Auf Draht - Ausgabe 92

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AUF DRAHT Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt:

Angst

ISSN 2364-9933

92 / August 2016 Jahrgang 33


Angst, Flatter, Muffensausen, Schiss, mehr Angst als Vaterlandsliebe … Angst hat viele Namen und Begriffe, ihr Ausmaß wird unterschiedlich erfahren und ausgedrückt. Die zaghafte Variante ist die Scheu, das Bange-Sein. Da spürt man eher das Schüchterne, die sanfte Seite der Angst. Grausen, Horror, Panik oder Todesangst sind starke Worte für heftige Gefühlsregungen, unkontrolliert, dramatisch und ausufernd. Durch Doppelungen wie Angst und Schrecken gewinnt die ausgedrückte Angst noch an Kraft, konkretisiert sich durch Wortverbindungen wie Prüfungsangst, Flugangst oder Trennungsangst. Wir kennen auch die Angst der Schriftstellerin vor dem weißen Blatt, den Schrecken der Maler beim ersten Pinselstrich und die Angst der Redaktionen, dass ein Heft mit leeren Seiten gedruckt werden könnte. ;-) Als Heidenangst, Höllenangst oder Bammel sind uns umgangssprachliche Verstärkungen vertraut. Heidenangst bezeichnete ursprünglich die Furcht der Christen vor den Heiden, mit denen sich die Vorstellung des Bösen verband. Bammel haben kommt aus dem Jiddischen, wo baal emoh so viel bedeutet wie »Furchtsamer«. Zur Umgangssprache gehören auch Ausdrücke wie Herzrasen und Zähneklappern, die körperliche Reaktionen auf Angstgefühle wiedergeben. Weil Steve Jobs Angst vor Knöpfen hatte, verdanken wir ihm den Touchscreen und nach Woody Allen, der seinen Ängsten in Filmen meist komische Gestalt verlieh, wurde sogar ein Gen benannt, das ängstliches Verhalten begünstigen soll. Mehr über die unterschiedlichen Formen und Facetten von Angst lesen Sie im Blickpunkt. In diesem Jahr feiern wir 60 Jahre TelefonSeelsorge in Deutschland. Manuela Schwesig, die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schreibt in ihrem Grußwort: „Es ist gut zu wissen, dass jemand da ist, dass jemand einfach nur zuhört. Allein das gibt Hoffnung und Zuversicht, wenn alles zusammenbricht. Geteiltes Leid ist halbes Leid, und wo soziale Netze nicht mehr tragen, trägt die TelefonSeelsorge.“ Ihre

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BLICKPUNKT

Niemand ist freiwillig mutig Von Dr. Renate Marx-Mollière

Ein guter Freund von mir sagte einmal auf einem langen Aufstieg am Gebirgsgrat: „Angst ist was Gutes. Du machst manche Sachen nicht.“ Dann schwieg er wieder, eine seiner größten Fähigkeiten. Und nach über einer Stunde, kurz unter dem Gipfel, kam der zweite Satz, mit einem Lächeln: „Angst, da musst’ was gegen tun, wenn’s dich auffrisst.“

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a könnten alle Gedanken zum Thema enden: Es geht um die Balance, den richtigen Weg mit dieser so konstanten Begleiterin unseres Lebens, deren Sinn in der Alarmreaktion und Schutzfunktion besteht, die Warnzeichen setzt und Flucht induzieren kann.

Manche Ängste können im Leben immer wieder kommen. Zum Beispiel in Trennungssituationen. Manche bereiten den Boden für weitere dunkle Lebensbegleiter wie Depressionen oder Zwänge. Manche Menschen werden gefangen durch Panikattacken oder in einer alles überflutenden Angst.

Und das alles in einem genetisch verankerten Programm: Wir Viele Ängste betreffen ausgesuchte bringen vieles mit, nicht nur den Situationen bei ansonsten allWillen, laufen zu lernen, sondern tagstauglichen Menschen. Circa auch die Angst, uns beim Hinfallen fünfundzwanzig Prozent aller Menwehzutun. schen haben Ist das nicht zeitweise im spannend? Leben eine „Wovor wir am meisten Immer wieAngst, die sie Angst hatten, wird uns, der bekomhilflos manachdem wir es men wir verchen kann geschafft haben, mittelt, dass – aber nicht wir uns selbst für immer. am stolzesten machen.“ steuern. Dass Das heißt, sie Beatrix Marth wir uns mit gewinnen die LebenserfahMöglichkeit rung, Klugheit, Energie, Phantasie wieder zurück, ihr Leben selbst gut und Disziplin durch die Zeit bewe- zu gestalten. gen. Aber das ist nicht richtig. Auch Angst ist in unserem genetischen Das kennen wir alle, zum BeiErbe verankert, zum Teil sogar ganz spiel die Angst, in einem ganz bestimmten Moment zu versagen, konkret.

