AUF Draht - Ausgabe 83

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AUF DRAHT Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland

Blickpunkt:

Die Nacht

83 / August 2013


Nacht Es lauern Gestalten, Geister und Gespenster. Überall Augen in der Dunkelheit

Nacht denk ich an die Zukunft bin ich um den Schlaf gebracht

Nacht voller Qualen Nacht der Ungewissheit Ich bin allein. Wo bist Du?

Nacht bedrohliche, finstere allumfassende, allumfangende, bergende hüllende, Schlaf spendende Stille, erquickende Nacht

Elfchen – Dichten ohne große Worte Kennen Sie Elfchen? Kleine Gedichte, aus elf Wörtern bestehend, in festgelegter Folge auf fünf Zeilen verteilt – Gefühlsmomentaufnahmen. Schreiber oder Schreiberin übersetzen das eigene Empfinden in sinnliche oder poetische Bilder jenseits der Alltagssprache. Die Elfchen auf dieser Seite haben TSler und TSlerinnen während einer Meditationsstunde in der Nacht der Offenen Kirchen in Bad Kreuznach verfasst.

Nacht endlich schlummern versinken, träumen, vergessen. Schade, dass du immer so kurz bist.

Nacht stille Freundin! Ruhe und Traum Kein Gedanke an Morgen: Telefon, Fax, Hektik!


… aber nachts, mein Gott, da ist es etwas ganz anderes“, schrieb Ernest Hemingway. Wer von uns kennt sie nicht: die Nächte der Angst, die man kaum zu überstehen glaubt, weil das Herz rast und es im Kopf dröhnt. „Die Angst“, schrieb Ingeborg Bachmann, „ist nicht disputierbar, sie ist der Überfall, ist Terror, der massive Angriff auf das Leben.“ Die Angst widersteht der Vernunft. Die Nacht war im Volksglauben die Zeit der Geister, der Teufel und Gespenster. Zwischen Mitternacht und Morgengrauen hatten die dunklen Wesen besondere Macht. Auch wenn wir heute nicht mehr an Geister und Gespenster glauben, hat die Nacht doch ihr ganz eigenes Gesicht. Nach Anbruch der Dunkelheit öffnet sich eine andere Zeit; in der Nacht erfährt die Tageswelt eine Spiegelung und einen Kommentar. Es ist eine Zeit der Aufrechnungen und der Abrechnungen. Ich bin mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meinen Wahrnehmungen allein. Intensiver als bei Tag erlebe ich das Vergehen der Zeit. Im Schutz der Dunkelheit kann ich mich den Erinnerungen und Phantasien, dem Zweifel und den Ängsten überlassen. Auf der Schwelle zwischen dem vergangenen und dem sich ankündigenden Tag verschwimmen Konturen und Abgrenzungen, fließen zusammen mit den Bestimmungen des Tages. Es lassen sich Ambivalenzen, Widersprüche und Quadraturen des Kreises denken. Dem Kopfkino sind keine Grenzen gesetzt. Das drückt das Titelbild von Stefan Plöger aus: das Diffuse, das Unkonkrete, den Raum zum Assoziieren.

„Am Tag kann man über vieles erhaben

sein …

„Manchmal jedoch weiß man auch am Tage nicht, wie es hingehen soll“, schreibt Rosemarie Schettler, die ich herzlich als neues Redaktionsmitglied begrüße: „Tage wie diese“ (S. 7), „Tankstelle“ und „Lotsenpunkt“ – zwei Grußworte zum vierzigjährigen Bestehen der TS Bonn/ Rhein-Sieg lassen die Wertschätzung der beiden theologischen Fakultäten für die TS spüren. „Willkommen in der Nacht“ (S. 20) – das Gespräch habe ich mit dem evangelischen Theologen Bernd Becker und seinem katholischen Kollegen Dieter Osthus über ihr ambivalentes Verhältnis zur Nacht geführt, Olaf Meier zeigt, was die Nacht mit Körper und Seele macht (S. 23), ein Ehrenamtlicher beschreibt einen Versuch – eine Nacht ohne Schlaf (S. 27) – und Bettina Irschl hält ein Plädoyer für Chat-Nächte (S. 30). Zum Schluss noch eine Nachricht, die ich ungern weitergebe: Ingrid Schmeißer scheidet aus der AUF-DRAHT-Redaktion aus. Sie hat ihre ehrenamtliche Arbeit in der TS Cottbus beendet. Wir bedauern das sehr und wünschen ihr für ihr neues Engagement alles Gute. Ganz zum Schluss noch eine gute Nachricht: AUF DRAHT können Sie auch im Einzelabo bestellen – als Geschenk für sich oder für liebe Freundinnen und Freunde (S. 47). Mit den besten Wünschen Ihre

