AUF Draht - Ausgabe 82

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AUF DRAHT

82 / April 2013

Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt:

Auswege AUF DRAHT 82

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Foto: Gerd Eigelshoven

Die Gedichte, die Sie in diesem Heft lesen, hat uns Silvia Trummer zur Verfügung gestellt. Sie sind aus ihrem Gedichtband „Wegzeichen“. Silvia Trummer ist in Seengen am Hallwilersee aufgewachsen und lebt heute in Baden, Schweiz. Sie war als Lehrerin tätig und erhielt als Autorin wiederholt Förderpreise des Aargauischen Kuratoriums, zuletzt 2008. Von 1987 bis 1992 war sie Mitarbeiterin der TelefonSeelsorge Ulm.

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SUCHERIN Manchmal taste ich mich mit blossen Händen durch das Gestrüpp wirrer Gedanken. Ich möchte Worte finden wie Bäume in einer Allee, durch die das Licht fällt am frühen Morgen.

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... dann bemühen sich viele, noch schnell bei gelb über die Kreuzung zu kommen“ soll die Schauspielerin Senta Berger gesagt haben. In den letzten Jahren allerdings fahren mehr und mehr bei rot, das zeigen sowohl psychoanalytische Forschungen als auch Studien aus der Gewaltforschung. Auch die Medien bieten ein Forum, wie die vielen Cybermobbingfälle zeigen. Seit einigen Jahren schrecken Frauen immer weniger vor häuslicher Gewalt zurück, laut Kriminalstatistik sind 75 Prozent der Täter Männer und 25 Prozent Frauen. Das gesellschaftliche Über-Ich hat sich verändert. Schon vor zehn Jahren hat Wilhelm Heitmeyer den Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit geprägt; inzwischen ist er in Europa weit verbreitet. Um Menschenfeindlichkeit gegenüber Telefonseelsorgerinnen und -seelsorgern geht es bei der Debatte in diesem Heft (S. 18) Ich lade Sie herzlich ein, sich daran zu beteiligen.

Wenn das Gewissen eine Ampel ist ...

Auswege aus Fremdenfeindlichkeit und Menschenverachtung bietet die Online-Beratungsstelle gegen Rechtsextremismus (S. 25). Stefan Plöger (S. 22) zeigt, wie wir Unerhörtem Gehör schenken können. Friedrich Dechant (S. 20) fragt, ob Suizid ein Ausweg oder ein Irrweg des Körpers ist aus Depressionen, Hoffnungslosigkeit oder innerer Unruhe. Volker Bier (S. 33) betrachtet Suizid aus der Sicht der Kirchen von vorgestern, gestern und heute. Stefan Kühne (S. 21) untersucht in dem von Gesine Wabra geführten Interview die Qualität der Mailberatung. Der lyrische Umgang mit Auswegen ist das Thema bei Silvia Trummer, sie hat uns einen Teil ihrer Gedichte zur Verfügung gestellt. Mich hat das Projekt „Alte Männer“ stark angerührt. Claudia Lohse-Jarchow (S. 40) stellt es auf eine behutsame Weise vor. Es wurde in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern entwickelt. Wenn Sie nach dem Lesen Lust auf mehr haben, lege ich Ihnen die Webseite mit Interviews und Fotos ans Herz. Das Titelbild stammt von Bertram Bock. Er hat es während der Renovierung der „Neuen Galerie“ in Kassel geschossen. Die „Neue Galerie“ ist ein Museum für Moderne Kunst, wo unter anderem ein Teil der documenta-Kunstwerke und einiges von Beuys zu sehen ist. Aus meiner Sicht fängt das Titelbild die Idee der documenta ein: „Es gibt immer Neben-, Gegen- und Auswege“. Ganz besonders erwähnen möchte ich an dieser Stelle die Arbeit von Gisela Achminow, die im Redaktionsteam die Aufgabe des Redigierens übernimmt. Dies ist eine Arbeit im Hintergrund, die viel Zeit in Anspruch nimmt und wenig sichtbar ist - dafür umso mehr lesbar! Zum Schluss noch eine Nachricht, die ich nicht gerne weitergebe: Friedrich Dechant scheidet aus gesundheitlichen Gründen aus der AUF DRAHT-Redaktion aus. Wir bedauern das sehr und freuen uns, dass er uns und Ihnen als Autor erhalten bleibt. Von Ihnen verabschieden möchte ich mich heute mit einem Gedicht von Erich Fried, den ich kurz vor seinem Tod, am Abend des 9. November 1988, noch kennen lernen durfte. Wir haben die Nacht durch diskutiert: „Wer von einem Gedicht seine Rettung erwartet, der sollte lieber lernen, Gedichte zu lesen. Wer von einem Gedicht keine Rettung erwartet, der sollte lieber lernen, Gedichte zu lesen.“ Ihre