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bei einer Prüfung, aber auch bei einer Prüfung des Lebens, wie einer Beerdigung, einem Verkehrsunfall, einer schlechten Nachricht. Aber wir können es in guter Begleitung und mit hilfreicher Beratung schaffen, nach Beruhigung der Situation wieder selbst das Heft in die Hand zu nehmen. Wann wird die Angst zum Problem? Dann, wenn sie unangemessen beziehungsweise lang anhaltend ist, wenn wir sie nicht mehr kontrollieren und nicht aushalten können. Wenn sie uns Leiden verursacht und das ganze Leben einschränkt. Wenn wir nicht mehr alleine aussteigen können aus dem wachsenden Teufelskreis von Angst und Vermeidung. Vor allen Dingen bei einem Übergang in eine Spirale ungebremster Angst. Oder bei anhaltender Vermeidung und kognitiver Verzerrung mit Schrittmacherfunktion für Panikstörungen. Bei traumatischen Erfahrungen, bei Armut, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, Sucht und Stress. Wenn sie sich flächendeckend über unser ganzes Leben ausbreitet und dann auch noch niederschmetternde Verbündete findet. Dann benötigen wir über Beratung hinausgehende medizinisch-therapeutische Unterstützung, beispielsweise wegen zusätzlicher De-

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BLICKPUNKT

Angst und Lust sind nah beieinander Von Rosemarie Schettler Angst setzt uns Grenzen, die unser Überleben sichern. Angst nützt, um in unbekannten, Unsicherheit auslösenden Situationen wach und hoch reaktionsfähig zu sein, sie macht uns aktiv und handlungsfähig.

ist eine Freude, ihr zuzuschauen, wie lustvoll sie sich fürchten kann. Wird sie gefangen, so schüttelt sie sich voll Schauer und Wonne und kommentiert: „Nochmal!“

Ein bisschen Angst lässt uns Spannung spüren und versorgt uns mit mehr Adrenalin als üblich. Sehr viel, zu viel Angst kann Gefühle der Panik auslösen, sie blockiert und lähmt.

Solche Angst macht Spaß! Meine kleine Enkelin kennt das Gefühl und liebt das Spiel an der Schwelle zur Angst. Viele Menschen tun das. Der Fachbegriff dazu lautet: Angstlust.

Aber was hat Angst mit Lust zu tun? Unbekanntes, Fremdes löst ambivalente Empfindungen aus. Es macht uns ängstlich und gleichzeitig neugierig. In dieser Neugier steckt aber auch Lust. Herzklopfen und Anspannung signalisieren Gefahr und gleichzeitig Erregung.

Das Behagen beim Gruseln Meine kleine Enkelin liebt es, sich von Mama oder Papa jagen zu lassen. In der Rolle der Jäger stoßen beide wilde Geräusche aus, wedeln bedrohlich mit den Armen, werden zu monströsen Gestalten mit irrem Blick auf der Jagd nach der Kleinen. Die Kleine kreischt laut auf, flieht so schnell sie kann und jauchzt selig. Manchmal kann sie auch vor Aufregung – so hat mir ihr Vater im Vertrauen erzählt – ihr Pipi nicht halten. Es Foto: Heike Köhler

Der Entdecker der Angstlust Der Psychoanalytiker Michael Balint hat sich mit diesem Gruseln auseinandergesetzt. Er beschrieb, welche ambivalenten Gefühle gerade kleine Kinder in ihrer Entwicklung begleiten: Sie brauchen viel Nestwärme, sie suchen Schutz und Geborgenheit. Gleichzeitig erforschen sie mit enormer Energie und Neugier unermüdlich die Umwelt. Zwei grundsätzliche Bedürfnisse fügen sich hier zusammen: das Bedürfnis nach Autonomie und das Bedürfnis nach Bindung; die Erforschung des Unbekannten aus eigenen Kräften und das Gefühl von Sicherheit. Balint nannte diese emotionale Melange Angstlust und beschrieb, dass Angstlust empfindet, wer sich freiwillig Gefahren aussetzt, bei gleichzeitig existierender Zuversicht, die Gefahr und die damit verbundene Angst bewältigen zu können. Eine Mischung aus Furcht, Hoffnung und Wonne angesichts einer kalkulierbaren äußeren Gefahr, das ist die Angstlust. Mutproben, Fallschirmspringen, Achterbahnfahrten, erster Sex,

