AUF Draht - Ausgabe 86

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AUF DRAHT Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt:

Vergessen

86 / August 2014


Was man nicht im KOPF hat, muss man in den BEINEN haben Den Spruch kenne ich seit Kindertagen, und je älter ich werde, desto „stärker“ müssen meine Beine sein. Vergessen, so besagt eine Definition, ist der Verlust von Erinnerung. Wir vergessen kontinuierlich. Wie schnell, wie viel und was, ist abhängig vom Interesse, vom Gefühlsgehalt der Erinnerung und vom Gewicht der Information. Aber was ist Vergessen? Wovon müssen wir uns verabschieden, und worin besteht der Unterschied zwischen vergessen, loslassen und abschließen? Bei der Vorbereitung auf den Blickpunkt von AUF DRAHT 86 habe ich gelernt, dass das Vergessen besser als sein Ruf ist, denn mit jeder Mail, die als Betreff „Vergessen“ hatte, wurde der „Blickpunkt“ reicher. Volker Bier zeigt auf, dass „Vergessen und Erinnern zwei Wege, die in ein erfülltes Leben führen“ sind (S. 16). Gisela Achminow, selbst Kriegskind, fasst für Sie ein Interview mit Prof. Radebold über Kriegskinder, ihre Kinder und Enkel zusammen (S. 18). Inge Pape lässt Sie teilhaben an dem Gespräch mit einer Anruferin, die enttäuscht ist von ihrem demenzkranken Mann, von dem sie sich ein anderes Leben versprochen hatte (S. 24). In den letzten Wochen ist, im Zusammenhang mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, dass Google dazu verpflichtet werden kann, Verweise auf Webseiten mit sensiblen persönlichen Daten aus seiner Ergebnisliste zu streichen, viel über das Recht auf Vergessenwerden berichtet worden. Ich fasse den aktuellen Stand zusammen (S. 32). Gabriela Piber erzählt aus dem Auszeithaus Oberschwaben (S. 10) und Friedrich Dechant denkt darüber nach, ob Sexanrufer gestört, einsam oder einfach geil sind (S. 14). In jedem Suizid liegt ein Geheimnis. Mit dieser Erkenntnis heißt es zu leben, eine Erkenntnis, die sich Hinterbliebene in der Trauerarbeit schwer erarbeiten, wie Sigrid Dziurzik weiß (S. 34). Zwei bis drei Mal pro Tag wirft sich jemand vor einen fahrenden Zug; Christian Gravert stellt das Betreuungsprogramm für Lokführer vor (S. 38). Verabschieden möchte ich mich mit einem Aphorismus des libanesisch-amerikanischen Malers, Dichters und Philosophen Khalil Gibran: „Erinnerung ist eine Form der Begegnung, Vergesslichkeit eine Form der Freiheit.“ Ihre

PS: Apropos Vergessen: Im April 2014 ist AUF DRAHT dreißig Jahre alt geworden.

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SCHREIBEN SIE UNS!

… Ich genieße es, dass AUF DRAHT seine Winterkleidung abgelegt hat, und lese das Heft mit großem Interesse. Kompliment! Petra Pohl, TS Halle * … habe mir gerade eure AUFDRAHT-Website angesehen, die mir gut gefällt! Schön, wie ihr das gemacht habt! Eure Ausgaben sind sehr schön! Liebe Grüße! Sybille Loew, Münchener Insel *

Liebe Frau Knatz, … ich habe das letzte AUF DRAHT gelesen und war wieder fasziniert von der bunten Vielfalt der Sichtweisen auf ein Thema, das sicher viele bewegt. Ich habe eine Ahnung davon, was es bedeutet, ein solches Heft regelmäßig zusammenzustellen, und bin jedes Mal stark beeindruckt … Johannes Debray, TS Köln ev. * … mit Freude lese ich jedes Mal Ihre Zeitschrift … Irmgard Dorner, TS Nordschwarzwald * … Ich finde AUF DRAHT sehr gut und freue mich immer, wenn ich bei meinen Diensten auch einmal Zeit finde, darin zu schmökern. Gisela Faber, TS Düsseldorf (Anmerkung der Redaktion: AUF DRAHT kann man auch abonnieren, siehe letzte Seite)

