zukunft das erreichte gute Niveau unserer Zeitschrift halten können. Die Zusammenarbeit mit der Agentur Achminow in Leipzig geht damit zu Ende. Allen Beteiligten ist bewusst, dass damit eine Ära endet. Es war keine einfache Entscheidung. Herr Achminow war immer ein fachlich konstruktiver und finanziell fairer Partner. Von einem beliebten internen Forum ist der DRAHT mittlerweile zu einem auch nach außen attraktiven Blickfang unserer Telefonseelsorgearbeit geworden. Dies haben wir, neben dem engagierten Team um Birgit Knatz, auf die langen Jahre gesehen, besonders unserer ehemaligen Chefredakteurin Gisela Achminow und ihrem Sohn Alexander, der unsere Zeitschrift gedruckt und seit 2013 auch vertrieben hat, zu verdanken. Als Herausgeber bedanken wir uns angesichts dieser guten und langen Partnerschaft ganz herzlich bei allen, die den DRAHT in seiner 30-jährigen Geschichte begleitet und gestaltet haben. In einem gemeinsamen Gespräch mit Alexander Achminow haben wir (Ruth Belzner und Michael Hillenkamp) entschieden, mit dem Ende dieser „ewigen“ Kooperation auch den Namen AUF DRAHT zur Geschichte werden zu lassen und ihn nicht weiterzuführen. Bitte wenden Sie sich mit allen Fragen, die Sie ab 2017 zu Ihrem Abonnement haben, an die evangelische Geschäftsstelle in Berlin! Evangelische Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür e.V. Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin Telefon: 030/65211-1681 Fax: 030/65211-3-681 E-Mail: telefonseelsorge@diakonie.de

Ruth Belzner Vorsitzende der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür e.V., Berlin

Michael Hillenkamp Sprecher der Katholischen Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür, Bonn


BLICKPUNKT

„Hüte dich vor den Opfern!?“ Inszenierungen im Telefongespräch Von Ulrich Heinen Ein Gespräch in der TelefonSeelsorge ist vergleichbar mit der Aufführung eines Theaterstücks. Das Gespräch bildet die Bühne, auf der sich die Personen in verschiedenen Rollen präsentieren. Im Unterschied zum Theaterstück gibt es kein Drehbuch. Ein improvisiertes Zwei-Personen-Stück: Ein Anrufer meldet sich mit schleppender Stimme und klagt über seine Einsamkeit. Die Mitarbeiterin erkennt ihn an der Stimme als Vielfach-Anrufer. Sie erinnert sich an frühere Gesprächskontakte, spürt Widerwillen, hört aber zu. Der Anrufer benennt kein Anliegen, sondern spricht über einen „Freund“, der ihm öfter von perversen Sexualpraktiken berichte. Die Mitarbeiterin vermutet, dass er hier über seine eigenen Phantasien spricht. Sie fühlt sich angeekelt von den Schilderungen. Zurück auf die eigene Person gelenkt, erwähnt der Anrufer eine langjährige Suchterkrankung, die er trotz mehrfacher Entzüge nicht überwinden könne. Als er auch damit wenig „Einsatz“ bei der Mitarbeiterin wecken kann, fordert er laut und aggressiv ihre Foto: Helmut Gilbeau

Aufmerksamkeit ein, sie müsse ihm doch zuhören! Er habe schließlich Probleme! Auf ihre Ankündigung, das Gespräch abzubrechen, wenn er laut werde, wird er kleinlaut und weinerlich. Schließlich wirft er der Mitarbeiterin hin, dass er seine Körperhygiene vernachlässige. Mit dem Hinweis, dass er dann doch lieber duschen solle, als die TelefonSeelsorge anzurufen, bricht die Mitarbeiterin – gegen den heftigen Protest des Anrufers – das Gespräch ab. Was hat dieses Beispiel mit Inszenierung zu tun? Wir können zwei „Darsteller“ erkennen: das „Opfer“ und die „Klagemauer“. Das „Opfer“ verhält sich zunächst rollengerecht und präsentiert eine spektakuläre Geschichte, die aber nicht die gewünschte Aufmerksamkeit erregt. Es verstärkt den Aufmerksamkeitsappell mit der Darstellung seiner Bedürftigkeit (suchtkrank, einsam, abgelehnt). Schließlich fordert es vehement sein Recht auf Aufmerksamkeit ein, ohne jedoch die Rolle zu verlassen. Die zweite Person im Stück nimmt die ihr im heimlichen Drehbuch des „Opfers“ zugedachte Rolle der „fürsorglichen Mutter“ nicht an. Sie tröstet nicht. Sie fühlt sich selbst als Opfer des anderen und bleibt distanziert. Dadurch kommt