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BLICKPUNKT

Wenn die Angst um sich greift Von Marianne Hartmann „Ja, hallo?? ANGST!! Ich habe solche ANGST!!! Hilfe!! Was soll ich nur tun?? Das ist mir alles zu viel, ich kann das nicht!“ Als mich dieser Anruf erreicht, ist es kurz nach 3 Uhr in der Früh. Sofort bin ich hellwach. Aus der Stimme dieser Frau spricht, nein schreit die helle Panik. Besorgt frage ich nach, was genau es sei, was sie so ängstige. Nur schwer bekomme ich sie aus dieser inneren Aufgewühltheit. Plötzlich unterbricht die Verbindung. Ich bleibe verwirrt zurück.

lich, immer mehr zieht sie sich zurück, die TS scheint ihr einziger Kontakt „nach draußen“ zu sein. Hier fühlt sie sich sicher, hier hat sie die „Kontrolle“ – und kann auflegen, wenn es ihr zu viel wird. In den folgenden Monaten ist sie immer wieder Thema in den Supervisionen. Was für Gefühle löst sie in uns aus? Da reicht die Palette von Anteilnahme bis hin zum Ärger (besonders dann, wenn sie fünf Mal hintereinander anruft – und in ihrer

mittlerweile professionelle Unterstützung finden konnte, mit der sie etwas zur Ruhe finden kann? Was mich an diesem Fall so berührt hat, ist, hier „hautnah“ erlebt zu haben, was für eine Macht massive Phobien über einen Menschen haben können. Oft haben sie ja auch einen Nutzen. Die Frage ist nur, wie gehen wir mit ihnen um. Wir haben die Möglichkeit, auf das Warum hinter der jeweiligen Angst zu schauen. In uns zu lauschen. Und

Im Laufe der Nacht meldet die Anruferin sich noch zweimal. Mal weint sie bitterlich, reagiert auf meine Ansprache nur ganz

„Seelenlandschaften sind nur noch mühsam passierbar, wenn Angst Berge aufwirft.“ Renzie Thom

verzagt, um wenig später nach einem gemurmelten „Ich kann nicht mehr.“ aufzulegen, ehe ich etwas erwidern kann. Ein anderes Mal ist sie so panisch, dass sie nur Unzusammenhängendes artikuliert – und ebenfalls auflegt. Mir scheint, ich erreiche sie nicht. Kein angenehmes Gefühl! Wie ich in der Supervisionsgruppe erfahre, ist sie bekannt. In den folgenden Monaten ist sie immer wieder unser „akustischer“ Gast. Nach und nach erfahren wir von ihr etwas über ihre Hintergründe: Der (unverarbeitete) Tod der Mutter, eine Erbschaft und noch einiges mehr hat ihr Inneres ziemlich aus der Bahn gerissen. Ein normaler Alltag ist für sie kaum noch mög-

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Foto: Helmut Gilbeau

Panik versucht, unsere Aufmerksamkeit mit Suizid-Androhungen zu verstärken, um das Telefonat keinesfalls zu beenden). Viele ihrer geschilderten Ängste erscheinen uns abstrakt und irgendwie … unwirklich. Im Kontrast dazu steht die offensichtliche innere Not. Was mag in dieser Frau vor sich gehen? Irgendwann wurden ihre Anrufe bei uns seltener; irgendwann verstummten sie ganz. Ich denke manchmal noch an sie. Ob sie

dann nach und nach Lösungswege in uns entstehen lassen. Ich wünsche es ihr, dieser Anruferin, dass sie irgendwann – zu ihrer Zeit – eine Form des inneren Friedens finden kann.

Marianne Hartmann, ehrenamtliche Mitarbeiterin

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BLICKPUNKT

Aggression statt Angst Ersatzgefühle in Telefonseelsorgegesprächen Von Michael Hock

Angst ist ein zentrales Thema in der Telefonseelsorge. Unzählige Anrufer erleben die Angst als treibende Kraft: Angst vor der Einsamkeit, Angst vor dem Tod, aber auch Angst vor dem Leben, Angst vor einer schweren Krankheit, Angst davor, seine Arbeitsstelle zu verlieren oder als Rentner in Armut leben zu müssen … Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Und doch erleben Telefonseelsorgerinnen und -seelsorger häufig, dass nicht die Angst das Gespräch bestimmt, sondern Aggression oder Resignation oder beides ineinander verflochten. Woran liegt das?