… Ein Anrufer beschrieb die Gespräche mit der TS so: „Es ist für mich, als würde ich in den offenen Himmel sprechen“. Dorotheé Vilmin, TS Fulda * … Ich lese mit großer Freude AUF DRAHT. Danke für die interessanten und schönen Hefte und weiterhin gute Ideen! Ursula Sistenich, TS Aachen * Liebe Birgit, es ist einfach ein gutes Journal geworden. Ganz herzlich aus Saarbrücken mit einem Gruß an die Redaktion und der Rückmeldung, wie gut AUF DRAHT ist! Volker Bier, TS Saarbrücken * Zu AUF DRAHT 83, August 2013: … Mit Verspätung, aber mit großem Interesse habe ich in AUF DRAHT 83 den Artikel über Pädophilie gelesen. Ja, genau so war es in einer meiner letzten Nachtschichten, so gegen halb drei. Ein Mann, Anfang der Dreißig, druckst lange

herum, offenbart sich dann doch – wie er sagt, zum ersten Mal – „Bitte, verurteilen Sie mich nicht!“ Seit die Sexualität in ihm erwacht sei, gäbe es eine eindeutige Neigung zu Kindern. Er lebt sie über entsprechende Kanäle im Internet aus. Dort könne er sogar per livestream in das Geschehen eingreifen, Wünsche äußern. Ich bin entsetzt und sage es deutlich. Wir bleiben im Gespräch, etwa dreißig Minuten lang, und ich bewege mich dabei ständig auf dem Grat zwischen tiefer Verurteilung dessen, was er tut, und Empathie für den Menschen. Ob meine Hinweise auf Hilfe und Anlaufstellen zu ihm durchgedrungen sind, weiß ich nicht – er schien mir noch nicht wirklich bereit dazu. Aber dass er angerufen hat, ist vielleicht ein erster Schritt. Und ich bin dankbar, dass ich ihn als Menschen annehmen konnte. PS: Inzwischen sind dem Berliner Projekt „Kein Täter werden“ weitere sieben Standorte angegliedert: Gießen, Hamburg, Hannover, Kiel, Leipzig, Regensburg, Stralsund. Rosemarie Gajda, TS Göttingen

WISSEN

Wie kann man(n) nur?!?

– Über den Umgang mit pädophilen Anrufern – Verfasst von zwei Ehrenamtlichen der TelefonSeelsorge Neuss

Oft beginnt das Gespräch mit Schweigen. Da tastet sich jemand vorsichtig an eine schwierige Begegnung heran. Hilflosigkeit wird spürbar, ein Ringen um Worte für etwas, für das es eigentlich keine Worte gibt. Und Misstrauen. Auch für die Anrufenden ist es nicht einfach, über den Drang zu sprechen, sich Kindern sexuell zu nähern. Kaum jemand ist gesellschaftlich so geächtet wie Menschen mit pädophilen Neigungen. Nicht selten fällt schon am Beginn des Gesprächs ein Satz wie: „Ich verstehe, wenn Sie nicht mit mir sprechen wollen … “

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uch bei den Telefonseelsorgerinnen und Telefonseelsorgern ist die Unsicherheit groß. Darf man, wie sonst, „beim Anrufer bleiben“? Muss man nicht vielmehr zum Anwalt der hilflosen Opfer werden? Hinzu kommen Gefühle wie Ärger, Abscheu und blankes Unverständnis: ,Wie kann man(n) nur?‘ Vor diesem Hintergrund und angesichts der zunehmenden Häufigkeit solcher Anrufe hat die TS Neuss im vergangenen Jahr eine Fortbildung zum Thema „Pädophilie/ Hebephilie“ veranstaltet. Leiter des Wochenend-Seminars waren zwei Referenten der Berliner Charité. Beide haben 2005 mit „Dunkelfeld – Kein Täter werden“ das erste bundesdeutsche Therapie-Projekt für Männer mit pädophilen Neigungen ins Leben gerufen. Was ist Pädophilie, was ist Hebephilie?