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die Inszenierung des Stückes „armes Opfer wird fürsorglich getröstet“ nicht voran, das Stück entwickelt sich in eine andere Richtung: Das „Opfer“ erscheint in der Betrachtung der anderen Person als „Täter“ (aggressiv, eklig, übergriffig), gegen den sie sich zur Wehr setzen „muss“. Das heimliche Drehbuch der zweiten Person sieht eine „Opfer“-Rolle nicht vor, die „Mutter“-Rolle wird bewusst nicht eingenommen. Was bleibt, ist, in eine „Täter“-Rolle zu schlüpfen und das in seiner „Opfer“-Rolle so mächtige Gegenüber in seine Schranken zu verweisen. Eigentlich ein spannendes Stück – mit unglücklichem Ausgang, denn beide „Darsteller“ werden in ihren Rollen nicht glücklich. Vielleicht, weil beide sich der Wirkung ihrer Rolle auf den anderen nicht bewusst werden. Und vielleicht auch, weil die gegenseitigen Rollenerwartungen weder geklärt noch erfüllt werden. Es soll hier keine Analyse der Beweggründe für das Verhalten der einen wie der anderen Person folgen. Dies wäre Inhalt einer supervisorischen Bearbeitung des Gesprächs. Es geht mir nur um die beispielhafte Beschreibung von Darstellung und Wirkung. Und um die Erkenntnis, dass wir uns der Inszenierung nirgends entziehen können.

Ulrich Heinen ist Mitglied der Redaktion von AUF DRAHT und Hauptamtlicher im Leitungsteam der TS Mittelrhein

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BLICKPUNKT

Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners Von Stefan Schumacher Ich möchte auf der Grundlage des kommunikationspsychologischen Ansatzes von Paul Watzlawick1 über die Konstruktion unserer subjektiven Erfahrung philosophieren, um eine weitere Perspektive zum Thema „Inszenierungen“ zu gewinnen, die weniger den Inszenierer (Anruferin oder Anrufer) im Blick hat als vielmehr den quasi „Inszenierten“ (TSler oder TSlerin). Die Überlegungen fußen auf den Gedanken des sogenannten „radikalen Konstruktivismus“. Der Konstruktivismus liefert ein Modell der Erkenntnis in kognitiven Lebewesen, die sich auf Grund ihres eigenen Erlebens eine mehr oder weniger verlässliche Welt bauen – eine von vielen möglichen: „Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, buchstäblich dadurch, dass wir sie leben“2. So ist Wahrnehmung nicht Abbildung einer ontologischen Wirklichkeit, sondern kognitive Konstruktion. Oder, wie Heinz von Foerster es provokant formuliert hatte: „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung“3. Das wichtigste Axiom, dem jene Kommunikationstheorie unterliegt,

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heißt: „Die Landkarte ist nicht die Landschaft“. Dieses Axiom fußt auf dem neurophysiologischen Mechanismus unserer Wahrnehmung4.

Konstruktion des subjektiven Erlebens der Anrufenden und die Dramaturgie ist geleitet von den Gefühlen, Motiven, Absichten, Perspektiven und Foto: Birgit Knatz Rollenstrukturen der Betroffenen.