Ein erster Schritt zur Klärung ist die Frage, was uns eigentlich mit der Angst genau begegnet. Sie ist ein Gefühl, ein sogenanntes Grundgefühl. Das heißt, Angst ist eines der Gefühle, die unabhängig von einer spezifischen kulturellen Prägung bei allen Menschen anzutreffen ist. Zusammen mit Freude, Trauer, Überraschung, Wut, Ekel und Verachtung. Manche zählen auch noch Liebe und Hass zu den Grundgefühlen, andere belassen es bei den sieben genannten Grundgefühlen. Neben diesen Grundgefühlen gibt es auch eine Palette von Gefühlen, die wie die Farbmischungen zusammengesetzt sind: So kann beispielsweise Eifersucht eine Mischung aus Angst (oder Trauer) und Wut sein. Nur sind wir uns selten bewusst, wann wir ein Grundgefühl fühlen und wann wir „Gefühlsmixturen“ empfinden. Hinzu kommt noch, dass wir vor allem in unserer Kindheit – aber zum Teil auch noch später – lernen, dass bestimmte Gefühle zu haben und auch auszudrücken gar nicht so gut für uns ist. Wir machen die Erfahrung, dass wir mehr davon haben, wenn wir andere Gefühle empfinden und diese auch so authentisch wie nur möglich unseren Mitmenschen zeigen. Ein Beispiel: Immer wenn ein Junge bei Gewitter nachts vor lauter Angst ins Schlafzimmer seiner

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Eltern „flüchten“ will, um dort das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu erhalten, sagt sein Vater zu ihm: „Du bist doch ein Junge und keine Memme. Als Junge hat man keine Angst vor einem Gewitter.“ Mit derartigen Botschaften wird der Nährboden dazu bereitet, dass der Junge seine Angst – auch in anderen Situationen – immer mehr unterdrücken wird und gegen sein eigentliches tiefes Empfinden „Stärke“ zeigen wird, um seinem Vater und anderen zu zeigen, dass er keine Memme ist. Dadurch, so lernt er schnell, kann er sich Zuwendung und Anerkennung sichern – anders als mit seiner Angst. Auf diese Art und Weise entstehen sogenannte Ersatzgefühle. Die beiden Transaktionsanalytiker Stewart und Joines definieren ein Ersatzgefühl als „eine vertraute Emotion, die in der Kindheit erlernt und gefördert wurde, die in vielen unterschiedlichen Stresssituationen erlebt wird, und deren Ausdruck als Mittel der Problemlösung für den Erwachsenen eine Fehlanpassung bedeutet.“ Das Problem ist also, dass wir auch noch als Erwachsene mit dem Aktivieren eines Ersatzgefühls auf eine vermeintlich erfolgreiche Problemlösungsstrategie zurückgreifen, die lediglich in einem begrenzten zurückliegenden Zeitraum unsere Kindheit als bestmögliche Notlösung ihren Sinn hatte. Das

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Bärbel Grüll hat uns die beiden Fotos geschickt; sie sind entstanden, als sie Angst um ihre Mutter hatte.

Angst haben lassen Angst ist ein Exportschlager. Genauso wie Gemütlichkeit, Kindergarten, Lederhose und Mittelstand. Zumindest als Wort in Amerika. Sie ist gar nicht einmal so kurz, die Liste der Germanismen, wie deutsche Wörter bezeichnet werden, die in andere Sprachen integriert wurden. Und die „german angst“ steht ganz weit oben im Gebrauch. Weil die Deutschen so viel Angst haben? Und sie exportieren müssen? Weil es keine wirkliche Entsprechung im Amerikanischen gibt? Eine Modeerscheinung wie hier die Anglizismen? Fest steht, Angst und Ängste sind weit verbreitet, und gerade wir am Telefon haben eigentlich in fast jedem Dienst damit zu tun. Selbst BUSSI (Bundesstatistik im Internet) weist ein eigenes Item dafür auf. „Angst fressen Seele auf“, so der Titel eines Film von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974, ist längst zu einem geflügelten Wort geworden, denn jeder von uns weiß schon seit Kindheitstagen, dass Angst zu den unschönen Gefühlen gehört. Wer

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hat schon gerne Angst? Und gar freiwillig?

wie vor nicht leicht. Bei denen, die an einer Angsterkrankung leiden, bleibt mir nur das Zuhören mit dem Versuch, beruhigende Worte zu finden oder auch den Fokus auf andere Dinge zu lenken.