Foto: Rainer Neumann

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Unter Pädophilie versteht man das Vornehmen sexueller Handlungen an Kindern, die noch nicht die Pubertät erreicht haben, unter Hebephilie die erotische und sexuelle Präferenz für vor- und nachpubertäre Jungendliche sowie nicht einverständlichen Körperkontakt.

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INTERNES

AUF DRAHT kann … … auch als Hörausgabe für Blinde und Sehbehinderte bestellt werden. Die Lieferung erfolgt auf CD im Daisy-Format. Die Beiträge sind automatisch mittels einer künstlichen Stimme umgesetzt. Bestellungen richten Sie bitte an: Alexander Achminow Werbung & PR GmbH, Merseburger Str. 81, 04177 Leipzig, E-Mail: aufdraht@achminow.de

Neuer Höchstwert im Mobilfunk Die Teilnehmerzahl im Mobilfunk ist im Jahr 2013 auf ca. 115 Mio. gestiegen. Dies ergibt sich aus den aktuellen Daten der Mobilfunknetzbetreiber. Im Vergleich zum Vorjahr (2012: ca. 113 Mio.) hat sich die Zahl um knapp zwei Mio. erhöht. Damit wird ein neuer Höchstwert erreicht. „Der starke Zuwachs ist u. a. auf die mobile Nutzung des Internets zurückzuführen. Der Gebrauch von sogenannten Smartphones und Tablets führt im Ergebnis zu einer steigenden Teilnehmerzahl. Im Durchschnitt besitzt jeder Einwohner nun rund 1,4 SIM-Karten“, sagte Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur.

Alltagsnischen Klein und verborgen am Alltagsrand Bringen Wärme in den Tag Licht in das Grau Kraft für das Heute Mut für das Morgen Zeigen den Weg zu mir zu dir Ursula Sistemich, TS Aachen

Quelle: http://www.bundesnetzagentur.de/cln_1931/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/ 2014/140318HoechstwertMobilfunkTeiln.html

Bruno Bruyers ist tot

Am 3. Mai ist Bruno Bruyers gestorben. Bruno, genannt Fichte, war ein Mitarbeiter der zweiten Stunde in der TelefonSeelsorge Hagen-Mark, er begann im Herbst 1974 und beendete seine Tätigkeit 2003. Bruno Bruyers war jedoch der Mann der ersten Stunde im Hinblick auf die TelefonSeelsorge im Internet. Schon 1995 hat er die TS ins lokale Netz (http://mk2.maus.sauerland.de) gebracht. Im MitarbeiterInnenHinweis (März 1996) stand: Bruno Bruyers hat seinen Computer nunmehr auch „ans Netz“ gebracht und für die TS Hagen ein Postfach für elektronische Post (email) in einem privaten Computernetz eingerichtet. Er wird versuchen, auch auf diesem neuen Weg TS in ihrer ursprünglichen Form als Anlaufstelle unter Computerfreaks bekannt zu machen und um Zutrauen zu werben. Darüber hinaus aber will er Skeptiker für eine „noch distanzierte“ Kontaktaufnahme über elektronische Post gewinnen. Das ist ein Versuch auf Neuland. Da es nicht auszuschließen ist, dass tatsächlich so neue Kontakte zustande kommen, die auch in telefonische Fortsetzungen einmünden können, seid bitte hiermit auf solche Gesprächseinleitungen vorbereitet. Dabei kann es auch vorkommen, dass der Anrufer (sicher selten die Anruferin), sich nach der nächsten Dienstzeit von „Benno Fichte“ oder auch nur „Benno“ erkundigt. Damit ist unser FICHTE gemeint und ihr solltet die entsprechende Auskunft im Dienstplan geben. Nach seinem Ausscheiden aus der TS Hagen hat er bis 2007 die Mailverteilung für die Bundesebene übernommen. Mit seiner zuverlässigen Betreuung der Mailarbeit – egal ob Urlaub (er hatte in seinem Wohnwagen immer ein Laptop dabei), Feiertag oder Sonntag – hat er sich große Verdienste erworben. Bruno Bruyers hinterlässt eine Frau, vier Kinder, vier Schwieger- und zehn Enkelkinder. Wir sind froh, ihn gekannt zu haben. Birgit Knatz & Stefan Schumacher, TS Hagen-Mark