Der Unterschied, der uns bisweilen zu schaffen macht, liegt in dem Maß der Dramatisierung. Im Gegensatz zu sogenannten „Testanrufen“ sind inszenierte Geschichten nicht bewusst für „unser Ohr“ gestaltet worden. Sie folgen Aus einer immensen Fülle verschie- vielmehr der unbewusst-intuitiven denster Wahrnehmungen werden Dynamik des psychischen Geim Gehirn möglichst stabile, schehens und den zugehörigen sinnstiftende „Wirklichkeiten“ sy- neurologischen Abläufen. In der stematisiert. Jene Konstruktion ist Fachsprache nennt man das „selbstvon unserer individuellen mentalen referenziell“. Die Inszenierung dient Struktur, unseren zuallererst sich Zielen, Wünschen Die Umwelt, so wie selbst, indem sie und Erwartungen wir sie wahrnehmen, immer wieder eine bestimmt. Watzla- ist unsere Erfindung auf sich selbst bezowick unterscheidet gene Sinnhaftigkeit daher die Wirklichkeit erster Ord- sucht oder erzeugt. Erzählungen nung (die direkte Wahrnehmung) am Telefon, im Chat oder in der und die Wirklichkeit zweiter Mailberatung entsprechen also Ordnung (die Zuschreibung von nie der Realität, jedoch immer der Bedeutung, Sinn und Wert). Wirklichkeit, denn sie sind wahr im Auge des Betrachters und hinEine erste, vielleicht provokative, terlassen ihre Wirkung – auch bei Schlussfolgerung lautet: Alle An- uns Zuhörerinnen und Zuhörern. rufe, die wir entgegennehmen, sind inszenierte Geschichten, denn Und damit sind wir bei der alle Geschichten basieren auf der Wirklichkeitskonstruktion von

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BLICKPUNKT

Mit Dissoziationen leben; ein Gespräch mit Sabine Von Gunhild Vestner Jeder Mensch kann dissoziieren. Dissoziationen sind das Notfallprogramm in extremen Gefahrensituationen, in denen wir mit unseren normalen Stressbewältigungsmöglichkeiten psychisch nicht überleben würden. Im Gehirn werden die normalen Verarbeitungsabläufe entkoppelt. Diese Abkopplungen führen zu sehr unterschiedlichen Symptomen: Körper und Seele können als getrennt voneinander erlebt werden, wir treten aus unserem Körper heraus und beobachten uns selbst von außen. Häufig kommt es zu „Filmrissen“, es gibt dann keinerlei Erinnerung an das, was passiert ist. Abkopplungen können so weit gehen, dass die Persönlichkeit in Teilidentitäten zerfällt. Je nach Situation tritt dann die „Alltagsperson“ oder eine ganz andere Persönlichkeit nach vorne; von einer Sekunde in die andere „verwandelt“ sich die kompetente, fleißige Studentin in das kleine hilflose fünfjährige Mädchen, das jetzt gequält wird. Meistens wissen die Personen, die in dem gleichen Körper wohnen, nichts voneinander. Erst in der Therapie kommen sie miteinander in Kontakt. Sabine und ich kennen uns seit 20 Jahren. Wir haben uns im Offenen Treff der TelefonSeelsorge Recklinghausen kennengelernt. Den Offenen Treff gibt es nicht mehr, aber die Beziehung zwischen Sabine und mir gibt es nach wie vor. Seit vielen Jahren gehöre ich zu ihrem Hilfenetz und ich habe von ihr sehr viel gelernt. Durch sie habe ich eine Vorstellung davon bekommen, was ein Leben mit Traumafolgestörungen bedeutet, wie ein Alltag mit Dissoziationen zu meistern ist. Als ich Sabine fragte, ob sie mit mir für AUF DRAHT ein Gespräch über ihre Erfahrungen mit Dissoziationen führen möchte, sagte sie spontan zu. Kurz darauf trafen wir uns in „unserem“ Café. Sabine begann zu erzählen und es war für mich so spannend, dass ich direkt mitschrieb.