Wir bekommen sie aber immer Bei vielen anderen habe ich aber mal wieder, oft auch ungefiltert zu die (gute) Erfahrung gemacht, hören. Beispielsweise wenn Kinder den Anrufenden die Angst nicht sich abends vor der Dunkelheit nehmen zu wollen, sondern sie bei oder dem Gewitter nicht nur fürch- ihnen zu belassen. Nicht, um es mir ten, sondern sich ängstigen und lei- einfacher zu machen, sondern klar se ins Telefon flüstern und heulen. zu signalisieren: Deine Angst will dir Oder wenn gestandene Männer mit etwas sagen. Viele Anrufende sind völlig verzweifelter Stimme vom überrascht, wenn ich erkläre, dass Ende ihrer Beziehung sprechen und Angst etwas Gutes ist, ja sogar etwas die drohende Einsamkeit wie eine Wertvolles. Denn Angst warnt, zeigt Wand aus Ängsten vor ihnen steht. Grenzen und Lücken auf. Angst Angst – so habe zumindest ich am hält den Finger geradewegs in die Telefon gelernt – gibt es in allen schmerzhafte Wunde. Unter diesem SchattieGesichtspunkt rungen, in ve r l i e r t di e allen MächAngst oft ihre „Angst ist für die Seele tigkeiten, Spitze und das ebenso gesund wie sie kann an Lähmende, es ein Bad für den Körper.“ der Oberkommt zu konMaksim Gorkij fläche liestruktiven Gegen oder im sprächen mit Geheimen Lösungsideen. nagen. Zugegeben, manchmal Die Angst dem anderen nehmen zu entlockt es mir im ersten Moment können, wäre zwar noch schöner, auch ein Schmunzeln, wovor aber das gelingt wahrlich nur in den andere Angst haben – lächerlich seltensten Fällen. denke ich, aber nur solange ich meine eigenen Ängste verleugne. Lukas, ehrenmtlicher Mitarbeiter Der Umgang mit ihr fällt mir nach der TS Nordhessen

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INTERNET

Seit 1995 bietet die TelefonSeelsorge ihre Unterstützung auch per Mail (www.ts-im-internet.de) und Chat (www. chat.telefonseelsorge. org) an. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der TelefonSeelsorge im Internet wurde die Ausstellung „Aus Worten können Wege werden“ konzipiert. Unter: http://www.20-jahre-telefonseelsorge-im-internet. de/ können Sie sich die Ausstellung anschauen.

Wenn nur das Schreiben bleibt Von Michael G. Chat – das ist für viele Ehrenamtliche ein fremdes Terrain, da ihnen der Zugang zur digitalen Welt nicht vertraut ist. Jedoch entwickelt sich das Chat-Angebot angesichts einer immensen Nachfrage zu einem zweiten Standbein der TelefonSeelsorge. Im Prinzip handelt es sich im Chat um die gleiche Aufgabe wie am Telefon, nämlich den empathischen Kontakt zu den Ratsuchenden herzustellen. Da das Medium ein anderes ist, sind auch die Kriterien der Kommunikation andere. Der Austausch ist im Chat deutlich anonymer und abstrakter als das Gespräch am Telefon, denn es handelt sich um die Schriftsprache. Die Stimme fehlt, damit auch die Möglichkeit, Geschlecht und Alter der Ratsuchenden zu erkennen. So erweitert sich der Raum für Intimität und Offenheit; auch die Schamschwelle liegt niedriger. Die schriftliche Formulierung oft komplexer Sachverhalte fordert demgegenüber, sich mittels Worten zu distanzieren, verständlich zu bleiben. Rechtschreibung ist dabei nebensächlich. Inszenierte Fakes oder Scherze gibt es relativ wenige, schließlich muss man ja alles tippen. Allenfalls kommt es ab und an vor, dass jemand sich wiederholt einloggt, schweigt und damit das Chat-Angebot der betreffenden