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INTERNES

Damit die Seele wieder Atem holen kann Erfahrungen aus dem Auszeithaus Oberschwaben Von Gabriela Piber

Voller Terminkalender, Druck vom Chef, Ärger zu Hause, das Telefon klingelt, ein Elternteil ist pflegebedürftig geworden, der Partner ist unzufrieden, ein Kind ist erkrankt – Menschen werden getrieben. Unentwegt. Es bleibt keine Zeit mehr, innezuhalten, zur Besinnung zu kommen. Wenn die Spieler auf dem Handballfeld erschöpft sind, dann verlangt ein kluger Trainer beim Schiedsrichter Timeout – Auszeit.

Foto: Gabriela Piber

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INTERNES

Kunstausstellung „Worte können Wege werden“ Anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der TelefonSeelsorge Mainz-Wiesbaden haben wir Künstlerinnen und Künstler aus unserer Region gebeten, das Motto „Worte können Wege werden“ aufzugreifen und nach ihren Ideen umzusetzen. Wir waren überwältigt von der Resonanz: Mehr als sechzig Arbeiten wurden eingereicht – Malerei, Collagen, Skulpturen aus Holz, Metall und Kunststoffen, Fotoarbeiten und eine Videoinstallation. Sechsundzwanzig davon wurden ausgewählt und in einer Ausstellung im Rathaus Wiesbaden im Advent 2013 gezeigt. Eine Jury aus Fachleuten

und Verantwortlichen bestimmte am Ende der Ausstellung den mit 2000 Euro ausgelobten Kunstpreis. Weil zwei ganz unterschiedliche Werke das Motto so überzeugend umsetzten, wurde der Preis geteilt. Markus Spirohn mit dem Bild „Telefonzelle“ ist der eine Preisträger, Achim Ripperger mit der hier gezeigten „Wortbrücke“ der andere. Diese und die übrigen ausgestellten Werke finden Sie in der Nachlese zum Jubiläum auf unserer Homepage: http://telefonseelsorgemz-wi.de/jubilwerke.html.

In Japan ist es verpönt, in öffentlichen Verkehrsmitteln zu telefonieren, SMS versenden ist hingegen verbreitet und akzeptiert! Wie toll ich das hier fände!

Dr. Christopher Linden, TS MainzWiesbaden

Foto: Achim Ripperger

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BLICKPUNKT

Oh ja, ich bin vergesslich geworden! Die Mitarbeiterin, die verwaltet, organisiert und ordnet und so vieles im Blick haben muss, kann ein Lied davon singen. Bei Freunden und Familie geht es mir ebenso: Ich vergesse!

Foto: Regina Basaran

Vergessen und Erinnern, zwei Wege, die in ein erfülltes Leben führen Von Volker Bier Vergessen wird in unserer mobilen Gesellschaft zum Schatten – vor allem, wenn wir älter werden. Irgendwo lauert das Gespenst Demenz und raunt: „Irgendwann wirst du nicht mehr selbst über dein Leben bestimmen können. Irgendwann weißt du nicht mehr, wer du bist, mit wem du zusammenlebst …“ Aber damit gerät die selbstregulierende, selbsterhaltende und damit unterstützende Kraft des Vergessens aus dem Blick. Vergesslichkeit schafft ja auch Räume für Wesentliches und kann uns in eine Auseinandersetzung mit einer unbewussten Prioritätenliste zwingen. Ich möchte Sie einladen, über ein Vergessen nachzudenken, das in

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einer alten Tradition steht und zu dem über die Jahrhunderte quer durch alle Kulturen und Religionen eingeladen wird. Es geht um das „sich selbst vergessen“. Es geht nicht um das passive Verlieren von Erinnerung, das an uns geschieht, sondern es geht, wenn wir uns

… ein Leben ohne Metaebene im Vordergrund. Sich als Teil des Geschehens erleben. Aufhören, darüber nachzudenken.