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BLICKPUNKT

‘Dein Körper weiß die Antwort’ heißt ein altes Standardwerk. Probleme kann ich mit Achtsamkeit auf meinen Körper besser lösen als ohne sie. Der Körper zeigt mir Wege und Auswege, wenn ich auf seine Signale höre. Er speichert den Stress und die Probleme und sendet mir über Schmerzen Signale, besser auf mich zu achten. Er weiß auch, wie die Lösung aussehen kann. Peter Levine hat das in seiner körperorientierten Traumatherapie wunderbar gezeigt. Wenn die natürlichen Schreckreaktionen und Schutzbewegungen des Körpers nicht bis zu ihrem Ende ausgeführt werden können, friert etwas ein. Die Erinnerung an dieses Trauma bleibt stecken, bleibt neuronal fragmentiert, unvernetzt und harrt der Lösung durch das körperliche Tun. Die alten Theologen haben gewusst, dass die Seele die einzige formende Kraft des Körpers ist. Die Seele teilt sich nicht nur auf geistiger Ebene mit, sie drückt sich körperlich aus. Natürlich gilt das für Banalitäten wie die Sorgenfalten, die sich mir ins Gesicht gegraben haben, ebenso wie für komplexe Zusammenhänge wie zum Beispiel die Zahnschmerzen, die ein Anrufer hatte. Zahnschmerzen, für die niemand eine Erklärung fand. Schließlich ließ er sich alle Zähne entfernen und litt fortan unter Tinnitus und rasenden Kopfschmerzen. Nicht immer ist die Sprache des Körpers leicht verständlich, und nicht immer wollen wir auf sie hören. Auswege aus unseren Sorgen und Nöten könnte sie uns weisen, wenn wir hören und verstehen wollten. Auch wenn der Körper eine Antwort, einen Ausweg weiß, muss ich mich entscheiden, ob mir der Preis nicht zu hoch erscheint und ob ich nicht lieber in dem Leid verharre, das mir vertraut ist.

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Ausweg

oder Weg ins Aus … Von Friedrich Dechant

Ist der Suizid der Ausweg, den mir mein Körper zeigt durch die Depression, die Hoffnungslosigkeit oder durch die innere Unruhe und Gehetztheit? Oder ist er ein Irrweg? In jedem guten Buch, das sich mit Suizidprävention beschäftigt, findet sich der Hinweis, dass der Helfer mit sich und seiner eigenen Einstellung zum Suizid im Reinen sein muss, um sich frei auf den Suizidanten einzulassen. Halte ich es für mich unter bestimmten Umständen für eine Möglichkeit, mich zu töten? Jeder und jede muss für sich diese Frage beantworten. In der Regel wird es in unserer mitteleuropäischen Lebenssituation dabei nicht um die Frage gehen, was ich tun würde, wenn ich denn Freunde oder Mitverschwörer gegen ein Unrechtsregime nur durch den eigenen Tod vor Ermordung und Folter schützen könne. Die Frage ist vielleicht, was ich tun würde, wenn ich Lungenkrebs hätte oder Nierenkrebs und es kein Spenderorgan gäbe. Sagt mir mein Körper nicht, dass die Schmerzen einen Ausweg weisen wollen, der sozusagen den Weg abkürzt? Was ist, wenn ich mich in meiner Depression selbst nicht mehr kenne, die anderen und ich mir selbst fremdgeworden sind? Wenn ich mich nicht einmal mehr an frühere Freuden und Hobbys erinnern mag, da diese Erinnerung

nur tiefen Schmerz auslöst; was ist dann der Weg, der Ausweg? Wenn meine Seele so zerquält ist, dass mein Körper kraft- und antriebslos ist, als warte er auf das Grab; oder wenn meine Seele so von Angst vor dem Leben, vor dem Scheitern gelähmt ist, dass ich nichts mehr tun kann? Ist dann die Antwort des Körpers die Beendigung des Leidens durch den Tod? Ist es ein Weg, sich auszuknipsen, so wie man das Licht ausknipst, wenn man geht? Der Suizid wird zum Akt der Ordentlichkeit; schließlich will ich ja niemandem zur Last fallen und mir selbst bin ich das schon lange genug. Ich weiß auf diese Fragen und ähnliche keine abschließende Antwort. Ich weiß nur einige Fragmente. Körperpsychotherapie will „eingefrorene” Gefühlszustände zu einer Lösung führen. Dabei geht es nicht um die Veränderung des Schicksals, sondern um eine neue LebensErfahrung von und mit diesem. Der Ausweg zeigt sich dann nicht als Weg in den Tod, sondern als Weg aus dem Leid ins Leben. Die Antwort, die der Körper weiß, ist nicht die Vernichtung. Vielleicht ist die Vernichtung die Antwort der Seele? Es gibt verschiedene religiöse Traditionen, die dies bestreiten würden. Eine,

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die mir bedeutsam ist, ist die, in der Jesus von sich sagt, er sei der Weg, die Wahrheit, das Leben. Das Wegwort soll wohl bedeuten, dass die Art und Weise seines Lebens uns zeigen kann, wie wir Leben sinnvoll gestalten können. Sicher gehören hier all die wunderbaren Beispiele seiner Nächstenliebe, seine Lehrgeschichten, die Rezeptionsgeschichte der Jesusgestalt erzählt. Vor allem aber gehört die Geschichte seiner Todesangst erzählt. Er hätte dem Foltertod entfliehen können. Er hätte flüchten können; schon in Ägypten hätte sich niemand für einen heruntergekommenen jüdischen Wanderlehrer interessiert. Er hätte sich umbringen können (auch wenn das im Judentum seiner Zeit nicht sehr populär gewesen wäre). Er tut das nicht. Wahrscheinlich hat er sich schon früher mit dem geringen Erfolg seiner Verkündigung und mit Anfeindungen auseinandersetzen müssen. Jetzt ist er an einem Punkt, an dem ihm klar ist, dass er in diesem Konflikt nur sein Leben verlieren kann, und er betet. Er stellt sich in die Tradition eines Beters, der sich genauso alleingelassen weiß: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?” (Ps 22,2)

Der Weg Jesu ist nicht die Vernichtung von Seele und Körper, sondern das Gebet. Der Psalm kämpft mit Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Der Weg ist nicht leicht. Ob dieser Weg ein Ausweg ist, muss jeder und jede für sich selbst entscheiden. Vor einiger Zeit hatte ich eine Anruferin am Telefon, sie war verzweifelt, lebensmüde. Sie sprach von der Hoffnungslosigkeit in ihrem Leiden und zitierte „mein Gott, mein Gott, warum hast du

mich verlassen” um ihre Einsamkeit zum Ausdruck zu bringen. Ich fasste mir ein Herz und sagte ihr, wie das Psalmwort weitergeht. Sie war überrascht, wollte mehr hören, und ich las ihr eine Auswahl aus dem Psalm vor. Sie war gerührt und getröstet, bedankte sich und kurz darauf beendeten wir das Gespräch.