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TS-Dienststelle zeitweise behindert oder blockiert. Ein Chat dauert in der Regel zwischen 45 und 60 Minuten. Während des Chats läuft – für Ratsuchende und Beratende sichtbar – auf dem Bildschirm eine Uhr. Diese permanente Konfrontation mit der Zeit ist ein weiteres Strukturelement, das eine objektivierende Ergebnisorientierung unterstützen kann. Die Uhr bewirkt eine rasche Thematisierung des Problems. Vorherrschende Themen im TSChat sind Suizidalität, Depression, Missbrauch, Selbstverletzungs- beziehungsweise Borderline-Phänomene und Partnerschaftsprobleme, wobei sich diese Themen häufig verquicken. Obwohl die digitale Welt zumeist männlich konnotiert ist, wird das Chatangebot vorwiegend von Frauen wahrgenommen. Das Alter liegt mehrheitlich um

die 30 Jahre. Für die Beraterinnen und Berater ist wie auch im Telefondienst eine grundsätzliche Sachkompetenz und Erfahrung in den genannten Themenbereichen notwendig. Der Anfang eines Chats zielt darauf, eine Beziehung zwischen Ratsuchendem und Beratendem herzustellen. Dabei sind Techniken gefragt, die die distanzierende Schriftlichkeit aufbrechen, etwa durch persönliche Ansprache, durch Füllwörter oder Verzögerungslaute, durch Aufteilen von Sätzen in Sprachabschnitte (Chunks). Die Annäherung an die gesprochene Sprache schafft kommunikative Nähe. Beispiel: Ratsuchender: „Habe Beziehungsprobleme“ Berater: „Hm, das klingt anstrengend ...“ Anschließend geht es darum, die Situation zu verstehen, in der sich der Ratsuchende befindet. Das Mittel ist ein von Empathie getragener Frage-Antwort-Prozess. Dabei spielen Informationsfragen eine Rolle, wichtiger sind aber Fragen, die zu Paraphrasen herausfordern, einen Perspektivwechsel beinhalten oder zu einem Dialog auffordern.

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WISSEN

Ich grüße mich mittlerweile recht freundlich, wenn ich mir selbst im Weg stehe. Ist ja nicht das erste Treffen. Sponti-Spruch

Suizid ist nicht die Lösung Suizid ist in Deutschland die zweithäufigste Todesursache junger Menschen bis zum Alter von 24 Jahren. Die Dunkelziffer wird auf mindestens zehn- bis zwanzigmal so hoch geschätzt. Obwohl suizidales Verhalten also ein großes gesellschaftliches und

gesundheitliches Problem darstellt, werden Suizid und Suizidalität in unserer Gesellschaft noch immer massiv tabuisiert. Dadurch verstärken sich Vorurteile und Betroffene bleiben allein. Chronische somatische, psychische und soziale Probleme sind häufig die Folge. Vor diesem Hintergrund haben die Internationale Vereinigung

Gewinnerin des Wettbewerbs 2015 in der Kategorie „Schreiben“

Bleib hier! Du hast noch nicht die Welt gesehn, dein Leben nicht gelebt. Alle Wunder wärn verlorn, wie kannst du einfach gehn?

Dir sind gegeben diese Stunden, Tage, Wochen, Jahre. Du hast die Zeit und willst sie nicht? Der Tod das einzig Wahre?

Du weißt nicht, was dich dort erwartet, kannst niemals mehr zurück und was, wenn es dir nicht gefällt? Bist du wirklich so verrückt?

Und wenn du sagst: „Ich will nicht mehr!“ Dann denk nicht nur an dich! Was ist mit denen, die übrig bleiben? Du bist ein Freund für mich.

Du könntest noch zum Nordpol reisen, du könntest Erdbeern essen. Du könntest laut im Freien schreien, das alles willst du missen?

Dich als einen Freund verlieren, bedeutet für mich Schmerz: Ein Mensch, der Freunde, Eltern hat, der braucht kein totes Herz.

Und wenn du glaubst, du hättest schon dein Leben ausgelebt, dann schau doch einmal richtig hin! Du wirst noch viel mehr sehn.

Glaub mir, einmal kommt die Zeit, dann kommt auch dein Moment. Doch bis dahin, das glaub mir ruhig, noch keiner das Leben kennt!

Es gibt so viele, die wollen mehr vom Leben, nicht vom Sterben. Die würden alles, alles geben um Stunden mehr zu haben.