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Sabine: Eins ist mir ganz wichtig: Bei jedem sind Dissoziationen anders! Auch bei mir gibt es verschiedene Arten von Dissoziationen. Manchmal bin ich ganz weg, dann ist es wie ein Filmriss. Ich weiß dann überhaupt nicht mehr, was los war, was passiert ist oder was ich selbst gemacht habe. Bei den anderen Dissoziationen merke ich, dass ich in einer Anderswelt bin. Es bleibt aber noch ein Kontakt, ein Kanal zu dieser Welt. Ich bin dann noch ein ganz kleines bisschen ansprechbar. Was mir hilft, um nicht total abzudriften, ist eine Stimme, die ich kenne. Ich mache viel über das Hören. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass ich über lange Zeit die TelefonSeelsorge angerufen habe. Ich kannte dann die Stimmen der Mitarbeiterinnen und hatte zu ihren Stimmen Gefühle. Bei

Foto: Rosa Hannreich / pixelio.de

Frauen hatte ich meistens ein warmes Gefühl. Ich wusste sofort, ob die Mitarbeiterin mir schon einmal aus einer Diss heraushelfen konnte oder ob es nicht geklappt hatte. Wenn so eine vertraute Stimme sich meldete, war ich total erleichtert. Aber das war natürlich nicht immer so, manchmal war da dieser Draht nicht da.

Aber in der Not nimmt man, was man bekommt – alles ist besser, als allein zu bleiben Beziehung ist einfach das Wichtigste. Nur nicht allein bleiben. Hauptsache, da ist jemand, der mich kennt; oder besser: der einen Teil von mir kennt. Psychisch kranke Menschen leben in zwei Welten. Da ist diese Teilanonymität total wichtig. Ich will in meinem Alltag nicht wiedererkannt werden. Die

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BLICKPUNKT

klappt. Pfarrfeste sind für mich gefährlich. Ich kenne da ganz viele. Aber Smalltalk ist nichts für mich. Kommunikation ist für mich Gespräch mit Inhalt. Und dann stehe ich da – allein. In der Gruppe allein sein, das ist das Schlimmste. Dissoziationen habe ich schon immer gehabt. Wenn ich mit meinen Eltern zu den Großeltern gefahren bin, hatte ich regelmäßig einen Filmriss. Auf der Rückfahrt konnte ich mich an nichts mehr erinnern; der Besuch war wie gelöscht. Der Großvater war abgeschaltet. Es hat aber keiner gemerkt, weil ich dort trotzdem funktioniert habe. Diese Zeitlücken habe ich von klein auf. Ich bin innerlich weggegangen, weil ich physisch nicht weggehen konnte. Das war damals auch ein Schutz.

sollen mich auf der Straße nicht erkennen und ansprechen. Gleichzeitig will ich an etwas Vertrautes anknüpfen und im Telefongespräch wieder erkennbar sein.

gegeben: „Ziehen Sie erstmal Ihr Rollo hoch!“ oder „Machen Sie sich jetzt erstmal einen Tee und wenn Sie das geschafft haben, dann können Sie wieder anrufen.“ Ohne diese Unterstützung hätte ich meinen Haushalt nicht geschafft!

Wenn ich in der Diss bin, kann ich leichter rauskommen, wenn mir jemand eine ganz sachliche Wenn es mir schlecht geht, stresst Frage mit einer sachlichen Stimme mich jeder Lärm. Ich kann dann stellt. In der Dissoziation kann die Waschmaschine oder die Straße nicht ertragen. In ich automatisierte Sätze sagen. Die helfen mir, Zeit Ziehen Sie der Dissoziation ist es in zu gewinnen, um noch erstmal Ihr meinem Kopf total laut; etwas klarer zu werden. Rollo hoch ein richtiger Krach. (Das kann bei anderen MenBei der TelefonSeelsorge habe ich in den Gesprächen immer schen, die unter Dissoziationen „Ich weiß nicht …“ gesagt. Das leiden, aber ganz anders sein!) Der war auch so ein automatisierter Gesprächspartner muss mich laut Satz. Irgendwann haben die mir ansprechen, wenn er mich dann noch erreichen will. verboten, das zu sagen. Die Telefonseelsorgerinnen haben mir stattdessen die Anweisung

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Gruppen sind für mich schwierig, wenn es mit der Beziehung nicht