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INTERNES

Kontakte mit Folgen – TelefonSeelsorge zwischen einmal und immer wieder Im Frühjahr jeden Jahres treffen sich alle Leiterinnen und Leiter der einhundertacht TelefonSeelsorgestellen und der sechzehn Offenen Türen Deutschlands vier Tage, um sich über die Qualität ihrer Arbeit auszutauschen. In diesem Jahr ging es um „Kontakte mit Folgen – TelefonSeelsorge zwischen einmal und immer wieder“. Ursprünglich gegründet als Beitrag zur Suizidprävention, hat sich das Angebot der TelefonSeelsorge im Laufe ihrer fast sechzigjährigen Geschichte zu einer medialen Form von Beratung und Seelsorge entwickelt, die von sehr unterschiedlichen Menschen mit sehr verschiedenen Anliegen in Anspruch genommen wird. Die Erfordernisse einer leicht und kurzfristig erreichbaren Krisenhilfe und die tatsächliche mehrfache und regelmäßige Nutzung des Gesprächsangebots durch Anrufende schaffen eine Spannung, welche die TelefonSeelsorge seit ihren Anfängen begleitet und die zu verschiedenen Konzepten im Umgang mit Anrufenden geführt hat. Auch in der TelefonSeelsorge

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im Internet (Mail und Chat) erleben wir den Wunsch von Nutzerinnen und Nutzern nach wiederholten Kontakten. Diese Fragen sind nicht nur technisch zu lösen, sie erfordern eine fachlich konzeptionelle Antwort. Fachliche Anregungen von Dr. Manfred Schmidt, Psychoanalytiker, Martin Weimer, Leiter der TelefonSeelsorge Kiel, Petra Risau, Projektleiterin der Beratungsplattform Beranet, und Stefan Kühne, Leiter der wienXtra-jugendinfo, eröffneten die Diskussion. Im Anschluss ging es um die Erfahrungen des Pilotversuchs mit dem ACD (automatic call distribution), der in drei Regionen mit fünfzehn TS-Stellen stattgefunden hat. ACD

ist eine servergestützte SoftwarePlattform zur automatischen Verteilung von Anrufen, welche nach verbindlich festgelegten Routingregeln innerhalb einer Gruppe von Telefonanschlüssen erfolgt. Gesteuert wird die Plattform über das Telefon oder per Mausklick mit Hilfe des sogenannten Minitools. Die ACD „weiß“, wo eine Leitung frei ist, wo telefoniert wird und wo eine Stelle gerade abgemeldet ist. ACD-Technik verspricht eine bessere Erreichbarkeit, eine technische Möglichkeit, mit missbräuchlichen Anrufenden umzugehen, und eine größere Flexibilität des Systems (kein starres Routing mehr). Wie in jedem Jahr fanden die Vollversammlungen der beiden Verbände – der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür e.V. und der Katholischen Konferenz für TelefonSeelsorge und Offene Tür – statt. Zudem wurde an dem Qualitätshandbuch weitergearbeitet. BK

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Foto: Birgit Knatz

„Tage wie diese“ – Medienkompetenz von Rosemarie Schettler

Zunächst verspricht es, ein ruhiger Freitag zu werden. Der letzte Tag der Osterferien. Die Kollegin krank, der Kollege im Urlaub. Nur eines der beiden Telefone besetzt. Kein Krisentermin, kein Mitarbeitergespräch. Ein guter Tag, um aufzuräumen. Der Nachbar mit den Hausmeisteraufträgen kümmert sich um den defekten Türöffner, die nette Reinigungskraft macht Kaffee.

Einer der Computer für die Eingabe der Statistik reagiert nicht. Kein Problem. Nur schnell den aktuellen Dienstplan ausdrucken, dann kümmere ich mich darum. Leider druckt der Drucker nicht. Weder über den Drucker noch über den Kopierer lässt sich ein Dienstplan herstellen. Auch auf den Server kein Zugriff möglich. Macht nichts. Liegt vielleicht daran, dass Freitag ist. Da sind die Geräte manchmal schon im Wochenend-Modus. Ich versuche es noch mal über den Computer der Kollegin. Auch hier: kein Zugriff. Seltsam!