Dr. Friedrich Dechant ist Leiter der TS Nordoberpfalz

Foto: Bertram Bock AUF DRAHT 82

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UNERHÖRTEM

GEHÖR SCHENKEN.

Möglichkeiten und Grenzen der telefonischen Begleitung suizidgefährdeter Menschen durch die TelefonSeelsorge Von Stefan Plöger TelefonSeelsorge als suizidpräventive Einrichtung Die Gründungsidee von TelefonSeelsorge ist Suizidprävention. Der Anlass ist in doppeltem Sinn etwas Unerhörtes. Ein Hilfeschrei wird überhört. Die Folgen sind empörend und unfassbar. Alles rebelliert: Hilfe muss möglich sein, wenn jemand am Leben verzweifelt. TelefonSeelsorge wurde von Menschen gegründet, die ihre Betroffenheit zuließen und eine Möglichkeit schufen, sich telefonisch erreichbar zu machen, um Selbsttötungen zu verhindern. TelefonSeelsorge versteht Suizidprävention nach wie vor als ihren vordringlichen Auftrag. In der „S3Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression“ wird im Kapitel „Management bei Suizidgefahr“ (Kapitel 3.7) ausgeführt: „Suizidale Menschen haben oftmals sämtliche zwischenmenschlichen Beziehungen bereits abgebrochen und sind mit dem Wunsch zu sterben allein. Gerade Beziehungslosigkeit und Einsamkeit verschärfen den Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Deswegen kommt beim Umgang mit suizidalen Menschen dem initialen Beziehungsaufbau zentrale Bedeutung zu [1133; 1159].

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Was macht das Beziehungsangebot der TelefonSeelsorge aus? Erst einmal sind Zweifel angebracht, ob in einer suizidalen Krise ein anonymes Gesprächsangebot am Telefon (ich beziehe mich hier nur auf dieses Medium) durch qualifizierte Laien hilfreich sein kann. Braucht es nicht den Fachmann? Braucht es nicht direkte Interventionsmöglichkeiten? Nein, die Chancen liegen genau in dem niederschwelligen, nicht kontrollierenden Angebot. Das sind die Merkmale der Telefon-Arbeit der TelefonSeelsorge: Es handelt sich um ein anonymes, akustisches Gesprächsangebot durch qualifizierte Laien, bei dem direkte Intervention nicht möglich ist und der Anrufer starke Kontrolle über das Gespräch behält: Er kann jederzeit auflegen. Zwei Aspekte scheinen mir besonders wichtig. Akustischer Kontakt „Nur“ akustischer Kontakt: Ist die Reduzierung auf den akustischen Kontakt nicht eine massive Einschränkung? Ist der visuelle dem akustischen Kanal nicht überlegen? Nein. Ich fasse kurz zwei Aspekte zusammen: 1. Gerade die Reduzierung auf den auditiven Kanal scheint visuelle Ablenkung zu verhindern und

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ermöglicht damit Aufmerksamkeit gegenüber relevanten Stimuli. „Zu viel“ Informationen (visuell und vokal) können die Erkennungsleistung besonders im verdeckten Bereich schwächen. Im Beichtstuhl und auf der Couch der Analyse wird dieser Effekt genutzt. 2. Basisemotionen können akustisch gut erkannt werden. „Bei Ärger und Freude spricht man sehr schnell, aber dennoch nicht unsauber, sondern im Gegenteil ganz besonders deutlich“ (Nuber, 2000, S.9). Bei Langeweile, Trauer oder Angst werden Silben undeutlicher artikuliert. Man könnte sagen: Bei Freude und Ärger wird eine große Klappe riskiert, bei Angst bekommt man die Zähne nicht auseinander. Typisch für Angstzustände sind eine sogenannte Falsettstimme und Monotonisierung der Satzmelodie. Bei Trauer schwingen die Stimmbänder weicher, so dass eine behauchte Stimme entsteht (vgl. ebd, 2000, S.9). Fazit: Es kann nicht generell von einer Überlegenheit des visuellen Kanals ausgegangen werden. Im Gegenteil: Bei Täuschungsverhalten und bei der Erkennung von Primäremotionen ist der auditive Kanal effektiv. Fernnähe Beim Telefonieren verliert die räumliche Distanz ihre Wahrnehmbarkeit. Körperliche Abwesenheit muss psychischer Nähe keinesfalls widersprechen. Im Gegenteil: Das Gefühl der Nähe zu einem Menschen hat mit dem räumlichen Abstand nicht zu tun (vgl. Döring, 1999, S.233). Reduktion der Sinneskanäle kann mit Steigerung statt mit Verarmung des Empfindens einhergehen. Ganz typisch ist die Erfahrung, dass Telefonkontakt ein intensives Bild des Gegenübers vermitteln kann. Pau-