Theresa Arnoldt

für Suizidprävention (IASP) und die Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) den 10. September zum Welt-Suizid-Präventionstag ausgerufen. Jedes Jahr findet an diesem Tag eine Vielzahl von Aktionen statt, um über Suizidalität und mögliche Hilfen zu informieren und so der Tabuisierung entgegenzuwirken. Die Stiftung „Zuversicht für Kinder“ unterstützt ein wichtiges Präventionsprojekt zum Thema Jugendsuizidalität. Sie finanziert die Ausrichtung eines KreativWettbewerbes, der zeigen will, dass es Hilfe gibt, auch wenn die Sorgen noch so schwer sind und keiner einen versteht. Was gibt mir Kraft? Was hilft mir? Und wer? Im Verbund mit anderen Akteuren der Suizidprävention – unter anderem auch die TelefonSeelsorge Berlin e.V. – werden Jugendliche ermutigt, sich mit dem Thema gestalterisch auseinanderzusetzen. „Was kann man jemandem sagen, der den Lebensmut verloren hat? Ob man ihn nun kennt oder nicht.“ Für den Wettbewerb können Gedichte, Songs, Filme, Geschichten, Bilder oder auch Collagen eingeschickt werden, es gibt Geld- und Sachpreise. Quelle: www.suizid-ist-nicht-die-loesung.de

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WISSEN

In Deutschland sterben jährlich zehntausend Menschen durch Selbsttötung

Dr. Franz-Josef Hücker hat über einen Zeitraum von zehn Jahren die Zahl der suizidalen Anrufe in der TelefonSeelsorge festgehalten.

D

ie Dunkelziffer wird auf das Zehn- bis Fünfzehnfache geschätzt. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) geht davon aus, dass von einem Suizid ungefähr sechs Menschen betroffen sind. Menschen, die mit diesem Verlust weiterleben müssen. Weltweit töteten sich geschätzt 804.000 Menschen, die tatsächliche Zahl

Eine traurige Bilanz

ist viel höher, da viele Länder Selbsttötungen nicht registrieren. Suizid ist die zweithäufigste Todesursache unter den 15- bis 29-Jährigen weltweit. Auf jeden Suizid kommen mehr als zwanzig Menschen, die versuchen, sich das Leben zu nehmen. Es

sterben deutlich mehr Menschen durch Suizid als aufgrund von Verkehrsunfällen, Drogen und HIV zusammen. Dr. Franz-Josef Hücker ist freiberuflicher Journalist, Vereinsmitglied und ehrenamtlicher Mitarbeiter der Telefonseelsorge Berlin e.V

Foto: Birgit Knatz

Seit 2014 sind 49 Menschen wegen eines Selfies (Selbstportrait) gestorben. Die Daten-SammelSeite Priceonomics hat das festgestellt und sich des Phänomens „Tod durch Selfie“ noch in detaillierteren Auswertungen angenommen. Die Ergebnisse sind ziemlich tragisch, manche Fakten erscheinen auf traurige Art logisch, andere verwirren.

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INTERNES

„Worin sehen Sie den Auftrag für die TelefonSeelsorge in den nächsten zehn Jahren?“ Diese Frage wurde anlässlich des 60. Geburtstages der TelefonSeelsorge einigen Repräsentanten und wichtigen Partnern der TelefonSeelsorge gestellt und samt Antworten in dem Jahresbericht zum Jubiläum (www.telefonseelsorge.de) veröffentlicht. Die Antwort von Hermann Gröhe, Bundesminister für Gesundheit, stellen wir Ihnen hier vor: Der Wandel in unserer Gesellschaft, die Zunahme von psychosozialen Belastungen bis hin zu Lebenskrisen und die stetig steigende Zahl diagnostizierter psychischer Erkrankungen werden das deutsche Gesundheitssystem auch künftig vor große Herausforderungen stellen. Es ist daher gut zu wissen, dass sich mit der TelefonSeelsorge in Deutschland ein ehrenamtliches

Hilfesystem etabliert hat, auf das nicht verzichtet werden kann. Ich möchte die rund 8000 engagierten ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der TelefonSeelsorge daher ermutigen, den Menschen in Not auch weiterhin engagiert zuzuhören und ihnen Verständnis entgegenzubringen. Denn mit ihren Angeboten der Beratung und Information tragen sie auch

dazu bei, dass die Hilfesuchenden im Bedarfsfall auch weitergehende Unterstützung des professionellen Hilfesystems erhalten.

Momente – eine Ausstellung anlässlich des 60-jährigen Bestehens der TelefonSeelsorge Von Dr. Bernd Blömeke Momente sichtbar machen zu können, ist eine Kunst. Die Kunstwerke aus der TelefonSeelsorge Mainz-Wiesbaden schauen von außen auf die Momente der Arbeit der TelefonSeelsorge und geben Anlass zum Nachdenken.