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Der Nachbar, der hausmeistern kann und Elektriker gelernt haben soll, informiert, dass nun außer dem defekten Türöffner auch alle vier Stationen der Gegensprechanlage nicht mehr funktionieren. Er will wissen, wie die Elektrik geschaltet ist. Leider weiß ich das nicht. Um mir auf die Sprünge zu helfen, schildert er ausführlich Funktionen von Relays und Dioden. Nun weiß ich, wie sie wirken. Erkennen würde ich sie nicht. Die Ehrenamtliche, die nach vier Stunden Dienst nach Hause möchte, kann sich nicht abmelden.

Der Computer zeigt Error an. Die Ablösung kann sich nicht anmelden. Sie würde eigentlich gern ein Gespräch führen. Der Dienstplan lässt sich vielleicht auch am Computer des urlaubenden Kollegen ausdrucken. Mal sehen. Dass die Dinger immer so viel Zeit brauchen, bis sie hoch gefahren sind! Dann ist er im Einsatz, zumindest soweit, dass er mir glasklar anzeigt: Auch von hier geht nichts! Der hausmeisternde Elektriker braucht zur weiteren Prüfung der

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Foto: Bertram Bock

defekten Türöffner Zutritt zu den Diensträumen der Ehrenamtlichen. Durch beide läuft er mit einer Art Wünschelrute, um elektrische Ströme zu messen. Cool. Man kann hören, dass Strom fließt. Vielleicht bekommt er ja wenigstens einen der vier Türöffner wieder dazu, Türen zu öffnen. Die diensttuende, aber noch nicht angemeldete TSlerin sucht nun einen ruhigen Ort, wo sie wenigstens telefonieren kann. In den Diensträumen wird das vorerst nicht möglich sein. Der Wünschelruten-Elektriker läuft immerzu rein und raus, ein permanentes Knistern und Summen umgibt ihn. Da mittlerweile auch die Türklingel nicht mehr funktioniert, ist zumindest diese Geräuschquelle ausgeschlossen. Ich rufe unseren Internetspezialisten an. Hurra, er geht ans Telefon. Ich störe ihn beim Training, er schnauft, hört aber gut und kompetent zu. Gelernt ist gelernt! Er kann sich den Ausfall so vieler Geräte nicht erklären. Fragt, ob der Elektrofachmann in der Rolle

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des Hausmeisters in der Nähe der Geräte war. Schlägt vor, den Server ganz auszuschalten, um ihn dann wieder hoch zu fahren. Zufällig geht der Elektrohausmeister mit seiner Wünschelrute vorüber, heftiges Summen begleitet ihn. Unser Internetausfall interessiert ihn im Moment mehr als Türöffner und Klingeln und Elektrikschaltpläne. Vielleicht versteht er davon ja auch mehr. Er nimmt mir den Hörer aus der Hand, um das Problem abgestürzter Server und Co qualifiziert unter Männern besprechen zu können. Die Wünschelrute pendelt locker in seiner Hand. Ich geh dann schon mal einen Kaffee kochen. Das konnte ich bis gestern noch ganz gut … Vielleicht sollte ich dem Wünschelrutengänger meinen Job anbieten. * In der Vorbereitung der Probeläufe zum Routing-Verfahren der Anrufe bei der TelefonSeelsorge gab es Überlegungen, ob und wie die Beherrschung der dazu gehörigen

Technik durch Hauptamtliche zu leisten sein könnte. Die meisten Hauptamtlichen in der TelefonSeelsorge haben ein Studium der Theologie oder der Psychologie abgeschlossen. Viele verfügen über therapeutische, beraterische und supervisorische Zusatzausbildungen. – Ist das noch angemessen und zeitgemäß? Sind angesichts der tatsächlich anfallenden Aufgaben die Basisqualifikationen der Hauptamtlichen stimmig? Ließe sich Ausbildung, Fortbildung, Supervision nicht leicht durch externe Kräfte regeln, während die täglich vor Ort anfallenden Aufgaben durch Techniker und Internetfachleute besser und vor allen Dingen schneller abzuwickeln wären? Wie viel Medienkompetenz ist erforderlich, um hauptamtlich in der TelefonSeelsorge arbeiten zu können? Ich bin gespannt, wie die Kolleginnen und Kollegen darüber denken. Rosemarie Schettler ist Leiterin der Krisenbegleitung in der TelefonSeelsorge Duisburg – Mülheim – Oberhausen

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„Tankstelle“ & „Lotsenpunkt“ von Michael Probst-Neumann

2012 hat die TS Bonn/Rhein-Sieg ihr vierzigjähriges Bestehen gefeiert – nach innen mit einem lebendigen und unterhaltsamen Fest der amtierenden und der ehemaligen Ehrenamtlichen, nach außen mit einer Feierstunde im Poppelsdorfer Schloss mit allem, was dazugehört: mit Grußworten, mit einem Fachvortrag zum Thema von „Verwundbarkeit und Resilienz“ und mit keltischer Harfenmusik. Im Dezember haben wir das Jubiläumsjahr mit einem bewegenden Dankgottesdienst abgeschlossen.