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ser (1995, S.24) beschreibt Telefon als „visuelles Medium“, bei dem fehlende visuelle, olfaktorische und taktile Informationen eine intensive auditive Wahrnehmung fördern, die eine lebhafte Vorstellung des telefonischen DialogPartners vermittelt. Thomas Feld überschreibt seinen Artikel über „Wahrnehmung und Begegnung in der Telefonseelsorge“ mit dem Titel: „Sprich, damit ich dich sehe“ (Feld, 2005). Es ist ein grundlegender Sachverhalt menschlicher Begegnungen, dass wir das Wissen um den Anderen vornehmlich in Metaphern der Sichtbarkeit beschreiben. Die Wahrnehmungen fügen sich zu einem Bild zusammen. Jemanden wahrnehmen heißt ihn sehen. Am Telefon wird deutlich, wie sehr das Sehen des Anderen eine metaphorische Rede ist: „Was ich höre, nicht was ich sehe, führt die Sichtbarkeit des Anderen herbei.“ Die entstehenden Bilder können sich suggestiv aufdrängen, müssen aber nicht falsch sein. Im Gegenteil. Wir sprechen manchmal vom dritten Ohr. Man kann es treffend mit dem Satz sagen: Sichtbarkeit übersteigt das, was sich den Augen bietet. Oder in Anlehnung an „Der kleine Prinz“ von St. Exupery: „Man sieht nur mit den Ohren gut.“ Es geht um etwas, das sich nicht am Äußeren festmachen lässt. Manchmal steht das Äußere – „das Sichtbare“ – sogar im Weg und verhindert, das der inneren Wahrheit Nähere zu erkennen. Die Begleitung des Hörens birgt besondere Chancen, den Blick auf das unsichtbare Wesentliche zu richten. Suggestibilität Allerdings gibt es Gefahren bei dieser Art Kontakt. Kanalreduktion führt zu Kompensation. Es

gibt eine Tendenz, den Informationsverlust der Kanalreduktion auszugleichen. Zum emotionalen Inhalt entsteht eine Vorstellung der Lebenssituation des Anrufers. In jeder Kommunikation reagieren wir aufeinander mit „inneren Bildern“ (vgl. Hüther 2005). Wir machen uns eine Vorstellung von einer anderen Person und ihrer Lebenssituation. Dies gilt auch und erst recht für die Kommunikation am Telefon, bei der keine Bildübertragung stattfindet. Je weniger konkrete Anhaltspunkte es gibt, desto größer ist die Neigung, diesen Mangel durch Vorstellungsbilder zu ersetzen. Pointiert gesagt: Je weniger Bilder, desto mehr Bilder. Genauer: Je weniger äußere Bilder, desto mehr innere Bilder. Akustische Kommunikation ist damit hoch suggestiv. Aus dem Erzählten, dem Wie des Erzählens (Klang, Modulation, Rhythmik der Stimme) (vgl. Seidlitz, Theiss, 2007, S. 25) formt sich ein Bild vom Gegenüber und seiner momentanen Lebenssituation. Das Telefon lädt gerade zu ein, sich fiktive Szenarien und virtuelle Identitäten vorzustellen. Die aktuelle Gesprächssituation wird mittels Fantasie rekonstruiert. Ist ein Stöhnen Schmerz- oder Lust­ äußerung? Ist Schweigen Nachdenken, Desinteresse oder Absence (vgl. ebd. S. 25)? Kontakt auf Augenhöhe TelefonSeelsorge zielt ab auf eine beratende Krisenintervention. Sie kann keine kontrollierende Macht ausüben. Stattdessen stellt sie Beziehung, Begegnung, Begleitung in den Mittelpunkt. Die Diensthabenden müssen diesen Raum füllen. Gespräche mit Menschen, die eine Suizidhandlung planen, führen ans Limit. Es geht um die Bereitschaft, eine existenziell erschütternde


WISSEN

Fortbildung für die Hauptamtlichen haben wir viele Methoden der Mailberatung diskutiert und auch selbst ausprobiert. Dabei war der kollegiale fachliche Austausch ebenso wichtig wie das Erlernen neuer Methoden. Besonders spannend war dabei der Erfahrungsaustausch, wie diese Methoden auch in der Qualifizierung der Ehrenamtlichen eingesetzt werden können. Auch die Chancen und Grenzen der Mailberatung haben wir intensiv mit Blick auf die Ehrenamtlichen diskutiert: Sind nur Mehrfachkontakte „richtige“ Mailberatung oder reicht auch der einmalige Kontakt aus? Wann ist ein Mailkontakt zu beenden, weil er nicht mehr in das Konzept der TSI passt oder weil er zu sehr in Richtung „Brieffreundschaft“ verrutscht ist? Ein wichtiger Lernpunkt war auch, das Angebot der TSI einmal aus Sicht der Mailer und Mailerinnen zu betrachten und auszuprobieren.

beitern und Mitarbeiterinnen arbeiten kann. Der „sprachliche Erfahrungsschatz“ eignet sich wunderbar, wenn es darum geht, ein schriftliches Gespräch per Mail zu führen.

Inspiriert hat uns auch die Arbeit in einer zweitägigen Fortbildung mit Ehrenamtlichen „Die Sprache in der Mail“ – hier zeigte sich für mich noch einmal ganz deutlich, dass es ein großer Vorteil sein kann, wenn man (wie die TSI) auch mit vielen älteren Mitar-

Gesine Wabra: Was ist gelungen? Wo sehen Sie Bedarf für Veränderung? Wie sieht Ihrer Einschätzung nach die Zukunft der Mailberatung der Telefonseelsorge aus?