Einfach da sein und dem folgen, was ist, fällt alten Menschen oft leichter. Ich erinnere mich an meine Großmutter, die Irgendwann weißt du nicht mehr, stundenlang wer du bist, mit wem du zusammenlebst. auf ihrem selbst vergessen, um ein aktives, Sessel in der Wohnküche sitzen waches Loslassen. konnte, während das Leben von Tochter und Enkeln sich lautstark Sich selbst vergessen heißt, das um sie her ausbreitete. Auch kleine innere Betrachten, Kommen- Kinder leben noch in einer Art Matieren und Bewerten hinter sich gie der Einheit mit allem. Deshalb zu lassen und sich ganz auf das heißt es wohl auch in der Bibel: augenblickliche Geschehen ein- „… wenn ihr nicht werdet wie die zulassen. Atmen, Essen, Trinken Kinder …“ Der Unterschied liegt

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BLICKPUNKT

im Grad der Bewusstheit. Sich selbst vergessen ist loslassen und einlassen zugleich.

zum fünfzigjährigen Gedenken an die „Reichsprogromnacht“. Damals habe ich den Text rein historisch gelesen. So als wäre er eine Es gibt hilfreiche Wege des wachen Ermahnung, diesen furchtbaren Vergessens. Viele sind in der Teil deutscher Geschichte nicht zu Literatur beschrieben. Ein Einstieg vergessen. Heute ist er mir mehr. Er kann die „Wolke des Nichtwissens“ ist ein Leitsatz jüdischer und damit (engl.: The Cloud of Unknowing) auch christlicher Kultur. Im Text sein, eine christliche Schrift aus der Bibel (5. Mose 6) schließt er dem Mittelalter. Es ist von Vorteil, sich an das Glaubensbekenntnis der sich einen Lehrer oder eine Lehre- Juden an: „Höre Israel, der Herr, rin zu suchen. unser Gott, Das ist so ähn- Das Geheimnis der Erlösung … der uns lich wie beim heißt Erinnerung. aus ÄgypLernen eines ten geführt Musikinstruments. Aber beginnen hat…“ Es geht also nicht allein um kann jeder und jede. Sich einfach das Erinnern einer gemeinsamen hinsetzen, dem Atem folgen, sich Geschichte, es geht um die Erinnicht bewegen, die Gedanken nerung an die Befreiung und die kommen und gehen lassen – das Rettung derer, die an Gott glauben. kann ein Anfang sein. Gott führt aus Ägypten und Gott führt durch die Wüste und Gott Vor vielen Jahren gab es eine offenbart den Platz der Ankunft. Briefmarke mit der Aufschrift: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Im Erinnern richten wir uns auf Erinnerung“. Sie wurde geprägt Altes und Bekanntes aus. Und

bereiten uns damit in einer Art Auferstehung des Alten auf das Neue vor. Die Erinnerung weckt unser Herz und hilft, dass wir uns neu ausrichten können. Erinnerung korrigiert den Kurs. Und allein darauf kommt es an: worauf wir ausgerichtet sind. Für Christen gehört zur Erinnerung, dass Gott in seinem Sohn „ja“ gesagt hat in einem unverbrüchlichen Bund mit den Menschen. Ein Ja, das nicht aufhört an unserem Schatten, an Selbstverurteilung oder Bewertung (Mt. 7,1 ff ). Kein Richten – ein Aufrichten. Ein Ja, das einlädt, mit uns selbst und mit anderen in Vergebung zu leben. Die Erinnerung an diesen Weg Gottes führt in eine geheilte Beziehung zu uns und zu anderen und ist so gelebte, erfahrene Erlösung. Volker Bier, TS Saarbrücken

Foto: Irmtraud Winkelmann

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BLICKPUNKT

Vor einiger Zeit gab es einen Film auf ARTE, der zeigte, wie unbarmherzig eine Krankheit in das Leben einer Familie einschlägt, wie die Diagnose den Alltag durcheinander wirbelt und wie jeder Einzelne das Leben neu lernen muss, wenn geliebte Menschen, die dem Tod entgegen gehen, begleitet werden sollen.