Zwei der Grußworte möchte ich hier gerne (gekürzt) wiedergeben, das der katholischen und das der evangelischen Kirche. Beide Kirchen sind, ebenso wie die beiden theologischen Fakultäten, laut Satzung des Trägervereins ohne ein bestimmtes Amt in unserem Vorstand vertreten. Ihre Stimmen werden sehr geschätzt. Elisabeth Neuhaus ist Leiterin der Abteilung Erwachsenenseelsorge im Erzbistum Köln. Sie griff das der Nacht und Not zugewandte Engagement der Ehrenamtlichen auf, begriff es als Engagement der Compassion im Sinne Christi und sieht in ihm die „Zeitgenossen-

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schaft“ verwirklicht, von der das 2. Vatikanum in der Kirchenkonstitution spricht. Dr. Eberhard Kenntner ist Superintendent des Kirchenkreises Bad Godesberg-Voreifel. Er stellte dem hauptamtzentrierten, theologisch fundierten Seelsorgeverständnis die ehrenamtliche NichttheologenSeelsorge der TS gegenüber und sieht in ihr eine reformatorische Grundidee verwirklicht: das Priestertum aller Getauften. Beide Grußworte reflektieren für sich genommen die Kirchlichkeit der TS. Wenn ich sie zueinander in Beziehung setze, haben beide die Priesterschaft der TS im Blick, der

eine institutionell, die andere inhaltlich. Beide sagen auf ihre Art: „Wir erkennen im seelsorglichen Vollzug der TS einen Wesenszug der eigenen Kirche.“ Das scheint mir des Weiterdenkens wert. Michael Probst-Neumann ist Geschäftsführender Leiter der TS Bonn/RheinSieg e.V.

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BLICKPUNKT

Willkommen in der Nacht

Birgit Knatz: Die Nacht ist die Zeit des Schlafes und der Erholung – aber auch die Zeit des Grübelns und der Sorgen. Und immer mehr auch: die Zeit kultureller Events. Es gibt die Nacht der Museen und der Industriekultur, die Nacht der Kirche und die Shoppingnächte. Die Nacht wird zum Tag gemacht. Was zeigt sich darin?

vermittelt das Dunkel der Nacht so eine Mischung aus Furcht und Faszination. Lichter ziehen an. Und am Ende freut man sich, wieder im „trauten Heim“ anzukommen. Ich finde es zum Beispiel schön, dass im Judentum der Tag abends beginnt und immer heller wird, quasi der Sonne entgegen. Bei uns beginnt der Tag morgens und wird nach und nach immer dunkler.

Bernd Becker: Ich denke, es ist vor allem der Reiz des Neuen. In der Dieter Osthus: Viele haben für sich Nacht haben wir anderes Licht und einen Weg gefunden, in der Nacht andere Stimmungen. So können das zu tun, was ihnen am Tag wir etwa eine Kirche oder ein nicht möglich war. Oft ist es, wie mir scheint, Museum neu eine Flucht, und anders Du brauchst dich vor weil die entdecken dem Schrecken der Nacht Nacht nicht und erleben. nicht zu fürchten Das ist auch auszuhalten ist, weil das so etwas wie ein Ausstieg aus dem Alltag. Etwas Dunkel Angst macht. Ganz beanders machen, fern vom Ge- sonders gilt das für die finsteren wohnten. Danach sehnen wir uns Jahreszeiten, in denen empfinddoch dann und wann. Außerdem same Menschen mit Depressionen

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kämpfen. Viele sehnen nach den dunklen Wintermonaten die ersten Frühlingstage herbei, die mit längeren Tages- und Sonnenstunden einhergehen. Dass wir eher vom Tageslicht leben und dieses Licht möglichst lange auf uns wirken lassen möchten, zeigt die Umstellung der Uhr auf die Sommerzeit. Künstlich führen wir uns mehr Sonnenlicht zu. Trotzdem gehört die Nacht zum Leben. Der Mensch braucht sie, nicht nur der Psychohygiene wegen, sondern auch, um sich ihrer religiösen Bedeutung zu vergewissern. Würden wir sie aus unserem Erleben streichen, verlören wir nicht nur einen Teil unserer Kultur, wir verlören auch die Sinnmitte unseres Lebens: Gott. Birgit Knatz: Die Dunkelheit der Nacht wird als ambivalent erlebt. Gibt es etwas, wofür die Dunkelheit besser geeignet ist als das Licht?