Die Zusammenarbeit mit der AG Internet hat mir gezeigt, dass Sie innerhalb der TSI ein engagiertes Arbeitsgremium haben, das jedoch aufgrund der vielfältigen Organisationsstruktur der Telefonseelsorge auch viele Bedürfnisse und Anspruchsgruppen einbinden und berücksichtigen muss. Bei mir ist die Frage aufgetaucht, ob ein bundesweit verfügbares Angebot wie die TSI nicht mehr zentrale Steuerung und Leitung benötigt, gerade auch wenn es darum geht, den Rahmen zu definieren, was TSI ist und was nicht (übrigens wäre diese Definition auch im Interesse der Kunden). Aber natürlich ist mir die Schwierigkeit einer solchen Forderung bewusst.

Aus meiner Sicht konnten in diesen vier Jahren zahlreiche Schätze

gehoben werden, die bereits in der Arbeit der TSI da waren. Das Heben des Schatzes war wichtig, damit auch neue Kollegen und Kolleginnen wissen, welche Dokumente und Vereinbarungen es gibt. Gleichzeitig sind auch immer wieder Fragen aufgetaucht, wie denn die genaue Definition der „TelefonSeelsorge im Internet“ lautet und was Mail-Beratung und Mail-Seelsorge überhaupt leisten kann. Überrascht hat mich, dass die Resonanz auf die Mail-Fortbildung eher verhalten war – die Gruppe hatte jeweils zwischen acht und zwölf Teilnehmende. In einem Bereich wie der Mail-Beratung, der sich in den letzten siebzehn Jahren stark gewandelt und entwickelt hat, ist eine fortlaufende Qualifizierung notwendig (auch – oder vielleicht gerade – wenn man schon viele Jahre in diesem Bereich tätig ist). Zur Zukunft möchte ich sagen, dass die TSI einzigartig ist. Kein anderes Angebot ist in Deutschland so breit und so offen aufgestellt, wie die Telefonseelsorge und die TSI. Um den Ansprüchen der eigenen Qualität und den Anforderungen durch Nutzer und Nutzerinnen weiterhin gerecht zu werden, sind neben den inhaltlichen Definitionen und Methoden der Mailberatung nach meinem Verständnis auch die nötigen Maßnahmen zur technischen Weiterentwicklung des Portals wie auch bundesweite Weiterbildung unabdingbar. Gesine Wabra: Vielen Dank für das Interview! Stefan Kühne ist Herausgeber des e-beratungsjournal.net und des Handbuchs Onlineberatung. Er ist diplomierter Erwachsenenbildner (wba) und leitet die wienXtra-jugendinfo. Zahlreiche Seminare, Lehraufträge und Publikationen. Das Interview per Mail führte Gesine Wabra, hauptamtliche Mitarbeiterin der TS Schwarzwald Bodensee e.V.

Foto: Stefan Kühne

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WISSEN

Die Kirchen und der Suizid Von Volker Bier Der folgende Text findet sich im Wesentlichen im „Handbuch für die Suizidprävention in der Telefonseelsorge“. Er wurde ergänzt durch einen Blick auf die Situation in der katholischen Kirche durch Dr. Hans-Gerd Angel. Der biblische Befund In der Bibel gibt es nur sehr sparsam Hinweise auf den selbstgewählten Tod eines Menschen. Die meisten Berichte finden sich im Alten Testament, so über Simson (Richter 16, 30), Abimelech (Richter 9, 52), Saul und seinen Schwertträger (1. Samuel 31, 4-5), Architofel (2. Samuel 17, 23), Zimri (1. Könige 16, 18) und Rasi (2. Makkabäer 14, 41-46). Nur ein einziger Hinweis findet sich im Neuen Testament: Der Tod des Judas nach seinem Verrat an Christus (Matthäus 27, 3-8 und Apostelgeschichte 1, 18-19.). Alle Tode werden ausnahmslos ohne Betroffenheit oder Bewertung beschrieben. Die Begründung liegt in der Regel im Scheitern an eigenen oder von außen gesetzten Maßstäben. Kurzer Rückblick Das Christentum, der Pfeiler westlicher Ethik, bezieht in seiner geschichtlichen Entwicklung keine konstante Haltung zum Suizid. Bis ins vierte Jahrhundert fand der freiwillige Tod von Mann oder Frau angesichts eines zu erwartenden Martyriums Anerkennung seitens der Kirchenväter. Mit Augustin (354-430) setzt eine Entwicklung der Bewertung ein, die zu einer veränderten Haltung führt. In seinem Werk „De Civitae

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Dei“ verurteilt er den Suizid als ein abscheuliches und schändliches Übel. In den folgenden Konsilien verfestigt sich diese Einstellung. Auf der Synode von Orleans (538) wird die Bestattung von Selbstmördern verboten. Im Konzil von Toledo 693 zieht der Suizid die Exkommunikation (Ausschluss aus der Gemeinschaft der Kirche) nach sich. Papst Nikolaus I bezeichnet ihn 860 als Todsünde. Das Kirchenrecht schreibt diese Einstellung fest. Die Synode in Nîmes 1284 verweigert Selbstmördern das Recht auf ein Begräbnis in geweihter Erde. Thomas von Aquin (1225-1274) erklärt den Suizid als Akt gegen die göttliche Ordnung (Summa theologica II, 64). Diese Haltung verfestigt sich und bleibt über Jahrhunderte Grundlage und Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen. Katholische Kirche In der Tradition der katholischen Kirche wird das Thema „Selbstmord“ im Problembereich des Fünften Dekalog Gebotes verortet. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Vorstellung von Gott als Schöpfer allen Daseins, von dem der Mensch sein Leben nur als Verwalter, nicht aber als Eigentümer erhalten hat. Sie schließt sich im Kern den Ausführungen von Thomas von Aquin an. In jüngerer Zeit wurde die traditionelle Lehre durch die Erkenntnis der modernen Psychologie ergänzt, wonach in Fällen von Suizid oder Suizidversuchen nur selten von einem freien Willen des Menschen und damit von einer vollen Ver-