In der Dissoziation kippe ich in die Kindheit zurück. Manchmal geht das blitzschnell; manchmal geht es mir schleichend immer schlechter, bis ich „einfriere“. Ich kann dann den Raum nicht mehr verlassen, obwohl ich es will. Meine Beine sind dann wie gelähmt. Ich kann an der Situation nichts mehr ändern. Ich würde gerne rausgehen; früh genug rausgehen. Feuerwehrleute sind manchmal richtig bescheuert. (Weil Sabine in einer Dissoziation sich häufig selbst verletzt, wird der Rettungsdienst alarmiert). Wenn die mich abholen, lästern und schimpfen diese Männer: „Immer diese Verrückten, Durchgeknallten, die uns unnütze Arbeit machen …“ Solche Sachen höre ich dann, weil die denken, dass ich nichts mitbekomme. Ich höre das aber. Ich kann nur nicht reagieren, weil ich wie eingefroren bin. Ich kann das nicht steuern; es ist wie eine Ohnmacht, bei der ich aber wach bin. Einmal hat die Psychiatrie mir bewusst Polizisten geschickt, weil die freundlicher

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INTERNET

Sterben in der digitalen Welt Von Birgit Aurelia Janetzky Was passiert mit dem Profil auf Facebook, wenn ein Mensch stirbt? Wer hat Zugang zum E-Mail-Postfach, wer kümmert sich um die letzte Auktion bei Ebay, wer kennt das Passwort für die digitale Fotosammlung in der Cloud? Um diese Fragen geht es, wenn vom digitalen Nachlass gesprochen wird. Mit dem Abschied ist neben der Trauer auch die Aufgabe verbunden, alles zu regeln, was der oder die Verstorbene hinterlassen hat. Je intensiver ein Mensch das Internet genutzt hat, desto häufiger können Profile, Nutzerkonten und Daten zum Problem werden. Rechtlich gesehen gelten für den digitalen Nachlass die gleichen Regeln wie für den materiellen Nachlass. In der Praxis ist das digitale Erbe allerdings komplizierter zu handhaben. Zunächst müssen sich die Erben einen Überblick

zu löschen. Zu sehr ist das digitale Ich mit den sozialen Kontakten im Internet verbunden. Das FacebookProfil kann für eine Schulklasse ein wichtiger Ort der Trauer um ihren Klassenkameraden sein, auch wenn die Eltern Facebook gegenüber eher skeptisch sind. In Zukunft wird es darum gehen, sich über diese Themen auszutauschen. Wer setzt sich durch, wenn der Sohn aus erster Ehe eine Gedenkseite anlegt, Neben diesen praktischen Fragen die Witwe aber kein öffentliches zur Regelung des Nachlasses sind Gedenken im Internet will? Wenn für viele die emotionalen Aspekte jemand auf seinem Blog für seine Community wichwichtig. Wer aus der tige Inhalte veröfFamilie nähert sich Die Pinnwand wird fentlicht hat, liegt den privaten Details zum Kondolenzbuch es im Interesse der des Verstorbenen? Wer geht den Spuren nach, die in Community, vom Tod des Bloggers Myriaden belangloser Posts, aber zu erfahren und weiter Zugang zu auch in ungeahnte seelische Tiefen diesen Inhalten zu haben. Als ein bekannter Blogger nicht auffindbar führen können? war, verbreitete sich der Suchaufruf Es wird in den meisten Fällen rasend schnell, wenig später dann nicht darum gehen, Tabula rasa die Nachricht von seinem Tod. Er zu machen, also alles rücksichtslos hatte sich das Leben genommen. Tagelang hallte ein Echo durch alle Foto: Birgit Knatz sozialen Kanäle. verschaffen, was bei passwortgeschützten Computern und unbekannten Nutzerkonten im Internet nicht ganz einfach ist. Die Angehörigen haben es in der Hand, das Andenken im Internet zu bewahren. Bei Facebook kann über ein Formular beantragt werden, das Profil in einen Gedenkzustand zu versetzen. Die Pinnwand wird zum Kondolenzbuch.

Wer seinen Angehörigen im Todesfall die Arbeit erleichtern möchte, sollte eine Aufstellung machen, welche Nutzerkonten er besitzt, wo die Zugangsdaten zu finden sind und wer mit der Regelung des digitalen Nachlasses betraut werden soll.

Birgit Aurelia Janetzky ist Diplomtheologin. Sie berät zu allen Themen an der Schnittstelle von #Mensch #Tod #Internet (Digitaler Nachlass; Trauern im Internet).