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BLICKPUNKT

Birgit Knatz im Gespräch mit dem evangelischen Theologen Bernd Becker und seinem katholischen Kollegen Dieter Osthus über unser ambivalentes Verhältnis zur Nacht.

Foto: Martina Döbler

Dieter Osthus: Normalerweise ist die Nacht der Raum für Entspannung, für erfrischenden Schlaf, zur Regeneration von Psyche und Leib. Dunkelheit als der Ort im Leben, der den Alltag mit seinen Sorgen und dem Stress für einige Zeit verlangsamt. Trotzdem ist es tröstlich zu wissen, dass im Schöpfungsbericht die Finsternis begrenzt wird. Gott scheidet das Licht von der Finsternis. Das Licht wird beschützt. Die Finsternis wird das Licht nicht überwältigen. Jeden Morgen muss sie dem Licht des Tages weichen. Deshalb sind wir nicht der Finsternis ausgeliefert. Bernd Becker: In der Nacht ist es nicht nur dunkler sondern auch ruhiger als am Tag. Dadurch ist diese Zeit gut geeignet für kreatives Schaffen, zum Nachdenken, zum Beten, zum Lieben und für den Schlaf. Und ein nächtlicher Blick in den Sternenhimmel wirft immer

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wieder die Frage auf, wie ich diese Welt überhaupt fassen kann und was die Bedeutung meines Daseins ist – angesichts der unzähligen Sterne. Birgit Knatz: „Beim Dienst in der Nacht, so erlebe ich das, haben viele Gespräche mehr Tiefgang“, schreibt eine Mitarbeiterin der TelefonSeelsorge. Macht ihr als Kirchenmänner ähnliche Erfahrungen bei eurer Arbeit? Dieter Osthus: Als Pfarrer steht man auch in der Verantwortung für Kranke und Sterbende. Sie zu begleiten, ist eine der wichtigsten Seelsorgearbeiten, ganz nach dem Wort Jesu in Mt 25,36: „Ich war krank und ihr habt mich besucht.“ In die Nacht hinein und in die Nachtwerdung des Menschen angesichts des Todes berührt mich eine Verheißung, an die wir als Christen glauben: „Du brauchst

dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten“ (Ps 91,5). In einer solchen Nacht, in der angesichts des Todes alles vom Menschen abfällt, was ihn im Leben umfangen hat, sind die Worte des Psalmisten Hoffnungsworte – auch über die Nacht hinaus. Bernd Becker: Die Ruhe der Nacht ermöglicht intensive Begegnungen mit anderen, mit Gott und mit sich selbst. Das ist nicht immer nur schön – schließlich können uns dabei auch trübe Gedanken, Selbstzweifel oder Anfechtungen treffen. Vielleicht hilft der schöne Satz, den ich einmal in den USA aufgeschnappt habe: „Wenn du nicht schlafen kannst, zähl nicht die Schafe, sondern sprich mit dem Hirten.“ In der Bibel gibt es viele bedeutsame Geschichten, die in der Nacht spielen: zum Beispiel die Festnahme Jesu im Garten Gethsemane. Oder im Johannesevangelium, wo

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Nachtdienste – wie sie von den Menschen unterschiedlich wahrgenommen werden von Isabel Overmans In Mitarbeitergesprächen habe ich verschiedene Äußerungen zum Thema Nachtdienst gehört, die ich gerne weitergebe: „Nachtdienst ist schon etwas Besonderes: Wenn ich herfahre, ist es menschenleer, die Dienststelle ist ruhig, keine Flurgespräche, ich fühle mich wie in einem Kokon. Die Gespräche am Telefon bekommen oft eine große Intensität.“ „Nachtdienste sind für mich nach all den Jahren immer noch etwas Besonderes, in der Nacht ist alles anders.“ „Mir macht die Nacht Angst und damit auch die Nachtdienste.“ „Nachtdienste werden mit zunehmendem Alter körperlich anstrengend.“ Als Klinikpfarrerin hatte ich eine Woche lang rund um die Uhr Bereitschaftsdienst und wurde dann auch oft in der Nacht gerufen. Auf der einen Seite waren diese Wochen für mich körperlich sehr anstrengend, weil ich eine Woche lang schlecht schlief, immer in der Erwartung, gerufen zu werden. Wenn ich dann aber nachts in der Klinik war, empfand ich die Atmosphäre immer als etwas Besonderes, gedämpftes Licht, leise Gespräche und doch sehr intensive Begegnungen. Ich habe mich aber auch ein wenig umgehört bei anderen Menschen, die nachts arbeiten: Eine Krankenschwester berichtete von ihrem Nachtdienst: Ich mache gerne Nachtdienst, nicht nur weil der Dienstzeitausgleich dafür länger ist, sondern weil das Arbeiten auf Station viel angenehmer ist. Es ist ruhiger, die Alltagshektik einer Intensivstation entfällt, die Zeit für und mit den Patienten ist intensiver und auch wir Mitarbeitenden unterhalten uns persönlicher. Allerdings ist besonders die Zeit zwischen zwei und drei Uhr sehr anstrengend, weil wir dann alle ein körperliches Tief haben.