antwortung ausgegangen werden kann. Unterschieden wird daher in die bewusst und aus freien Stücken begangene Tat, die weiterhin als sittlich falsch zu beurteilen ist, und den von außen schwer zu beurteilenden Grad der Freiheitsentscheidung des Einzelnen, der das Maß für die Sündhaftigkeit der Handlung abgibt. Der Glaube lässt darauf hoffen, dass eine Versöhnung mit Gott auf Wegen, die nur Er bestimmt, gelingen kann. Wenn auch die katholische Kirche den „Selbstmord“ weiterhin als Sünde verurteilt, ist sie daher zurückhaltend in der Beurteilung des Täters als Sünder, da „schwere psychische Störungen, Angst oder schwere Furcht vor einem Schicksalsschlag, vor Qual oder Folterung“ die Verantwortlichkeit des Selbstmörders vermindern können. In der pastoralen Praxis bedeutet dies, dass in das Rechtsbuch der Katholischen Kirche (CIC) aus dem Jahr 1983 eine Anordnung zur Verweigerung der kirchlichen Beisetzung für „Selbstmörder“ nicht mehr aufgenommen wurde. Evangelische Kirche Martin Luther sieht im Suizid „das Werk des Teufels“ und verurteilte deshalb stets die Tat, aber nicht immer das Opfer. In seinen Tischreden formuliert er etwa: „Sie tun es nicht gern, aber die Kraft des Teufels überwältigt sie, wie einer im Wald von einem Räuber ermordet wird.“ Damit wandert der Blick ohne Ansehen der Person auf das persönliche Schicksal des Einzelnen. Dietrich Bonhoeffer differenziert noch detaillierter. Für ihn gehört zur menschlichen Freiheit auch, das Leben zu opfern. Damit unterscheidet er eindeutig zwischen einer Selbsttötung, die ein Opfer zugunsten anderer Menschen ist, und dem Selbstmord, bei dem es

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nur um die eigene Person geht. Karl Barth kommt auch zu einem differenzierten Nein. Aber ähnlich wie er den Tyrannenmord unter dem Eindruck der Schrecken des NS-Regimes für möglich erachtete, verweist er auch für den Suizid darauf, dass es Menschen an der Grenze gibt. Und für diese Fälle gilt, dass „die Möglichkeit des Grenzfalls [...] die besondere Möglichkeit Gottes selbst“ ist. Letztendlich bleibt Karl Barth jedoch dabei, vor dem Selbstmord zu warnen. Besondere Berücksichtigung sollte vielleicht Jochen Klepper erfahren. Der bekannte Dichter mehrerer Gesangbuchlieder hat zusammen mit seiner jüdischen Frau angesichts zunehmender Repressalien 1942 den Suizid als Ausweg gewählt, im blinden Vertrauen auf Gottes Führung und Fügung. Das Resümee unterschiedlicher Theologen, das in den neueren Verlautbarungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auftaucht, lässt sich so zusammenfassen: Auch in der evangelischen Kirche hält man am „Ja!“ Gottes zum Leben fest. Aber angesichts der Situation, dass ein Mensch selten wirklich „frei“ zu einer Entscheidung kommt und angesichts dessen, dass Sinnzusammenhänge zerbrechen und zerbrochen bleiben können, muss mit Kritik und Bewertung vorsichtig umgegangen werden. Letztlich sind es individuelle Schicksale, die nicht unserer Bewertung, sondern der Gnade Gottes überlassen sind. Pastoralpsychologische Sicht und gemeinsame Verlautbarung der beiden Kirchen Aus den offiziellen Stellungnahmen der beiden Kirchen lässt sich der Blick auf die seelsorgerische Praxis ableiten. Das heißt, die

Situation des Menschen will, soweit möglich, verstanden sein, die Situation aller Betroffenen braucht Begleitung. Dies geschieht unter anderem in der TelefonSeelsorge. Den Hintergrund bieten soziologische und psychologische Untersuchungen und Erwägungen, im Vordergrund steht aber für die Begleiterinnen und Begleiter immer, dass die letzte Entscheidung dem „Forum Gottes“ überlassen bleibt. An diese praktisch-seelsorgerischen Überlegungen lässt sich auch die gemeinsame Verlautbarung der beiden Kirchen anschließen (Kirchenamt, 1989). Suizid wird nicht weiter als „Selbstmord“, sondern als „Selbsttötung“ verstanden. In den Mittelpunkt wird der Mensch gerückt und nicht die Tat als Maßstab der Beurteilung genommen. Damit wird zwischen Mensch und Tat differenziert. Die Tat bleibt unverstehbar und ist nicht zu billigen, aber der Mensch fällt nicht automatisch unter ein verdammendes Gericht, er bleibt auch hier der Gnade Gottes überlassen. Die Verlautbarung nimmt noch zwei andere Ideen auf. Die eine bezieht sich auf die „Freiheit“ einer individuellen Entscheidung.