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IFOTES KONGRESS

Weltkongress der TelefonSeelsorge:

„Damit das Leben weitergeht“ 1.600 Ehrenamtliche aus 33 Ländern von fünf Kontinenten beschäftigten sich vom 19. bis 22. Juli im Aachener Eurogress in Vorträgen und Workshops mit den Möglichkeiten zur Hilfe und Unterstützung von Menschen in suizidalen Krisen. Warum hilft Zuhören? Was kann meine Stimme oder mein Wort

bewirken? Wie kommt es zu den Erfahrungen von Entlastung, Erleichterung, Orientierung, Vergebung, Loslassen, Versöhnen? Was ist das, was in all dem Reden, Schweigen, Erzählen, Begrenzen und Hinterfragen tatsächlich hilft? Das waren Fragen, auf die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Antworten bekommen haben.

Eröffnungsabend mit Diana Rucli, Direktorin IFOTES, Michael Hillenkamp, katholischer Sprecher der TelefonSeelsorge, Ruth Belzner, evangelische Vorsitzende der TelefonSeelsorge, Frank Ertel, Kongressmanager, und der Moderatorin Gisela Steinhauer


IFOTES KONGRESS

Westfälische Kiepenkerle

Brian Mishara (Montreal, Canada) ist Vorsitzender der Internationalen Vereinigung für Suizidprävention

Der Weltkongress in Aachen war das größte internationale Treffen der Telefonseelsorgerinnen und -seelsorger, das es jemals gab. Ausgerichtet wurde er von der International Federation of Telephone Emergency Services (IFOTES), dem Dachverband der Telefonseelsorge. Gastgeberin waren die TelefonSeelsorge Aachen und der Zusammenschluss der katholischen und evangelischen Kirche. Die Schirmherrschaft

Niina Junttila, Assistenzprofessorin der Universität Turku

Kevin Briggs war Guardian of the Golden Gate Bridge (Hüter der Golden Gate Bridge). Nach 23 Berufsjahren bei der California Highway Patrol ging er in Rente, um sein Leben weltweit der Aufklärung über psychische Erkrankungen zu widmen

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IFOTES KONGRESS

Foto: Jan Grüger, GRÜGERMEDIEN

Einsamkeit tötet – zwei Menschen, die nicht mehr leben wollten Von Inge Pape Jahr für Jahr nehmen sich in Deutschland über 10.000 Menschen das Leben und lassen Angehörige und Freunde zurück, die sich verzweifelt fragen, was sie dagegen hätten tun können. Am letzten Kongresstag ging das Thema Suizid den versammelten Teilnehmenden noch einmal besonders unter die Haut. Auf dem Podium einer, der seinen Tod überlebte, Viktor Staudt, und eine Frau, deren Mann den Tod gesucht und gefunden hatte: Theresa Enke, die Witwe des Nationaltorwarts Robert Enke. Als Viktor Staudt auf die Bühne rollte, wurde es still im Saal. Kraftvoll, durchtrainiert, lenkte er den Rollstuhl in die Mitte des Raums. Ein offenes, sympathisches Gesicht, eine feste Stimme, ein sportlicher Mann, der viel an der frischen Luft zu sein schien. Die Verstörung, die bei den Zuhörenden einen kurzen Augenblick aufblitzte, kam durch die Gewalt, mit welcher die Blicke auf die Leere gezogen wurden. Dort

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wo seine Beine hätten sein sollen, war seine Hose umgeschlagen und hochgesteckt, genau an der Stelle, wo ein ICE sie vor 17 Jahren abgetrennt hatte.

erfolgreich in der Schule. Er liebte Sport, fuhr Rad wie der Teufel und Schwimmen war Bewegung für seine Seele. Heute ist ihm deutlich, dass er seine Schulzeit immer nur schwarz und weiß wahrgenommen hat. Die Farben waren draußen, im Freien, dort wo Bewegung war und Licht. Es kam ihm nie in den Sinn, dass andere die Welt vielleicht anders wahrnehmen könnten.