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Ein junger Polizist bekannte: Wenn du nachts zu einer Schlägerei gerufen wirst und aufbrichst, weißt du nie, was dich erwartet. Dann fährt die Angst mit. Unsere Zeitungsausträgerin sagte, es sei für sie ein großer Unterschied, ob sie im Sommer oder im Winter nachts unterwegs ist. Im Sommer liebt sie es, in den anbrechenden Tag zu gehen. Gegen fünf Uhr begleitet sie der Gesang der Vögel. Im Winter fürchtet sie die Kälte und oft schlecht geräumte Wege. Eine Klinikärztin erzählte, dass sie den Nachtdienst vor allem deshalb gern mag, weil sie dann ihr eigener Herr ist. Sie kann selbst Entscheidungen über die Behandlung treffen und zügig durchführen, ohne dass erst noch mit Kollegen Absprachen getroffen oder Empfindlichkeiten von Chefs berücksichtigt werden müssen. Nachts entfällt die alltägliche Routine, das „Kerngeschäft“ bekommt seine Bedeutung. Auch die Begleitung von Sterbenden in der ruhigen nächtlichen Atmosphäre hat etwas sehr Intimes. Isabel Overmans ist stellvertretende Leiterin der TS Freiburg

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BLICKPUNKT

Eine Nacht ohne Schlaf –

Stimmung war gut, das Leben im Moment prall, das Morgen unvorstellbar weit weg. Keine Minute, keine Sekunde wollte man verpassen, auch wenn das Denken immer langsamer wurde, der Blick immer eingeengter. Ein Gehen wäre wie ein Aufgeben gewesen, man hätte sich der Gemeinschaft entzogen – und wer will schon morgens um drei alleine nach Hause gehen?

Ein Versuch Anonym Das Nachtprogramm im Radio bringt irgendetwas von Mozart. Das Telefon schweigt schon seit über einer Stunde. In wenigen Stunden ist der Dienst vorüber. Man könnte sich hinlegen, ein wenig dösen, aber bald ist HandyZeit. Danach wird es sich nicht mehr lohnen, danach gibt es einen Kaffee, die Morgenzigarette. Und wieder mal eine Nacht ohne Schlaf. Ich war Jugendlicher, als ich die erste Nacht ohne Schlaf verbrachte

– freiwillig, mit Freunden, einfach so. Wir wollten es ausprobieren, wie es ist, was es mit einem macht. Eine Erfahrung, die wohl schon jeder gemacht hat, um anschließend festzustellen: Der übermüdete Tag danach ist oft ein zu hoher Preis. Und doch folgten nach der ersten noch viele Nächte ohne Schlaf. Da gab es die Feten-Nächte. Nicht, dass man es sich vornahm, es ergab sich einfach so. Man quatschte sich fest, die Musik gefiel, die

Foto: Martina Döbler

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Dann qualitätsvolle Nächte mit einem Freund. Man hatte gekocht, man hatte eine Flasche Wein aufgemacht, der später durch Tee ersetzt wurde, man hatte sich Platten vorgespielt, aus Büchern vorgelesen, man hatte die Welt und die Zukunft diskutiert, man hatte sich der Freundschaft versichert, um morgens gegen vier festzustellen: Schlaf lohnt nicht mehr. Natürlich hätte man auch vernünftiger sein können, man hätte nebeneinander schlafen, die Gespräche am nächsten Tag fortsetzen können, doch der Augenblick war zu schön, zu intensiv, und vielleicht hätte es ja in dieser Nacht Antworten auf all die vielen offenen Fragen geben können. Hoffnungsnächte, die auf eine besondere Art zusammenschweißen, die auf eine besondere Art Vertraulichkeit herstellen. Noch etwas später dann die Nächte alleine mit mir, Verweigerungsnächte, Weltverweigerungsnächte. Die Dunkelheit vor dem Fenster, die alles verbirgt, die den Bezug zur Welt abbricht. Das Licht der Schreibtischlampe leuchtet auf das Buch, auf den Brief, der von der Weltverzweiflung berichtet, oder eben auf die Kladde mit den autobiographischen Notizen, tiefsinnige Gedankengänge, die bei Tageslicht allen Charme, alle Berechtigung, alle Bedeutung verloren. Und doch der Stolz am nächsten Tag, wach geblieben zu sein, der Welt seinen