Im Kopf eines Familienvaters zerstört ein Hirntumor sein logisches Denken, seine Wahrnehmung, seine Erinnerungen und sein Fühlen. Es gibt eine Szene, da irrt der Kranke durchs Haus, sucht zunehmend verzweifelt die Toilette, ohne zu wissen, was er denn sucht. Am Ende pinkelt er in das Zimmer der fünfzehnjährigen Tochter, zufrieden, den Ort gefunden zu haben und dem Druck seiner Blase nicht weiter standhalten zu müssen. Das pubertierende Mädchen ist aufgebracht, voller Wut auf den Vater. Im Augenblick der Entrüstung helfen ihr weder Erklärungen noch der Hinweis, dass dieses Ereignis der Krankheit geschuldet sei. Erst als die Familie in Ruhe gemeinsam nachdenken

Er habe ihr ein anderes Leben versprochen Von Inge Pape

Schriftbalken verweist auf das Badezimmer. Möbel, Lampen, Teppiche, selbst der Hund werden gezeichnet, ja, zum Schluss pappen sich alle Familienmitglieder ihren Namen auf die Stirn, auch der Vater trägt ein „Papa“ auf seinem kranken Kopf. Das gemeinsame Lachen, das auch den Kranken einschließt, befreit sie für einen Moment. Sie genießen als Familie einen Augenblick der alten Vertrautheit. Das Lachen gibt dem Kranken seine Würde zurück, es erinnert an Leben und klammert den herannahenden Tod für ein Weilchen aus, auch in dem Wissen, ihn nicht vertreiben zu können.

Der Film hat mich berührt und ich musste an viele Gespräche denken mit einer Frau, deren Mann an einer viele Menschen denken, dementiellen Erkrankung dass mit dem Verlust litt. Sie war oft am Telefon, der intellektuellen Fähigkeiten immer entrüstet, immer ein Verlust der Würde einher geht. anklagend, voller Wut auf den kranken Mann. kann, versuchen sie eine „Lösung“, Sie schien sein Verhalten als pure die ihnen das Geschehen für den Schikane zu werten. Er habe ihr Moment erträglich macht: Alle ein anderes Leben versprochen. Er Gegenstände im Haus bekommen könne doch jetzt nicht einfach so einen Klebezettel, sie beschriften teilnahmslos herumsitzen. Er müsin einer Art Happening die Türen se sich doch zusammennehmen. und Fenster. Ein besonders dicker Schließlich habe sie doch auch ein

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Recht auf ein bisschen Leben. Jetzt mache er noch in die Hose und sei doch noch nicht mal sechzig. Nie habe sie Kinder gewollt, jetzt habe sie ein großes, eines, das noch nicht einmal ein paar Sätze mit ihr sprach. Die Empörung, die ihre Stimme ausstrahlte, die Selbstbezogenheit, die Vorwürfe machten es mir schwer, empathisch zu sein. Ich hatte Bilder im Kopf. Der Mann, da sitzend in seinen Exkrementen, die stumpfe Ergebenheit, mit der er seiner Pflegerin ausgeliefert war, die dauernden Anklagen, die auf ihn einprasselten, die mangelnde Solidarität, die er erfuhr – das alles war mir näher im Herzen als die Stimme der Anruferin und ihre Abwehr. Szenen aus meiner Kindheit erfüllten mein Bewusstsein: Der demente Onkel, die verbissenen Züge meiner Tante, deren absolute Weigerung, über sich selbst hinaus zu denken. Das tiefe Mitleid, das ich als Kind mit diesem Onkel hatte. Der schüchterne Versuch, etwas für ihn zu tun, das Bedürfnis, ihn zu verteidigen. Manchmal setzte ich mich ganz nah zu ihm hin und streichelte ihm die Hand. Er lächelte immer, wenn ich kam, dieses Lächeln schien nah und doch

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WISSEN

Was brauchen Hinterbliebene nach einem Suizid? Von Sigrid Dziurzik In Deutschland starben 2010 zehntausendeinundzwanzig Menschen durch Selbsttötung, siebentausendvierhundertfünfundsechzig Männer und zweitausendfünfhundertsechsundfünfzig Frauen – weitaus mehr als durch Verkehrsunfälle. Die Dunkelziffer wird auf das Zehn- bis Fünfzehnfache geschätzt. Die WHO geht davon aus, dass von einem Suizid ungefähr sechs Menschen betroffen sind, Menschen, die mit diesem Verlust irgendwie weiterleben müssen.