Verbindend zwischen allen Werken der Künstlerinnen und Künstler sind Denkanstöße zu Themen wie „in Kontakt kommen“, „fragile Prozesse“, „schwebend“ sowie „Abgründe“. Im Bild „Wortbrücke“ versucht die Person am linken Bildrand, mit der an einem Abgrund stehenden Person am rechten Bildrand in Kontakt zu kommen. Das Sprechen lässt ein Netz entstehen, das den Abgrund überbrückt und in dem einzelne Worte sich als tragfähig zeigen. Ob die einsame Person der Brücke aus Worten traut und diese ihr einen Weg über den Abgrund weist? Ein Moment aus der Arbeit am Telefon.

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Den Abgrund in Gesprächen sichtbar zu machen, gelingt mit der Form des Triptychons. Das Werk „Nichtworte“ thematisiert den Fluss eines Gesprächs auf dem rechten und linken Flügel eines Triptychons, der mit dem Mittelteil unterbrochen wird. Damit eröffnet sich die Weite eines Gesprächsraumes, zu dem Stille und das Nachklingen einzelner Worte gehören. Beim Triptychon geht die Leserichtung nicht von links nach rechts, sondern von der Mitte aus. Wenn man vor einem Triptychon steht und einen Bildraum betritt, der von dem Dreiformat markiert wird, dann entfaltet sich eine Aura, der

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INTERNES

Luzerner Ansicht mit Kapellbrücke, Wasserturm sowie Turm und Bauernhausdach des Rathauses

A

ls IFOTES-Delegierte für Deutschland haben wir, Alexander Fischhold (Leiter katholische TelefonSeelsorge München) und Dirk Meyer (Leiter TelefonSeelsorge Niederrhein/Westmünsterland), einen Fragebogen mitentwickelt, der an alle Mitgliedsländer der Internationalen Telefonseelsorgevereinigung (IFOTES) versandt wurde. In AUF DRAHT stellen wir immer mal wieder ein Mitgliedsland vor, um die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede in der Telefonkultur der verschiedenen Länder darzustellen. Wir hoffen, damit einen interessanten Einblick in die internationale Telefonseelsorgelandschaft zu geben, und danken den IFOTES-Delegierten für ihre Mitarbeit. Heute stellt sich vor:

Die Dargebotene Hand

SCHWEIZ

Wie viele Telefonseelsorgestellen gibt es in Ihrem Land? Es gibt zwölf Stellen in der Schweiz. Wie viele Ehrenamtliche arbeiten im Durchschnitt pro Stelle mit? fünfzig Ehrenamtliche pro Stelle Wie hoch ist der Anteil von Männern und Frauen? 25 Prozent Männer und 75 Prozent Frauen Wie viele Gespräche werden im Jahr durchschnittlich geführt/wie viele pro Stelle pro Tag? zweiundfünfzig Gespräche am Tag pro Stelle (2014) Was sind die Besonderheiten der Telefonkultur in Ihrem Land? Anonymität, Schweigepflicht, größtmögliche Niedrigschwelligkeit, Rund-um-die-Uhr-Angebot, Offenheit, Ressourcenorientierung, keine Ratschläge, Hilfe zur Selbsthilfe. Zuhören ist wichtiger als sprechen. Wie ist die Trägerschaft in Ihrem Land geregelt? (kirchlich, Vereinsstruktur, öffentlich-rechtlich?) die Kirche sowie lokale wie regionale Regierungsstellen, private Spenden und Stiftungen Welche Medien nutzen Sie – Telefon, Chat, Mail, Face-to-face? Telefon, E-Mail, Chat Haben Sie spezielle Regeln im Umgang mit Mehrfachanrufenden? Wie arbeiten Sie mit ihnen? Ja. Nach Möglichkeit werden mit Vielanrufern Vereinbarungen getroffen (Beschränkung der Anrufe, zum Beispiel ein Anruf von zwanzig Minuten täglich). Gibt es besondere Methoden im Umgang mit suizidalen Anrufenden? Besondere Sorgfaltspflicht, wenn Selbstverletzung oder Gewalt gegen Dritte zu befürchten ist. Wenn suizidale Anrufende bereit sind, ihre Anonymität aufzugeben, kann Hilfe vor Ort organisiert werden.

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