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BLICKPUNKT

Trotz gezeigt zu haben, das Gefühl, stärker und kräftiger aus der Nacht gekommen zu sein.

könne nicht mehr aufgehen – durchwachte Nächte hinterlassen verschiedene Folgen.

Phasenweise dazwischen Pflichtnächte als Nachtwache im Krankenhaus und Pflegeheim. Bewacher des Schlafes anderer als Arbeitsauftrag. Doch was zählte, war der Nachtzuschlag zum Stundenlohn – lukrativ für einen Studenten, schnell verdientes Geld und die Arbeit zusätzlich ruhiger, gelassener, ohne Tageshektik. Und statt auf die Uhr zu schauen, erfuhr man das nahende Arbeitsende mit dem Aufgehen der Sonne, mit dem frühen Vogelgezwitscher. „Auch diese Nacht war lang und dunkel“, antwortete ich, wenn ich gefragt wurde, wie denn die Schicht war. Und in der zehnten Nachtschicht in Folge die Angst, die Sonne

Und zuletzt die Nächte am Sterbebett des Vaters im Krankenhaus, jede zweite, inklusiv Pflege. Das unausweichliche Sterben vor Augen, das Leiden hautnah, die eigene Hilflosigkeit. Die letzten Dienste, die alles nochmals ausdrücken sollten und es, wenn überhaupt, nur in Ansätzen taten. Wann wird es soweit sein und: Wie wird es werden? Und nun, nach Jahren voll mit verschlafenen Nächten, die TSNächte. Irgendwie mühsam dem Arbeitsalltag abgetrotzt, freiwillig zwar, aber in Form eines selbstauferlegten Zwanges. Die spontan einsetzende tiefe Müdigkeit drei

Es ist Nacht, und mein Herz kommt zu dir, hält’s nicht aus, hält’s nicht aus mehr bei mir. Legt sich dir auf die Brust, wie ein Stein, sinkt hinein, zu dem deinen hinein. Dort erst, dort erst kommt es zur Ruh, liegt am Grund seines ewigen Du. Christian Morgenstern

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Stunden vor der Nachtschicht, die Fahrt mit der Straßenbahn, innerlich kopfschüttelnd, weil es keine wirkliche Antwort auf die Frage gibt: Warum tust du dir das an? Die Stille im Haus, der Rückzug in das Dienstzimmer, die Dunkelheit vor dem Fenster. Fast wie die Nächte mit mir, doch nun auf Abruf verbunden mit Seelenleid, Schmerz und Trauer, mit gelangweilten Partygästen und überdrehten Jugendlichen. Immer wieder mal mit den Erfahrungen aus den eigenen durchwachten Nächten konfrontiert. Manchmal kann man deswegen etwas geben, manchmal ist es die Erinnerung an das Gefühl, ohne jedoch eine wie auch immer geartete Hilfestellung geben zu können. Der Mix aus guten und weniger guten Gesprächen, der aufsteigende Ärger morgens gegen drei, wenn versucht wird, mich als Unterhaltungsonkel zu missbrauchen. Dazwischen die größeren und kleineren Pausen, die einen auf sich zurückwerfen. Man wird einem Schmelztiegel ähnlich, Gedanken, Empfindungen, Gehörtes vermischen sich auf eine besondere Art, Gedankengänge treten klar hervor, um im nächsten Moment wieder im Kampf gegen die aufkommende Müdigkeit zu versinken. Man kann beobachten, wie das Gehirn arbeitet und ist doch sofort hellwach, wenn das Telefon klingelt. Die Ablöse kommt und fragt nach der Nacht: Lang und dunkel war sie, wie jede andere auch. Anonym: Klar, auch bei mir wissen die vier engsten Freunde von der Tätigkeit, was mir auch wichtig ist, denn manchmal möchte man schon das ein oder andere Erlebnis weitergeben. Aber vom Grunde aus sehe ich meine Tätigkeit als einen „freiwilligen Dienst“ („Ehrenamt“ mag ich als Begriff gar nicht) und ich bin wohl dann doch so sehr von der Kindheit christlich geprägt, dass man darüber eben nicht spricht.