Jede „Freiheit“ entzieht sich objektiven Maßstäben, weil sie immer gebunden bleibt an ein subjektiv empfundenes Freiheitsgefühl. Dieses ist durch den jeweiligen Kontext und dessen Maßstäbe bestimmt (z. B. gesund, reich, stark, beschwerdefrei etc.) Dies erinnert an die konstruktivistischen Ansätze neueren Datums. Damit lässt sich auch keine „objektive“ Aussage machen, die sich auf die Freiheit des Menschen bezieht. Dieser Blick auf die Bedingungen einer „freien“ Individualentscheidung wird bis heute bei Organisationen vernachlässigt, die sich für ein freies, selbstbestimmtes Ende, eine Sterbehilfe aussprechen. Zum anderen nimmt die gemeinsame Verlautbarung das Thema der Beihilfe zum Suizid auf und setzt diesen gleich mit der verworfenen aktiven Sterbehilfe (vgl. christliche Patientenverfügung). Gehört dazu auch die (telefonische) Weitergabe von Telefonnummern oder Adressen der Organisationen, die die in Deutschland verbotene Sterbehilfe vertreten?

Volker Bier ist Leiter der TS Saarbrücken

Foto: Birgit Knatz

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Facebook und Suizidprävention Zwischen S.O.S. Amitié, der Französischen Telefonseelsorge, und Facebook gibt es einen Vertrag, gemeinsam Suizide zu verhindern. Ähnliche Verträge hat Facebook auf allen fünf Kontinenten, teilweise mit Mitgliedsorganisationen von IFOTES. Wer in Frankreich auf seiner eigenen Facebookseite den Suchbegriff Suizid eingibt, erhält die Kontaktdaten von S.O.S. Amitié. Man kann aber auch über ein Formular melden, wenn man bei einem „Freund“ Suizidgedanken und das Bedürfnis nach Hilfe wahrgenommen hat. In diesem Fall verschickt Facebook zwei

standardisierte Briefe, einen an die Absenderin oder den Absender der Nachricht und einen an den suizidgefährdeten „Freund“. Der erste Brief fordert dringend dazu auf, den Medizinischen Rettungsdienst zu benachrichtigen, falls sicher ist oder der begründete Verdacht besteht, dass ein Suizid geplant ist. In beiden Briefen wird S.O.S. Amitié vorgestellt und die Webseite der

Organisation genannt. Anders als die deutsche TelefonSeelsorge hat SOS Amitie keine frankreich-weite Rufnummer, jede der rund fünfzig Dienststellen hat ihre eigene. Die Schreiben ermutigen sowohl die Absenderin oder den Absender der Nachricht als auch die gefährdete Person zur Kontaktaufnahme mit S.O.S. Amitié per Telefon, E-Mail (drisch) oder Chat.

Facebook fängt auch in Deutschland das Stichwort „Selbstmord“ ab: Wer den Begriff in seine Statuszeile tippt, sieht noch vor einigen Spaßgruppen und Fake-Identitäten einen Button „Facebook-Hilfe: Selbstmord“. Wer darauf klickt, wird gefragt, ob er eine Notrufnummer benötigt. Ein Klick darauf führt – für Deutschland – auf die Rufnummern der TelefonSeelsorge sowie die „Nummer gegen Kummer“. Auch Ratschläge für den Fall, dass jemand anders suizidale Inhalte gepostet hat, gibt Facebook: „Wenn du auf Facebook eine direkte Suiziddrohung entdecken solltest, wende dich bitte umgehend an die Polizeidienststelle oder einen Notruf bei Suizidgefahr“. Ac

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MUTIG UND BEHERZT

Alte Männer ein seelsorgerliches Foto-Text-Projekt

„ Wenn ich die Fotos anschaue und die Geschichten lese, fällt mir auf: Da steckt ganz schön viel TS drin!“ Über diese Sätze einer Besucherin der Ausstellung „Alte Männer – Fotografien und Texte“ haben wir uns sehr gefreut. Denn genau so sehen wir unsere Arbeit. Am Anfang war die Fotografie. Raymond Jarchow, Biologe und Informatiker, fotografischer Autodidakt, wandte sich in den neunziger Jahren von der unbelebten Landschaft ab und begann, Menschen zu fotografieren. Es entstanden Porträts von Freunden und von Fremden. Hinzu kamen Selbstaussagen der Fotografierten. Um diese Zeit schloss Jarchow seine Ausbildung bei der TelefonSeelsorge Greifswald ab. Wir lernten uns kennen und wurden ein Paar. Auch ich war TSlerin, lebte in Rostock und arbeitete grafisch und an eigenen Texten. Wir begannen, zusammen zu arbeiten. Uns interessierte das Zusammenspiel aus biografischer Schilderung

Von Claudia Lohse-Jarchow

und fotografischer Visualisierung von seelischen Zuständen und Prozessen. In verschiedenen Projekten sind wir dem bisher nachgegangen. Als Trägerinstitution haben wir den ZeitAnschauen e.V. gegründet. In Auseinandersetzung mit dem eigenen Altern entwickelte Raymond Jarchow das Konzept zum Projekt „Alte Männer“. Er wollte erfahren,

wie die Männer der Vätergeneration ihr Alter erleben und wie sie mit den existenziellen Erfahrungen von Liebe, Schmerz, Krieg, Erfolgen und Verlusten, Freundschaft, Heimat und Entwurzelung, Glauben und Enttäuschungen umgehen. Was macht Menschen zu dem, was sie sind? Er wollte die Männer fotografisch in ihrem Alltag begleiten und Bilder festhalten, die Assoziationen zu all dem herstellen und zugleich die Männer zeigen wie sie sind - gebeugt und gerade, still und geschäftig, verbohrt und weise, versehrt und schön. Er wollte Männlichkeit in all ihren Facetten abbilden, Zeitgeschichte konservieren und die Erfahrung der Alten für die Jungen bewahren. Ab 2006 fotografierte und interviewte Raymond Jarchow über hundert Männer, die mindestens fünfundsechzig waren. In die redaktionelle Arbeit bei der Bildauswahl und der InterviewbearbeiFotos: Raymond Jarchow