Der plötzliche Tod durch Suizid trifft die Angehörigen meist unerwartet. Es sind ganz normale Familien, in denen Suizide geschehen, in allen Schichten. Dazu einige Zeitungsmeldungen: „Ein Abiturient mit guten Schulnoten, der sich prima mit seinen Eltern und Freunden versteht, reagiert auf die unverhoffte Trennung von

Ich habe ein paar Mal vor der Tür gestanden und bin immer wieder umgekehrt seiner großen Liebe mit Suizid.“ „Ein altes Ehepaar, zunehmend hilfebedürftig, ist gemeinsam aus dem Leben gegangen, weil sie keinem zur Last fallen wollten.“ „Ein leitender Angestellter, seit einiger Zeit arbeitslos und sich vergeblich um Arbeit bemühend, regelt unbemerkt seinen Nachlass, verbringt ein wundervolles Wochenende mit seiner Frau und nimmt sich Tage danach das Leben.“ Drei Beispiele dafür, aus welcher Situation heraus Hinterbliebene diesen radikalen Beziehungsabbruch erleben. Da gibt es keine

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Möglichkeit mehr, miteinander zu reden, irgendetwas zu klären, Verständnis zu entwickeln oder mit dem anderen zu ringen. Der Suizid ist die absolute Trennung. Er erscheint sinnlos und nicht nachvollziehbar. Wenn Hinterbliebene zur Beratung kommen, ist oft so viel Zeit verstrichen, dass im Umfeld der Suizid mehr und mehr ins Vergessen gerät. Sie müssen dann einen schwierigen Spagat leisten: Für sie ist der Verlust ganz nah. Sie wollen aber ihre Mitmenschen nicht mit ihrer Trauer belasten und nehmen sich zurück. Eine junge Frau, die gerade ihre Ausbildung beendet hat, verliert ihre Mutter nach einer langen Alkoholerkrankung durch Suizid. Vier Wochen danach kommt sie in die Beratungsstelle. Freundinnen der Mutter haben ihr dringend dazu geraten. Sie war für zwei Wochen krankgeschrieben und arbeitet jetzt wieder. Nach Feierabend ist ihre Kraft verbraucht. Sie ist mehr und mehr allein. Bei Verwandten erlebt sie Hilflosigkeit,

genau so wie bei Freunden und bei ihrem Partner. Die Beziehung geht auseinander. Wechselnd zwischen Trauer und um Kontrolle bemüht, lässt sie mich teilnehmen an ihrem Schmerz, ihrer Verlassenheit, ihrer Verzweiflung, aber auch an ihrem Ärger. Von Zeit zu Zeit scheint sie sich zu vergewissern, ob ich wirklich noch zuhöre. Das miteinander Schweigen ist von Bedeutung. In einem der nächsten Treffen spricht sie über Alltäglichkeiten, scheint gar nicht richtig da zu sein und klammert die Trauer aus. Als ich sie darauf anspreche, gesteht sie mir ihre Furcht, sie könne auch mir zu viel werden. Ich kann sie entlasten. Hier muss sie keine Fassade aufrechterhalten. Dennoch ist es wichtig, vom Alltäglichen zu sprechen. So bekommt sie wieder ein Gefühl von sich über die Trauer hinaus. Wie diese junge Frau suchen Hinterbliebene selten aus eigener Initiative professionelle Hilfe auf. Sie wissen, dass es das, was helfen würde, nicht gibt: dass der Verstorbene zurück käme. Manchmal

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