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BLICKPUNKT Foto: Christa Doll

Wieso ich nachts gern am Telefon sitze … von Christa Doll In der Nacht ist es still ... die vielen Nebengeräusche vom Treiben auf der Straße und in der direkten Umgebung fallen weg. Ich erlebe mich in der Nacht mit einer noch größeren Offenheit und Sensibilität für das Leid und die Probleme der Menschen am Telefon. Und ich spüre, auch einige der nächtlichen Anrufenden zeigen sich in der Dunkelheit sensibel und dünnhäutig. Ich habe den Eindruck, ganz bewusst wählen sie die „Stille der Nacht“ für ihr Gespräch mit der TelefonSeelsorge. „… Meine Familie schläft jetzt. Mitternacht ist lang vorbei, nun kann ich

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mit Ihnen reden, meine Ängste aussprechen. Niemand in der Wohnung bekommt mit, was ich sage, doch mit Ihnen am Telefon geht das. Wissen Sie, ich kann schon lang nicht mehr schlafen …“ So begann ein Gespräch mit dem Mann, der mir von seiner plötzlichen und auch lebensbedrohenden Krankheit erzählt. Seine Kinder und die Ehefrau sollen nicht hören, dass er vor Angst fast vergeht, wenn er von seiner schlimmen Erkrankung spricht. Er weiß, er wird bald sterben. In der nächtlichen Stille zeigt er Mut. Er nimmt sich den Raum, seine Trauer, die wachsende Sorge um die Familie, die er allein zurücklassen

muss, sowie die quälende Angst vor dem eigenen Tod völlig offen zu benennen. Und er kann zulassen, um sich selbst und seine Lieben zu weinen. Das Gespräch mit diesem Mann, auch seine ruhige Stimme, hat sich tief eingeprägt in mir. Ich war betroffen von seinem Leid und daneben tief berührt von so viel Nähe und Vertrauen. Beim Dienst in der Nacht, so erlebe ich das, haben viele Gespräche mehr Tiefgang.

Christa Doll ist Ehrenamtliche der TS Hagen-Mark

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Inhaltsverzeichnis Vorwort .............................................................. 3 Schreiben Sie uns ............................................ 4 Internes Kontakte mit Folgen – TelefonSeelsorge zwischen einmal und immer wieder ........................ 6

Wieso ich nachts gern am Telefon sitze … ............ 29 Christa Doll Die Münchner Chatnacht .................................... 30 Bettina Irschl „Bei mir ist Chaos pur!“ ....................................... 32

Internet

„Tage wie diese“ – Medienkompetenz .................... 7 Rosemarie Schettler

Cybermobbing tut weh ........................................ 33

„Tankstelle“ & „Lotsenpunkt“ ................................ 9 Michael Probst-Neumann

Keine Angst vorm Chatten! .................................. 34 Gisela Achminow

Über die Verschiedenheit der TelefonSeelsorge-Stellen .................................. 12 Ingrid Schmeißer

Wissen

Verschwundene Dinge .......................................... 14 Birgit Knatz

Wie kann man(n) nur?!? – Über den Umgang mit pädophilen Anrufern ........ 36 verfasst von zwei Ehrenamtlichen der TS Neuss

Frühjahrstagung BETS 2013 ................................ 16

Schienentodesfälle verringern ............................... 38 Margret Hauschild

Schweigeanruf Gisela Arndt .......................................................... 17

Harakiri – die japanische Tradition des Suizids ..... 39 Gisela Achminow

Blickpunkt

Glaube braucht Wiederholungen – Glaube braucht Rituale ........................................ 40 Ulrike Atkins

Verletzlich ist die Nacht ........................................ 18 Doris Weininger Willkommen in der Nacht ................................... 20 Birgit Knatz MENSCHEN BEI NACHT ............................... 23 Olaf Meier Nachtdienste – wie sie von den Menschen unterschiedlich wahrgenommen werden ................ 26 Isabel Overmans Eine Nacht ohne Schlaf – Ein Versuch ................. 27 anonym

mutig und beherzt Nur wer quer denkt, kann die Richtung ändern ... 42 Bürger.Courage in Dresden .................................. 43

Empfehlungen ................................................ 44 Impressum ....................................................... 47


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