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tung stieg ich nach und nach mit ein. Heute ist es unser Projekt. In den letzten zwei Jahren haben wir die Ergebnisse in zwei großen und mehreren kleinen Ausstellungen gezeigt. Um die Männer zu treffen, reist Jarchow durch MecklenburgVorpommern, und in ihren Geschichten mit ihnen durch die Jahrzehnte und die Welt. In diesen Begegnungen ergeben sich immer wieder auch seelsorgerliche Situationen. Im AngehörtWerden und im Angeschaut-Sein eröffnet sich die eigene Lebenslandschaft neu. Ein Geschenk, mitunter ein aufwühlendes, für den alten Mann und ein besonderes für den Fotografen. Aber natürlich gibt es auch Begegnungen mit Verschlossenheit, die auszuhalten sind. Wie am TS-Telefon gilt für das Projekt: Jeder hat das Recht auf sein Schweigen und auf seine Masken.

AUF DRAHT 82

Für AUF DRAHT haben wir die Geschichte des Herrn S. im Rostocker Hospiz ausgewählt; Karl S., geb.1944 in Gützkow, Schlosser. Raymond Jarchow fand bei seinen ersten Besuchen keinen Zugang zu diesem Herrn. Er war misstrauisch und wollte doch, dass der seltsame Mann mit Kamera und Diktiergerät immer wiederkam. Doch irgendwann ist der Satz gefallen, der zum Türöffner geworden ist: „Herr S., mir fällt auf, dass Sie immer akkurat rasiert sind, obwohl Sie das Bett nicht mehr verlassen können“. Da begann er zu erzählen – vom starken Bartwuchs seines Vaters, seinen ersten heimlichen Versuchen, sich zu rasieren und dem Rasierwasser, dem er Zeit seines Lebens treu geblieben ist: Old Spice. R. Jarchow recherchierte im Internet und fand einen Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung, Heft 20/2006 :„Das Aftershave mit dem Segelboot auf

seinem unverwechselbar minimalistischen Milchflaschenflakon wurde dank seines erwachsenen Aromas schnell zum mythischen ersten Rasierwasser an der Schwelle zum Erwachsensein – wenn die erste Rasur noch nicht wirklich nötig, aber als Initiationsritual unabdingbar erscheint, um sich und dem Rest der Welt zu beweisen, dass man vom Jungen zum Mann geworden ist.“( http://szmagazin.sueddeutsche.de/texte/ anzeigen/886/Old-Spice) Dieses Flakon gab bei seinem nächsten Besuch die Stichwörter für eine ganze Lebensgeschichte. „In Gützkow wollte jeder Seemann werden. Da gab es ‘ne ganze Familie, die hatten Matrosen, weiß ich noch. Und dann wollten alle zur See fahren. Aber meine Mutter damals, die hat gesagt: »Du brauchst nicht zur See fahren, du lern erst mal« – wie hat sie das ausgedrückt

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Inhaltsverzeichnis Vorwort ....................................................................... 3

Internes

UNERHÖRTEM GEHÖR SCHENKEN. Möglichkeiten und Grenzen der telefonischen Begleitung suizidgefährdeter Menschen durch die TelefonSeelsorge ....................................... 22 Stefan Plöger

Neue Koordinatorin der Schwanberg-Wochen ........ 5 Friedrich Dechant

Online-Beratung gegen Rechtsextremismus ........... 25 Martin Ziegenhagen und Kirsten Thiemann

Anstoßend, da sperrig – ein Studientag mit Verantwortlichen der TS zur „Theologie des Ehrenamtes“ ............................... 8 Peter C. Heun

Auswege aus der Antipathiefalle* ............................. 28 Friedrich Dechant

Schreiben Sie uns ................................................. 4

Internet

Was für ein Wunder ... ................................................ 10 Ilse Junkermann

Qualität in der Mailberatung der TelefonSeelsorge .................................................. 31 Gesine Wabra

Angstessen Seele auf .................................................. 12 Krischan Johannsen

Wissen

„Mitten im Endlichen spielst du, Unendlichkeit, deine Melodie“ ................................. 14 Gabriele Söll Ist das nicht witzig? Jugendliche Scherzanruferinnen und Scherzanrufer bei der TelefonSeelsorge .......... 15 Claudia Reuer und Rebecca Löbmann Herbsttagung BETS 2012 .......................................... 16 Ingrid Schmeißer Drei Mal ist Bremer Recht ......................................... 17 Dieter Wekenborg

Zur Debatte Nein – sagen ist ein Menschenrecht! (?) TS im Spannungsfeld zwischen Grenzziehung und Niederschwelligkeit ................... 18 Stefan Schumacher

Blickpunkt

Die Kirchen und der Suizid ....................................... 33 Volker Bier Facebook und Suizidprävention ............................... 35 Was würdest Du antworten? ..................................... 36 Seelsorge als Gastfreundschaft Francis Cramer................................................................. 38

mutig und beherzt Alte Männer – ein seelsorgerliches Foto-Text-Projekt .................... 40 Claudia Lohse-Jarchow Der Staatschef von Uruguay, José Mujica ............... 43 60 Jahre Samaritans ..................................................... 43 Empfehlungen ............................................................. 44 Impressum ................................................................... 47

Ausweg oder Weg ins Aus ... ..................................... 20 Friedrich Dechant

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