Das Kind Viktor war ein ernstes Kind, gleichzeitig wie unter Zwang extrovertiert. Der JunBorderline. ge setzte sich hohe Der Mann, der sei- Die Qual hat jetzt Anforderungen. In nen Tod überlebte, ist einen Namen der Schule, im Sport, Sohn eines Deutschen strebte er danach, und einer Niederländerin. Seine perfekt zu sein. Mit der Pubertät Kindheit schien sorglos, ein un- verblassten die Farben in seinem auffälliger Junge, sensibel, aber Leben gänzlich. Er schien in der

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JUBILÄUM

60 Jahre TelefonSeelsorge In einem Ökumenischen Festgottesdienst im Hohen Dom zu Aachen feierten die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden der TelefonSeelsorge mit Bischof Dr. Franz-Josef Bode (Osnabrück), dem Vorsitzenden der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, und Pfarrer Ulrich Lilie (Berlin), dem Präsidenten der Diakonie Deutschland, am 23. Juli ihr 60-jähriges Bestehen. Niek Jan van Damme, Bischof Dr. Franz-Josef Bode, Irene Böttcher, Ruth Belzner und Pfarrer Ulrich Lilie

Diana Ruccli, Direktorin von IFOTES, und Gabriele Wennemer, Interprète de Conférence-Conseil (AIIC)

Frank Ertel, Kongressmanager, und Hermann-Josef Johanns, Fundraiser des IFOTES-Kongresses

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Bischof Dr. Franz-Josef Bode führte in den Festakt ein. In seinen wertschätzenden Worten erinnerte er sich: „Jeder Mensch braucht ein Ohr, in das er jammern kann“ – so ein portugiesisches Sprichwort, das während seiner Schulzeit auch ein Slogan der TelefonSeelsorge war. Ulrich Lilie, der Präsident der Diakonie Deutschland, riet in seiner Predigt zu Philipper 4, 4-7, zu trotziger Freude. Im Anschluss an den Ökumenischen Festgottesdienst hatte die TelefonSeelsorge zu einem Festakt im Krönungssaal des Aachener Rathauses eingeladen. Der Oberbürgermeister der Stadt, Marcel Philipp, begrüßte die Gäste.

den 60 Jahren ihres Daseins wohl eine Bedeutung gewonnen? • Für die Ratsuchenden sind Gespräche, Chats oder Mailwechsel mit den TelefonSeelsorgerinnen und TelefonSeelsorgern eine wertvolle, manchmal lebensrettende Hilfe bei der Bewältigung von Krisen oder beim Weiterleben in dauerhaft schwierigen Lebenssituationen. • Für manche Menschen, die die TelefonSeelsorge nicht anrufen,

Ruth Belzner, Vorsitzende der Ev. Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür e.V., und Michael Hillenkamp, Sprecher der Kath. Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür, fanden Antworten auf die Frage: In wie vieler Menschen Leben hat die TelefonSeelsorge in

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JUBILÄUM

Bischof Dr. Franz-Josef Bode

Gäste von links nach rechts: Niek Jan van Damme, Vorstandsmitglied Deutsche Telekom AG und Sprecher der Geschäftsführung Telekom Deutschland GmbH, Bischof Dr. FranzJosef Bode, Vorsitzender der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, Pfarrer Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, Irene Böttcher, Sprecherin der Ehrenamtlichenvertretung der TelefonSeelsorge Deutschland, Ruth Belzner, Vorsitzende der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge, Gisela Steinauer, Moderatorin

keine Mails schreiben und nicht chatten, ist die Gewissheit, sie könnten es jederzeit tun, eine Stärkung und Beruhigung. • Seelsorgerinnen und Therapeuten erleben es als entlastend, Menschen, die sie begleiten, für die Zeiten ihrer eigenen Nichterreichbarkeit an die Te-

lefonSeelsorge verweisen zu können. • Kirchenleitungen schätzen es sehr, auch eine TelefonSeelsorge in ihrem Verantwortungsbereich zu haben. Mit dieser Seelsorge erreicht die Kirche viele Menschen, die in keinem anderen kirchlichen Raum zu

Ruth Belzner

Feierlicher Gottesdienst im Hohen Dom Aachen

Michael Hillenkamp Pfarrer Ulrich Lilie

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